Malen mit Licht von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- He imagined dying and being cut open and there were all his bones and muscles and his bared arteries and capillaries leading to a cavity in his chest where instead of a heart he had his camera. ― Ali Shaw, The Girl With Glass Feet – * Der neue Tag graute. Nebel nahm den Boden unten ein und verlief bis zu den Bäumen des Waldes, der ihm schweigend entgegenblickte. Es war, als würde man einer Entstehungsgeschichte beiwohnen: Aus dem Nebel erhoben sie sich, die großen, dichten Bäume und reckten sich der aufgehenden Septembersonne entgegen, die ihre Umgebung in ein blasses, noch junges Licht tauchte. Obwohl Sasori Akasuna unter seiner Hose eine Schlafhose anhatte, zwei Paar Socken und dicke Stiefel an den Füßen trug, während seine Hände in gefütterten Handschuhen steckten, hatte die Kälte seine Glieder befallen wie Verwesung. Eine ganze Nacht lang hatte er im Ansitz verbracht und der Kälte getrotzt, um mit seiner Kamera die Szenerie einzufangen, die sich vor ihm entfaltete. Er wickelte seine Kamera aus der warmen Decke, in die er sie gestern Abend eingewickelt hatte, und das Rascheln weckte Kisame, der vor einer halben Stunde eingeschlafen war. Sasori hatte seinen Freund, der Berufsjäger war, gebeten, mit ihm auf einen Ansitz kommen zu dürfen, und da Kisame wusste, dass Sasori ein stilles Naturell besaß, hatte er zugestimmt.   Kisame gähnte lautlos und beobachtete Sasori dabei, wie er gewissenhaft und konzentriert alle Vorbereitungen traf, um ein Foto zu machen. Seine Werkzeuge behandelte er mit einer Ehrfurcht, die Kisame von keinem anderen gewohnt war. Für einen Außenstehenden, der Sasori lediglich mit einem  flüchtigen Blick streifen würde, war er ein rothaariger Mann, der ein Foto von schönen Sachen machte und sie vielleicht irgendwo ins Netz stellte. Für Sasori war Fotografie mehr als ein Foto machen und er konnte nicht verstehen, wie man ausschließlich Fotos von sich selbst und seinem Essen machen wollte – mit einer Kamera, die so teuer war wie ein Auto. Damit für ihn etwas würdig war fotografiert zu werden, musste ausnahmslos alles stimmen: das Motiv, das Licht, der Winkel. Und keine Menschen. Er hatte vor zwei Jahren aufgehört, Menschen zu fotografieren. Keines seiner Bilder würde er als gut bezeichnen. Sie waren perfekt. Wenn es auch nur eine Kleinigkeit gab, die ihm im Nachhinein nicht gefiel, vernichtete er das Bild schleunigst, und so existierte in seinen Fotoalben nur Perfektion. Sasori hielt den Atem an und es war, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen, als hätten auch die Bäume und der Himmel den Atem angehalten. Er betätigte den Auslöser und alles um ihn herum atmete aus. Sasori prüfte das Bild und nickte Kisame zu, der sich aus seiner warmen Decke schälte und nach seinem Mobiltelefon suchte, um nach der Uhrzeit zu schauen. „Ich glaube, ich schmeiße mir gleich etwas zu essen rein, ich hab‘ Hunger“, sagte er in einer für den Ort angemessenen Lautstärke und schob das Gewehr, das er mitgenommen hatte, zu sich. „Willst du mit?“ Sasori bejahte und packte seine Sachen. Sobald die beiden jungen Männer vom Ansitz stiegen, drehte Sasori sich zum Wald um. Er hatte ein wunderschönes Foto gemacht und hatte die Taubheit seiner Beine gerne in Kauf dafür genommen. Oft kam es vor, dass Sasori die merkwürdigsten Positionen einnahm und sich in Gefahr begab, um ein Foto zu machen. Was seinen Mitmenschen durch den Kopf ging, wenn er sich verrenkte oder am buchstäblichen Abgrund stand, war ihm einerlei. Sie waren mit dem Auto hergekommen. Sasoris Stiefel waren schmutzig und er hatte ein schlechtes Gewissen, sich mit ihnen ins Auto zu setzen. Da Kisame allerdings dasselbe widerfahren war – schließlich gab es hier keinen Gehweg und alles um sie herum war Matsch –, winkte er nur ab und fuhr sie in ein Schnellrestaurant in Bahnhofsnähe, wo sie ihr Essen in Ruhe zu sich nahmen. Danach begleitete Kisame Sasori zum Gleis. Er war mit dem Zug gekommen – ein Auto besaß Sasori nicht –, Kisame hatte ihn am Eingang zum Bahnhof getroffen und sie waren sofort zum Ansitz gefahren. * Sasori lebte alleine in einer Zweizimmerwohnung. Im Wohnzimmer stand eine gigantische Vitrine, die die gesamte Wand einnahm und die Sasori öffnete, um die Kamera auf einen der gläsernen Regalböden zu platzieren. Die Vitrine beherbergte alle Kameras, die er im Laufe seines Lebens erworben oder geschenkt bekommen hatte, darunter Unterwasser- und Sofortbildkameras. Die Kamera, die er benutzt hatte, um den stillen Wald zu fotografieren, war seine liebste. Seine Eltern hatten sie ihm zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. Sein neunzehnter Geburtstag lag sechs Jahre zurück, aber es kam ihm vor, als wäre es Dekaden her, dass er das Geschenkpapier mit dem klopfenden Herzen eines kleinen Jungen und mit größter Vorsichtigkeit entfernt hatte. Er war immer schon jemand gewesen, der Gegenständen mit Umsicht und Feinfühligkeit behandelte, als wären sie lebendig. War er beim Fotografieren, im Auto und beim Essen zusammen mit Kisame wach gewesen, war im Zug Müdigkeit über ihn gekommen. Sasori war auch jetzt müde, und sobald er sich ausgezogen hatte, legte er sich in sein Bett, das ihm in wenigen Minuten die Wärme induzierte, die er durch das Warten auf den perfekten Moment für den Schnappschuss verloren hatte. Aber ausgerechnet dann, da er es sich in seinem Bett gemütlich machte, verließ ihn die Müdigkeit wie eine Geliebte. So lag er da und betrachtete nach längerer Zeit ausgiebig die Decke, die mit Fotografien übersät war, Foto für Foto. Das Organ in seiner Brust zog sich zusammen, als er ein Foto entdeckte, dessen Existenz er ganz verdrängt hatte. Alles, was mit ihr zu tun hatte, hatte er verdrängt. Die gemeinsamen Abende auf dem Sofa und im Bett, das Kochen zu zweit, die Spaziergänge im Park und ihr Lächeln und ihren süßen Duft. Doch jetzt, da er dieses Foto sah, kehrten die Erinnerungen zurück. Sasori schloss die Augen, knirschte bei geschlossenen Lippen mit den Zähnen und drehte sich auf die Seite, um dem Bild zu entkommen, das sie beide zeigte. Sie war der Grund, weshalb er keine Menschen mehr fotografierte und weshalb er sich in jemanden verwandelt hatte, der es abgrundtief hasste, andere Menschen warten zu lassen oder auf andere zu warten. Sasoris ehemalige Partnerin war für ein halbes Jahr nach Australien gegangen und er hatte versprochen, auf sie zu warten, auf das Wiedersehen zu warten. Er war ihm schwer gefallen, sie ziehen zu lassen, doch er hatte es ihretwegen getan – sie hatte die Möglichkeit einer Reise auf diesen Kontinent nicht verpassen wollen. Der Tag, an dem er von ihr eine Postkarte im Briefkasten gefunden, der Tag, an dem er gelesen hatte, dass sie sich irgendwo in Quennsland in einen anderen Mann verliebt hatte, war der Tag, an dem er alles aus seinem Gedächtnis und seiner Wohnung entfernt hatte, was auch nur ansatzweise mit ihr in Verbindung gestanden. Er hatte nicht getrauert. Es war wie auf Knopfdruck geschehen, dass Sasori mit seinem Leben weitergemacht hatte, als hätte es sie nie gegeben. Sobald er alles losgeworden war, was ihr gehört hatte, versteht sich. Es gab Tage, da hatte er sie für die Liebe seines Lebens gehalten, es hatte allerdings auch Tage gegeben, an denen er mit Sicherheit hatte sagen können, dass es nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Das Verlangen stieg in ihm auf, das Bild zu sehen, aber er löste seinen Blick nicht von dem hellen Fenster, das er fixiert hatte. Das Verlangen wuchs und wuchs und schließlich stand Sasori auf, schaffte eine Leiter ins Zimmer und nahm das Foto mit einigen Fingergriffen ab. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Abbild zweier junger Menschen am Meer – ihr erstes Reiseziel –, ehe er das Foto mehrere Male zerriss und es schließlich in den Müll warf. Danach fühlte er sich schrecklich müde, als hätten ihn die Erinnerungen an seine letzte Beziehung und das Zerstören der Fotografie alle Kräfte gekostet, und es fiel ihm leicht, einzuschlafen und bis zum frühen Nachmittag durchzuschlafen.     Sasori verdiente kein Geld mit seinen Fotografien. Er arbeitete an einer Bar in einem Restaurant am Bahnhof, und da heute Freitagabend war, rechnete er mit vielen Menschen, die er zu bedienen hatte. Punkt 16:00 Uhr stand er an der Bar und goss bereits Getränke ein, begleitet von gemächlicher Klaviermusik, die von oben auf die Besucher und Angestellten regnete. Zwei Frauen setzten sich an die Bar. Aus den Augenwinkeln sah Sasori, dass die eine blond war und die andere rosa Haare hatte. „Zwei Margaritas“, bestellte die Blondine für beide Frauen und er stellte kurz darauf zwei Gläser vor den Frauen. Da jeder vorerst bedient war, lehnte Sasori sich einige Schritte von der Theke entfernt an einen Tisch und ließ den Blick seiner braunen Augen durch das Restaurant schweifen. Er mochte seine Arbeitsstelle, weil es hier ruhig war. Die Musik besaß eine angenehme Lautstärke, Menschen verhielten sich nur selten inadäquat, und wenn sie es taten, wurden sie eilig fortgeschafft. Er mochte auch die Atmosphäre: Die dunkelroten Wände und die gedämmte Beleuchtung, die antik ausschauenden Tische und Stühle. Er war froh, diese Stelle zu haben, weil er wusste, wie es einigen anderen Berufsgenossen erging. „Verzeih mir, dass ich es direkt so sagen muss, Sakura, aber es wurde auch Zeit, dass du den Typen verlässt. Er tat dir nicht gut. Ich bin stolz auf dich, dass du es geschafft hast.“ Die Blondine tätschelte die Schulter ihrer Freundin, die offenbar Sakura hieß. Sasori kannte diese Gespräche zu Genüge. Wie oft haben schon zwei Frauen an dieser Theke gesessen und wie oft hatte die eine versucht, die andere über das Ende einer Beziehung trösten? Manchmal glaubte er, dieses Restaurant zöge verlassene Herzen an. Er wusste nicht, wie es sich in anderen Restaurants und Bars verhielt, aber es war bemerkenswert, wie oft sich hier Verlassene und Verlassende einfanden. Sasori dachte an das Foto und wünschte, er hätte daran vor zwei Jahren gedacht, daran gedacht, es rechtzeitig abzumachen. Er verabscheute es, an etwas Schlechtes zu denken, das Monate, Jahre her war, denn es beeinflusste ihn in der Gegenwart manchmal mehr, als es ihm lieb war. Aber so sehr er es sich manchmal wünschte, Gefühle und Gedanken nach eigenem Belieben zu steuern, wusste er, dass es nicht möglich war, und so erlag er der Erinnerung an seine letzte Beziehung. Er war sechsundzwanzig und hatte in seinem Leben drei Beziehungen gehabt. Die erste mit sechzehn, die zweite mit zwanzig und die dritte mit vierundzwanzig. Seine letzte war am intensivsten gewesen. Die Blondine erhob sich und Sasori richtete die Aufmerksamkeit auf die beiden Frauen. Die Blondine, die, soweit er es mitbekommen hatte, Ino hieß, verschwand auf die Toilette. Sakura blieb alleine zurück, verschränkte die Arme auf dem Tisch. Sie war die Verlassene. Sie war wie er. Sasori verfluchte das Foto abermals und auch die Erinnerungen, die er nicht davon hatte abhalten können, seinen Kopf zu stürmen. Er fühlte sich mit der jungen Frau verbunden. Empathie war etwas, das er fremden Menschen nicht schenkte, und auch nicht Beileid. An diesem Abend war es anders. Es war, als hätte er endlich angefangen, das Ende seiner letzten Beziehung zu verarbeiten.   Sasori merkte, dass die junge Frau von einem Mann drei Sitze weiter angestarrt wurde und er konnte in seinen Gedanken lesen, was er vorhatte. Er kam ihm entgegen, trat zu Sakura und nahm ein Glas an sich. Da hob Sakura ruckartig den Kopf, so als würde das Glas ihr gehören und als wäre er ein Dieb, und sie sagte: „Ich bin nicht betrunken.“ In der Tat war sie es nicht. Sie war nur hochgradig verzweifelt und am Ende. Man musste kein Genius sein, um dahinterzukommen; sie trug ihre Empfindungen im Gesicht. Ganz anders als Sasori. Es war der Grund, weshalb er noch keine einzige Falte im Gesicht trug: Er verzichtete auf jedes Mienenspiel und selbst wenn er tief in Gedanken war, runzelte er nicht die Stirn oder kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Ich verstehe.“ Das war alles, was er sagte, und er schielte zu dem Mann drei Sitze weiter, der nun unzufrieden an seinem alkoholischen Getränk nippte. Ino kam zurück und die jungen Frauen nahmen ihre Gespräche wieder auf. Der andere Mann traute es sich offenbar nicht, Sakura in Gesellschaft anzusprechen. Sakura war mit ihrem Freund vor einem Jahr zusammengezogen, obwohl ihre Freundinnen ihr davon abgeraten hatten. Die ganze Zeit über hatte sie eine rosarote Brille angehabt, und als sie mit dem Mann, von dem sie geglaubt hatte, sie würde ihn innig lieben, zusammengezogen war, war ihr die rosarote Brille gewaltsam von der Nase gerissen worden. Sasori und seine Ex-Partnerin waren nicht zusammengezogen. Sie hatten es geplant, aber zum Glück war es nicht so weit gekommen, denn er hätte mit den gleichen Problemen zu kämpfen gehabt wie Sakura: Eine neue Wohnung musste für jeden her und davor musste man schauen, wo man die Zeit verbrachte. „Wir werden schon eine passende Wohnung für dich finden, Sakura“, ermutigte Ino Sakura. Zu Sasori gewandt sagte sie: „Nochmal zwei, bitte.“ Nur eine Woche später kamen Ino und Sakura wieder an diesen Ort zurück, um zu trinken. Sasori erkannte die beiden augenblicklich wieder. Sakura schien es ein wenig besser zu gehen. Aus der Konversation, die die Frauen begannen, hörte Sasori heraus, dass Sakura immer noch keine Wohnung hatte und aktuell bei ihren Eltern schlief, während ihr Freund es sich vorerst alleine in der gemeinsamen Wohnung gut gehen ließ.   Seine Sympathie und Empathie dieser rosahaarigen jungen Frau gegenüber war nicht erloschen. Überrascht war Sasori darüber nicht sonderlich, denn er hatte sich erst gestern wieder Gedanken um seine Ex-Partnerin gemacht. Unauffällig sah er zu Sakura hinüber und fragte sich, was der Grund für das Ende ihrer Beziehung gewesen war. Es war keine andere Frau im Spiel gewesen, soweit er es letztes Mal verstanden hatte. Er gab weiterhin vor, der desinteressierte Barkeeper zu sein, während er aufmerksam jedes relevante Wort aufnahm. Sakura hatte sich von ihrem Freund getrennt, weil sie sich ab dem ersten Tag des Zusammenziehens nur noch gestritten hatten. Sie hatten sich morgens, mittags und abends gestritten und er war stets sehr verletzend gewesen; er ging manchmal für lange Tage fort, ohne sich bei ihr zu melden und bezeichnete es als seine persönliche Freiheit, ihr nicht mitzuteilen, wo er war und was er tat, während sie vor Sorgen jedes Mal beinahe umkam. „Übernachte heute doch bei mir!“, meinte Ino. „Das haben wir lange nicht mehr getan. Schlafsachen und Zahnbürste stelle ich dir zur Verfügung.“ * Drei Wochen später bekam Sasori mit, wie in die Zweizimmerwohnung nebenan jemand einzog. Auf dem Weg zur Arbeit sah er, wie muskelbepackte Männer ein Sofa aus dem Aufzug beförderten, und am Tag darauf entdeckte er seinen neuen Nachbarn eine Paketbox neben der Tür installieren. Es war eine Frau. Es war die Frau, die er mit ihrer Freundin zweimal in der Bar gesehen hatte. Es war Sakura. Sie wurde mit der Installation fertig, stand auf und entdeckte Sasori auf dem Etagenflur. Im Gegensatz zu Sasori erkannte Sakura ihn nicht sofort, und als sie ihn als den Mann erkannte, der sie zwei ganze Abende mit Getränken versorgt hatte, trat sie zu ihm und reichte ihm die Hand. „Mein Name ist Sakura Haruno“, stellte sie sich freundlich vor. „Wie es aussieht, sind wir ab sofort Nachbarn. Sie leben doch hier, nicht wahr?“ Sie betrachtete die schwarze Tasche, die er sich umgehängt hatte, und identifizierte sie als ein Behältnis für eine Kamera. Als Sasori auf ihre Frage mit einem leichten Nicken antwortete, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht: „Ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus, Herr…“ „Akasuna“, ergänzte er. „Mein Name ist Sasori Akasuna.“ Für einige Sekunden standen sie einander schweigend gegenüber, dann setzte Sasori seine Füße in Bewegung und steuerte den Aufzug an. „Guten Tag, Frau Haruno“, verabschiedete er sich höflich. Als sich die Aufzugstüren schlossen, ging Sakura in ihre Wohnung, verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf die drei letzten Kisten mittlerer Größe, die sie noch auspacken musste. Diese Wohnung war die erste Wohnung gewesen, die sie besichtigt hatte, und auch die letzte. Sie hatte keine Kraft und Lust, sich mehrere Wohnungen zu Gemüte zu führen, zumal diese helle Zweizimmerwohnung schön war und eine gute Lage aufwies: Fünf Minuten Fußweg entfernt lag die Haltestelle, vor der Tür befand sich ein Discounter. Sakura war zufrieden und diese Zufriedenheit trug dazu bei, dass sie sich allmählich von ihrem alten Leben trennte, sich allmählich von ihrem Ex-Freund mental entfernte. Die junge Frau entnahm einer der Kisten einen Vorhang und trug ihn in die Küche, die in ein kräftiges Rot getaucht war. Als sie den weißen Stoff anbrachte, erblickte sie durch das Fenster Sasori, der einen blonden, langhaarigen Mann traf, dem er die Hand schüttelte. Zusammen begaben sie sich zur Haltestelle und nahmen die nächste Bahn, die Richtung Stadt fuhr. Es war ein lustiger Zufall, dass sie nun Nachbarn waren. Sakura war froh darüber, dass sie in ihrer Verzweiflung keinen über den Durst getrunken und sich vor dem anderen blamiert hatte. Nach jeweils zwei Margaritas waren Ino und Sakura dazu übergegangen, alkoholfreie Cocktails zu konsumieren. „Fertig“, seufzte Sakura, als alles, was sich in den Kisten befunden hatte, einen Platz in der Wohnung erhielt, und beschloss, sich ihrem Mittagessen zu widmen. Den restlichen Nachmittag nutzte sie zum Lesen und machte dann einen langen Spaziergang durch die Nachbarschaft. Sie bedauert es zutiefst, dass sie mit ihren Freunden an diesem Samstag nichts unternehmen konnte; die einen trafen ihren Partner, die anderen waren bei ihren Eltern zu Besuch. Urplötzlich fing das Handy in ihrem knielangen Mantel an zu vibrieren, und sie fischte es mit spitzen Fingern aus der Tasche. Es war Ino. Und zu Sakuras Freude konnte Ino doch noch Zeit für sie finden. Dass sie rüberkommen solle, ließ sich Sakura nicht zweimal sagen, flitzte in ihre Wohnung, packte rasch ihre Tasche und eilte zur Bahnhaltestelle. [center"]* Die Leute rissen vor Verzückung die Münder auf. Langgezogene Ahs und Ohs waren überall um Sasori herum zu vernehmen, während am Himmel, begleitet durch ein Pfeifen und Donnern, Farben erschienen und wieder still erloschen. Wäre es Tag, da war er sich sicher, würden ihre Augen glänzen und ihre Wangen würden eine rote Farbe tragen. Deidara hatte sich mit dem Feuerwerk selbst übertroffen. Er war außer sich vor Freude gewesen, als er einen Brief im Postkasten gefunden hatte, das ein Angebot war, ein internationales Team aus Feuerwerkveranstaltern zu ergänzen. Jedes einzelne Funkengebilde, das den Himmel bis jetzt erleuchtet hatte, war Deidaras Werk gewesen.   Sie hatten sich, nachdem sie alle zusammen essen gewesen waren, zu zehnt in den Großen Gärten versammelt, in denen einmal im Jahr ein prächtiges Feuerwerk veranstaltet wurde. Und Sasori wollte die Gelegenheit nutzen, um ein Foto zu machen. Mit der hochwertigen Kamera in seinen Händen, um die sich seine Finger nun legten, konnte man schöne Fotos auch bei Nacht erzielen. Mit den zwei Bildern, die entstanden, war er überaus zufrieden. Feuerwerke festhalten war eine Herausforderung. Damit er seinem Werk ungestört hatte nachgehen können, hatte er sich vom Rest der Gruppe getrennt und eine passende Stelle für sein Vorhaben gesucht. Sasori hatte exakt zwei Fotos gemacht und da sie ihm beide gefielen, löschte er keines davon. Er packte seine Sachen und schlug den Weg zu seinen Freunden ein. Sie hatten Decken auf den Wiesen des Gartens ausgebreitet und saßen mit erhobenen Köpfen da. Sie kannten sich alle noch aus der Schule, gingen mittlerweile aber sehr selten Aktivitäten in der großen Gruppe nach. Meistens traf sich Sasori entweder mit Kisame oder Deidara. Es störte ihn nicht sonderlich; es war nun einmal der Lauf der Dinge: Ein Jeder orientierte sich ab einem bestimmten Alter um. Es passierte, dass ehemals gute Freunde einander weniger oder gar nicht mehr sahen, dass sich Prioritäten veränderten. Oder dass Paare auseinandergingen. Sasori verzog den Mund, als er wieder an sie dachte. Im Stillen war er dankbar dafür, dass Hidan in diesem Augenblick laut wurde. Sasori war ein Mensch der Ewigkeit, aber er hatte an dem Tag, als seine Großmutter gestorben war, verstanden, dass nicht alles ewig sein konnte – und dennoch, dennoch wünschte er sich, dass bestimmte Dinge ewig währen könnten. Das Feuerwerk endete um Mitternacht, und nachdem sich alle voneinander verabschiedet hatten, schlug Sasori den Weg alleine nach Hause ein. Deidara musste sich noch um Abräumen und Gespräche kümmern, während alle anderen in anderen, verschiedenen Richtungen lebten. * Kaum hatte Sasori sich umgezogen, vernahm er ein schüchternes Klopfen an der Tür. Verwundert schaute er in den Spion und stellte mit noch größerer Verwunderung fest, dass es seine neue Nachbarin war. Sie trug einen Morgenmantel am Körper und sah sich verstohlen um wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Da Sasori nicht reagierte, klopfte sie ein weiteres Mal. Sie wusste wohl ganz genau, dass er da war. Sasori kratzte sich am Kopf und öffnete ihr schließlich die Tür, auch wenn er nicht wusste, was ihn gleich erwarten würde. „Uhm, hallo“, grüßte seine neue Nachbarin ihn unsicher. Sie öffnete den Mund, um dem Gruß etwas hinzuzufügen, schloss ihn dann aber wieder und biss sich auf die Unterlippe. „Ja?“, fragte Sasori, da sonst allem Anschein nach nichts von ihr kommen würde. „Wollen Sie vielleicht zum Tee rüberkommen?“, fragte sie ihn und wirkte eine Spur unsicherer, da sie nun nervös zu Boden und wieder zu ihm sah. „Um ein Uhr nachts?“, hakte er nach. Es war ihm einerlei, dass es sehr unhöflich war, seine Nachbarin nicht in die Wohnung, wenigstens auf den Flur zu lassen und mit ihr stattdessen über die Türschwelle zu sprechen. Aber es war kurz vor 1:00. Sakura konnte Sasori nicht erzählen, dass es gang und gäbe war, um diese Uhrzeit beim Nachbarn zu klopfen und ihn zum Tee zu bitten. Der Eindruck entstand, dass sie nicht ganz richtig war. Oder aber ganz andere Absichten hatte, die sie ihm momentan nicht offenbaren wollte. Sakuras Schultern senkten sich. Sie strich sich eine wirre Strähne hinters Ohr und sagte schließlich mit brüchiger, zitternder Stimme: „Ich habe Angst. Ich… Ich weiß nicht, wieso. Es ist nur eine Zweizimmerwohnung, aber sie wirkt mit einem Mal so groß. Es ist so still. Und keiner ist bei mir. Ich habe Angst. Es tut mir sehr leid, Herr Akasuna, falls ich Sie davon abgehalten habe, in Ihr warmes Bett zu steigen. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir Gesellschaft leisten. Ich habe gesehen und gehört, dass Sie erst vor Kurzem gekommen sind. Sonst hätte ich Sie nicht um diese unmenschliche Zeit aufgesucht.“ Sie stand vor ihm, bebend und einem Tränenausbruch nahe, und Sasori wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Eine zutiefst unorthodoxe Zeit für Besuche, Ängste und Weinen, wie er fand. Die Kälte aus dem Flur floss in seine Wohnung, und das fand er ganz und gar nicht gut. Unerwartet, nun scheinbar peinlich berührt, entfernte sie sich ohne ein weiteres Wort an ihn zu richten und verschwand in ihrer Wohnung. Sasori schloss die Tür in seine eigene Wohnung und sah zu dem Schlüssel, der an einem Nagel neben dem Türrahmen hing. Die junge Frau tat ihm genauso leid wie an dem Tag, an dem er sie das erste Mal zusammen mit ihrer Freunden bedient hatte. Sasori machte keinen Hehl daraus, sein Herz wurde in bestimmten Situationen weich und er konnte nicht dafür sorgen, dass es wieder zu Stein wurde. Er fühlte sich ihr verbunden. Dämliches Foto. Dämliche Ex-Freundin. Gott, wie sehr er das Ex hasste. Das gesamte Konzept vergangener Beziehungen war dämlich. Er nahm den Schlüssel und klopfte nun gegen Sakuras Tür, die ihm prompt geöffnet wurde, so als hätte sie durchgehend daneben gestanden und darauf gewartet, dass er kommt. „Einen Tee“, sagte er, „nicht mehr. Haben Sie grünen Tee?“ Sakura führte Sasori in die Küche und pflanzte ihn auf einen der Stühle, die um den roten Tisch an der Wand standen. Sasori beobachtete sie dabei, wie sie erst Wasser filterte, bevor sie es in den Wasserkocher goss und diesen einschaltete. Zwei Tassen entnahm sie einem der Schränke, die über den Arbeitsplatten der Theken hingen. Sich selbst goss sie Beruhigungstee ein. Die Zeit bis zum Servieren der heißen Getränke, die sie ohne Zucker trinken würden, verbrachten sie in andächtigem Schweigen. „Sind Sie Fotograf?“, fragte sie ihn dann. „Ich habe heute Mittag gesehen, dass Sie offenbar eine Kamera dabei hatten.“ „Ich lehne diese Bezeichnung ab“, sagte Sasori trocken und matt und fischte den Teebeutel aus der Tasse. „Ich bin der Fotografierende.“ Die wenigsten begriffen den Unterschied, so auch Sakura. Sie versuchte gar nicht erst, so zu tun, als verstünde sie es, ein erfrischendes Gegenteil dessen, was er sonst gewohnt war. Sie bat ihn um eine Erklärung und er legte ihr seine Denkweise dar: „Fotografieren ist nicht meine Arbeit. Es ist auch nicht ein Hobby.“ Es war das, was ihn ausmachte, es war mehr, als ein Beruf oder ein Hobby jemals zu sein vermochten. Seine Venen und Arterien waren Negative, seine Augen zwei Linsen, sein Herz eine Kamera. Bereits als Kind hatte er mit Spielzeugkameras hantiert und über die Negative gestaunt, die seine Eltern ihm gezeigt hatten. Sasori erinnerte sich noch ganz genau an den Tag, als er das allererste Mal mit seinen Eltern in den Zoo gegangen war und sein Vater ein Foto von ihm und Sasoris Mutter gemacht hatte; seine erste Berührung mit einer Sofortbildkamera. Mit klopfendem Herzen hatte er darauf gewartet, das Bild zu sehen. Es stand eingerahmt in der Vitrine in seinem Wohnzimmer zwischen den Kameras. Es war tatsächlich etwas, das aus seiner Sicht lustig anzuschauen war: Er schielte ängstlich zu dem Tier im Gehege hinüber, worüber seine Mutter lachte. „Ich stelle mir Ihre Bilder gerade wie aus einer anderen Welt vor“, sagte Sakura mit Begeisterung in der Stimme und lächelte ihn an. „Ich habe Anspruch auf meine Motive“, erklärte er ihr und nahm einen Schluck Tee. „Was fotografieren Sie?“ Er antwortete und sie ging gedanklich durch all die Dinge, die er ihr genannt hatte, konstatierte dann: „Fotografieren Sie keine Menschen, Herr Akasuna?“ „Nein“, sagte er, und Sakura fragte nicht weiter nach. Niemand hat ihn das bis jetzt gefragt und er war sich nicht sicher, was er antworten würde. Er konnte Lügen nur in ausgewählten Situationen nachvollziehen und gutheißen. Vielleicht, wenn sie die Frage nach dem warum gestellt hätte, hätte er gesagt: Ich finde Menschen nicht sonderlich fotoästhetisch. Dabei stimmte das nicht. Beim dritten Schluck fing sie an zu erzählen: „Ich schätze, es ist deshalb, weil es meine erste Nacht in dieser Wohnung ist. Und auch die erste Nacht, die ich alleine verbringe. Sonst schlief ich mit meinem Freund oder bei den Eltern, wenn ich bei ihnen zu Besuch war.“ So tranken die zwei Tee und redeten gelegentlich miteinander. Sasori sprach über das Fotografieren, über seine liebsten Motive, während Sakura über ihre Ängste und ihren Freund redete. Sasori klärte Sakura zu keinem Zeitpunkt darüber auf, dass er sie und Ino damals belauscht hatte und wusste, dass sie sich von ihrem Freund getrennt und eine Wohnung gesucht hatte. Sakura wehrte sich momentan gegen den aufkommenden Wunsch, ihn zu kontaktieren, teilte sie ihm mit.   Er hatte eilig nur eine Tasse Tee trinken und wieder in seine eigenen vier Wände gehen wollen, doch sie verblieben bis kurz nach drei am Küchentisch. Sakura schlief ein und er wusste nicht, was er von dieser Frau halten sollte. Jetzt waren sie einander nicht mehr gänzlich fremd, aber sie hatte ihn, einen Fremden, einfach in ihr Haus gelassen. Die Ängste, die sie hatte, waren wohl größer als die Angst, dass ein Fremder wie er ihr etwas antun oder sie ausrauben könnte. Sie war töricht. Sie war töricht, dafür aber ein schönes Exemplar Mensch mit symmetrischen Gesichtszügen. Sasori nahm sich die Freiheit, ihr Gesicht genauer zur inspizieren, während Sakura mit leicht geöffneten Lippen, das Haupt auf der Seite ruhend, im Reich der Träume umhersegelte. Es schienen ruhige, angenehme Träume zu sein, denn sie verzog keinmal das Gesicht. Als er fertig war, erhob  er sich vom Stuhl und ging lautlos aus dem Zimmer. Ihre Einrichtung interessierte ihn nicht und so suchte er sein eigenes Bett auf, legte sich hin und wurde bald vom Schlaf übermannt.   Am nächsten Tag brachten sie ihm Kuchen und diese Begebenheit brachte Sonnenschein in den tristen, regenverhangenen Oktobertag. Sie wollte keinen Eintritt in die Wohnung, sondern reichte  ihm eine geschlossene Dose, die mit saftigen Kuchenteilen gefüllt war. „Ich hoffe, Sie mögen Kirsche, Herr Akasuna“, sagte sie, als er die Dose entgegennahm und den Deckel öffnete. Der Duft von Kirschkuchen, wie seine geliebte, verstorbene Großmutter ihn immer gebacken hatte, ließ Sasori das Wasser im Mund zusammenzulaufen. An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte sie ihm einen ganz besonderen Kuchen gebacken – einen Kuchen in der Form einer Kamera. Sasori hatte es unendlich traurig gemacht, als er mit dem Messer in das weiche Gebäck geschnitten hatte, so schön war dieses Geschenk gewesen. „Einige Freundinnen kommen heute zu Besuch, um sich die Wohnung anzusehen“, berichtete Sakura. „Ich dachte, ich backe Kuchen, und da Sie gestern so nett gewesen sind, wollte ich Ihnen danken. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.“ Sie lächelte ihn dankbar an und ging. Sasori schloss die Tür und machte sich sogleich daran, Wasser aufzukochen, um sich einen Tee zu machen, zu dem er den Kuchen essen würde. Er war außerordentlich deliziös, auch wenn er dem seiner Großmutter nicht das Wasser reichen konnte, und er fragte sich gar nicht erst, ob es selbstgebacken oder selbstgekauft war. Sasori nahm zwei zu sich und packte den Rest weg; er würde sie morgen essen. * Das leere, fremde Sie verwandelte sich in den nächsten Wochen in ein du, das keiner der beiden als herzlich bezeichnet hätte, aber als vertrauensvoll. Er kam zu ihr, wenn niemand bei ihr zu Besuch war, und seltener verbrachten sie die Zeit bei ihm daheim. Sasori sagte es Sakura nie, aber er fühlte sich bei ihr in der Küche zu zweit wohler als bei sich selbst, während er das Alleinsein in der eigenen Küche durchaus schätzte und genießen konnte. Er hatte nie auch nur ansatzweise mit den anderen Nachbarn so viel verkehrt wie mit Sakura. In der Tat war seine Ex-Freundin bis Sakura die letzte Person gewesen, die er in seinen engen Kreis gelassen hatte. Sasori glaubte fest daran, dass alles, was an dem einen Tag geschehen war, den Weg für die Entwicklung dieser Beziehung geebnet hatte. Das Foto, das er abgemacht hatte, die Erinnerungen, die auf ihn eingeprasselt waren, sein Mitgefühl Sakura gegenüber, die alleine und mit gekreuzten Armen liegenden Kopf an der Theke gesessen hatte. Er bereute es nicht, schließlich hatte er nun jemanden, mit dem er manchmal am Abend einen Tee zusammen trinken konnte. Sakura fühlte sich im Dezember bereits sehr wohl und war froh, ihren Freund hinter sich gelassen zu haben, der ihr nichts als Kummer und Sorgen bereitet hatte. Eines Tages, als sie sich darüber unterhielten, was sie den nächsten Tag vorhatten, sagte Sasori: „Ein Freund nimmt mich morgen mit auf einen Ansitz. Ich möchte gerne ein Reh erwischen oder ein Wildschwein.“ Er erzählte ihr vom letzten Mal, und Sakuras grüne Augen funkelten, als er ihr von dem Sonnenaufgang berichtete und vom Abbild der Szenerie, das er sein Eigen nannte. Sie hatte einmal geäußert, dass sie ihn gerne einmal beim Fotografieren sehen würde und dass es lange her war, dass sie wahre Natur erlebt hatte. Mit einem Ausflug zum Ansitz ließe sich beides unter einen Hut bringen. Sakura gehört zu den wenigen Menschen, denen er freiwillig einen Gefallen tun wollte. „Es ist sicher schön dort.“ Ihr Blick wanderte in ihre Tasse, die mit Tee gefüllt war. Das Teetrinken war zu einem Ritual geworden. Und plötzlich konnte es Sasori sich nicht vorstellen, wie sie so etwas wie Freunde geworden waren. Er war ein verschlossener Mensch und wusste darüber Bescheid. Die letzten Wochen glichen mit einem Mal einem einzigen Wimpernschlag. Er wollte Sakura mit auf den Ansitz nehmen. Bevor er Sakura das Angebot unterbreitete, musste erst Kisame gefragt werden, und so trank Sasori ohne Hast seinen Tee aus, verabschiedete sich von Sakura und tippte, sobald er zu Hause war, eine SMS an Kisame, der ihm eine Stunde später antwortete. * „Kisame“, stellte sich Sasoris Freund Sakura grinsend vor und reichte ihr durch die Vordersitze die große, raue Hand. Kisame hatte auf sie am Bahnhofsparkplatz gewartet. Eigentlich durfte Kisame niemanden mitnehmen, erst recht nicht zwei Menschen. Da aber weder Sakura noch Sasori allzu viel wogen, hatte er sich letztendlich doch dazu überreden lassen, die beiden am helllichten Tag mitzunehmen. Auf dem Sitz neben Sakura stapelten sich sorgfältig gefaltet Decken; Kisame hatte dieses Mal mehr Decken mitgenommen, schließlich war es schon Mitte Dezember, es schneite gelegentlich, und wenn man sich nicht bewegte, wurde einem schneller kalt. Die drei hatten nicht vor, die Nacht im Ansitz zu verbringen. An Sakura zogen nun kleine Häuschen vorbei, die bald Gruppen von kahlen Bäumen wichen. Das Auto kam zum Halt. So leise es nur ging verließen Kisame, Sasori und Sakura das Auto und begaben sich durch den Matsch zum Ansitz, ein jeder Decken in den Händen. Erst bestieg Kisame die Leiter, dann Sakura und schließlich Sasori. Sie alle mussten mit leicht angewinkelten Beinen dasitzen, aber das störte Sakura nicht. Sie schaute durch die Öffnungen zu den Wäldern und zu den Tälern, atmete die klare, frische Luft und den Geruch von Freiheit ein. Kisame reichte ihr ein Fernglas und sagte an Sasori, der sein schlankes Stativ aufbaute, gewandt: „Na, ob das zu dritt gut geht mit dem Foto?“ „Ich glaube, ich habe etwas gesehen“, sagte Sakura, „ganz flüchtig.“ Sie reichte das Fernglas an Kisame zurück, der die Gegend absuchte, aber nichts fand. „Ho“, meinte er, nachdem er ihr das Fernglas zurückgegeben hatte, und grinste noch breiter als bei ihrer Bekanntmachung im Auto. „Die Jägersprache beherrschst du schon einmal. Flüchtig ist sehr gut.“   Sie saßen da und flüsterten einander zu. Sasori hatte selten etwas zu sagen und wunderte sich darüber, wie gut Kisame und Sakura sich unterhalten konnten. Sie fand Kisames Beruf äußerst spannend, fragte ihn aus und er schien ihr gerne Antworten zu geben. Als Kisame kurz auf das Display seines Mobiltelefons sah, entdeckte er einen verpassten Anruf und sagte, dass es wichtig sei und er unbedingt zurückrufen müsse. Er kletterte hinaus und sorgte unwillkürlich dafür, dass Sakura gegen Sasori gepresst wurde. Kisame ging alleine den Weg, den sie hierher zurückgelegt hatten, zum Auto, und Sasori und Sakura blieben in der Position sitzen, in der Kisame sie gebracht hatte. Und sie fühlte sich wohl bei Sasori. Sakura hatte ihren Freund nie geliebt. Sie hatte einer Beziehung aus der Angst heraus, für den Rest ihres Lebens alleine zu bleiben, zugesagt und stets gehofft, dass er sich durch ihren positiven Einfluss ändern könnte, während sie sich an seine Präsenz zu gewöhnen begonnen hatte. Es waren keine Veränderungen eingetreten und sie fand sich oft  weinend und mitgenommen im Bett wieder, kaum in der Lage, zur Arbeit zu gehen, wo sie als Kundenbetreuer viel Kontakt zu Menschen hatte und es sich nicht ziemte, ihnen mit verheulten Augen und Zerstreutheit zu begegnen. Ein Gespräch mit ihrem Chef war letztendlich der entscheidende Stoß gewesen, der sie dazu bewegt hatte, intensiv über die Beziehung nachzudenken und dem Ganzen aus Liebe und Respekt sich selbst gegenüber ein Ende zu setzen. Sasori und Sakura sprachen nicht miteinander, sie sahen sich auch nicht an. Unbewegt wie die Bäume in ihrem Sichtfeld saßen sie da und warteten auf Kisames Rückkehr. Plötzlich weiteten sich Sasoris Augen und seine Hand bewegte sich zu der aufgebauten Vorrichtung mit der Kamera. Er hatte ein Reh entdeckt. Auch Sakura entdeckte das Tier, das langsamen Schrittes sich auf den Ansitz zubewegte. Sasori handhabte die Kamera wie ein Lebewesen. Noch nie hatte Sakura jemanden gesehen, der mit solcher zärtlichen Hingabe sein Werk verrichtete, und sie fragte sich, wie er mit Frauen umging. Er legte seine Finger vorsichtig um die Kamera, so als wäre sie ein fremdes Herz, das ihm zu hüten anvertraut worden war. Er war so konzentriert, dass sie den Eindruck hatte, alles um ihn herum bis auf ihn selbst und das Motiv wäre verblasst. Das Reh blieb unweit des Ansitzes stehen und warf den Kopf nach vorne. Sasori wollte kein Foto machen, und Sakura fragte sich, weshalb. Es war doch das, was er hatte erreichen wollen. Sicherlich würde bald Kisame wieder hochkommen und das scheue Tier verjagen. Und Kisame kam. Das Tier vernahm seine Schritte und eilte zurück in den Wald. „Das Licht war nicht gut, die Position ebenso“, sagte Sasori zu ihr, als er sich zurücklehnte und die Decke wieder über seine Füße ausbreitete. Sakura sah ihn verständnislos an, und als er sie ansah, trafen sich ihre Blicke und lösten sich sogleich. Wenige Sekunden später kletterte Kisame in den Ansitz und fragte, ob etwas Aufregendes passiert sei, und er schüttelte grienend den Kopf, als Sakura ihm erzählte, dass sie ein Reh gesehen hatten, Sasori von ihm allerdings kein Foto gemacht hatte. Bevor sich die Dunkelheit über das Dach senken konnte, brachen die drei zum Auto auf. Sakura ging schweigend neben Sasori her und dachte über die Art und Weise nach, wie Sasori seine Kamera behandelte, und auch über seine Worte das Licht und die Position betreffend. Und sie dachte an die wohlige Wärme, die sie durchflossen hatte, als sie nebeneinander gesessen hatten. * An dem Tag, an dem Ino und Sakura das Restaurant betraten, in dem Sasori arbeitete, hatten sie zuvor bei einem Gewinnspiel auf der Straße mitgemacht. „Versuch dein Glück“, sagte Ino zu ihr, nachdem ihnen erklärt worden war, dass der erste Preis eine zehntägige Reise für eine Person nach Australien war. Im Januar fand Sakura einen Brief im Briefkasten und riss ihn noch im Aufzug auf. Als der Aufzug stehen blieb und die Türen auseinanderglitten, verließ sie nicht den engen Raum, sondern starrte mit geöffnetem Mund auf die ersten Zeilen des an sie gerichteten Briefes. Frau Haruno, Sie haben Gewonnen! Sie haben gewonnen! Gewonnen! Sie hatte in ihrem gesamten Leben noch nie etwas gewonnen und nun war der Preis umso gewaltiger. Sie zuckte plötzlich zusammen, als sie sich gewahr wurde, dass sie bereits in ihrem Stockwerk angekommen war. Sie stürmte aus dem Aufzug, aufgeregt und mit klopfendem Herzen. Es war nicht die Tür zu ihrer Wohnung, zu der sie lief. Sakura kam vor der Tür zu Sasoris vier Wänden fast schlitternd zum Stehen und klingelte. Sie war so glücklich, dass sie sich davon abhalten musste, bei ihrem Nachbarn Sturm zu klingeln. Sasori machte ihr mit müdem Ausdruck im Gesicht auf und den Anblick, der ihm begegnete, hätte er zu gerne festgehalten, obwohl er im Prinzip nichts Besonderes war, das Licht miserabel. Ihre Wangen waren prall und rosig, ihre wohlgeformten Lippen weit geöffnet. Ihre elfenbeinfarbenen Zähne blickten ihm fröhlich entgegen, ebenso ihre grünen Augen. Jetzt erst, nachdem er ihr Gesicht betrachtet hatte, merkte er, dass sie etwas in den Händen hielt, einen Brief. „Sasori“, nannte sie ihn jauchzend beim Namen, „ich habe gewonnen!“ Nicht in der Lage, weiterhin still zu stehen, betrat sie die Wohnung. Wäre er nicht rechtzeitig zur Seite gegangen, wäre es bestimmt zu einer Kollision gekommen. „Ich habe gewonnen!“, wiederholte sie abermals im Flur und hielt ihm den Brief entgegen, den Sasori nahm. Er las sich ihn durch, während Sakura mit vor Euphorie zitternden Fingern eine Nachricht an die Mädelsgruppe schrieb. Australien. Sakura würde nach Australien gehen. Dieser Kontinent weckte unangenehme Assoziationen und Sasori runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht wirklich für Sakura freuen, was sie ihm auch ansah. „Freust du dich nicht für mich, Sasori?“, fragte sie ihn, ohne die Hintergründe seiner frugalen Reaktion zu kennen. „Man gewinnt nicht jeden Monat etwas, erst recht nicht eine Reise nach Australien.“ Sakura nahm den gereichten Brief entgegen, laut welchem sie sich bis zum Ende des Monats melden sollte. Sie würde Mitte Mai aufbrechen. In ihr herrschte gerade dasselbe Unverständnis vor, als Sasori sich dagegen entschieden hatte, ein Foto von dem Reh zu machen. Es enttäuschte sie, dass er ihr nicht einmal ein Lächeln schenkte. Sie wusste, dass er sparsam mit Emotionen war. Aber ein Gewinn war doch nichts Alltägliches. „Ich freue mich“, sagte Sasori wie eine einstudierte Formel, die er nicht in der Lage war anzuwenden. Sakura lächelte blass. „Ich werde mich gleich bei denen melden!“ Sakura schrieb rasch eine Mail und verschickte einige Audionachrichten an ihre Freundinnen, die ihr mit lieben Worten, Herzchen und Smileys gratuliert hatten. Die junge Frau kam bis zum Abend nicht wirklich zur Ruhe und erwischte sich gelegentlich dabei, wie sie überglücklich in der Wohnung auf und ab ging und sich die Gedanken überschlugen. Sasoris karge Reaktion war bei der Masse an Freude in ihrem Leib bald vergessen, und als er zum täglichen Teetrinken vorbeischaute, goss sie summend und mit gehobenen Mundwinkeln Wasser über seinen Teebeutel. Ihr fiel erst auf, dass mit Sasori etwas nicht stimmte, als sie sich ihm gegenüber setzte. „Was ist los?“, fragte sie ihn. „Ich denke, ich habe schlechte Laune“, antwortete Sasori ihr, nachdem er sie lange betrachtet hatte wie ein Foto. Ihm fiel abermals auf, was für eine schöne Frau sie war, und für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihm ein Bild durch den Sinn. Wie er sie bei günstigem Licht, einem wolkenfreien Himmel und einer warmen Sonne auf einem Feld fotografiert, in einem langen, ärmellosen Kleid, die weißen Arme entblößt. Eine Hand streckt sie dem wachsenden Getreide entgegen, so als würde sie ihren Segen aussprechen, die andere Hand hält den Hut auf ihrem rosa Haupt fest, den ihr ein leichter Wind fortzureißen sucht. Und ihr Kleid flattert in der Luft, das Getreide unter ihrer zierlichen Hand wiegt sich im Wind und sie lacht, sie lacht denjenigen an, der ein Foto von ihr macht. „Weshalb?“ Er sah sie mit seinen braunen Augen an und zuckte mit der linken Schulter. „Es gibt dafür keine Erklärung.“ Und sie schwiegen. Das erste Mal seit Monaten saßen sie einander gegenüber und schwiegen sich an. Sakura wollte nicht, dass Sasori durch ihre Euphorie oder ihre Erzählungen eventuell noch schlechtere Laune bekam, und Sasori schwieg, weil er nichts sagen wollte. Er wusste, was er ihr sagen könnte, aber er wollte es schlicht und ergreifend nicht. In der hintersten Ecke seines Verstandes verbarg sich der Grund für sein Benehmen und seine Laune, aber er wollte nicht darüber nachdenken, dass er darüber, dass Sakura ausgerechnet eine Reise nach Australien gewonnen hatte, alles andere als erfreut war. „Ich werde gehen, denke ich“, sprach er zu ihr, nachdem er seine Tasse geleert hatte. Anders als die Male zuvor begleitete sie ihn nicht zum Ausgang, sondern blieb demonstrativ sitzen. Sie hörte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss und verschränkte dann wütend und frustriert die Arme vor der Brust. Sie hatte keine Ahnung, was genau mit Sasori nicht stimmte, für sie stand fest: Sie trug keinerlei Schuld und sein Gebaren ihr gegenüber war mehr als inakzeptabel. Vielleicht würde er das morgen, wenn nicht noch heute realisieren und sich entschuldigen. Die Hoffnung, dass es so kommen würde, ließ Sakuras Wut auf Sasori verrauchen. Er war auf der Willkommen-Matte stehen geblieben und hatte minutenlang auf den Boden gestarrt, die Hände zu Fäusten geballt. Nach Australien. Sie ging nach Australien. Sasori verfluchte das Foto zum x-ten Mal und wünschte abermals, er hätte es rechtzeitig zerrissen, hätte es mit der Flamme einer Kerze verbrannt und die Asche dem Wind zugeworfen oder die Toilette hinuntergespült. Er war sich absolut sicher, dass es das paradiesische Abbild war, das ihn immer noch verfolgte und ihn daran hinderte, sich für Sakura zu freuen. Sasori betrat seinen Flur mit der Absicht, etwas zu unternehmen. Wie ein Irrer fing er an, sämtliche Schubladen und Schränke zu durchwühlen in der Hoffnung, etwas von seiner ehemaligen Freundin oder etwas, das mit der Beziehung zu tun hatte, ausfindig zu machen. Er hatte die Intention, es zu zerstören, ganz egal, was er finden würde. Sasori suchte und suchte mit hektischem Atem, brachte Chaos in die Ordnung, die er eigentlich liebte, und schließlich wurde er fündig. In den Händen hielt er nun eine Zeichnung, die er angefertigt hatte, als sie bei ihm gewesen war. Das Malen und das Zeichnen hatte er versucht zu üben, weil er gedacht hatte, dass er eine andere Beschäftigung neben dem Fotografieren brauchte. Aber er hatte sehr schnell gemerkt, dass er weder das eine noch das andere brauchte. Das Malen mit Licht füllte Sasoris Körper gänzlich aus und es gab dort weder Platz für angespitzte Bleistifte noch für Aquarellfarben. Sasori hatte seine ehemalige Freundin seitlich gezeichnet. Die erste und letzte Zeichnung, die er jemals angefertigt hatte. Sie hatte ihr gefallen, und er nahm das dünne Papier an sich, knüllte es zu einem unförmigen Ball zusammen und überlegte dann, was er damit machen sollte. Schließlich brachte er es ins Bad, weichte es ein und warf es in die Toilette. Ohne Hintergedanken, der Kopf ganz leer, drückte er die Spültaste durch, und das Wasser nahm die Zeichnung mit auf eine feuchte Reise. Am liebsten würde Sasori nun zurück zu Sakura gehen und sich entschuldigen, denn er fühlte sich geläutert. Aber um seine Schultern hatte die Angst ihre Pranken geschlungen, eine Angst abstrakter Natur. Sasori beschloss, Sakura erst morgen aufzusuchen. Sie würde seine Entschuldigung ganz sicher annehmen – wie oft kam es vor, dass er sich ehrlich, aufrichtig entschuldigte? Mittlerweile kannte sie ihn und sein sonderbares Wesen. Sie schien stets fasziniert gewesen zu sein denn abgestoßen, und das pflanzte Sasori Zuversicht in die Brust, die bis zum nächsten Tag anhielt. Als er bei ihr klopfte, verspürte er tatsächlich Aufregung und sein Herz wollte keine Ruhe geben. Sakura machte auf und begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. „Hallo, Sasori“, sagte sie und ließ ihn rein. Sie gab ihm keine Zeit, sich zu entschuldigen, denn sie verhielt sich, als wäre gestern nichts vorgefallen, und sie erzählte, erzählte und erzählte. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich, als es kurz still wurde beim Teetrinken. „Wegen meinem Verhalten gestern. Ich… ich freue mich für dich. Wirklich.“ Er hatte die Zeichnung zerstört und sich gut gefühlt. Er fühlte sich auch jetzt gut, aber die Worte waren nur schwer über seine Lippen gekommen. Sasori hatte allerdings keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, da Sakura, nachdem sie seine Entschuldigung angenommen hatte, die Unterhaltung in andere, entferntere Bahnen lenkte. * Der Tag der Abreise kam schneller, als Sasori es erwartet hatte. Plötzlich stand Sakura, hinreißend bekleidet, vor seiner Tür, neben ihr ihr riesiger Koffer, und für Sasori war es noch Januar. „Ich wollte mich von dir verabschieden“, sagte Sakura fröhlich, und in seinen Ohren hörte es sich an, als würde sie für immer gehen. Die Vorstellung, dass er irgendwann nicht mehr in der Lage sein würde, zusammen mit ihr Tee zu trinken und zu plaudern, war für ihn erschreckend apokalyptisch. Sasori schätzte, er hatte sich an die junge Frau gewöhnt. Sie war zu einer Konstante geworden und es fiel schwer, eine Konstante ziehen zu lassen, selbst wenn es nur zehn Tage waren. Sie waren sehr selten in seiner Küche gewesen, und so hatte es einen merkwürdigen Beigeschmack, die Minuten vor ihrer Abreise hier zu verbringen, umgeben von Grau und Weiß und nicht von lebendigem, kräftigen Rot, von dem auch Sakuras Wesen war. An seinem Geburtstag hatten sie hier gegessen, Tee getrunken und Süßes gegessen. Süßes in Form von winzigen Schokoladenkameras, deren Anblick ihm ein unvergleichliches Kribbeln beschert hatte. Es war ein schöner Tag gewesen. Und auch jetzt saßen sie hier, aber es war kein schöner Tag. Sakura trug dezente Schminke im Gesicht, die ihren Augen und Lippen schmeichelte, und er konnte für keine Sekunde den Blick von ihr abwenden, während sie unter dem Tisch erregt die Hände rang.   „Ich habe deine Nummer. Ich werde dir schreiben, wenn ich ankomme.“ Sie kicherte vergnügte. Sie kicherte. Er hatte sie noch nie kichern gesehen. „Ich werde auch viele Fotos machen und sie dir schicken. Aber sei nicht böse, wenn sie nicht an die Gewaltigkeit deiner Bilder rankommen“, meinte sie scherzhaft, und Sasori presste die Lippen in den Mund. Er wollte keine Fotos von Australien. Sakuras Hände ruhten vor ihm auf dem Tisch. Lange, gepflegte Finger, kurze, mit quellklarem Lack gestrichene Nägel. Er wollte sie ergreifen und sie halten und konnte es sich nicht erklären, wieso er diesen Wunsch verspürte. „Ich… Ich werde dich zur Tür begleiten“, kam es über Sasoris Lippen, als Sakura aufstand. Er trug ihren Koffer zum Aufzug. Unten wartete auf Sakura ein Taxi, das sie zum Flughafen bringen würde, und für Sasori war es, als wäre es ein Umzugswagen voller Kisten, die sie in eine neue Wohnung nahm. Der Augenblick, in welchem sie ihn das allererste Mal in die Arme schloss, der Augenblick, in dem ihre Brüste auf seine Brust trafen und sich ihre Herzen verschmolzen, er ihren Duft zum Abschied in sich sog, war der Augenblick, in dem Sasoris Körper in einem Glücksgefühl aufging. Er wollte sie zurückumarmen, sie fest an sich drücken und ihr sagen, dass sie doch bitte nicht fahren solle, aber da hatte Sakura sich schon in den Aufzug begeben, winkte ihm zu und verschwand aus seinem Sichtfeld. Er war sich nicht sicher, ob er es richtig gesehen hatte, aber am Ende hatte ihr Gesicht traurig gewirkt, so als hätte sie etwas von ihm erwartet. Er blieb alleine zurück und verspürte Nieder- und Zerschlagenheit in allen seinen Gliedern. Schwermut befiel ihn so plötzlich, dass es ihn kurz schwindelte. Er rieb sich die Lider und kam erst zur Ruhe, bevor er auf dem Absatz kehrt machte. In der Küche nahm er das Mobiltelefon in die Hände und starrte es lange an, hoffend, dass sie ihm etwas schreiben würde. Nach zwanzig Minuten hatte sie ihm immer noch nichts geschrieben. Nun durfte sie am Flughafen sein. Zehn Tage. Er würde zehn Tage lang auf ihre Rückkehr warten und diese zehn Tage würden ihm sicherlich vorkommen wie zehn Jahre. Er dachte an alle Momente, die sie gemeinsam geteilt hatten. Es waren viele und die Schönheit all dieser Momente wurde ihm jetzt erst bewusst. Die Schokoladenkameras. Ihre Finger, wie sie die Süßigkeiten für ihn ihrer transparenten Verpackung beraubt und sie ihm entgegenhält wie eine aufgegangene, seltene Blüte. Die gelegentlichen Abende an der Bar. Die Art und Weise, wie sie ihre Getränke umfasst, wie sie ihr Haar zurückwirft und ihn ansieht, belustigt darüber, dass er als ihr Nachbar sie bedient. Der Aufenthalt im Ansitz. Ihre Körper gegeneinandergepresst, die Blicke aufeinander gerichtet. Das Teetrinken in der Küche. Das Reden über die vergangenen Beziehungen. Wie er sich ihr anvertraut, wie er ihr im ruhigen Ton erzählt, auf welche üble Art und Weise er verlassen worden sei, und sie, die ihre Hand auf die seine legt und ihm erzählt, wie unglücklich sie in ihrer letzten Beziehung gewesen und wie froh sie sei, jetzt ein unabhängiges Dasein führen zu können. Sasori rieb sich entnervt und erschöpft den Nacken und fragte sich, was er als nächstes tun würde. Zur Arbeit musste er erst in drei Stunden. Er wusste mit einem Mal nichts mit sich selbst anzufangen und ging ins Wohnzimmer. In Gedanken an Sakura und die Abende mit ihr vertieft, ließ er seinen Blick über die Kameras hinter dem Glas schweifen. Er würde hinausgehen und ein Foto machen. Das nahm er sich vor, aber er schaffte es nicht zur Tür. Mitten im Gehen stoppte er und sah auf seine Kamera. Er hätte sie so gerne fotografiert. Dann würde er sie jetzt betrachten können. Er wollte sie mit Licht malen, er wollte sie in jeder möglichen Form betrachten wollen, wollte ihre Linien von einem Negativ ablesen und sie auf einer Sofortbildkamera erscheinen sehen, selbst wenn sie ein Mensch war und er sich geschworen hatte, keine Fotografien von Menschen mehr anzufertigen. Sasori ging wieder in die Küche und nahm sein Mobiltelefon an sich. Sakura hatte ihm nichts geschrieben, also beschloss er, ihr zu schreiben. Unbeholfen tippte er wenige Wörter, die ihn enorme Anstrengung kosteten. Er fühlte sich noch zerschlagener als zuvor und überlegte, ob er nicht Opfer von Reflexen geworden war. Doch nun war es einerlei, was mit ihm war, er hatte die Nachricht verschickt. Die Zeit verging, eine Antwort blieb aus. Und die Zeit bewegte sich weiter, schleifte ihren schwerfällig gewordenen Körper durch den Sand. Sasoris Verstand drohte zu zerspringen, als er auf die Uhr sah und feststellte, dass Sakuras Flugzeug vor zehn Minuten in die Lüfte gestiegen war. Auf einmal fühlte er sich leer und lehnte sich gegen die Wand am Eingang in seine Wohnung. Sie war weg. Nun war sie weg und er würde sie erst in zehn Tagen sehen. Die Hohlkamera in seinem Herzbeutel war kaputtgegangen. Und es schmerzte. Es schmerzte so sehr. Er hatte ihr geschrieben, dass er sie gerne vor der Abreise fotografiert hätte. Es klingelte an der Tür. Sasori zuckte nicht einmal zusammen. Vielleicht würde sie sich in Australien in einen Mann verlieben. Die Erkenntnis, dass er für Sakura mehr empfand als für einen Nachbarn oder gar einen Freund weiblichen Geschlechts üblich war, traf ihn mitten in den Magen, der ein laues Grummeln von sich gab. Er wollte Sakura hier haben und ignorierte das Klopfen und Klingeln. „Sasori! Mach bitte auf.“ Sasori erstarrte. Es war ihre Stimme und er konnte zu dem Zeitpunkt nicht sagen, ob es Einbildung war. Er schluckte und erhob sich langsam wie auf Kommando, trat zu der Türklinke, ergriff sie. Gemächlich drückte Sasori sie hinunter, und sein Herz schlug gegen seine Brust, pochte aufgeregt, vor Freude, vor Unglauben. Sakura warf sich an ihn, presste ihren schlanken Körper an seinen, und Sasori war immer noch nicht sicher, ob es Einbildung oder Realität war, obwohl er sie spürte. „Ich habe sie gelesen“, murmelte sie gedämpft gegen seine Kleidung. „Deine Nachricht. Sasori…“ Sie wiederholte seinen Namen noch mehrere Male, als hätte sie Gefallen daran gefunden, wie sich ihre Zunge in der Mundhöhle beim Formen bewegte. „Und ich dachte, du fotografierst keinen Menschen. Es ist ihretwegen, nicht wahr? All die Zeit hast du keine Menschen fotografiert, keine Frauen insbesondere, weil sie dich verlassen hat.“ Als sie seine Nachricht gelesen hatte, war sie zum Taxistand gestürzt und rief noch beim Einsteigen Ino an, die die Reise zu gerne selbst gewonnen hätte. Sie hatte nicht fahren wollen, weil sie gespürt hatte, dass sich etwas Wunderbares zwischen ihnen entwickelte, aber sie war unschlüssig gewesen, weil Sasori nichts gesagt hatte. Im Taxi hatte sie darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn sie jetzt nach Australien flöge und in zehn Tagen zurückkehrte. Sie würden wieder bei null anfangen, dessen war sie sich sicher gewesen. Und sie wollte es nicht. Sasori war ihr wichtiger als eine Australienreise. Er hätte bejahen können, aber Sasori tat es nicht. Er hielt sie in seinen Armen und hatte Angst, etwas zu sagen, weil er glaubte, dass sich alles in Luft auflösen könnte. „Was ist mit der Reise?“, wollte er schließlich doch heiser wissen. „Nicht übertragbar. Kein Australien für mich.“ „Bedauerst du es nicht?“ Sie schüttelte ihren Kopf und vergrub ihre Finger in dem Stoff seines schlichten schwarzen Oberteils, und ihm schoss ein Bild durch den Sinn, wie er sie bei günstigem Licht, einem wolkenfreien Himmel und einer warmen Sonne auf einem Feld fotografiert, in einem langen, ärmellosen Kleid, die weißen Arme entblößt. Eine Hand streckt sie dem wachsenden Getreide entgegen, so als würde sie ihren Segen aussprechen, die andere Hand hält den Hut auf ihrem rosa Haupt fest, den ihr ein leichter Wind fortzureißen sucht. Und ihr Kleid flattert in der Luft, das Getreide unter ihrer zierlichen Hand wiegt sich im Wind und sie lacht, sie lacht ihn an, den, der sie mit seinem Licht malt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)