Vertauscht von lullulalla (Vertauschte Welten) ================================================================================ Kapitel 1: Ein anderes Leben ---------------------------- 1 Ein anderes Leben Alles, was ich möchte ist Geborgenheit. Jemand, der mich so akzeptiert, wie ich bin. Eine Person, die mich in den Arm nimmt, wenn ich traurig bin und sich mit mir freut, wenn ich glücklich bin. Für mich wäre diese Person mein Ein und Alles und ich wäre ihr so unglaublich dankbar für diese kleinen Dinge, die für andere alltäglich sind. Wäre ich doch nur jemand anderes und würde ein anderes Leben führen. Wäre ich niemals hier geboren, sondern woanders, dann wäre ich mit Sicherheit niemals zu der Person geworden, die ich jetzt bin. Ich würde nicht in dieser Dunkelheit sitzen, wo ich nicht mehr mit eigener Kraft aufstehen kann. Es mag sein, dass viele Menschen es schaffen ihr Leben zu verändern. Mutig genug zu sein, um hinauszugehen und durch die Motivation ihres Selbstbewusstseins Kraft zu schöpfen. Doch ich schaffe das nicht. Ich kriege das nicht hin. Warum? Die Antwort ist einfach: Ich schaffe es nicht, weil ich einsam bin. Ich sehe meine Mitmenschen um mich herum, so viel größer und stärker als ich, und ich sehe deren lachenden Gesichter, wenn sie ihre Familien begrüßen. Die Eltern nehmen sie in die Arme und die Liebe zwischen ihnen ist fast mit Händen zu spüren. Aber warum bei ihnen? Warum nicht bei mir? Die grauen Wände um mich herum verschlingen mich beinahe und in meinem zu Hause weht ein stiller, kalter Wind. Ich weiß, woher diese Kälte kommt. Sie kommt nicht von draußen, sondern ist in mir drin. Ein kalter, scharfer Wind, der stillsteht, aber nicht verschwinden will. Alles, was ich sehe, ist immer kalt und blau, vermischt mit einem schattigen Grau. Doch was ich mir wünsche, ist ein warmes Orange, fast rot, wie der Sonnenuntergang, der sich ein wenig mit einem hellen, strahlenden Gelb vermischt. Das ist die Farbe, die ich bei allen anderen sehe. Wie sehr ich mich danach sehne… Wie sehr ich mir doch wünsche, ein solches Leben wie jenes zu führen. Doch es wurde mir nicht gegönnt. Ich hatte keine Wahl auf dieses Leben. Anscheinend musste ich wohl etwas falsch gemacht haben, sodass ich jetzt bestraft wurde. Aber was? Warum ich? Warum? Warum? Warum? Kapitel 2: Versprechen ---------------------- 2 Versprechen „Alles Gute zum Geburtstag, Kari!“ Ich wirbelte herum, als eine sehr bekannte Stimme hinter mir ertönte. Auf meinem Gesicht stahl sich ein breites Lächeln, als ich sie erkannte. „Yolei!!“, rief ich und sie lief auf mich zu, um mich zu umarmen. „Mein kleines Schätzchen, alles Liebe!“, sagte sie aufgeregt und drückte mich fest. Ich erwiderte ihre Umarmung herzlich. „Danke!“, antwortete ich und ließ sie los. „Und einen schönen guten Morgen.“, sagte ich schließlich und sie grinste mich an. „Guten Morgen, Kari! Ich wünsche dir auch alles Gute.“ Ken, der hinter Yolei stand, lächelte mich höflich an und nahm mich dann ebenfalls in den Arm. „Danke, Ken. Ich freu mich sehr.“ „Und? Wie war denn dein bisheriger Morgen so?“, fragte mich Yolei schließlich, als wir uns weiterhin auf dem Weg zur Schule machten. Ich zuckte mit den Schultern. „Ganz gut. Papa war schon zur Arbeit. Und Mama und ich haben mal wieder ewig gebraucht, um Tai zu wecken.“ „Typisch dein Bruder. Der ist immer nur am Pennen. Ein richtiger Morgenmuffel ist das.“, sagte Yolei und schüttelte den Kopf. „Das war er schon immer und wird es in fünfzig Jahren immer noch sein. Ist also nichts neues.“ „Morgen…“, hörten wir plötzlich hinter uns und wir drehten uns überrascht um. „Und hier haben wir noch einen Morgenmuffel.“ Yolei hob eine Augenbraue und stemmte ihre Hände in die Hüfte. „Guten Morgen, Davis.“, begrüßte ich ihn und er hob gähnend zum Gruß seine Hand. „Mann, ich hasse Montage. Wochenenden sind einfach viel zu kurz.“, murrte er und rieb sich die Augen. Ken schüttelte missbilligend den Kopf. „Würdest du nicht nachts ständig am PC hocken, wärst du auch nicht so müde.“ „Blablabla.“, machte Davis und winkte ab. „Und ich nehme wahrscheinlich Recht mit der Annahme an, dass du nicht für die Klausur heute gelernt hast.“, stellte Ken fest. Wir alle konnten das Rattern in Davis’ Kopf hören, bis es nach einigen Sekunden endlich „Klick“ machte. „Oh kacke!!“ Entsetzt riss er die Augen auf und starrte uns an. „Die Matheklausur! Die hab ich ja total vergessen!“ „Das ist nichts Neues.“, entgegnete Yolei und ich nickte ebenfalls. „Wir haben dir extra letzte Woche jeden Tag gesagt, dass wir heute die Klausur schreiben und du hast jedes Mal darauf geantwortet, dass du dich dieses Wochenende mal so richtig aufs Lernen konzentrieren willst.“, erinnerte ich ihn und er stöhnte verzweifelt auf. „Verdammt!“ „Und die Tatsache, dass du Karis Geburtstag ebenfalls vergessen hast, beweist nur, dass du echt eine Matschbirne bist, Davis.“ Yolei schnalzte mit der Zunge. „Geburtstag?“ Sein Kopf drehte sich sofort zu mir und wieder stieß er ein Stöhnen aus. „Oh mann, ich bin auch echt ein Honk!“ Er riss mich in seine Arme und drückte mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb. „Alles Gute, Kari!! Ich hab’s nicht vergessen, wie könnte ich denn! Es ist nur so früh am Morgen und ich brauche immer ein wenig, um richtig wach zu werden, das weißt du doch?“, sagte er in einem Zug. „Danke, Davis. Das weiß ich doch. Aber bitte lass mich wieder los, ich sterbe sonst.“, ächzte ich und er ließ mich schnell wieder frei. „Heut’ ist nicht mein Tag.“, grummelte er und schüttelte den Kopf. Ken klopfte ihn ermutigend auf den Rücken. „Komm, bis zur Klausur hast du noch drei Stunden. Und da wir bis dahin eh nur unsere Projektarbeiten weiter bearbeiten, können wir stattdessen auch lernen. Ich helf’ dir dabei.“ „Danke, Ken! Wenn ich dich nicht hätte!“ Als wir ins Klassenzimmer ankamen, blieb mein Blick als Erstes auf einen blonden, etwas zerzausten Haarschopf hängen. Auch er entdeckte mich und auf seinem Gesicht stahl sich ein schiefes Lächeln. Sofort wurde mir warm ums Herz. „Hey, Kari.“, begrüßte er mich leise, als ich an seinem Tisch ankam und er stand auf, um mich zu umarmen. „Alles Liebe zum Geburtstag.“, sagte er und drückte mir einen zarten Kuss auf die Lippen. Innerlich seufzte ich und mich durchrieselte wieder dieser warme Schauer, wenn er mich küsste. „Danke, Takeru.“, erwiderte ich ebenfalls leise und lächelte ihn an. Er nahm meine Finger zwischen seine und drückte sie sanft. „Ich hoffe, du hast unsere Verabredung heute nicht vergessen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Darauf freue ich mich schon seit Tagen!“ „Das hoffe ich für dich, denn ich sag dir, das wird das beste Geschenk, das du jemals bekommen wirst!“ „Geschenk?“ Ich sah ihn verwirrt an. „Ich dachte, wir haben heute nur ein Date und wollten was essen gehen? Außerdem haben wir doch beschlossen, dass wir uns gegenseitig nichts zum Geburtstag schenken.“ Er schüttelte den Kopf. „Das stimmt schon, aber man wird schließlich nur einmal achtzehn.“ Ich verdrehte die Augen. „Takeru, jeder wird immer nur einmal achtzehn, neunzehn und so weiter. Das macht keinen Sinn, was du da sagst.“ „Kann schon sein, aber wir machen das so, wie ich es will.“ „Ich dachte, ich bin das Geburtstagskind?“ „Und ich bin dein geliebter Lieblingsfreund und du hast die Ehre mit mir zusammen zu sein.“ Ich lachte leise und schubste ihn leicht. „Was soll das denn heißen!“ Er grinste wieder. „Genauso, wie ich es gesagt habe.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein Narzisst bist.“ „Ihr Turteltäubchen, habt ihr uns schon vergessen?“ Yolei stand anscheinend schon einige Minuten vor uns, ohne dass wir sie bemerkt hatten. „Entschuldige, Yolei. Kari wollte mich unbedingt für sich beschlagnahmen.“, entgegnete Takeru und ich öffnete empört den Mund. „So ein Quatsch!“ Yolei verdrehte die Augen. „Ihr seid schlimmer als Ken und ich. Also T.K., du hast hoffentlich das Plakat für unser Projekt nicht vergessen mitzubringen?“ Takeru ließ meine Hand los und griff nach einer großen Plastiktüte hinter sich und übergab diese weiter an Yolei. „Hier, bitte. Ich habe schon ein wenig weiter gearbeitet, am Besten, du überprüfst es erst mal.“ „Super, alles klar.“ Yolei nahm ihm das Plakat ab und rollte es auf. Ich seufzte. „Also dann, ich muss dann auch mal zu meiner Gruppe.“ „Schade, dass wir in getrennten Gruppen sind.“, erwiderte sie. „Ja, der doofe Kobayashi hat ja die Gruppen eingeteilt. Wenigstens sind Davis und ich in derselben.“, sagte ich. Takeru grinste. „Er ist darüber am Meisten froh, glaub mir. So wie er in dich vernarrt ist.“ Ich verdrehte die Augen. Schon wieder fing er damit an. „Mann, Takeru, du weißt genau, dass das alles Schnee von gestern ist. Das ist lange her und damals habe ich ihm gesagt, dass ich Davis nur als guten Freund sehe und nicht mehr.“ „Boom, gefriendzoned.“, murmelte Yolei grinsend und auch Takeru lachte. „Ihr seid einfach so kindisch und gemein!“, zischte ich und war froh darüber, dass Davis hinten mit Ken am Tisch saß, um für die Klausur zu lernen. „Allerdings sieht es ganz so aus als müsste ich alleine unsere Projektarbeit weitermachen.“ Auch Yolei und Takeru sahen zu unseren beiden eifrigen Freunden hinüber. „Der wird wieder nur knapp bestehen, das sehe ich jetzt schon.“ „Ja, der Meinung bin ich auch. Obwohl es immer wieder ein Wunder ist, dass er wirklich nur durch einen Punkt mehr, die Prüfung besteht. Anscheinend läuft sein Gehirn bei Prüfungen auf Hochtouren.“, entgegnete Yolei. „Oder er hat immer nur wahnsinniges Glück.“, sagte Takeru. Wieder seufzte ich. „Ich geh dann mal hinüber zu meinem Platz.“ „Bleib doch hier. Es ist sowieso kein Lehrer da, wir sind also ganz unter uns. Da kannst du doch auch gleich hier sitzen und weiterarbeiten.“ Takeru lächelte mich an. Obwohl ich wieder leichtes Herzklopfen bekam, hob ich eine Augenbraue. „Bei euch kann ich mich nicht konzentrieren. Ihr lenkt mich ab.“ Sein Grinsen wurde größer und eine Spur wölfisch. „Mache ich dich nervös?“ Meine Wangen färbten sich rot und ich runzelte die Stirn. „Unsinn. Du lenkst mich ab mit deinem kindischen Getue. Das ist alles.“ Yolei verdrehte die Augen. „Na los, an die Arbeit.“ Nach der Schule verabschiedeten wir uns von Yolei, Davis und Ken mit dem Versprechen, dass wir uns heute Abend bei mir zu Hause noch sehen, um meinen Geburtstag mit all den anderen zu feiern. Aber bis dahin wollten Takeru und ich den Nachmittag zu zweit verbringen. „Bis später dann!“, riefen wir den anderen noch zu und dann machten wir uns auf den Weg in die Stadt. „Ich hab ein tolles Café gefunden, das wird dir bestimmt gefallen.“, versprach Takeru mir. „Das klingt super. Ich liebe Cafés!“ „Das weiß ich doch. Du kennst bestimmt alle in dieser Stadt. Aber dieses hier hat ganz neu. Es ist wirklich schön eingerichtet und auch nicht so teuer.“ Das Café war wirklich wunderschön. Es war nicht sehr groß, aber dafür umso gemütlicher. An den Wänden standen Bücherschränke mit Zeitschriften und sogar einigen Romanen. Alles war aus hellem Holz, und auf jedem Sitz war ein kleines Federkissen gelegt worden. Das helle Sonnenlicht drang durch das große Fenster, welches bis zur Decke ging und auf dem Glas klebte die Aufschrift „Papillon“ in einem hellen Blau. So hieß also das Café. „Es ist wirklich wunderschön, Takeru!“, raunte ich als wir das Café betraten. Er lächelte und steuerte direkt auf das kleine Tischchen zu, welches schon gedeckt war für zwei. Gedeckt? „Was zum…“ Meine Augen wurden größer. Beim Näherkommen erkannte ich, dass in der Mitte eine kleine Minitorte mit Kerzen stand. Eine Erdbeer-Schokoladentorte. Meine Lieblingstorte. Außerdem eine Karte auf der groß draufstand: „Herzlichen Glückwunsch. Ich liebe Dich. Takeru.“ „Alles Liebe zum Geburtstag, Kari.“, sagte Takeru und schob den Stuhl nach hinten, damit ich mich hinsetzen konnte. „Takeru! Was….Wann hast du das…“, stammelte ich und ich merkte, wie rot ich wurde und mir wurde ganz heiß. Er hatte das extra für mich vorbereitet? „Die Besitzerin des Ladens ist eine gute Freundin meiner Mutter und ich habe ihr beim Bau des Cafés mitgeholfen. Zum Dank wollte sie sich revanchieren und ich habe ihr gesagt, dass du bald Geburtstag hast. Mit ihr habe ich dann diesen kleinen Plan entwickelt. Ich hoffe, die Überraschung ist mir gelungen?“ Sein Lächeln geriet ins Wanken als er sah, dass ich noch immer nur starr da stand. Endlich sah ich ihn an und meine Augen wurden feucht. „Das ist einfach so lieb von dir! Danke, danke, danke!“, raunte ich und ging mit schnellen Schritten auf ihn zu um ihn zu umarmen. Fest nahm ich ihn in den Arm und auch er drückte mich. „Ich liebe dich, Kari. Und ich bin so froh, dass wir zusammen sind.“ Ich nickte. „Ich auch. Danke für die letzten vier Jahre und ich hoffe auf weitere viele schöne Jahre mit dir.“ Er ließ mich los und grinste wieder. „Darauf kannst du dich gefasst machen. Ich lass dich nicht gehen.“ Ich wischte mir eine Träne weg und grinste ebenfalls. „Das hoffe ich doch.“ „Komm, lass uns den Kuchen probieren. Der ist bestimmt ziemlich lecker.“, sagte er und wir setzten uns hin. „Hat deine Bekannte den Kuchen gebacken?“, fragte ich und nahm die Gabel zur Hand. Er nickte. „Sie hat in Paris studiert und backt wirklich gut. Meine Mutter hat manchmal etwas von ihr mitgebracht.“ „Wow, der schmeckt richtig lecker!“, sagte ich begeistert als ich einen Bissen gekostet hatte. „Hier, probier du auch mal.“ Ich nahm eine Gabel voll und er öffnete den Mund, um das Tortenstück zu nehmen. „Sag ich doch.“, antwortete er. Ich lächelte ihn einen Moment lang an. Wie bin ich doch froh, dass ich ihn an meiner Seite habe, dachte ich. Takeru war für mich der liebste, tollste Partner, den man sich wünschen konnte. Er war immer an meiner Seite und unterstützte mich in allen Sachen. Wir waren so etwas wie Seelenfreunde und wussten fast telepathisch sofort, was der andere wollte. „Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich brauche?“, sagte ich und konnte diesen einen Gedanken nicht für mich behalten. Fast entschuldigend blickte er mich an. „Ich glaube eher, es ist anders herum.“ Ich schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich wäre.“ Meine Stimme brach am Ende fast weg. Über den Tisch hinweg nahm er meine Hand in Seine und streichelte leicht meinen Handrücken. „Kari…“ „Ja?“ „Es gibt noch einen Grund, weshalb ich dich heute hierher gebracht habe.“ Ich legte den Kopf leicht schief. „Und dieser wäre?“ Einen Moment lang sah ich eine leichte Unsicherheit in seinen Augen und er presste die Lippen fest aufeinander. Aber dann nahm er den Mut zusammen und mit leisen Worten fing er an zu sprechen. „Als ich dich vor vier Jahren gefragt habe, ob du meine Freundin werden willst, da habe ich nichts anderes in der Zukunft gesehen als uns beide zusammen. Wir beide zusammen. Als Paar, als Familie, als Großeltern. Mein Bruder hat sich natürlich lustig darüber gemacht. Er meinte zu mir, ich sei noch so jung, gerade mal in der Pubertät, und ich solle nicht so naiv sein und an die ewige Liebe glauben.“ Einen Moment verstummte er, ehe er fortfuhr. „Aber weißt du was? Meine naiven Gedanken haben sich bisher nicht geändert. Ich möchte immer noch, dass wir für immer zusammen bleiben, wie kindisch sich das auch anhören mag. Ich möchte mit dir alt werden und möchte sehen, wie unsere Enkelkinder aussehen. Das klingt vielleicht altmodisch, aber es ist wirklich so. Wenn ich an meine Zukunft denke, sehe ich jedes Mal dich an meiner Seite, egal, was ich werden will. Wenn ich vorhaben will, Arzt zu werden, sehe ich dich als Krankenschwester neben mir, wenn ich Koch werden will, wärst du die Kellnerin. Wäre ich Pilot, möchte ich, dass du Stewardess wirst und sollte ich jemals ein Autor werden, wärst du meine Hauptprotagonistin. Egal, was ich mache, an was ich auch denke, du bist immer ein Teil, ein Teil meiner Zukunft. Und sicher ist das selbstsüchtig und egoistisch, aber ich hoffe, dass das auch bei dir so ist und mein Wunsch ist es, obwohl es eigentlich dein Geburtstag ist, dass du für immer bei mir bleibst.“ Ich wagte mich kaum zu rühren. Mit großen Augen sah ich ihn an und langsam drangen seine Worte in meinem Kopf. „Du…“ Fast automatisch öffnete sich mein Mund. „Du…“ Er seufzte und kratzte sich heftig den Kopf, ehe er lachend den Kopf schüttelte. „Mann, Kari! Ich habe dir eben einen Heiratsantrag gemacht!“, rief er, halb lachend und halb verzweifelt. Tränen rannen mir übers Gesicht und mein Körper fühlte sich an als wäre er taub, als wäre er nicht meiner. „Du…du willst, dass ich dich heirate?“, brach ich stotternd heraus. Er nickte, immer noch unsicher. Einen Moment herrschte Stille, doch dann bewegte er sich und beugte sich etwas hinunter, um in seine Tasche zu greifen. Er holte etwas heraus und legte schließlich eine kleine Samttruhe vor mich. Ich wusste genau, was drin war. Oh mein Gott. „A-aber wir sind gerade mal achtzehn…“, stammelte ich und starrte auf das kleine blaue Päckchen. „Ich weiß. Ich möchte ja auch nicht, dass wir sofort heiraten… Sondern eher….Naja…“ Auch er konnte die richtigen Worte nicht finden. „Ich möchte nur, dass wir bis dahin versprechen, dass wir uns weiterhin vertrauen, lieben und geduldig sein werden bis zu dem Tag…“ Mein Blick wanderte zu seinen Augen. Seine Stimme war wieder ruhig geworden und er schaute mich ernst an. „Oh, Takeru, das ist…“, raunte ich überwältigt. „Natürlich will ich! Natürlich! Takeru, das ist einfach unglaublich…ich…“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Danke…Danke….Danke…“, flüsterte ich deshalb nur und drückte das Päckchen fest an meine Brust. „Ich danke Dir…“ Seine Hand nahm wieder meine und er nahm mir die Samttruhe aus der Hand, um sie zu öffnen. Darin lag ein silberner, schlichter Ring. Mit der anderen Hand nahm er wieder meine Hand und langsam streifte er ihn über meinen Finger, bis er das Ende erreicht hatte. Einige Sekunden blickten wir beide auf unser silbernes Versprechen. Es waren nur einige Minuten vergangen, doch dieser Moment fühlte sich wie eine Ewigkeit an. In diesen Minuten hatte sich mein Leben verändert. War das die Möglichkeit? „Heißt das, wir sind verlobt?“, fragte ich ihn schließlich und er dachte kurz über diese Worte nach. „Ich denke schon.“, antwortete er und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Und das bedeutet, dass wir heiraten werden?“ „Genau das heißt es.“ „Und ich werde dann deinen Namen bekommen?“ „Stimmt genau.“, entgegnete er und ich strich mit dem Daumen sanft über meinen Ring. „Takaishi Hikari…“, flüsterte ich. „Gefällt mir.“ Er lachte leise. „Du weißt nicht, wie sehr es MIR gefällt.“ Ich fiel in sein Lachen ein. „Ich muss hier aber kurz etwas einwenden.“, sagte ich plötzlich und er sah mich fragend an. In seinen Augen sah ich nichts als Freude, Glückseligkeit und das, was ich so sehr an ihn liebe: Das strahlende Blau. „Wieso darf ich nicht auch Arzt werden, wenn du Arzt wirst? Und wieso muss ich Kellnerin werde, wenn ich doch auch kochen kann? Ich koche schließlich besser als du!“, sagte ich schnippisch. Er verdrehte die Augen. „Ist ja gut. Von mir aus kannst du sogar Anwältin werden und ich werde mit Absicht einen Mord begehen, damit ich einen Grund habe zu dir zu gehen.“ Ich grinste. „Wer sagt denn, dass ich deine Tat verteidige?“ „Ich krieg dich schon dazu.“ „Ach ja, und wie möchtest du das anstellen?“, neckte ich ihn. Er beugte sich leicht zu mir und schaute mir tief in die Augen, ehe er antwortete. „Ich werde Sie verführen, Frau Anwältin.“ Obwohl wir nur herumalberten, bekam ich doch glatt wieder Herzklopfen. Ich schluckte und schaute zur Seite. „Ich glaube, ich wäre keine so gute Anwältin.“ Er lachte nur und beugte sich wieder zurück. Sein Blick fiel auf seine Armbanduhr. „Ich glaube, wir müssen uns langsam auf den Weg machen. Die anderen sind sicherlich schon bei dir zu Hause und Tai fragt sich bestimmt auch schon, warum wir nicht langsam auftauchen.“ „Du hast recht. Lass uns aufbrechen.“ Wir standen auf und ich nahm die Geburtstagskarte vom Tisch und steckte sie sorgfältig in meine Schultasche. Draußen war viel los. Der Berufsverkehr hatte wieder begonnen und die vielen Menschen waren auf dem Weg nach Hause. Es war laut und dicht und mir kam es vor, als wäre der Zauber von eben im Café vorbei und nun befanden wir uns wieder in der Realität. Doch ich lächelte als Takeru meine Hand nahm. Nein, der Zauber war noch nicht erloschen. Ich war verlobt. Takeru und ich, wir würden heiraten. Wir würden für immer zusammen sein. Ich spürte das Gewicht des Ringes an meinem Finger. Für immer und ewig. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg durch das dichte Gedrängel der Menschen. Die vielen Autos rasten an uns vorbei, sowie die Menschen, die sich an uns vorbeidrängten. Keiner nahm von uns Notiz. Doch das machte nichts, denn Takeru hielt meine Hand und ließ mich nicht los. Lächelnd blickte ich auf die Menschenmenge und mein Blick fiel auf ein junges Mädchen in einer blauen Schuluniform, welches auf den Boden blickend über die Straße ging. Die vielen Leute drängten sich hastig an ihr vorbei und es dauerte nicht lange, als sie schon so heftig geschubst wurde, dass sie auf den Boden fiel. In diesem Moment wurde die Ampel rot. Das Mädchen, welches noch am Boden saß, bewegte sich nicht, sondern starrte weiterhin nach unten. Keiner nahm von ihr Notiz und von weiter Ferne hörte ich, wie die Autos näher kamen. Ich blieb stehen und ließ dabei die Hand von Takeru los. „Was ist?“, hörte ich ihn, doch ich antwortete nicht. Fast automatisch ging ich mit immer schneller werdenden Schritten auf das Mädchen zu, welches anscheinend nicht die Absicht hatte wieder aufzustehen. Ich drängte mich zwischen den Menschen hindurch. Sah denn niemand das Mädchen auf den Boden? „Kari!!“, schrie Takeru, doch ich rannte immer schneller auf die Straße zu. „Pass auf!“, rief ich so laut ich konnte, doch sie hörte mich nicht. Als ich dann das Mädchen erreicht hatte, packte ich sie am Arm und versuchte sie hochzuziehen. Mit einem Ruck riss sie sich los. „Du musst aufstehen!“, rief ich ihr zu, doch sie starrte wieder auf den Boden. „Lass mich…“, hörte ich sie leise durch das laute Verkehr sagen. Wütend packte ich sie wieder. „Steh sofort auf! Ich lasse dich hier bestimmt nicht liegen, hast du kapiert!?“ Überrascht über meine plötzliche Wut blickte sie auf und dann passierte es. Plötzlich geschah alles ganz schnell. Ein großer Lastwagen bog in unsere Richtung ab und raste auf uns zu. Für einige Augenblicke stand ich stocksteif da, als dann automatisch meine Hände mit aller Kraft das Mädchen zu Seite stießen. Und in diesem Augenblick konnte ich in das Gesicht des Mädchens sehen. Sie war ein hübsches Mädchen, doch in ihren Augen konnte ich nichts anderes als eine Dunkelheit sehen. Eine so einsame und tiefe Dunkelheit, die mich unglaublich erschreckte. Auch sie schaute mich an, überrascht und verwirrt. Dann wurde alles weiß. Kapitel 3: Lass mich nicht los ------------------------------ 3 Lass mich nicht los. Die häufigsten Worte meiner Mutter brannten sich in mein Herz. „Hätte ich dich doch niemals geboren.“ Was passiert nun, wenn ein Kind von seiner Mutter diese Worte zum ersten Mal hört? Genau. Es ist im ersten Moment schockiert. Danach vollkommen verstört über die Worte. Warum verletzt die Mutter das Kind so sehr? Was ist der Grund? Was passiert aber nun, wenn das Kind von seiner Mutter diese Worte immer wieder hört? Es ist wie beim Holzhacken. Geschlagenes Holz wächst nicht mehr zusammen. Je mehr man auf das Holz einhackt, desto größer werden die Wunden, bis es schließlich auseinander fällt. Meine Mutter liebte mich nicht. Das hatte sie niemals getan. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals ein liebes Wort von ihr gehört zu haben. Überhaupt schien sie kaum Notiz von mir zu nehmen. Und wenn sie es doch tat, dann nur, um mir wieder zu sagen, dass sie mich nicht braucht. „Du bist eine Schande! Du zeigst keinen Respekt vor deinen Eltern!“ „Was werden wieder die Nachbarn denken, wenn sie erfahren, was für eine unnützige Tochter ich habe!“ „Mit solchen Noten brauchst du hier gar nicht aufzutauchen! Verschwinde!“ Alles, was für sie zählte, waren die Resultate meiner schulischen Leistungen. Anderes war unwichtig und unnötig. Mein Vater war selten zu Hause und meine Mutter und ich wussten beide, dass er sie schon lange mit einer anderen Frau betrog. Es schien ihm sogar nichts auszumachen, dass wir bescheid wussten. Meine Mutter tat außerhalb unserer vier Wände immer noch so als wären wir eine perfekte Familie. Doch ihre Frust ließ sie an mir aus. Warum ich doch so wäre, wie ich war. Wäre ich nicht gewesen, wäre mein Vater noch an ihrer Seite. Wäre ich nicht so eine Schande, würde sich mein Vater nicht für mich schämen und bei meiner Mutter bleiben. „Du bist schuld daran, dass er sich mit einer anderen Frau vergnügt!“ Dann weinte sie. Das tat sie immer, wenn sie wieder einmal ihre Frust an mir ausließ. Und jedes Mal, wenn sie weinte, verließ ich leise das Zimmer, schloss die Tür sorgfältig hinter mich und ging hinaus. Und dann machte ich einen Spaziergang. Mein Ziel war jedes Mal dasselbe. Ich wollte zum Spielplatz. Es gab eine Bank, die etwas abseits vom Spielplatz lag, aber von der man aus einen guten Blick darauf hatte. Dort setzte ich mich hin und wartete. Und wartete. Und schließlich war es soweit. Die Eltern kamen, um ihre Kinder abzuholen. Das war der Grund, weshalb ich immer wieder hier saß. Ich wollte sehen, wie die Kinder von ihren Eltern abgeholt wurden. Sie erblickten ihre Eltern schon vom Weiten und ließen alles stehen, was sie sich im Sand mit Mühe aufgebaut hatten. Für sie zählte es in diesem Moment nur, zu ihren Eltern zu gelangen. Und dann wurden sie liebevoll umarmt und begrüßt. Von meiner Bank aus konnte ich die strahlenden Gesichter der Kinder sehen und wie sie Hand in Hand mit ihren Eltern nach Hause gingen. Der Anblick schmerzte immer wieder, doch ich konnte nicht anders als immer wieder hierher zu kommen, um mir dieses Schauspiel anzuschauen. Es war leicht, es zuzugeben: Ich sehnte mich nach eben dieser liebevollen Berührung meiner Eltern. Aber umso schwerer war es, dies offen zuzugeben. Meistens blieb ich solange sitzen bis das letzte Kind abgeholt wurde. Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Wenn ich das Haus betrat, war das einzige, was auf mich wartete, ein dunkles Haus. Das Zimmer, wo sich meine Mutter befand, war geschlossen. Und auch ich schloss wieder leise und sorgfältig meine Zimmertür hinter mich. Es gab Zeiten, wo ich tagelang nur diesen einen Gedanken hatte. Warum gibst du nicht einfach auf? Was hält dich fest an dieses Leben? Denn ich wusste, dass ich im Leben nichts hatte, an was ich mich festklammern konnte. Weder an meinen Eltern, noch an irgendjemand anderes. Denn ich war immer alleine. Zu Hause, in der Schule, überhaupt. Ich hatte keine Freunde. Meistens saß ich in der Schule an meinem Pult und tat so, als würden mich die anderen Mitschüler nicht kümmern. Doch deutlich sah ich im Augenwinkeln die vielen Grüppchen in der Klasse, die sich unterhielten und Spaß hatten. Komm, steh auf, setz dich zu ihnen! Du schaffst es! Aber am Ende blieb ich trotzdem sitzen. Ich rührte mich nicht, konnte es nicht. Als würden unsichtbare Fesseln meine Beine und Arme umklammern und mich daran hindern aufzustehen. Und niemand blickte in meine Richtung. Für sie war ich nicht da, denn ich war in ihren Augen nur das zurückhaltende, verstockte, schweigsame Mädchen, das nie den Mund aufmachte. Ich wusste, dass sogar einige vor mir Angst hatten, weil ich nie etwas sagte. Viele Gerüchte gingen vor einiger Zeit um die Schule: Dass ich stumm wäre, dass ich verrückt und von einem Geist besessen wäre. Aber so schnell die Gerüchte sich verbreitet hatten, so schnell kümmerten sich die Schüler nicht mehr darum, sodass sie mich einfach aus ihren Gedanken wegradierten und so taten, als gäbe es mich nicht. Es gab niemanden, der sich in dieser Großstadt um mich scherte. Niemanden, dem ich vertrauen konnte und niemand, der sich um mich kümmerte. Wenn ich dieser Welt also egal war, warum sollte ich mich an meinem Leben klammern, wenn sich doch niemand an mir festhielt. Wenn mich doch jeder los ließ. Wenn der Einzige, der sich an mir klammerte, ich selber war? Aber aus welchem Grund? „Warum lebe ich überhaupt noch?“, flüsterte ich leise als ich plötzlich zur Seite gerempelt wurde und von dem Stoß hinfiel. „Pass doch auf!“, rief jemand mit genervter Stimme, doch ich nahm kaum Notiz von ihr. Niemand nahm Notiz von mir und niemand versuchte mir zu helfen. Wenn ich dieser Welt doch scheißegal war, dann gab es keinen Grund mich weiterhin zu quälen. Ich blieb also liegen und starrte auf den hässlichen grauen Boden. Plötzlich nahm ich aus weiter Ferne eine verzweifelte Stimme wahr. „Pass auf!“ Diese Worte waren nicht an mich gerichtet, das wusste ich, also schloss ich meine Augen und atmete tief ein. Gleich würde es vorbei sein. Keiner würde mich sehen und ein Auto würde mein Leben beenden. Ich war klein, niemand sah mich, weil ich unsichtbar war. Und so würde auch niemand bemerken, wenn ich nicht mehr da war. Weil ich die Fähigkeit besaß mich unsichtbar zu machen. In diesem Moment packte mich jemand am Arm. Entsetzt öffnete ich die Augen und riss mich reflexartig los. Was war passiert? Wer war diese Person? Ich stand in diesem Augenblick unter Schock, als sie mich berührte, denn unter ihrer Berührung wurde ich wieder in die kalte Realität gerissen und ich hörte wieder die lauten Stadtgeräusche um mich herum. „Du musst aufstehen!“, rief die Person mir zu, doch ich war unfähig mich zu bewegen. „Lass mich…“, war alles, was ich rausbrachte. In meinen Augen sammelten sich Tränen. Ich war so kurz davor, so verdammt kurz davor endlich aus dieser Hölle zu gelangen. Doch dann wurde ich wieder in meine verhasste Realität gerissen! Warum?! Unvermittelt wurde ich wieder fest am Arm gepackt. „Steh sofort auf! Ich lasse dich hier bestimmt nicht liegen, hast du kapiert!?“ Was sagte sie da? Wer war diese Person? Warum mischte sie sich überhaupt ein? Wer war sie? Ich hob langsam meinen Kopf und blickte in das Gesicht eines brünetten Mädchens und in ihren Augen lag eine so tiefe Entschlossenheit, dass ich mich nicht von ihren Augen losreißen konnte. Sie hatte gesagt, dass sie mich nicht liegen lassen würde. Sie wollte mich nicht loslassen. Mein Blick wanderte zu ihren Händen, die meinen Arm festhielten. Sie klammerte sich fest an mich und ließ mich nicht los. Ich kannte sie nicht und sie kannte mich nicht, doch sie wollte mich retten. Sie wollte mein Leben retten. Deshalb ließ sie mich nicht los. Mein Mund öffnete sich, ich wollte etwas sagen. Doch das Mädchen schaute plötzlich zur Seite und ihre Augen rissen sich entsetzt auf. Und mit ihrer letzten Kraft stieß sie mich, so fest sie konnte, zur Seite. Dabei begegneten sich unsere Blicke. In ihrem Blick konnte ich nichts sehen, außer die feste Entschlossenheit mich zu retten. Nichts in ihren Augen sagte, dass sie mich verachtete oder es bereute mich zu retten. Dann sah ich den großen Lastwagen an mir vorbeifahren und das Mädchen war vor meinen Augen verschwunden. Ich fiel nach hinten und mein Kopf stieß an etwas Hartem und ich verlor das Bewusstsein. Kapitel 4: Eine Bitte --------------------- 4 Eine Bitte … … Irgendetwas war anders als sonst. Mein Körper fühlte sich anders an als sonst. Auf der einen Seite vertraut, doch auf der anderen Seite kam es mir so vor, als wäre ich nicht mehr da. Beinahe so, als wäre ich ein Geist, der keinen Körper mehr besaß, sondern nur noch aus Seele und Luft bestand. Alles um mich herum hatte eine undefinierbare Farbe. War sie eher weiß? Oder doch schwarz? Wie seltsam es auch klang, ich konnte es nicht definieren. Das verwirrte mich. Schwebte ich? Oder lag ich auf festem Boden? Wo war oben und unten? Mir kam plötzlich ein Gedanke auf. Vielleicht war das der Tod? Vielleicht war ich doch gestorben? Hatte der Lastwagen mich doch noch erwischt? Aber wenn ich nun wirklich tot war, war dann der Ort, an dem ich mich im Moment befand, der Himmel? Oder die Hölle? Ich hatte immer gedacht, dass nach dem Tod alle Geheimnisse der Welt gelüftet werden und dass der Sinn des Lebens mit dem Tod beantwortet wird. Aber hier stand oder schwebte oder lag ich nun. Immer noch unwissend und mehr noch: Verwirrt. Ich versuchte mich umzuschauen, doch das, was ich sah, verwirrte mich, weil ich es nicht zuordnen konnte. Ich konnte das Gesehene nicht erkennen und verstehen, obwohl ich doch alles glasklar vor Augen hatte. Langsam breitete sich eine Angst in mir aus. Wenn das wirklich der Tod sein sollte, dann musste es die Hölle sein. Sonst gäbe es nicht diese Verwirrung in mir. Ich versuchte zu rennen, irgendwohin, bis ich etwas erreichen konnte. Doch ich konnte nicht sagen, ob ich gerade rannte oder immer noch auf derselben Stelle stand. Ich wurde immer panischer. Nein, so hatte ich mir den Tod nicht vorgestellt. War ich etwa gefangen in diesem…Nichts? An diesem verwirrenden Ort, wo ich mit meinem menschlichen Wissen nicht weiterkam und ich nicht mehr Herr über mich selbst war? Ich wollte nicht hier sein! Nein, bitte nicht! Wenn das hier wirklich, wahrhaftig der Tod war, wollte ich zurück ins Leben. Bitte! So schwer das Leben auch gewesen sein mag, so hatte ich doch mehr Freiheiten dort als hier! Bitte, bring mich zurück! Bitte! Aber nichts passierte. Der Tod war endgültig. Und das schlimmste von allem war: Es war meine Entscheidung gewesen. Ich hatte mich für den Tod entschieden, es war meine Wahl gewesen. Meine verdammte Wahl! Bis zuletzt hatte das Leben versucht sich an mich zu klammern. Ja, da war dieses Mädchen. Sie hatte versucht mich zu retten. Ich erinnerte mich an ihre Augen. An die feste Entschlossenheit, die ich darin gesehen hatte. Ich hielt einen Moment inne. Was war mit ihr passiert? Ich erinnerte mich daran, wie sie mich fest zur Seite gestoßen hatte, dann war sie aus meinem Blickfeld verschwunden und stattdessen war der große Lastwagen an mir vorbeigefahren. Hieß das, dass sie auch tot war? War sie auch gestorben, genauso wie ich? Wenn ja… hieße das nicht, dass sie auch irgendwo hier war? Sie war im selben Moment wie ich gestorben, also konnte es doch sein, dass sie sich am selben Ort befand, wie ich? Ich musste sie suchen, egal wie schwer es auch sein mochte. Mit aller Kraft würde ich sie suchen, solange, bis ich sie gefunden hatte! Verzweifelt versuchte ich mich zu bewegen, ich tat alles, was in meiner Macht stand. Bewegten sich meine Arme? Meine Beine? Ich versuchte mich umzuschauen. Bewegte sich mein Kopf? Ich wusste es nicht, ich hoffte es! Bitte, bitte, ich suche dich! Lass mich dich bitte finden! Ich möchte dir so viele Fragen stellen! Warum du mich, einer Fremden, gerettet hast! Warum du mich nicht losgelassen hast! Wie du es geschafft hast, diese feste Entschlossenheit zu besitzen! Wer bist du? Ich möchte alles wissen, alles! Bitte, lass mich nicht alleine! Lass mich nicht alleine! Lass mich nicht alleine! Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!! Aber nichts passierte. Kein heller Lichtblick, oder irgendeine Offenbarung war zu finden. Und dann kam mir die Erkenntnis. Natürlich. Ich befand mich in der Hölle. Und das Mädchen war mit Sicherheit im Himmel. Sie war schließlich ein starkes Mädchen und sie hatte versucht mich zu retten. Sie wollte mein Leben retten. Und jeder weiß, dass das eine gute Tat war. Deshalb war es nur verständlich, dass sie in den Himmel kam. Wie dumm ich doch gewesen war, das nicht verstanden zu haben. Ich war ein schwaches Mädchen, das nicht um das Leben gekämpft hatte. Sie war ein starkes Mädchen, welches um mein armseliges Leben gekämpft hatte. Langsam ließ ich mein Herz, welches ich fest umklammerte, fallen. Ich konnte kämpfen, wie ich wollte. Es war zu spät. Ich hätte kämpfen sollen, während ich noch gelebt hatte. Jetzt, in dem Tod, brachte es nichts. Es war zu spät. Zu spät. … … ——— „Kari? Kari, kannst du mich hören?“ „Tai, schüttle sie doch nicht! Bist du wahnsinnig geworden?!“ „Geh zur Seite, Joey und lass mich in Frieden!!“ „Reiß dich zusammen, Tai!“ „Ich soll mich zusammenreißen?! Ich soll mich… Einen Scheiß werde ich tun!!!“ „Bitte, beruhigt euch wieder, bitte…“ „Joey, bitte bring Tai hinaus. In diesem Zustand kann ich ihn nicht hierbehalten.“ „Ist gut, Vater. Komm, Tai, beruhig dich erst mal.“ „Lass mich los!!“ „Verdammt, Tai!“ „Nein! Verschwinde! KARI!!“ ——— … … Was war das? Irgendjemand…irgendjemand hatte doch gerade geschrien. Eine männliche Stimme hatte verzweifelt geschrien. Einen Namen. Kari. Ja, er hatte ganz laut Kari gerufen. Das hatte ich mir nicht eingebildet. Ich war mir sicher! Kari? Wer war Kari? War Kari das Mädchen, welches versucht hatte mich zu retten? Wer war diese Stimme, die so verzweifelt nach Kari gerufen hatte? Stand er ihr nahe? War diese Kari für ihn wichtig? Bitte, bitte sprich noch einmal! Lass mich deine Stimme noch einmal hören!! … … ——— „Wie schlimm ist es?“ „Das können wir im Moment noch nicht sagen. Sie hatte großes Glück, der Wagen hat sie nur gestreift und nicht ernsthaft getroffen. Sie hat ein paar Prellungen, aber nichts ist gebrochen. Eine Gehirnerschütterung ist wahrscheinlich. Das größte Problem, was wir aber im Moment haben, ist, dass wir nicht wissen, warum sie nicht aufwacht. Wir müssen jetzt noch ein wenig warten, Tai.“ „Joey, bitte…ich… Ich bitte dich… Du musst sie retten, Joey…Ich…“ „Komm, setz dich hierhin. Tai, mein Vater wird sie bestimmt nicht in Stich lassen. Wir werden alles mögliche tun, um sie zu retten, das weißt du, oder?“ „Ja…aber was ist, wenn sie…. Joey, was kann ich tun? Gibt es nichts, was ich tun kann? Bin ich so unnütz? Ich bin ein miserabler Bruder, der nicht mal auf seine Schwester aufpassen kann..“ „Das ist nicht wahr, das weißt du. Du bist der beste Bruder, den sie sich nur wünschen kann. Du weißt genau, wie sehr sie an dir hängt und wie wichtig du für sie bist.“ „Ich wollte sie doch beschützen…“ „Tai, du hast schon so viel für sie getan. Du warst immer bei ihr, wenn es ihr schlecht ging, bitte vergiss das nicht.“ „Joey…was kann ich tun? Wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann…“ „Du musst ihr vertrauen. Vertrau darauf, dass sie es schafft. Dass sie aufwacht. Du musst ihr Mut machen und du weißt, dass du das am besten kannst von uns allen.“ „Ja… Das werde ich…“ ——— … … Tai? Hieß er Tai? Karis Bruder Tai? Er wollte sie immer beschützen, er liebte sie. Kari hatte jemanden, der sie mit ganzem Herzen beschützen wollte. Kari musste ein wirklich großartiges Mädchen gewesen sein, dass sie jemanden hatte, der sich so sehr um sie sorgte. … … ——— „Kari, wenn du mich hörst… Dann bitte ich dich mir gut zuzuhören. Ich liebe dich, das weißt du. Ich werde dich immer lieben. Egal, wie lange es auch dauert. Ich bleibe an deiner Seite. Erinnerst du dich noch an unser Versprechen? Ich habe mich daran gehalten und werde es auch weiterhin tun. Du bist das einzige Mädchen, welches ich geliebt habe und lieben werde.“ „Sie hört dich bestimmt, T.K..“ „Meinst du wirklich, Matt? Hört sie mich? Hörst du mich, Kari? Ich bin es, Takeru!! Bitte…wach doch wieder auf…“ „Alles wird gut… Komm, Mama wartet schon.“ ——— … … T.K.? Bist du ein Freund von ihr? Liebst du sie? Du liebst sie wirklich, oder? Ich beneide Kari… Ich würde auch gerne solch ein schönes Leben führen, wo sich so viele Menschen um mich kümmern… denen ich nicht egal bin und die mich lieben. Wäre ich doch auch nur stark gewesen in meinem eigenen Leben. Dann hätte ich vielleicht auch, wie Kari, jemanden gefunden, der an meiner Seite steht. Würde ich noch einmal die Chance bekommen zu leben… Ich würde alles dafür geben, um zu leben und zu kämpfen. Ich bereute meine Entscheidung zu sterben. Sterben wollte ich erst, wenn ich im Leben nichts mehr zu bereuen hatte. Bitte, lieber Gott, wenn du mir nur einmal die Chance geben könntest… Ich bitte dich… Bitte… … … ——— „Ich glaube, sie kommt langsam zu sich!“ „Stabile Herzfrequenz. Krankenschwester Kano, wenn Sie vielleicht die Vorhänge zuziehen könnten? Ich möchte nicht, dass sie geblendet wird, wenn sie die Augen öffnet.“, sagte der Arzt. „Natürlich, Herr Doktor.“, antwortete sie. „Vater, ich werde sofort die anderen verständigen und herholen.“ Ein blauhaariger junge Mann mit Brille stand auf und schaute seinen Vater entschlossen an. „Ja, mach das, Joey. Aber sie sollen noch bitte draußen warten bis ich sie hereinbitte.“ „Mach ich.“, antwortete er und ging mit eiligen Schritten aus dem Patientenzimmer. Die Krankenschwester folgte ihm. „Kannst du mich hören, Kari? Wenn ja, dann bewege bitte deinen Zeigefinger der linken Hand.“, sprach der Arzt mit sanfter Stimme. „…“ „Es ist alles in Ordnung. Du bist sicherlich verwirrt und noch benommen… Genau, den Finger bewegen, sehr gut, Kari, das hast du gut gemacht.“ „Herr Doktor Kido, die Familienangehörige befinden sich im Wartezimmer.“ Die Krankenschwester war zurückgekommen und Herr Kido nickte. „Gut, bitte sie doch herein.“ „Natürlich, Herr Doktor.“ „…ri…“ „Noch einmal? Ich habe dich nicht verstanden. Hier, ich träufle deine Lippen mit etwas Wasser.“, sagte er. „…Ka…..ri…“ „Kari? Ja, ganz genau. Du bist Hikari Yagami. Möchtest du deine Familie sehen? Sie werden sich sehr freuen dich zu sehen.“ „Kari? Oh mein Gott, KARI!“ „Mein kleiner Schatz, endlich…endlich…“ „Bitte beruhigen Sie sich etwas. Sie soll sich nicht erschrecken.“, sagte Herr Kido. „Weißt du, wer ich bin? Erkennst du mich, Kari??“ „Meine kleine Tochter…Du bist endlich wieder wach! Du weißt gar nicht, wie sehr…“ „…Kariii…“ „Ja, genau! Du bist Kari! Bitte schau mich doch an! Schau in das Gesicht deiner Mutter, Kari!“ „….Wer…bist…du?“ Einen Moment herrschte Stille. Als würde niemand begreifen, was sie eben gehört hatten. Dann fing die Frau an zu lachen. „Was redest du denn da, Kari? Ich bin es doch! Deine Mutter!!“
„Mama, beruhige dich. Du erschrickst sie noch.“ „Aber Kari hat…Sie erkennt mich nicht!!“, schrie die Frau verzweifelt und warf sich schließlich in die Arme eines großen Mannes. Daneben stand ein jüngerer Mann mit zerzausten braunen Haaren. Er hatte Tränen in den Augen, die er verzweifelt versuchte zu unterdrücken. „Kari? Erkennst du uns nicht? Ich bin es, Tai! Dein Bruder Tai!“ „Tai…“ „Genau!! Erkennst du mich? Weißt du, wer ich bin?“ „… Du bist Tai…Karis…Bruder…“ „Dein Bruder, genau!“ „Tai…“ „Ja? Was ist los? Was möchtest du sagen!“, sprach er dringlich und kam näher. „Kari…Kari…Sie ist tot.“ Sein Blick wurde ganz starr als er zusammenzuckte und dann den Kopf schüttelte. „Was hat sie gesagt, Tai?“, sprach die Frau hinter ihm und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Nein…Ich…Ich hab mich verhört, glaube ich.“, flüsterte er. „Kari ist…tot…“ „Was redest du da!“, polterte er plötzlich laut. „Tai!!“, rief Herr Kido, doch Tai nahm keine Notiz von ihm. „Was meinst du mit ‚Kari ist tot‘!?“ „Sie…ist…tot…“ Dann verlor ich das Bewusstsein. ——————— Zwei Etagen tiefer „Eine Schande ist das. Wie sehr willst du uns eigentlich noch runterziehen?? Dein Vater musste wegen dir seine Geschäftsreise abbrechen! Und ich werde mir wieder seine Strafpredigt anhören müssen! Hast du eigentlich eine Ahnung, wie wütend er auf mich sein wird? Das ist dir wohl nicht in den Sinn gekommen, was?! Immer musst du uns in Schwierigkeiten bringen!“ Die Frau schmiss ihr Handy auf das Bettende zu meinen Füßen und stampfte zum Fenster hin. „Und wie werden erst die Nachbarn wieder reden, wenn sie erst einmal davon hören würden, dass die Tochter des großen Firmenchefs sich umbringen wollte!! Sie würden sich die Mäuler aufreißen und die ganze Stadt würde davon erfahren. Das ruiniert unseren Ruf! Und das ist alles deine Schuld! Hätte man dich nicht entdeckt, wärst du jetzt mausetot und dein Vater wäre seinen Posten los, weil die Leute ihn für ungeeignet hielten, wenn er nicht einmal auf seine Tochter aufpassen kann! Dass du auch auf der Straße liegen bleiben musst, wo dich tausende von Menschen sehen können. Hörst du mir zu? Alle haben gesehen, dass du nicht die Absicht hattest aufzustehen! Wir konnten die Sache zum Glück noch bereinigen, indem wir verbreiten lassen haben, dass du zu geschockt warst, um aufzustehen. Der Arzt meinte, dass das vorkommen kann.“ Mit langsamen Schritten kam sie auf mich zu und blickte mich mit einem hasserfüllten Blick an. „Wenn du schon sterben willst, dann tu es an einem Ort, wo dich niemand sieht! Dann könnten wir deinen Tod als Unfall darstellen lassen und niemand hätte gewusst, dass unsere Tochter anscheinend selbstmordgefährdet ist.“ Die letzten Worte gab sie nur leise von sich. Abrupt drehte sie sich weg und nahm ihre Tasche. „Übermorgen wirst du entlassen. Denk ja nicht, dass ich dich abholen werde! Ich muss arbeiten.“ Und mit diesen Worten marschierte sie Richtung Tür und schloss sie mit einem lauten Knall hinter sich. Starr blickte ich auf meine Hände. Ich konnte nicht fassen, was passiert war. Ich verstand es nicht! Vor einigen Stunden war ich wach geworden und hatte mich erst einmal zurecht finden müssen. Ich befand mich im Krankenhaus, aber um mich herum waren Leute herumgewandert, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Wer waren sie?? Und WER war ich?! Wer war diese Frau, die sich als meine Mutter bezeichnete?! Mit langsamer Bewegung drehte ich meinen Kopf zur Seite, wo sich auf dem kleinen Nachttisch ein Namensschild befand. Ich verstand die Welt nicht mehr… Auf dem Namensschild stand mit großen Lettern geschrieben: Akemi Ito. Akemi…Akemi? Wer war Akemi?! Ich war doch Kari! Hikari Yagami! Kapitel 5: Wer bist du? ----------------------- 5 Wer bist du? KARI „Du kommst spät. Geh hoch und leg deine Sachen in dein Zimmer. Heute Abend kommen zwei Firmengäste deines Vaters und ich möchte, dass du dich benimmst! Es geht um eine große Geschäftsidee, die dein Vater vorstellen will und ich will nicht, dass ihm das misslingt. Am besten gehst du direkt nach dem Essen auf dein Zimmer mit der Ausrede, dass du noch zu kränklich wärst und du dich hinlegen musst. Dann schöpfen sie keinen Verdacht. Und vergiss eines nicht.“ Sie hielt einen Moment inne, damit sie mir einen scharfen Blick schenken konnte. „Du hattest einen Unfall, hast du kapiert? Am besten du hältst die ganze Zeit die Klappe, außer wenn du sie begrüßt. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“ Sie blickte sich in den großen runden Spiegel in ihr Gesicht und tupfte sich mit einem Taschentuch über ihre Wangen. „Jetzt geh auf dein Zimmer und mach dich fertig.“ Mit leisen Schritten ging ich an ihr vorbei Richtung Treppe. Dort angelangt hievte ich die schwere Tasche über meine Schulter und ging langsam nach oben. Im oberen Stockwerk angelangt, hörte ich wieder die spitze Stimme der Frau. „Und nimm dieses verdreckte Verband um deinen Kopf ab!“ Ich schlug die Tür hinter mir zu. Das Zimmer von Akemi war leicht zu finden. An der Tür hing ein kleines Schild mit ihrem Namen. Ihr Zimmer war ziemlich groß, aber das erste, was mir auffiel war: Es war verdammt kahl. In dem Raum befand sich ein Bett, ein Kleiderschrank und ein Tisch. Ein dicker, blauer Vorhang versteckte das Fenster und tauchte das Zimmer, trotz der Lampe, in einem kühlen Blau. Sofort fühlte ich mich eingeengt und ich ging mit eiligen Schritten auf den Vorhang zu, um ihn aufzuschieben. Ich machte das Fenster auf und blieb dann einen Moment dort stehen. Draußen war es still und einige spärliche Bäume umringten die Straße. Noch immer verstand ich nicht, was passiert war. Vor zwei Tagen war ich wach geworden und man hatte mir mitgeteilt, dass ich in einer Art Koma lag für sieben Tage. Eine Woche! Ich konnte es nicht fassen. In dieser einen Woche war irgendetwas passiert und ich hatte ein unglaublich großes Problem… Ich war eine Person, die ich nicht war. Mein Name war Akemi Ito. Aber das stimmte nicht!! Ich war doch Hikari Yagami! Warum war ich plötzlich in einem anderen Körper? Vollkommen verstört wurde ich heute morgen schließlich von einem großen Mann in einem schwarzen Anzug abgeholt. Anscheinend war es ein Freund der Familie Ito, denn im Auto hatte er mit mir gesprochen als wären wir die besten Freunde. „Da haste ja doch richtig Schwein gehabt, was? Zum Glück biste jetzt wieder wach.“, hatte er mit heiterer Stimme gesagt, während wir durch die Straßen fuhren. Ich hatte nichts darauf erwidert. Was hätte ich denn auch sagen sollen? Aber anscheinend schien es ihm nichts auszumachen, dass ich schwieg. Munter redete er weiter. „Deine Mutter war ja mal wieder stinksauer. Die ist aber auch echt anstrengend.“ Kopfschüttelnd bog er ab. „In der Woche durfte niemand zu dir, das hat sie allen verboten, nur die Ärzte durften hinein. Keine Ahnung, warum sie das so wollte.“ Natürlich wusste ich, warum. Sie wollte nicht, dass irgendjemand von ihrer selbstmordgefährdeten Tochter erfährt. Wäre auch nur ein Wort darüber in die Öffentlichkeit geraten, wäre ihr Ansehen ruiniert. „Grüß’ deine Mutter von mir, Akemi!“, waren die letzten fröhlichen Worte des Mannes, ehe er losfuhr. Und nun befand ich mich in dieser Situation. In dieser verdammt schlimmen Situation. Ich wusste nicht, wie ich zu Akemi geworden war! Wer war überhaupt diese Akemi, die eine so schreckliche Mutter hatte? Ich war Hikari! Kari! Wo war mein Körper und wie kam ich hierher? Verzweifelt legte ich meine Stirn an das kühle Glas des Fensters. Ganz ruhig, dachte ich. Es musste eine Erklärung dafür geben. Das wichtigste jetzt war, dass ich mir nichts anmerken lassen durfte, dass ihre wahre Tochter Akemi nicht mehr da war. Sie würden mir nicht glauben, und noch schlimmer: Sie würden mich für verrückt halten! Ich musste also so tun, als wäre ich Akemi. Doch ich kannte sie nicht! Wie sollte ich jemand sein, den ich noch nie gesehen hatte? Mir fielen die Worte der Mutter wieder ein. Während des Besuches dieser beiden Firmengäste, sollte ich schweigen. Ja, das war einfach. Ich würde einfach nichts sagen und dann zurück auf das Zimmer gehen. Plötzlich kam mir ein Gedanke. Wenn ich nun diese Akemi war. Wo war dann die wirkliche Akemi? „Vielleicht…“, flüsterte ich schockiert. Vielleicht war sie jetzt in meinem Körper?! Es konnte doch sein, dass Akemi sich im Körper von Hikari Yagami befand? Hieße das dann, dass wir die Körper…getauscht hatten?! „Wie lange dauert das denn noch?!“, schrie eine strenge Stimme aus dem Erdgeschoss und ich zuckte zusammen. Ich war viel zu verstört über die Erkenntnis, die ich eben bekommen hatte. Plötzlich wurde meine Tür aufgerissen und die Mutter starrte mich wutentbrannt an. „Du bist ja immer noch nicht angezogen! Was machst du eigentlich?!“, zischte sie und ging mit eiligen Schritten auf mich zu. Ich hob meine Hände, wie als würde ich mich schützen wollen und starrte sie ängstlich an. „Habe ich nicht gesagt, das soll weg!!“ Mit einem Ruck zog sie an das Ende des Verbandes, sodass mein Kopf nach vorne gerissen wurde. Fast wäre ich gegen sie geknallt, doch ich konnte mich noch rechtzeitig halten. Mit beiden Händen riss sie an dem Verband und zog mir dabei schmerzhaft an einzelne Haarsträhnen. Aber noch schlimmer als das, war die aufkommende Übelkeit und mir drehte sich der Kopf. Wimmernd presste ich mir eine Hand vor den Mund. Ich konnte mich nicht wehren, einerseits, weil sich alles um mich herum drehte, aber auch, weil sie die Mutter von Akemi war. Ich wusste nicht, wie Akemi mit ihrer Mutter umgegangen war und so konnte ich nichts tun, als darauf zu warten, dass ich meine Übelkeit kontrollieren konnte. „Dieses verdreckte Ding schmeißt du in den Müll! Und wasch’ dir die Haare!“ Sie schmiss das inzwischen gräuliche Verband auf den Boden, klopfte sich die Hände sauber und ging aus dem Zimmer. 
Ich presste mich an die Wand und rutschte langsam mit dem Rücken auf den Boden. Ich zitterte am ganzen Körper und immer noch lag meine Hand auf meinem Mund. Nicht mehr, weil mir schlecht war, sondern weil ich mein lautes Schluchzen verbergen wollte. Ging Akemis Mutter so mit ihrer Tochter um? War dies der Alltag von Akemi? Solch eine Demütigung am eigenen Leibe zu erfahren? Und das von ihrer eigenen Mutter?! Wollte sie sich deshalb umbringen? Weil sie sich von dieser Qual lösen wollte? Wie von einer Welle wurde mein fremdes Herz durchflutet von Mitleid, Trauer und Bestürzung. Noch nie hatte ich erlebt, wie eine Mutter so kalt und furchtbar mit ihrem Kind umgegangen war. Wenn ich an meine Mutter dachte, so sah ich immer nur eine liebevolle Frau, die alles für ihre Kinder tun würde. Manchmal brachte sie mich zur Weißglut, aber war das nicht bei jedem mal der Fall? Ich schlug die Hände vors Gesicht und fing bitterlich an zu weinen. Dort saß ich einige Minuten lang, bis meine Tränen versiegt waren. Nein, ich durfte hier nicht vor mich hin weinen. Ich musste aufstehen, bevor sie wieder kam und noch schlimmere Dinge zu Akemi tat als ohnehin schon. Ich öffnete den Kleiderschrank und holte mir eins der Kleider heraus, welche dort aufgehangen waren. Es war ein schlichtes, dunkelrotes Kleid, welches mir bis zu den Knien ging. Ja, das würde förmlich genug sein. Ich ging aus dem Zimmer und suchte das Bad. Dort angekommen knipste ich das Licht an und schloss die Türe ab. Mit langsamen Schritten ging ich zum Waschbecken hinüber und starrte in das Gesicht von Akemi Ito. Als ich im Krankenhaus zum ersten Mal in ihr Gesicht gesehen hatte, war ich überrascht, wie zart und schwach sie doch wirkte. Und so war es auch jetzt. Neben den Tränenspuren und den zerzausten Haaren, hatte Akemi eine beinahe durchscheinende Haut, sowie fast schwarzes Haar. Ihre Augen waren von einem matten Blau und dunkle Ringe unter den Augen betonten den fehlenden Schlaf, den sie brauchte. Akemi war sehr klein und dünn und ich schätzte ihr Alter auf mindestens fünfzehn. Ihre trüben Augen schauten mich an und mir schmerzte wieder das Herz. Ich riss meine Augen vom Anblick weg und zog mich aus, um in die Dusche zu steigen. Zurück in Akemis Zimmer kämmte ich mir das Haar und dabei dachte ich darüber nach, wie ich meinen echten Körper finden konnte. Anscheinend befand ich mich noch immer in meiner Heimatstadt, denn bei der Autofahrt hatte ich den Fernsehturm unserer Stadt aus weiter Ferne noch erkennen können. Ich würde also am nächsten Schultag zu meiner Schule gehen und dort Takeru und die anderen treffen. Vielleicht war Akemi auch dort, wenn sie schon entlassen worden war? Wenn sie mich entdeckte, würde sie sofort die ganze Situation erkennen und wir würden zusammen eine Lösung finden können. Irgendetwas war schließlich passiert, dass sich unsere Körper vertauscht hatten, also gab es sicherlich auch eine Lösung es wieder rückgängig zu machen. Ich atmete tief ein und wieder aus. Erst einmal musste ich den heutigen Abend bestehen. Mein Kopf pochte noch unangenehm, doch ich kümmerte mich nicht darum. Es gab größere Probleme. Ich hörte unten, wie die Tür aufgeschlossen wurde. „Schatz! Endlich bist du da!“, rief Akemis Mutter mit einer gezwungenen Fröhlichkeit. „Akemi!! Komm runter! Dein Vater ist da!“ Ich stand langsam auf und ging Richtung Tür, um mich meinem Schicksal zu stellen. „So eine verdammte Scheiße ist das!!“, donnerte plötzlich eine männliche Stimme. An der Treppe stoppte ich erschrocken und ich klammerte mich an das steinerne Treppengerüst fest. „A-aber was ist denn los?“, fragte sie nervös und ich hörte ein lautes Geräusch, so als hätte der Vater seine Tasche auf den Tisch geknallt. „Dieser Mistkerl von Asahara hat es abgelehnt, das ist los!“, rief er entzürnt. „Abgelehnt? Wie meinst du das? „Was fragst du denn so blöd, mein Gott! Sie kommen heute nicht! Es ist vorbei! Die Firma von Asahara hat mir mitgeteilt, dass er doch nicht mit unserer Firma kooperieren will.“ „Aber warum denn das? Ich dachte, er wäre besonders begeistert gewesen von deiner Idee?“ „Er hat von dem Unfall Akemis gehört. Er meinte, ich solle mich nicht nur in die Arbeit vergraben, sondern jetzt mal für meine Tochter da sein. Ein Arsch ist das! Dieser verdammte Mistkerl!“ Wütend stampfte er auf und ab und konnte sich anscheinend nicht beruhigen. Plötzlich blieb er abrupt stehen. „Was machst du eigentlich den ganzen Tag?! Konntest du nicht aufpassen?! Da hängt so viel Mühe und Arbeit drin fest und du musst alles ruinieren, weil du nicht mal auf deine eigene Tochter aufpassen kannst!!“, schrie er sie an. „Ich wusste doch nicht, dass sie sich gleich umbringen will!“, versuchte sie sich zu verteidigen und sie war den Tränen nah. „Wenn auch nur ein Wort rauskommt, dass deine Tochter sich selbst umbringen wollte, dann mach ich dich fertig, hast du kapiert!!?“ Und mit diesen Worten stampfte er hinaus und knallte die Haustür hinter sich zu. Plötzlich herrschte Stille und nur das leise Schluchzen von Akemis Mutter war zu hören. Ich stand stocksteif da und konnte nicht fassen, was ich da gehört hatte. Wie konnten die Eltern in dieser Situation nur an sich selbst denken? Ihre Tochter war fast gestorben, doch sie dachten nur an ihr Ansehen und an ihre Arbeit. Und was noch viel schlimmer war: Sie gaben Akemi die Schuld an alles. Fest kniff ich die Augen zu und zum wiederholten Male wünschte ich mir, alles wäre nur ein Traum. Unvermittelt hörte ich langsame Schritte näher kommen und schon sah ich sie unten an der Treppe stehen. Ihre Augen waren gerötet und sie schluchzte leise. Ihre streng nach hinten gebundenen Haare hatten sich etwas gelöst und sie blickte mich mit einem schmerzlichen Gesicht an. „Warum…“, flüsterte sie leise und blinzelte die Tränen weg, sodass sie ihr an den Wangen herunterliefen. „Warum muss ich so leiden? Womit habe ich das verdient? Wieso quälst du uns so sehr?“ Sie schluchzte kurz, ehe sie fortfuhr. Ihr Blick wurde dunkler und verachtender. „Du weißt genau, wohin er jetzt gegangen ist, Akemi. Er ist zu IHR gefahren! Das weißt du genauso gut wie ich!“ Ihre Stimme wurde immer lauter, bis sie mit der Faust gegen die Wand schlug. Einige Sekunden sagte sie nichts mehr. Dann stampfte sie wieder nach unten. Leise sagte sie dabei: „Hätte ich dich doch niemals geboren…“ Ich lag im Bett und obwohl ich keine Tränen mehr vergoss, konnte ich nicht anders als weiter zu weinen. Ich vermisste meine Familie. Ich vermisste Tai!! Ich vermisste Takeru!! Und ich vermisste meine Freunde, meine geliebten Freunde! Oh, wie sehr wollte ich sie sehen, wie sehr wollte ich sie in die Arme nehmen. Aber… Akemi. Was war mit ihr? Wie konnte sie hier überleben, wenn ihre Eltern sich überhaupt nicht um sie kümmerten? Hatte sie jemanden, den sie gern hatte? Jemanden, an den sie sich ausweinen konnte? Ich wünschte es ihr von Herzen. Akemi wollte sich umbringen. Sie wollte ihr Dasein beenden. Hieß das nicht, dass sie sogar ihre geliebte Person dafür aufgeben wollte? War der Schmerz in ihr so groß, dass sie dafür alles aufgegeben hatte? „Akemi…Wer bist du?“ Kapitel 6: Eine weitere Chance ------------------------------ Eine weitere Chance AKEMI Es war morgen und die Sonne schien hell und strahlend durch das Fenster. Ich befand mich im Krankenhaus und lag alleine in meinem Zimmer. Noch wusste niemand, dass ich wach war. Vor zwei Tagen war ich wieder zu mir gekommen und es war etwas sehr merkwürdiges passiert. Ich konnte es nicht einmal wirklich beschreiben. Ich hatte es dem jungen Mann erzählt. Sein Name war Tai. Aber er hatte mich nicht verstanden. Er meinte, ich rede wirres Zeug. Niemand wollte mir glauben. Weder er, noch die Eltern von Tai, noch der Doktor, obwohl er verständnisvoll genickt hatte. Doch ich wusste, dass er mir in Wahrheit nicht glaubte. Niemand glaubte mir, dass ich nicht Kari war. Kari war tot. Aber keiner wollte mir dies abnehmen. Ich wusste genau, wer Kari war. Kari war das Mädchen, welches mich retten wollte. Doch irgendwie hatte ihr Körper überlebt und ich befand mich in ihrem. Ich erinnerte mich an dem Ort, wo ich mich noch vor einiger Zeit befand. In dem Nichts, der Hölle, und dort hatte ich mir von Herzen gewünscht wieder leben zu wollen. Und anscheinend hatte es geklappt. Ich war klug genug, um zu wissen, dass das nicht möglich war, aber entweder war ich verrückt geworden oder es war tatsächlich passiert. Ich war in Hikari Yagamis Körper. Vielleicht war ihre Seele durch meine ersetzt worden, doch das war unmöglich. Schließlich hatte auch ich einen eigenen Körper, irgendwo da draußen. Was war mit meinem Körper passiert? Wo war ICH? War mein Körper etwa gestorben? War das vielleicht eine Erklärung für die ganze Sache? Es klopfte an der Tür. „Entschuldige bitte. Habe ich dich geweckt?“ Die Krankenschwester, die mich betreute, betrat das Zimmer und lächelte mich freundlich an. Ich schüttelte den Kopf. Sie blickte mich noch einmal verständnisvoll an, ehe sie zum Fenster hinüberging, um sie zu öffnen. „Heute ist ein wirklich wunderschöner Tag, nicht wahr?“, sagte sie. Ich erwiderte nichts darauf, sondern schaute sie nur stumm an. Sie lächelte wieder. „Dein Bruder wartet draußen. Möchtest du ihn sehen?“ Ich blinzelte. Tai war hier? „Ich hole ihn, ist das in Ordnung?“, fragte sie, immer noch sehr vorsichtig. Leicht nickte ich und sie ging hinaus. Ich schaute auf das offene Fenster und schließlich auf das Fensterglas, worin sich mein Gesicht spiegelte. Beziehungsweise das Gesicht von Kari. Kari war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Keine Schönheit, aber es war ein Gesicht, in das man gerne hineinschaute. Sie hatte freundliche haselnussbraune Augen und ihre ebenso braunen Haare reichten ihr bis zu ihren Schultern. Sie schien älter zu sein als ich. Vielleicht zwei, drei Jahre mehr? Wieder klopfte es an der Tür und neben der Krankenschwester stand nun auch Tai. Karis Bruder. „Hey, Kari.“, begrüßte er mich und lächelte zaghaft. Ich lächelte leicht zurück und blickte dann auf meine Hände. Plötzlich erinnerte ich mich wieder daran, wie verstört er gewesen war, als ich ihm gesagt hatte, dass Kari tot war… „Wie geht’s dir so?“, fragte er mich dann und versuchte dabei fröhlich zu klingen. „Heute ist Sonntag! Und was für einer! Echt schönes Wetter, nicht wahr? Ich glaube, bald ist es warm genug und wir können mit den anderen an den Strand gehen!“ Er setzte sich ans Bett und schaute dabei aus dem Fenster. „Mama und Paps kommen später auch noch, aber ich bin etwas früher gekommen, weil ich dachte, du langweilst dich vielleicht?“ Er grinste mich an und ich schaute wieder in seine Augen. Sein Blick wurde wieder etwas trüb, ehe er dann schnell den Kopf schüttelte. „Hast du denn gut geschlafen? Ich wette, wenn du erst einmal wieder zu Hause bist, wirst du richtig ausschlafen können als in diesem Gestell von einem Bett. Ist bestimmt total ungemütlich hier…“ Plötzlich verstummte er. Anscheinend dachte er wohl nach, was er als nächstes sagen konnte. „Der Arzt meinte, dass das möglich ist. Nach einem Kopfsturz…es kann durchaus passieren, dass man eine leichte Amnesie hat. Wir müssen dir nur vieles aus deiner vertrauten Umgebung zeigen, dein Zuhause, deine Freunde… Ach ja, T.K. möchte dich auch unbedingt besuchen! Er konnte dich ja nicht sehen seit du wieder wach bist. Aber der blöde Arzt wollte nach deinem Aufwachen, dass dich niemand anderes besucht als die Familie. Du weißt gar nicht, wie sauer T.K. darüber war.“, redete er weiter. „Ich hab ihm gesagt, er könne dich besuchen, sobald du wieder zu Hause bist.“ Anscheinend wartete er auf eine Reaktion von mir, weshalb ich nur stumm nickte. Ich wusste nicht, wer dieser T.K. war. Es kam mir aber so vor, als hätte ich diesen Namen schon einmal gehört. Überhaupt kannte ich niemanden in meiner Umgebung, außer dass der junge Mann vor mir Karis Bruder war und es einen Jungen gab, der T.K. hieß und wohl ein Freund von ihr war. „Ist schon okay. Du bist noch durcheinander, das versteh ich schon.“ „Danke…“, flüsterte ich. Er hob seine Hand, um meinen Kopf zu tätscheln, doch ich zuckte unter dieser Geste zusammen, sodass er bei seiner Bewegung inne hielt. Entschuldigend blickte ich ihn an und ich konnte in seinen Augen eine Furcht erkennen, die er zu verstecken versuchte. Sicher hatte er Angst. Angst davor, dass Kari nie mehr so sein wird, wie sie mal war. Dass sie wirklich alles vergessen hatte. Ich wollte ihm nicht den Schmerz geben und ihm sagen, dass es noch schlimmer war, als das. Dass Kari…tot war. Dass es nie wieder eine Kari geben würde und sie vor sich nur ihre Hülle sahen. Mit einer fremden Seele darin. Später kamen seine Eltern und holten uns ab. Der Arzt warnte sie davor, dass ihre Tochter noch nicht zur Schule gehen sollte, erst ein paar Tage später, wenn sie sich ausgeruht hat. „Zeigen Sie ihr die Umgebung und erzählen Sie ihr von Erlebnissen, die sie hatte. Das fällt ihr leichter sich an ihr Leben zu erinnern.“, erklärte der Arzt ihnen. „Aber was passiert, wenn…wenn nicht?“, wollte Karis Mutter besorgt wissen und klammerte sich am Arm ihres Mannes fest. „Dann kommen Sie am besten wieder. Wenn sich Kari trotzdem nicht erinnert, werden wir schauen, was wir für sie tun können.“ Karis Vater nickte und beide Elternteile schauten mich besorgt an. Ich tat so, als hätte ich nichts gehört und blickte auf den weißen Boden. „Wir gehen jetzt am Besten nach Hause.“, erklärte Tai schließlich und alle nickten. „Na komm, Kari. Auf nach Hause.“ Karis Mutter legte mir fast beschützend den Arm um die Schultern und reflexartig verkrampfte ich mich. An solch einer Berührung war ich nicht gewöhnt. Zum Glück aber bemerkte sie es nicht. ——— Es war mitten in der Nacht und noch immer fand ich keinen Schlaf. Ich befand mich in Karis Zimmer, in ihrem Bett und alles, wirklich alles, roch nach einer fremden Person. Ich hatte noch nie in einem fremden Bett geschlafen. Noch immer war ich angespannt und konnte, oder wollte die ganze Situation nicht wirklich begreifen. Da waren die Eltern, die sich so lieb und fürsorglich um mich gekümmert hatten. So etwas kannte ich nicht und es war für mich etwas ganz neues gewesen. Wie lieb mich Karis Mutter angeblickt hatte… Ich schluckte und versuchte plötzlich die Welle von Tränen, die in mir aufstieg, aufzuhalten. War das vielleicht die Liebe, die eine Mutter ihrem Kind gab? Ich dachte an meine eigene Mutter nach, die sich nur einen Dreck um mich gekümmert hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so von meiner Mutter angeschaut zu werden. Nicht einmal ansatzweise. Immer war ich im Weg und sie ließ mich das auch spüren. Mein Vater ignorierte mich völlig und lebte nur für seine Arbeit. Er war so selten zu Hause, dass ich ihn manchmal über Wochen nicht sah. Ein leises Schluchzen drang aus meiner Kehle und ich presste mir die Hand fest auf den Mund. Hätte ich ein Leben wie das von Kari gehabt, wie anders würde mein Leben bloß aussehen? Wie schön würde es gewesen sein? Plötzlich kam mir ein Gedanke auf und ich erschrak. Nein, so darfst du niemals denken!!, dachte ich. Doch der Gedanke festigte sich und ich konnte ihn nicht mehr aufhalten. „Kari ist tot. Und du bist jetzt in ihrem Körper. Möchtest du nicht das Beste daraus machen?“ Niemand würde je erfahren, dass Kari verschwunden war. Und niemand wusste, dass eine andere Person in ihrem Körper war. Jeder dachte, dass sie sich nicht mehr an ihr Leben erinnert. Wäre das dann nicht meine Chance ein neues Leben anzufangen und meine Vergangenheit hinter mich zu lassen…? Ich fing an zu zittern und mein Atem beschleunigte sich. A-Aber das konnte ich nicht tun…! Es war Karis Leben! Es war ihre Familie! Ihre Freunde! Sie hatte sich das alles aufgebaut und ich…ich sollte es ihr einfach so wegnehmen? Das durfte ich nicht… Das war nicht fair gegenüber Kari, die mein Leben retten wollte!! „Sie hat sich für dich geopfert, um dich zu retten. Das bedeutet doch, dass du leben sollst. Auch wenn es dann heißt, Karis Leben zu übernehmen.“ Das stimmte. Sie kannte mich nicht und sie hatte aus freiem Willen einer fremden Person helfen wollen. Und wenn ich jetzt ihr Leben übernehmen würde, dann würde ich für einen Teil auch für Kari leben. „Liebe Kari…Würdest…würdest du das erlauben? Darf ich leben?“, flüsterte ich und starrte an die Decke. Natürlich bekam ich keine Antwort. Ich hatte auch keine erwartet, es war eher eine rhetorische Frage an mich selbst, die ich ebenfalls nicht beantworten würde. Doch eines musste ich mir eingestehen: Ich war in Karis Körper und würde wohl auch in ihrem bleiben. Kari war tot. Ihr Leben lag nun in meinen Händen. Ja. Ich würde ihr Leben weiterleben um ihretwillen, aber auch um meinetwegen. Kapitel 7: Im goldenen Käfig ---------------------------- 7 Im goldenen Käfig KARI Das erste, was ich beim Aufwachen bemerkte, waren höllische Kopfschmerzen. Ich fasste mir an den Kopf und drückte meine Finger an meine Schläfen, um die Schmerzen wenigstens ein wenig zu lindern. Die unsanfte Art von Akemis Mutter plus die ganze Situation, sowie der Unfall, pochten unaufhörlich und schmerzhaft in meinem Kopf. Langsam stand ich auf und ging leise ins Bad. Wieder war ich froh, dass Akemi ein eigenes Bad hatte. Ich wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht und schaute schließlich in den Spiegel. „Das ist alles nicht wahr…“, flüsterte ich zu dem Mädchen, welches mir trübe in die Augen schaute. Ich wandte mich schnell weg und ging wieder ins Zimmer. Der Arzt hatte mir mitgeteilt, dass ich lieber noch nicht in die Schule gehen sollte. Ich sei noch zu schwach und er hatte mich davor gewarnt, dass ich mich nicht zu sehr bewegen sollte, wegen den Kopfschmerzen. Aber das konnte ich nicht. Ich musste hier raus. Ich musste so schnell wie möglich etwas unternehmen! Wenn ich überlebt hatte, dann hatte das mit Sicherheit Akemi auch! Und ich musste sie finden! Ich musste meinen Körper finden! Wir mussten eine Lösung finden, wie wir zurück in unsere eigenen Körper wechseln konnten! Ich ging zum Kleiderschrank und öffnete sie rasch. Bestimmt gab es hier ihre Schuluniform. Ich würde so tun, als würde es mir besser gehen, dass ich wieder in die Schule konnte. Dann würde ich nach Hause laufen und bestimmt dort auch Akemi treffen! Tatsächlich fand ich im Schrank eine marineblaue Schuluniform. Ich konnte nicht sagen, von welcher Schule sie kam, da ich diese Schuluniform zum ersten Mal sah. Der Stoff fühlte sich jedoch „wertvoll“ an, überhaupt musste sie ziemlich teuer gewesen sein. Schnell zog ich sie an und streifte mir schließlich noch die Strümpfe über. Mittlerweile war es kurz vor halb acht. Vielleicht war die Mutter schon wach? Ich hoffte nicht. Die Schultasche von Akemi war leicht zu finden, sie lag umgekippt auf dem Boden neben dem Kleiderschrank, so schnappte ich sie mir schnell und wollte aus dem Zimmer gehen, als mir plötzlich wahnsinnig schwindelig wurde. Ich wankte einige Schritte vor und hielt mich schließlich an der Wand fest, damit ich das Gleichgewicht nicht verlor. Mir wurde fast schwarz vor Augen und mein Atem beschleunigte sich. „Jetzt bloß nicht die Ruhe verlieren, Kari…“, flüsterte ich leise zu mir selber, als ich spürte, wie die Übelkeit langsam in mir aufstieg. Ich versuchte langsamer zu atmen und zählte die Sekunden, um mich zu beruhigen. „Bald ist alles vorbei… Es ist nur ein böser Traum… Nur ein böser Traum…“ Mit unsicheren Schritten ging ich zur Zimmertür und öffnete sie. Ich versuchte dabei so leise wie möglich zu sein. Wieder betete ich darum, dass keiner wach war. Möglichst unauffällig tapste ich schließlich die Treppen hinunter und dankte dafür, dass die Treppen aus Mamor bestanden und nicht aus quietschendem Holz. Unten angekommen musste ich mich erst wieder orientieren. Das Wohnzimmer war riesengroß und auch der Boden bestand aus grau-weißem Mamor. In der Mitte präsentierte sich ein großer, ovaler Esstisch aus dunklem Holz mit ebenso dunklen Stühlen. An den Wänden waren weiße Glasschränke aufgestellt in denen sich wertvolle Porzellangeschirre befanden, sowie schwere Kristallgläser. Weiter hinten standen große Zimmerpflanzen, sowie kleinere Porzellanstatuen in Formen von Hunden. Es war offensichtlich, dass die Familie Ito ziemlich vermögend war. Der Vater war ein großer Firmenchef, von keiner Ahnung welcher Firma, und die Mutter arbeitete anscheinend auch. Vermutlich hatten sie sogar Dienstleute im Haushalt, das konnte ich mir gut vorstellen. Wieder waren meine Gedanken bei Akemi. Trotz dieses Reichtums, konnte sie bestimmt nicht glücklich sein. Was brachte ihr der ganze Reichtum, wenn sie Eltern hatte, die sie anscheinend nicht liebten?! Ich seufzte und wandte mich schließlich um. Ich durfte nicht nachdenken. Ich musste jetzt so schnell wie möglich zu ihr! „Halt!“ Ich fuhr erschrocken herum und sah in das strenge Gesicht von Akemis Mutter. Sie stand einige Meter von mir und schloß gerade eine Tür hinter sich zu. „Wo willst du hin?“, wollte sie wissen. Sie hatte ihren Kinn gehoben, sodass es den Eindruck auf mich machte als würde sie auf mich herabblicken. Ich versuchte mit fester Stimme zu antworten. „Zur Schule.“ Sie schnaubte. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst.“ Mit energischen Schritten ging sie auf mich zu und schnappte mir die Schultasche weg. Ich zuckte zusammen, als sich dabei unsere Finger kurz berührten. Es war wie ein eisiger Stromschlag. „Du denkst doch wohl nicht, dass ich dich alleine irgendwohin lasse, nachdem du uns in diese Misere gebracht hast? Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen! Sobald du wieder alleine auf der Straße rumspazierst, wirst du uns nur noch mehr Ärger einbringen! Und was würden die Nachbarn sagen, wenn sie dich draußen sehen! ’Das ist doch die Tochter der Familie Ito, die sich UMBRINGEN wollte!!‘ Das können wir uns definitiv nicht leisten!“, donnerte sie und schmiss die Schultasche auf den Boden. „Ab sofort ist dein Alleingang untersagt, hast du kapiert?? Ich werde nicht zulassen, dass du uns wieder in solche Schwierigkeiten bringst! Weißt du, wie sauer dein Vater auf mich ist?!“ Ihre Stimme wurde höher und durch den Hall ihrer Stimme im ganzen Raum pochte es wieder schmerzhaft in meinem Kopf. Doch ich ließ mir nichts anmerken. „Hören Sie-….Hör mal, Mutter, du kannst mir nicht verbieten zur Schule zu gehen!“, versuchte ich mich zu verteidigen. Mit wütenden Schritten kam sie auf mich zu und verpasste mir eine Ohrfeige, die mich für einige Sekunden lang versteifen ließ. „Benutz das Wort „Mutter“ nicht so leichtfertig, hast du kapiert?“, zischte sie und durchbohrte mich fast mit ihrem Blick. Wie vom Donner berührt und nicht fähig mich zu bewegen, hielt ich mir mit meiner Hand die Wange. Ein sinustöniges Piepen hallte in meinen Ohren wieder. Das war nicht wirklich passiert, oder? Sie hatte mich nicht ernsthaft geschlagen, oder? „Kaum bist du wieder hier, bereitest du uns schon wieder nur Ärger. Ich glaub’s nicht! Du denkst immer nur an dich!“, regte sie sich auf. Ich starrte auf den Boden und war froh darüber, dass meine Haare die Sicht zu ihr verdeckten. In mir brodelte es, doch ich musste mich beruhigen. Ich durfte sie jetzt nicht noch weiter zur Weißglut bringen. „Ich habe dir einen Begleiter besorgt, der dich zur Schule hin- und wieder zurückbringt. Außerdem wird er, während du in der Schule bist, in der Nähe sein, damit du nicht wieder auf verrückte Gedanken kommst!“ Sie kniff die Augen leicht zu und beäugte mich mit einem verachtenden Blick. „Ich lasse nicht zu, dass du dich selbst umbringst! Solange du den Namen Ito trägst, wirst du uns nicht in den Ruin treiben.“, zischte sie. Ich schaute demonstrativ weg. Ich konnte ihren Anblick im Moment nicht ertragen. Plötzlich klingelte es an der Tür. „Das muss dein Begleiter sein.“, sagte sie und ging an mir vorbei. Ich schloss für eine Sekunde die Augen. Meine Wange brannte noch etwas. Beruhige dich, Kari! Beruhige dich! Sie durfte so nicht mit mir umgehen, das wusste ich, doch wenn ich mich jetzt mit ihr anlegte, würde das zu nichts bringen. Nein, es würde vielleicht schlimmer werden. „Matsumoto, ich will, dass du gut auf sie aufpasst! Dass sie dir ja nicht ausbüxt!“, hörte ich ihre strenge Stimme hinter mir. „Nein, ich werde aufpassen.“, antwortete er. Ich bückte mich nach unten und hob die Schultasche auf. Ohne weitere Worte ging ich schnell an den beiden vorbei nach draußen. Vor mir stand ein dunkelblaues Auto. Ich runzelte die Stirn. „Bitte steigen Sie ein.“, sagte der große Mann mit tiefer Stimme. Er war um die dreißig und war unglaublich groß und breit. Sein Gesicht sah aus, als hätte er noch nie in seinem Leben gelächelt. Ohne zu antworten schlüpfte ich durch die Autotür, die er mir offen hielt. Mein Plan war gescheitert. Völlig gescheitert. Ich war gefangen, wie ein Vogel im goldenen Käfig. Kapitel 8: Verlorenes Versprechen --------------------------------- 8 Verlorenes Versprechen AKEMI „Siehst du das, Kari? Das waren wir beide auf dem Spielplatz. Matt und Tai hatten uns damals in den Wahnsinn getrieben und schließlich hast du angefangen zu weinen, sodass ich dann auch angefangen habe zu weinen. Dein Vater hat dann ein Foto von uns beiden gemacht.“ Er lächelte fast wehmütig und strich mit seinen Finger über das Foto. T.K. saß neben mir und zeigte mir diverse Fotos aus der Vergangenheit. Vorhin war er durch die Türe gekommen und seine Augen waren voller Tränen gewesen. Er hatte jedoch die Zähne zusammen gebissen und schließlich gelächelt und mich begrüßt. Es war bestimmt schwer für ihn gewesen seine Freundin endlich nach längerer Zeit und nach dem Unfall wiederzusehen. Sowie die Tatsache, dass sich seine Freundin nicht an ihn erinnern konnte. Beziehungsweise, dass sie tot war. Aber das wusste niemand außer ich. „Hier, das sind wir auf der Mittelschule. Wir waren mächtig stolz darauf endlich auch Schuluniformen anziehen zu können.“ Ich betrachtete das Foto von T.K. und Kari, wie sie Arm in Arm in die Kamera grinsten. Wie leuchtende Augen Kari hatte und wie glücklich sie aussah! „Es war bestimmt eine schöne Zeit gewesen.“, wisperte ich. Er schaute mich für einen Moment an und nickte schließlich. „Es war eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens.“, sagte er ebenso leise. Für einige Sekunden sagte niemand von uns beiden mehr etwas. Ich konnte mir denken, dass er gerade an seine Vergangenheit mit Kari dachte. Doch ich dachte an die Zukunft. Wie mein Leben, mein neues Leben jetzt wohl aussehen würde. Und ich würde kämpfen, ja, ich würde niemals wieder in dieses einsame, dunkle Loch fallen, wie in meinem alten Leben als Akemi. Denn dort konnte ich mich nicht an eine einzige schöne Erinnerung erinnern. „Seid wann bist du mit Kari…mit mir zusammen, T.K.?“, fragte ich ihn und schaute ihn dabei an. Er sah wirklich gut aus und hatte anscheinend sogar eine ausländische Wurzel in sich. Seine blauen Augen wurden kurz trüb und senkten sich. „Seid vier Jahren, um genau zu sein.“, antwortete er und meine Augen weiteten sich. Vier Jahre!! Das kam mir wie eine Ewigkeit vor. „Wie alt…bin ich denn?“ „Du bist letzte Woche achtzehn geworden.“ „Ich hatte Geburtstag?“ „Ja, letzte Woche haben wir zusammen deinen Geburtstag-…“ Plötzlich verstummte er und stand auf. Er drehte sich nicht um, sodass sein Rücken in meine Richtung zeigte. Fragend schaute ich auf. „Tut mir leid…“, flüsterte er dann und ging aus dem Zimmer. Seine Stimme klang erstickt als würde er sich zusammenreißen müssen. Nachdenklich schaute ich ihm nach. Er hatte Kari wirklich geliebt. Vom ganzen Herzen. Aber seine Kari war weg und stattdessen war ich in ihrem Körper und wusste nicht, wer er war. Dass Kari ihn nicht erkannte, muss sein Herz gebrochen haben und er litt. Die Tür öffnete sich wieder und herein kam Tai. Er lächelte mich an. „Lass uns eine Runde ums Haus machen. T.K. kommt mit.“, sagte er und ich nickte. „Geht es ihm gut?“, fragte ich ihn vorsichtig und er seufzte. „Nimm es ihm nicht übel… Er ist einfach zu überfordert.“ Ich senkte meinen Kopf. „Es tut mir leid… Ich hätte ihn nicht so ausfragen dürfen.“ „So’n Quatsch. Es ist dein gutes Recht mehr über dein Leben erfahren zu wollen.“ „Aber durch meine Fragerei habe ich ihn doch-…“ Er nahm eine Jacke vom Kleiderschrank und warf sie mir überm Kopf. Perplex rührte ich mich nicht. „Du redest zu viel. Na los, komm schon!“, lachte er und ging voraus. Ich nahm die Jacke von meinem Kopf und lächelte leicht. Doch dann bekam ich schreckliche Gewissensbisse. Sie alle versuchten sich nichts anmerken zu lassen, doch ich wusste, wie verletzt sie waren. Und ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich nicht Kari war… Ich kämpfte um die Tränen als ich die Jacke anzog. Ich dachte nur an mich. ICH wollte glücklich werden und war so selbstsüchtig. Obwohl ich wusste, dass sie alle verletzt waren und noch mehr verletzt sein würden, wenn sie erfuhren, dass Kari niemals wieder zurückkommen wird: Ich wollte trotzdem das neue Leben behalten. „Die frische Luft tut dir bestimmt gut. Nur zu Hause rum zu hocken ist bestimmt total öde.“, meinte Tai und streckte sich. Ich schloss meine Augen und genoß die Sonne, die auf mein Gesicht schien. „Ich hoffe, bald kannst du auch wieder zur Schule. Die anderen vermissen dich schon wahnsinnig.“, sagte T.K. und kickte einen Kieselstein zur Seite. Fragend schaute ich ihn an. „Die…anderen?“ Er nickte. „Yolei, Davis, Ken. Wir fünf hängen ständig zusammen rum und dann ist da noch Cody, ebenfalls ein guter Freund.“ „Sagen dir die Namen etwas?“, fragte mich Tai und Hoffnung blitzte in seinen Augen. Ich schüttelte entschuldigend den Kopf und er ließ enttäuscht die Schultern hängen. T.K. winkte ab. „Wenn du sie erst mal siehst, kann sich das ja noch ändern.“ „Vielleicht…“, murmelte ich nur. Es war seltsam und ungewohnt, aber ich genoss es mit den beiden zusammen zu sein. Bisher war ich immer nur alleine gewesen und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit jemanden „nur so“ unterwegs war. Aber Tai und T.K. waren wirklich lieb. Ich war mir sicher, dass Kari ihren Bruder sehr gerne gehabt hatte, sowie ich auch zugeben musste, dass sie einen tollen Freund hatte, der immer für sie da war. „Lass uns zum alten Spielplatz gehen! Da waren wir seit Ewigkeiten nicht mehr.“, schlug Tai vor und wir machten uns auf dem Weg. Der Spielplatz bestand aus einem Sandkasten mit nur zwei Schaukeln. Nur zwei Kinder spielten dort und die Mütter unterhielten sich weiter weg, aber immer einen guten Blick auf ihre Lieblinge. Wir ließen uns auf eine Bank nieder und schauten den Kleinkindern zu, die im Sand buddelten. „Als wir noch klein waren, haben wir echt jeden Tag hier gespielt.“, erinnerte sich Tai. „Ja, und du und Matt habt uns mit Sand beworfen.“ „Und ihr habt ständig geheult.“ „Ihr habt immer Ärger von deiner und meiner Mutter gekriegt.“ „Weil ihr immer gepetzt habt.“, verteidigte Tai sich und beide lachten. Ich schaute von einem zum anderen rüber und lächelte schließlich. „Anscheinend waren wir von klein auf Sandkastenfreunde.“, entgegnete ich. „Oh ja, Matt ist Tais bester Freund und wir haben früher auch hier gewohnt.“, antwortete T.K.. „Das war schon eine tolle Zeit damals…“ Tai lächelte wehmütig. Dann stand er auf. „Ich hol uns mal was zu trinken. Wartet ihr hier auf mich?“ Wir nickten und er ging los. „Wir sind auch echt gemein.“, sagte plötzlich T.K. und ich sah ihn fragend an. Er lächelte schief. „Wir schwelgen in Erinnerungen und denken an die schöne Zeit von damals, dabei weißt du nicht, wovon wir sprechen.“ Ich senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Nein, es ist schön zu hören, dass Kari-…dass ich eine schöne Vergangenheit hatte.“ „Naja, aber gib es ruhig zu: Du sitzt hier mit uns, aber eigentlich weißt du nicht mal, wer wir sind. Für dich sind wir einfach nur Fremde.“ Seine Stimme wurde am Ende etwas schwach. „Aber nein!“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Ihr seid wirklich zwei so tolle Menschen und ich bin wirklich froh, dass…dass ich euch habe!“ Das war mein voller Ernst und ich wollte, dass sie es wussten. Wieder lächelte er. „Natürlich sind wir bei dir. Deine Eltern, dein Bruder, deine Freunde und ich. Wir alle stehen immer hinter dir und würden dich niemals verlassen, ist doch klar.“ „Danke…“, antwortete ich gerührt und wischte mir über die Augen. „Das wäre auch völlig bescheuert, wenn nicht, oder?“, versuchte er zu scherzen, doch ich schwieg nur. „Stimmt…total bescheuert.“, wisperte ich und dachte an mein altes Leben. Plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meiner und ich hielt erschrocken den Atem an. „Du…sollst aber wissen, dass ich dich…trotzdem liebe. Und ich werde warten, egal, wie lange es dauern wird. Und ich werde alles tun, wirklich alles in meiner Macht tun, damit du dich erinnerst.“, sagte er sanft, aber auch eindringlich. Ich erwiderte nichts darauf und saß nur stocksteif da. Was hätte ich auch erwidern sollen? „Und… bis dahin möchte ich, dass du mir den Ring zurückgibst.“ Ich blinzelte kurz und hob meinen Kopf. Sein Blick war nach unten gerichtet auf meine Hand, wo sich der silberne Ring befand. Natürlich hatte ich seit meinem Aufwachen bemerkt, dass ich an meinem Finger einen Ring trug, doch wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass es sich um einen Hochzeitsring handelt! „Wir…wir sind verheiratet?“, stammelte ich und wurde puterrot. Er schüttelte den Kopf und sah mich freundlich an. Dann nahm er seine Hand wieder von meiner. „Nein, Kari. Aber wir haben uns verlobt. Wir wollten heiraten.“ Mir blieb der Mund offen. T.K. seufzte. „Und deshalb möchte ich, dass du mir den Ring wiedergibst. Es macht keinen Sinn ein Versprechen zu besitzen, wenn du nicht einmal weißt, dass wir verlobt sind.“ Er schluckte kurz. „Du weißt nicht, dass wir uns geliebt haben.“, flüsterte er. Ich biss mir auf die Lippen. Da war er wieder, der wehmütige Blick. Das schlechte Gewissen kroch wieder in mein Herz und mir kamen fast die Tränen. T.K. riss sich wieder zusammen. „Vergiss, was ich eben gesagt habe. Wie auch immer, den Ring werde ich wieder an mich nehmen. Und wenn deine Erinnerungen wieder da sind, wenn…wenn du wieder weißt, dass wir uns versprochen haben für immer zusammen zu bleiben, dann gebe ich ihn dir wieder.“ Er schnaubte. „Nein, beziehungsweise, dann werde ich ihn dir gewaltsam wieder an den Finger stecken.“ „Sehr witzig.“ Ich versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen und brachte ein Lächeln heraus. Mit der anderen Hand nahm ich den Ring von meinem Ringfinger und übergab ihn T.K.. Einen Moment betrachtete er ihn, schließlich steckte er den Ring in sein Portemonnaie. „Tai braucht ja ziemlich lange.“, sagte er und wechselte das Thema. Ich starrte wieder auf den Boden und war unfähig den Blick zu heben. Wenn ich jetzt etwas gesagt hätte, ich wusste, ich würde anfangen zu weinen. Ich war so selbstsüchtig. So verdammt selbstsüchtig. Kapitel 9: Verachtung --------------------- 9 Verachtung KARI Es stellte sich heraus, dass die Schule von Akemi eine Privatschule war. Sie war keine protzige Schmarotzerschule für Superreiche, aber trotzdem war ich klug genug um zu erkennen, dass keine einfachen Familien sich mit durchschnittlichem Einkommen die Schulgebühren hier leisten konnten. Alleine die Schuluniform war Beweis genug. Mein Begleiter, Matsumoto, stand hinter mir am Auto und ich war unglaublich froh, dass er nicht mit mir in das Schulgebäude ging. Ich hatte noch immer keinen Plan, wie ich ihm entkommen konnte, denn er hatte Adleraugen und er würde mich niemals wirklich alleine lassen, auch wenn er nicht bei mir war. Seufzend betrat ich das große Gebäude und befand mich sofort in einem großen Saal, wo sich viele Schüler herumtummelten. Noch hatte der Unterricht nicht angefangen, trotzdem war es seltsam, dass sich die Schüler nicht in ihren Klassenräumen befanden. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, deshalb stellte ich mich an die Wand. Ich hoffte, dass mich niemand bemerken würde, auch nicht die unbekannten Freunde von Akemi. Außerdem hatte ich noch keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen sollte, wenn der Unterricht begann. Ich ließ meinen Blick über die Schüler wandern. Die meisten standen in kleinen Grüppchen beieinander, niemand außer mir war alleine. Plötzlich betraten einige Schüler den Saal und gingen an mir vorbei. Ich nahm mir ein Herz und hielt einen Schüler am Ärmel fest. Er blieb überrascht stehen. „Entschuldigung… Ich würde gerne wissen-…“, fing ich an, wurde aber sofort unterbrochen. „Lass deine dreckigen Pfoten von Kenta, Ito!“, zischte das blonde Mädchen neben ihm und schubste mich weg. Ich wankte einige Schritte nach hinten. „Du hast sie ja wohl nicht alle! Wag’ es ja nicht meinen Freund anzufassen!“ Verblüfft starrte ich sie an. Was wollte die denn plötzlich? „Ich hab doch gar nichts gemacht!“, entgegnete ich und sie erstarrte kurz. Auch der Junge starrte mich an. Einige aus unserer Umgebung drehten sich nach uns um. Das blonde Mädchen wurde vor Wut rot. „Halt die Klappe! Am Ende willst du ihn noch verfluchen!“ „Verflu-…Wie bitte?“ Ich hielt mir die Hand vorm Mund, um nicht laut loszulachen. Verhörte ich mich oder hatte sie gerade wirklich verfluchen gesagt? „Saki, alles in Ordnung. Lass uns einfach weitergehen.“, versuchte der Junge namens Kenta sie zu beruhigen. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und schob sie mit sich weiter Richtung Saal. „Was bildet die sich denn ein?!“, sagte sie beim Weitergehen noch. „Kümmer dich nicht drum, Sakilein. Du weißt doch, dass die einen an der Klatsche hat. Und nach diesem Unfall hat sie anscheinend endlich gelernt den Mund aufzumachen.“ Die Schüler um mich herum tuschelten und blickten mich mit erschrockener Miene an. Was war denn ihr Problem? Hatte ich irgendetwas im Gesicht? Ich kümmerte mich nicht um die anderen und stellte mich wieder an die Wand. Akemi hatte ein wirklich seltsames Leben. Sie hatte seltsame Eltern und ihre Schule mit ihren Schülern war doppelt seltsam. „Ito?“ Ich hob überrascht meinen Kopf, als ich plötzlich zwei Füße vor mir sah. Ito? Ein hübsches schwarzhaariges Mädchen stand vor mir mit einem breiten Lächeln. Eine Freundin von Akemi? „Ja?“, entgegnete ich. Stimmt, ich war ja Akemi Ito. Ihr Lächeln wurde noch breiter und ihre Augen blitzten belustigt. „Das gibt’s nicht.“, raunte sie und fing an zu lachen. Ihr schallendes Lachen erfüllte den Raum und ich starrte sie nur an. Was war denn jetzt schon wieder so lustig? Plötzlich klingelte die Schulglocke und die Schüler machten sich auf dem Weg in ihre Klassen. Das seltsame Mädchen blieb vor mir stehen und ihre Augen wirkten noch größer. Ihr Lächeln verschwand. „Na los, Ito. Auf geht’s in unsere Klasse.“, waren ihre Worte und mit einem Ruck drehte sie sich um und ging. Einen Moment blieb ich stehen und schaute ihr hinterher. Ich wusste nicht, was los war, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich ihr besser nicht vertrauen sollte. Trotzdem ging ich los und folgte ihr, denn anscheinend waren das Mädchen und ich in einer Klasse. Im Klassenzimmer wurde das Mädchen sofort von allen Seiten stürmisch begrüßt. „Kana! Guten Morgen!“ „Wie geht’s dir, Kana?“ „Ich hab dich so vermisst!“ „Wir haben uns doch gestern erst gesehen.“, sagte sie und lächelte in die Runde. Sie ging zum Lehrerpult und klatschte in die Hände. „So! Hinsetzen, Leute! Unser Klassenlehrer kommt heute erst zur zweiten Stunde und hat mir einige Aufgaben für uns hinterlassen, die ich euch austeilen soll.“, rief sie mit heller Stimme. Die Schüler setzten sich auf ihren Befehl sofort hin und ich schlich auf den leeren Platz in der hintersten Reihe und setzte mich ebenfalls. Irgendwie wusste ich, dass Akemi dort sitzen würde, denn der einzige freie Platz sonst war noch ganz vorne und ich war mir sicher, dass dort diese Kana saß. „Hier, verteil du die Aufgaben.“, befahl sie einen Jungen direkt vor ihr und begeistert nahm er ihr die Zettel aus der Hand. Während er jedem Schüler die Aufgaben verteilte, fing Kana wieder an zu sprechen. „Außerdem habe ich noch eine erfreuliche Nachricht für euch.“ Interessiert blickten alle zu Kana hinauf. Sie lächelte zuckersüß und ihr Blick wanderte zur hintersten Reihe…und blieb bei mir hängen. „Ich freue mich euch mitzuteilen, dass unsere Mitschülerin Akemi Ito aus dem Krankenhaus entlassen wurde und wieder zur Schule gehen kann.“, rief sie laut. Die gelassene Atmosphäre erstarrte augenblicklich und alle Blicke wanderten zu mir. Der Junge mit den Zetteln blieb ebenfalls stehen und starrte mich an. „Akemi hatte einen schlimmen Unfall, aber glücklicherweise ist nichts schlimmes passiert. Akemi, möchtest du nicht nach vorne kommen und ein paar nette Worte sagen?“, flötete sie und strahlte mich an. Ich blinzelte nur und bewegte mich nicht. Ich war viel zu geschockt und starrte Kana deshalb nur an. I-Ich sollte nach vorne kommen? War das so üblich in dieser Klasse? Mit einem Frosch im Hals zwang ich mich dann aber aufzustehen und ging langsam nach vorne zur Tafel. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir liegen und versuchte den Drang einfach wegzulaufen zu unterdrücken. Du schaffst das schon, Kari. Die Klasse hat sich anscheinend wirklich Sorgen um dich gemacht und jetzt musst du doch nur sagen, dass es dir wieder gut geht. Und dann setzt du dich wieder hin und alles ist überstanden, dachte ich und versuchte mir Mut zu machen. Räuspernd öffnete ich langsam den Mund. „Ehm…Hallo Leute. Ich bin euch dankbar, dass ihr euch solche Sor-…“ Weiter kam ich nicht, denn Kana fing an zu kichern. Irritiert schaute ich sie an und dann bemerkte ich, wie die anderen ebenfalls breit grinsten. Kanas Lachen wurde lauter und schließlich klatschte sie wieder in die Hände. „Ich glaub’s einfach nicht! Seht euch das an! Unser kleines Schweigelämmchen hat endlich gelernt den Mund aufzumachen!“, rief sie höhnisch und die Schüler vorne lachten ebenfalls. Einige schüttelten den Kopf und die ganz hinten wandten sich ab und machten ihre Aufgaben. Ich lief puterrot an. Mir war das alles schrecklich peinlich. Dabei wusste ich nicht einmal, warum? Warum lachten sie mich aus? „Die hatte doch einen Unfall! Wahrscheinlich hat der in ihrem Kopf den Stummschalter ausgestellt!“, sagte ein Junge und sein Nachbar stieß einen zustimmenden Laut aus. Die Mädchen links von ihnen kicherten wild und eine zeigte sogar mit dem Finger auf mich! „Hey, hey! Jetzt hört mal eben auf, Leute!“, sprach Kana wieder und legte mir einen Arm um die Schulter. „Lasst uns Akemi einen kräftigen Beifall schenken, dass sie endlich gelernt hat zu sprechen! Anscheinend ist sie doch nicht so hinterher geblieben im Kopf.“ Ein lauter Beifall klatschte mir entgegen, die Jungen pfiffen und die Mädchen kriegten sich kaum ein vor Lachen. Ich biss mir auf die Lippen und versuchte die Tränen der Demütigung aufzuhalten. Niemals würde ich vor diesen Menschen weinen! Niemals!! Kana fuhr sich durch ihre schwarzen Haare und seufzte. „Seien wir dankbar dafür, dass Akemi durch den Unfall endlich ein richtiger Mensch geworden ist.“, sagte sie und ging zu ihrem Platz. Sie ließ mich einfach stehen. Ich starrte ihr hinterher. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch eine Demütigung erfahren. Noch nie wurde ich so dermaßen herabwürdigend behandelt und bloßgestellt! Ich musste mich zusammenreißen! Ich durfte jetzt nicht wegrennen, so gerne ich es auch wollte. Ich biss meine Zähne zusammen und ging langsam wieder auf meinen Platz zurück. Die Jungen grölten mir noch hinterher, doch ich versuchte sie zu ignorieren. Wäre ich jetzt aus dem Klassenzimmer rausgegangen, hätten sie mich nur noch mehr erniedrigt und ich wollte ihnen diese Befriedigung nicht geben. Niemals würde ich vor diesen Menschen Schwäche zeigen. Gut, sie waren alle jünger als ich und ihr kindisches Verhalten konnte einem verziehen werden, doch in ihren Augen hatte ich gesehen, dass sie es wirklich genossen. Außer die, die sich lustig gemacht hatten, waren da noch die Mitschüler in den hinteren Reihen. Sie waren nicht beteiligt gewesen, doch sie hatten auch nichts unternommen, sondern haben ihr Tun einfach ignoriert. Hatte Akemi in dieser Klasse überhaupt jemanden als Freund? Gab es hier niemanden dem sie vertrauen konnte? Mein Herz klopfte wie wild und ich starrte auf mein Arbeitsblatt. In mir brodelte es immer noch und plötzlich fühlte ich etwas neues… Etwas erschreckendes… Ich war unglaublich sauer. Ich war unglaublich sauer auf Akemi. 
Denn durch ihr verzweifeltes, einsames Leben hatte ich diese Demütigung erfahren. Kapitel 10: Beisammen --------------------- 10 Beisammen AKEMI „Du bist so ein Dummkopf, Kari! So ein Idiot! Ein Fiesling! Eine völlig übergeschnappte-…“ „Yolei, hörst du mal bitte auf Kari zu beleidigen?“, unterbrach der Junge namens Davis das violetthaarige Mädchen, die mich noch immer umarmte. Sie schniefte. „Ist doch wahr! Mann, Kari! Immer muss ich mir Sorgen um dich machen! Du bist so eine Idiotin.“ Sie wischte sich über die Augen. Ihr Freund, Ken, lächelte und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Jetzt lass sie doch erst einmal richtig Hallo sagen, Yolei.“, sagte er und sie seufzte dramatisch. „Es ist einfach…schrecklich, was passiert ist.“, wimmerte sie und Davis, der hinter ihr stand, verdrehte die Augen. „Sie ist doch wieder da. Also ist doch wieder alles in Ordnung…du Heulsuse.“, fügte er noch hinzu. Mit einem Ruck drehte sie sich um und wollte ihm an die Gurgel gehen, doch Ken hielt sie auf. Ich lächelte nur schüchtern und blickte hilfesuchend zu T.K., der neben mir stand und mir zunickte. „E-Es tut mir leid, dass ihr euch solche Sorgen gemacht habt.“, sagte ich schließlich und blickte unsicher in die Runde. Yolei schniefte wieder. „Wie schwer muss das bloß sein. Du weißt bestimmt gar nicht, wer wir alle sind! Wie schrecklich!“ Ich winkte schnell ab. „Tai hat mir viel von euch erzählt! Deshalb habe ich eine ungefähre Vorstellung! Und T.K. hat mir natürlich auch sehr geholfen“ Plötzlich starrten sie mich an. T.K. neben mir seufzte. „T.K….?“, flüsterte Yolei und sah mich entsetzt an, ehe ihr Blick zu T.K. wanderte. Er schüttelte stumm den Kopf, als würde er ihr etwas mitteilen wollen. Sie hielt sich eine Hand vor dem Mund und ihre Lippen zitterten wieder. „Wir sind auf jeden Fall sehr froh, dass du wieder gesund bist.“, sagte Ken und rettete somit die wankende Situation. Irritiert blinzelte ich, lächelte dann aber. „Danke.“ Davis trat nach vorne und nahm meine Hand. „Wir werden deine Erinnerungen schon wieder zurückholen! Mach dir keine Sorgen und überlass das alles Onkel Davis.“ Er grinste und ich konnte nicht anders als auch zu lächeln. Davis war ein Junge, der anscheinend immer gute Laune hatte. „Ich stimme ihm zu, aber ich glaube eher weniger, dass Davis dir eine große Hilfe sein wird.“, entgegnete Yolei schnippisch und beide funkelten sich an. „So, jetzt hört aber mal auf, ihr zwei.“, rügte Ken die beiden und seufzte. „Lasst uns erst einmal in Karis Zimmer gehen, dann können wir uns weiter unterhalten.“, schlug T.K. vor und alle stimmte zu. „Ich hole euch etwas zu trinken.“, sagte ich und huschte in die Küche. „Ich helfe dir!“ T.K. machte Anstalten mir zu folgen, aber ich schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, nein. Ich mach das schon, geh schon einmal vor, ich komme sofort nach!“ Er schaute mich noch einen Augenblick an und nickte schließlich. „Ist gut.“, antwortete er und ging. Als er die Tür hinter sich schloss, blieb ich noch einen Moment stehen. Das waren also Karis Freunde. Sie schienen alle sehr nett zu sein, besonders die beiden, die sich dauernd in die Haare kriegten, waren wirklich lebhaft. Ken schien deshalb der erwachsenere von den beiden zu sein. Mit einem leichten Lächeln ging ich in Richtung Küche. Ich fühlte mich im Augenblick gut. Besser gesagt, ich freute mich sogar, gleich mit den anderen im Zimmer zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten. Summend suchte ich nach Gläsern, als dann Karis Mutter in den Raum trat und mich überrascht musterte. „Kari? Was machst du denn? Ich dachte, Davis und die anderen wären zu Besuch da?“ „Ich wollte nur etwas zu trinken holen.“, antwortete ich ihr etwas schüchtern. Noch immer fühlte ich mich etwas unwohl in der Anwesenheit von den Eltern. Sie waren so ganz anders als meine eigenen. Sie lächelte leicht. „Das ist lieb. Die Gläser sind in dem Schrank dort drüben. Wenn du magst, leg ich noch einen Teller mit Keksen hin, die ich gebacken habe.“ Erfreut nickte ich. „Vielen Dank.“ Während ich die Gläser und etwas Eistee auf ein Tablett legte, packte Karis Mutter eine Dose mit Keksen aus. „Das sind Karottenkekse. Habe ich erst letztens gebacken“, sagte sie als ich neugierig in die Dose blickte. Interessiert hob ich meine Augenbrauen. „Karotten?“ „Meine neuste Kreation!“, antwortete sie und ihre Augen begannen zu strahlen als sie mein Interesse sah. „Ich hoffe, deine Freunde werden sie mögen!“ Sie legte die Kekse mit auf das Tablett. Lächelnd nahm ich es entgegen. „Da bin ich mir sicher.“ „Huah, Kari! Das ist doch viel zu schwer! Warte, ich nehme es dir ab!“, entgegnete Davis als ich das Zimmer betrat. Er sprang auf und nahm mir das Tablett aus der Hand, dabei verschüttete er fast den Glaskrug mit dem Eistee. „Mann, Davis! Pass doch auf!“, rief Yolei, als er aus Versehen auf ihren Fuß trat. „Ups, sorry.“ „Wow, das sieht wirklich gut aus. Hast du die gebacken?“, fragte Ken und nahm sich einen der Kekse. Auch die anderen bedienten sich und ich begann ihnen Eistee einzuschenken. „Nein, die hat Ka-…meine Mutter gebacken.“, antwortete ich und wurde rot als ich mich verhaspelte. Ken tat so, als hätte er den Verhaspler nicht gehört. „Die sehen wirklich gut aus.“, sagte er und wollte reinbeißen, als T.K. plötzlich seinen Arm festhielt. „Halt stop.“, raunte er und sah den Keks entsetzt an. „Was ist denn?“, fragte Ken verwirrt und auch ich wusste nicht, was los war. „Du…Du solltest das besser nicht essen.“ T.K. schluckte und schüttelte dabei langsam den Kopf. „Wieso? Was ist mit dem Keks?“, fragte nun auch Yolei und beäugte ihn in ihren Händen eingehend. T.K. wandte sich an mich und seine Augen wurden größer. „Die hat deine Mutter gebacken?“ „Ja, sie meinte, das wären Karottenkekse. Ist etwas nicht in Ordnung?“ Ich nahm mir einen Keks und wollte gerade kosten, als T.K. wieder laut eingriff. „Nicht essen!“ Wir zuckten zusammen. „Mensch, T.K., jetzt sag endlich, was los ist.“, meinte Yolei und verdrehte die Augen. Ich versuchte sie zu beruhigen. „Die Kekse sind in Ordnung, bestimmt. Sie hat sie erst letztens gebacken. Sie meinte, es wäre eine eigene Kreation.“ In meiner Stimme schwang sogar ein wenig Stolz. Karis Mutter war wirklich eine interessante Person, die anscheinend viele neue Ideen hatte und ausprobieren wollte. „Oh Gott.“, flüsterte T.K. und zwickte sich mit den Fingern in den Nasenrücken. Wir schwiegen und Ken legte den Keks langsam wieder weg. „Ok, ihr nervt alle echt. Wenn ihr’s nicht probieren wollt, ess’ ich halt alles auf!“, rief plötzlich Davis und nahm sich einen Keks und bevor T.K. ihn aufhalten konnte, stopfte er es sich ganz in den Mund und kaute geräuschvoll. Wir alle starrten ihn abwartend an. „Geht doch voll klar! Bisschen hart die Dinger.“, sagte er mampfend und zuckte mit den Schultern. Aber plötzlich wurde sein Kauen langsamer und auch sein Gesichtsausdruck wurde dunkler. Er senkte sogar den Kopf! „Davis…?“, flüsterte Ken besorgt und wir alle wussten, irgendetwas war nicht in Ordnung. Er antwortete nicht und schaute uns auch nicht an. „Davis, alles klar bei dir…?“, fragte jetzt auch T.K. Mit einem Mal sprang Davis auf und rannte aus dem Zimmer und wir alle zuckten zusammen und wagten nicht uns zu rühren. Nach einigen Sekunden brach Yolei das Schweigen. „T.K., was ist mit diesen Keksen?“, raunte sie und T.K. seufzte. „Karis Mutter ist berühmt berüchtigt für ihre Kochkünste.“ „Berühmt?“, flüsterte nun auch ich. „Du kannst es nicht wissen, aber ich hätte dich schon vorher warnen müssen.“, gestand er und schaute mich entschuldigend an. „Wegen ihre Kochkünste sind schon einige im Krankenhaus gelandet. Am besten, ihr rührt nichts an, was aus ihren Händen gekocht wurde.“ „Hui.“, machte Yolei, fast beeindruckt. „Das ist aber fies… Sie hat sich so viele Mühe gegeben.“ Mir passte es nicht, dass T.K. so über sie sprach, war es doch nicht seine Mutter, von der er redete! Er hob überrascht die Augenbrauen und blinzelte. „Tut mir leid, Kari. Ich wollte niemanden beleidigen. Tai hat Matt und mir nur viel zu oft davon erzählt und auch ich habe einige ihrer Experimente in den Magen gekriegt.“ Tai also auch? Hm…Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb meistens Tai und sein Vater in der Küche standen und für uns kochten. „Ich schau mal nach Davis.“, sagte Ken besorgt und stand auf. „Klopf ihm ein bisschen auf den Rücken, das hilft ihm vielleicht!“, riet Yolei ihm. „Der Ärmste…“, sagte ich leise und überlegte, wo die Arznei-Sachen gelagert wurden. Vielleicht fand ich eine passende Tablette für ihn? „Mach dir keine Sorgen, der kommt schon wieder auf die Beine.“, beruhigte mich T.K. und auch Yolei nickte und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Auch wenn er Durchfall bekommen würde; wenn du ihm sagst, du lädst ihm zum Essen ein, er würde direkt aufspringen.“ „Typisch Davis eben.“ Jetzt sprang auch T.K. auf. „Ich schau mal trotzdem nach Davis. Der arme Ken ist sicher viel zu überfordert.“ Damit ging er aus dem Zimmer. Auf einmal legte Yolei mir einen Arm um die Schulter. Leicht zuckte ich zusammen, doch es schien sie gar nicht zu stören. „Eins muss ich dir aber mal sagen, Kari. Du änderst dich wirklich nie! Wie eh und je sorgst du dich um die anderen.“ Plötzlich senkte sie etwas den Kopf, sodass ich, wegen der Spiegelung der Brillengläser, ihre Augen nicht erkennen konnte. „Darüber bin ich so froh…“, sagte sie leise und ihre Stimme wankte. Ich biss mir auf die Unterlippe und legte zaghaft meine Hand auf ihr Knie. Sagen konnte ich nichts, ich wüsste auch nicht was… Schließlich konnte ich ja nicht sagen, dass ich nicht Kari war. Dass sie niemals wieder ihre Kari sehen würden. Dass ihre Hoffnungen auf das Wiedersehen nichts nützen würden… Plötzlich schniefte sie laut und hob ihren Kopf. Ihre feuchten Augen zeigten feste Entschlossenheit und mit Druck ergriff sie meine beiden Hände. „Ich…Nein, wir werden dir helfen! Wir werden immer auf deiner Seite sein und alles mögliche tun, damit du deine Erinnerung wiedererlangst! Das verspreche ich dir!!“ Jetzt wurden meine Augen feucht. Vor Rührung. Und vor schlechtem Gewissen. Das Wissen, dass ich sie alle belog, stach tief in meinem Herzen, doch trotzdem war da die Rührung. Ich war so froh, dass jetzt so wundervolle Menschen um mich herum waren, die sich um mich scherten und mir helfen wollten. Sie hatten mich lieb. Sie waren meine Freunde. Und ich…Ja, ich wollte das glauben! Ich wünschte mir, dass es kein Traum war, sondern hier und jetzt, die reine Wahrheit. Dieses Leben hatte ich mir schon immer gewünscht und mich danach gesehnt. Jetzt befand ich mich hier, in dem Leben meiner Träume. Dieser Traum war die Wahrheit geworden. Und wenn es wirklich erlaubt war…Wenn mir dieses Leben nun wirklich gegeben wurde… Dann würde ich es annehmen und behalten. Durfte ich zu Hikari Yagami werden? Kapitel 11: Verzweifelt ----------------------- 11 Verzweifelt KARI Es vergingen einige Tage. In diesen Tagen fühlte ich mich hilflos wie nie zuvor. Einsam, wie nie zuvor. Die Tatsache, dass ich mich in dieser verwirrenden Lage befand, wo ich niemanden wirklich kannte, wo ich niemanden vertrauen konnte, machte mich fertig. Akemis Eltern sah ich in dieser Zeit nur selten. Mein Begleiter, Matsumoto, brachte mich jeden Tag zur Schule und wieder zurück und meistens war ich dann alleine zu Hause. Wahrscheinlich waren die Eltern arbeiten, aber um ehrlich zu sein, war mir das nur Recht. Lieber hatte ich meine Ruhe anstatt mich von ihnen fertig gemacht zu werden. Aber wenn Akemis Mutter mal doch daheim war, spürte ich diese hasserfüllte Aura im Haus. Ihr Vater hingegen ignorierte mich völlig und tat so, als existierte ich nicht. In der Schule war es nicht besser. Kana hatte anscheinend eine Vorliebe dafür gefunden mich zu quälen. Seit dem Vorfall in der Klasse hatte sie großen Spaß daran, mich zu triezen und die meisten Mitschüler waren auf ihrer Seite. Genauer formuliert: Sie fraßen ihr aus der Hand. Gut, sie alle waren jünger als ich, was sie natürlich nicht wussten, da Akemi genauso alt war wie sie. Doch auch wenn wir von ihrem Alter mal wegschauten, benahmen sie sich doch kindischer als manch andere in ihrem Alter. Kana selber genoß ihre Beliebtheit und nutzte sie voll aus. Sie gab die Befehle in der Klasse und wenn sie etwas sagte, hörten ihr die anderen mit spitzen Ohren zu. Was mich echt fast zum Kotzen brachte. Denn das, was sie von sich gab, war einfach nur gemeiner Müll. Sie hielt sich für etwas besseres, aber die anderen akzeptierten das und stimmten dem sogar zu! Es kam mir fast so vor als hätten die Mitschüler keinen eigenen Kopf, sondern ließen alles Kana machen und sie waren alle nur ihre Glieder, die das taten, was sie wollte. So gab es letztens einen Vorfall, der mir viel Ärger eingebracht hätte. Jedoch hatte ich das Glück, dass ich vorher davon bescheid wusste und ich somit rechtzeitig handeln konnte. Ein Schulkamerad hatte vorgehabt meine Schultasche in den Schulbrunnen zu werfen, was ihm jedoch nicht gelungen ist, da ich es vorher bemerkt hatte. Zufällig zum richtigen Zeitpunkt bekam ich das Gespräch zwischen ihm und Kana mit. „Schnapp sie dir und versenk es irgendwo, klar?“ „Aber was ist, wenn wir erwischt werden?“ „Jetzt sei nicht so ein Feigling! Du wirst nicht erwischt, also tu es!“ „Also ich weiß nicht… Vielleicht petzt sie es dem Lehrer?“ „Sie wird nicht petzen. So etwas trau ich ihr nicht zu. Takuya, tust du es nun oder nicht?“ „…“ Ihre Stimme wurde plötzlich leiser und etwas höher. So, als würde sie ihn verführen wollen. „Tu es für mich, okay?“ Nach dem Gespräch huschte ich in die Klasse zurück. Wut und Entsetzen machte sich in mir breit. Wie konnten sie nur…Wie konnte Kana nur!? Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihren Spaß zu haben und mich bloßzustellen! Der Plan ging allerdings nach hinten los, denn ich ließ meine Tasche nicht aus dem Auge und der Junge hatte keinerlei Chancen sie mir unbemerkt wegzunehmen. So gut es ging, versuchte ich Kana und ihren Handlangen aus dem Weg zu gehen. Es war nicht so, dass alle aus der Klasse nach ihrer Pfeife tanzten. Da gab es zum Beispiel auch dieses eine Mädchen, ihr Name war Mitsuki. Sie und ihr Freund, Takuma, waren eine der wenigen, die sich im Hintergrund hielten. Genauso wie zwei weitere Jungs, Shin und Toya, die in den Pausen immer bei den Parallelklassen rumhingen. Sie wollten nichts mit Kana zu tun haben, doch sie taten auch nichts, um sie an ihren Spielereien zu hindern. Kurz gesagt: Sie ignorierten es. „Puh, hier stinkt es ja mal wieder tierisch!“ Kana fächelte sich Luft zu und verdrehte theatralisch die Augen. „Macht mal das Fenster auf! Irgendwas oder irgendwer hat sich anscheinend nicht gewaschen!“ „Das kann nur eine sein!“, kommentierte ein Mitschüler und blickte auf mein Pult. Kana hob eine Augenbraue und schnalzte mit der Zunge, während sie auf mich zu kam und sich auf meinem Tisch setzte. „Vielleicht solltest du mal ein anderes Haarprodukt verwenden. Was benutzt du denn, hm?“ Sie schaute auf mich herab. Ich schaute an ihr vorbei an die Tafel. Einfach ignorieren… „Ich hab dich was gefragt, Fräulein?“, flötete sie und lächelte zuckersüß. „Sie hält sich wohl für was besseres, huh? Wir sind es wohl nicht wert von ihr beachtet zu werden.“ Ein weiterer Mitschüler mischte sich ein. Kana beugte sich etwas näher zu mir runter. „Ist das so?“, hauchte sie abfällig und blickte mich immer noch lächelnd an. Ich wendete den Kopf zur Seite, sodass sie als Antwort nur meinen Hinterkopf zu sehen bekam. „Schaut euch erst nur ihre Haare an. Wie kann man sich nur mit so einer Frisur in die Öffentlichkeit trauen? “ Plötzlich griff sie nach einen meiner Haarsträhnen und zog dran. Dieses…!! Blitzschnell stieß ich gegen ihre Hand und funkelte sie wütend an. „Fass mich nicht an!“, kam es zischend von mir. Einen Moment hielt sie inne, doch dann kehrte wieder das fiese Lächeln zurück. Sie schlug ein Bein auf das andere und kreuzte die Arme. „Was hast du denn auf einmal?“, fragte sie unschuldig und gespielt erstaunt. „Ich wollte dir einen Gefallen tun und dir nur eine schöne neue Frisur machen?“ Ich schnaubte und stand auf. „Dann tu mir doch einen anderen Gefallen, indem du verschwindest!“ Und mit diesen Worten ging ich weg. Das versuchte ich jedenfalls, als Kana mich plötzlich von ihrem Platz aus mit dem Fuß am Rücken trat. Ich fiel natürlich hin und unglücklicherweise biss ich mir dabei auf die Zunge. Sofort schmeckte ich Blut. „Hupsa. Das tut mir aber leid. Ich wollte nur aufstehen, dabei bin ich wohl gegen dich gestoßen.“ Ich drehte mich zu ihr um und stand langsam wieder auf. Für einen Moment schloss ich die Augen und versuchte mich zu fassen. Beruhige dich, Kari. „Ich hätte nicht gedacht, dass du zu den Menschen gehörst, die so tief gesunken sind, Kana.“, zischte ich. Erstaunt hob sie die Augenbrauen. „Ich? Gesunken? Warum denn das?“ Sie stand von meinem Tisch auf und schritt langsam auf mich zu. „Ich habe mich doch bei dir entschuldigt, Akemi. Oder etwa nicht?“ Sie legte den Kopf schief und lächelte mich wieder an. „Ihr habt es doch auch gehört, oder?“, sagte sie etwas lauter in die Klasse, sodass sie nun alle Aufmerksamkeit auf sich zog. „Habe ich mich nicht bei ihr entschuldigt?“, fragte sie noch einmal. „Ja, hast du!“ „Genau! Wir waren doch dabei.“ Sie lächelte zuckersüß. „Da hast du es gehört.“, flötete sie. „Also warum beleidigst du mich denn, nachdem ich mich bei dir entschuldigt habe? Du bist ja wirklich fies.“ „Kana, ganz ehrlich. Werd’ mal langsam erwachsen.“, sagte ich nur und schüttelte den Kopf. „Da. Schon wieder.“ Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. „Wieder eine Beleidigung!“ Sie machte einige Schritte nach hinten und tippte sich mit einem Finger auf die Lippen, so als würde sie überlegen. Dann schnalzte sie mit der Zunge. „Tja, das kann ich leider nicht auf mich sitzen lassen. Leute, ihr habt alles mitgekriegt, oder? Ich habe mich bei ihr für den kleinen Schubser entschuldigt, aber Akemi hat mich beleidigt! Verdient das nicht… eine Strafe?“ Sie schaute in die Runde und plötzlich erschienen auf den Gesichtern der anderen ein wissendes Lächeln. „Ich meine…“, sie drehte sich wieder zu mir um. „die bösen Gemeinen auf der Welt sollten schließlich bestraft werden.“ Ein Mitschüler trat neben sie und rieb sich die Hände. „Hoch lebe die Gerechtigkeit…“, murmelte er grinsend. Alarmiert blickte ich um mich herum. Einige standen nun auch hinter mir. Was….was sollte das?! „Kana…“ Ich versuchte weiterhin ruhig zu bleiben, obwohl ich fast platzen könnten!! Wenn ich jetzt aber einen Kampf auslöste, würde ich ihn bei der Mehrheit eh verlieren. „Mach nichts, was dir später eh schaden wird.“ „Mir schaden?“ Sie prustete. „Ich glaube, du weißt gar nicht, in was für einer Situation du dich befindest? Du bist die Einzige, die Schaden kriegt!“ Plötzlich packte mich ein größerer Mitschüler und umklammerte meine Arme. Schockiert stieß ich einen Schrei aus und versuchte mich loszureißen, doch er war zu stark. Wild trat ich um mich und er keuchte auf als ich ihn am Knie traf. „Du kleine…“ Er packte mich fester, sodass nun ich vor Schmerz stöhnte. Kana trat auf mich zu und blickte mir fest in die Augen. In ihrem Blick sah ich Spott, Belustigung und eine gewisse Vorfreude. „Ich entschuldige mich für den Tritt von eben.“ Sie seufzte dramatisch. „Und als Entschuldigung… mache ich dir eine schöne neue Frisur!“ Sie grinste breit und die Klasse fing an zu pfeifen und zu grölen. „Lass mich sofort gehen!!“, schrie ich sie an und versuchte mich aus dem starren Griff zu befreien. Sie antwortete nicht, sondern zog nur eine Schere raus. Meine Augen weiteten sich. Sie wollte doch nicht etwa… „Ein neuer Haarschnitt steht dir bestimmt ungemein…“, sagte sie und zückte die Schere. „Shit! Der Lehrer kommt!!“ Eine Schülerin, die an der Tür aufgepasst hatte, rief alarmiert durch die Klasse. Sofort hielt Kana inne und wir alle drehten den Kopf in Richtung Tür. Von einer Sekunde auf die Nächste fingen alle an herumzurennen und auf ihre Plätze zu springen. Auch der Junge, der mich festhielt, ließ mich los und rannte nach vorne zu seinem Sitzplatz. „Wir sind noch nicht fertig, Ito.“, zischte Kana und das sonst aufgestellte Unschuldslächeln wurde von einem verachteten Blick ersetzt. Sie senkte ihren Arm mit der Schere und ging an mir vorbei. Mein Herz klopfte immer noch wie wild und ich versuchte die aufkommenden Tränen mit allergrößter Mühe zu unterdrücken. Fest biss ich mir auf die Lippen und ging zu meinem Platz hinüber. Wehe, du fängst an zu heulen, Kari. Merk dir das! Nicht eine verdammte Träne wirst du wegen dieses Miststück vergießen! Nicht eine einzige!! Ich schloss fest die Augen und versuchte den Schock, die Wut und die Tränen hinunterzuschlucken. Der Lehrer kam herein und die Klasse tat so als wäre nichts geschehen. —— Nach der Schule flüchtete ich direkt zur Mädchentoilette in eine Kabine und wartete einige Minuten bis ich mir sicher war, dass die anderen Klassenkameraden die Schule verlassen hatten. Es war nicht so, dass ich Angst vor Kana hatte. Sie war schließlich nur ein Mädchen, welches sich für etwas besseres hielt und eine gemeine Ader hatte. Das Problem war eher, dass ihre Kumpanen und Mithelfer hinter ihr standen und sie daher in der Mehrzahl waren. Außerdem bestand ihr „Clan“ fast nur aus Jungs und ich vermutete, dass die meisten bei irgendwelchen Sportclubs tätig waren. Ich musste mir deshalb eingestehen, dass Kana zwar ein gemeines Biest war, doch besaß sie anscheinend die Gabe, andere unter ihre Fittiche zu gewinnen. Also was konnte ich schon tun, wenn sie so starke Jungs dabei hatte? Alleine würde sie sicherlich nicht so selbstsicher sein, doch war Kana jemals in einer Situation, wo sie „alleine“ mit etwas zu kämpfen hatte? Ich bezweifelte es. Sicher gehörte sie zu irgendeiner superreichen Familie und bekam alles mit einem Fingerschnipsel auf dem Silbertablett serviert. Nein, es war nicht so, dass ich eifersüchtig auf sie war. Ich liebte mein Leben, ich liebte meine Freunde und meine Familie. Und ich liebte meine Umgebung, wo ich aufgewachsen war. Wir waren nicht reich und manchmal gab es auch Sorgen wegen zu hohen Rechnungen, die immer eine Sorgenfalte zwischen die Stirn meiner Eltern brachte. Aber trotzdem waren wir immer glücklich und ich war wirklich, wirklich froh darüber, dort aufgewachsen zu sein, wo ich aufgewachsen war. Auch, wenn sich die Situation jetzt geändert hatte. „Verdammt…wieso passiert das ausgerechnet mir??“, flüsterte ich unglücklich und presste meine Stirn gegen die Hände, während ich auf dem Klodeckel saß. Ich dachte an Matsumoto, der gerade sicher draußen auf mich wartete. Wenn ich noch länger weg blieb, würde er sicher nachschauen kommen. Ich stöhnte verzweifelt. Schließlich blickte ich auf und starrte gegen die Kabinentür. Ich wünschte mir so sehr, wieder nach Hause zu gehen. Zu meinem richtigen zu Hause. Ich presste die Lippen aufeinander und richtete mich auf. Bald…Bald würde ich einen Weg finden hier herauszukommen. Wenn ich mich benahm, wer weiß, vielleicht würde dann Akemis Mutter Matsumoto wegschaffen? Dann könnte ich hier rauskommen. Vielleicht musste ich versuchen ihr Vertrauen zu gewinnen? Ich konnte schließlich nicht ewig nur Trübsal blasen und auf ein Wunder hoffen. So schnell wie möglich musste ich Akemi finden!! Ich musste sie treffen, damit wir eine Lösung zu unserem Problem finden konnten!! Kapitel 12: Ein bisschen Alltag ------------------------------- 12 Ein bisschen Alltag AKEMI „Komm schon, alles ist gut. Vertrau mir.“ T.K., der neben mir stand, versuchte mir Mut zu machen. „Die anderen haben dich wahnsinnig vermisst. Du musst keine Angst haben, die sind alle lieb.“, beruhigte er mich und lächelte mich aufmunternd zu. Nicht wirklich überzeugend lächelte ich zurück. Ich schluckte. Wir standen vor dem Schultor und in wenigen Minuten würde es wohl zur ersten Stunde klingeln. Die meisten Schüler hatten schon das Schulgebäude betreten und obwohl wir zu spät kommen würden, wenn wir nicht jetzt gleich in unsere Klasse gehen, konnte ich mich nicht dazu aufbringen weiterzugehen. Ich hatte Angst…Wahnsinnige Angst! „Aber ich kenne doch niemanden!“, krächzte ich. Das zumindest entsprach der reinen Wahrheit. „Ich bin doch bei dir. Und Yolei und Ken auch. Davis nicht zu vergessen.“ Wieder lächelte er schief. „Und sie kennen dich. Und sie alle mögen dich.“, entgegneter er sanft und legte mir beruhigend eine Hand auf meine verkrampfte Schulter. „Außerdem hat der Arzt gesagt, du sollst so viel wie möglich von deiner vertrauten Umfeld erleben. Das würde die Wahrscheinlichkeit enorm erhöhen, damit du dich wieder an deine Vergangenheit erinnern kannst.“, fügte er hinzu. Dazu schwieg ich nur. Bestimmt nahm er meine Hand und zog mich mit sich. „Na komm, du Angsthase!“ Angsthase traf es im Moment ziemlich genau. „Na schön…“, murmelte ich und ließ mich mitziehen. Die Klasse begrüßte mich freudenstrahlend und auch der Klassenlehrer klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. Sie alle wussten, wie es um mich war und hatten volles Verständnis für meine „Amnesie“. Auch Yolei, Ken und Davis waren in der Klasse, was mich sehr freute. In der Pause kamen einige Klassenkameraden zu uns und sie stellten sich sogar von Neuem vor. Es war, als hätte ich eine andere Welt betreten, denn es war einfach so anders als meine alte Schule. Hier dachte niemand darüber nach, wer aus welcher Familie kam und welchen Stand sie hatten. Die Herkunft war völlig egal, alle wurden gleich behandelt. „Wir müssen unbedingt zusammen shoppen gehen, Kari!“, meinte Yolei und klatschte in die Hände. „Am besten nehmen wir Momoko und Shiori mit! Mit denen sind wir schon öfters shoppen gegangen!“ „Gerne.“, erwiderte ich lächelnd und nippte an meinem Kaffee. Die Schule war aus und wir hatten uns in ein Café, ganz in der Nähe der Schule, gesetzt. „Hey, und wir?“, maulte Davis von der Seite und zeigte auf sich, T.K. und Ken. Yolei verdrehte die Augen. „Was wollt ihr Jungs denn bei dem ganzen Mädchenkram machen?“ Er zuckte die Schultern. „Wir wollen aber auch dabei sein. Stimmt’s?“ Er schaute seine beiden Freunde an. T.K. hob eine Augenbraue. „Nee, danke. Ohne mich.“, antwortete er dann grinsend. „Ich möchte auch nicht, danke.“, fügte Ken hinzu. Davis runzelte die Stirn, während nun Yolei die Augen verdrehte. „Davis, alles, was du bei dem Treffen machen kannst, ist als Packesel mitzukommen. Du kannst ja unsere Tüten tragen.“ Sie zwinkerte mir zu und ich kicherte. Sofort versteinerte sich Davis’ Miene. „Ach…nee, danke. Vergessen wir die Sache.“, murrte er. T.K. klopfte ihm auf den Rücken. „Ich glaube, du brauchst dringend eine Freundin, mein Guter.“ „Ach, halt die Klappe.“ „Da fällt mir ein, wir müssen dir noch von der Projektwoche erzählen.“ Ken wandte sich mir zu und ich schaute ihn fragend an. „Welche Projektwoche?“ „Ah, genau! Gut, dass du das erwähnst!“, sagte Yolei nickend und drehte sich zur Seite, um sich ihre Schultasche zu greifen. Sie holte eine Folie mit einigen Seiten darin heraus und übergab sie mir. „Hier, das ist für dich. Da stehen die ganzen Infos drauf. Wir müssen in diesem letzten Schuljahr ein Projekt in Kleingruppen machen, für eine Woche, beziehungsweise fünf Werktage. Das ganze stellen wir dann als Referat vor und wird ein Teil unserer Gesamtnote.“ T.K. nickte zustimmend. „Das Gute ist, du bist mit Yolei und Davis in der gleichen Gruppe.“ „Ach super.“, freute ich mich. „Und ihr beiden?“ Ich schaute ihn und Ken an. Ken seufzte betrübt. „Wir haben es leider nicht in eure Gruppe geschafft.“ „Wir sind die kleinste Gruppe, nur zu zweit. Ganz schön gemein, aber ich denke, das ist okay so.“ T.K. klopfte Ken aufmunternd auf die Schulter. Ich lächelte und blickte schließlich auf den Zettel von Yolei. „Und was haben wir für ein Projekt?“ „Das ist uns eigentlich selbst überlassen. Wir können das auch als eine Art Praktikum gestalten und bei irgendeiner Firma nachfragen, ob wir dort bei deren Arbeit zuschauen können. Wäre doch ganz spannend, oder?“, schlug Yolei vor. Davis verdrehte die Augen. „Warum soll ich für wildfremde Menschen arbeiten und das für lau? Lass doch lieber bei der Sportuni hier nachfragen, ob wir im Fussballverein reinschauen können. Das wäre viel spannender.“ „Fussball? Das ist so gar nicht mein Ding.“, entgegnete Yolei und verzog die Miene. „Dann schlag was besseres vor!“, maulte Davis sie an. „Wie wär’s beim Gericht? Bei einem Anwalt oder so? Vielleicht könnten wir sogar bei einem Gericht live dabei sein.“, schlug sie vor. „Ich glaub nicht, dass sie euch da reinlassen werden.“, sagte Ken. „Hast du eine Idee, Kari?“ T.K. wandte sich mir zu und ich dachte ebenfalls nach. Obwohl ich alle noch nicht so lange kannte, wusste ich ungefähr, was sie mochten und was nicht. Sie hatten teils so verschiedene Hobbys, dass ich mich fragte, wie sie wohl Freunde geworden waren und sich so gut verstanden. „Tja, ich weiß auch nicht genau. Wie wär’s wenn wir mal im Internet oder in der Zeitung nach interessanten Jobs Ausschau halten? Vielleicht nehmen die uns ja als Praktikanten an?“ „Aber gleich drei?“, zweifelte Davis. „Die meisten tun sich ja schon schwer einen einzigen anzunehmen.“ „Außerdem sind es nur fünf Tage, ich glaube, das macht keiner.“, bestätigte auch Yolei. Ken blickte T.K. an. „Wir bräuchten auch langsam mal eine Idee für unser Projekt.“ T.K. nickte. „Das ist alles gar nicht so einfach…“ Yolei seufzte und schaute auf die Uhr. „Am besten überlegen wir selber was bis zu unserem nächsten Treffen. Jeder kann ja mal paar Ideen mitbringen. Ich müsste sowieso langsam los.“ „Bin ich dafür. Dann lass uns am Samstag in der Stadt treffen.“, erwiderte Davis und wir nickten zustimmend. „Ich bring dich noch nach Hause, Kari.“ T.K. wandte sich mir zu, während wir aufstanden. Überrascht blickte ich ihn an. „Das brauchst du doch nicht. Ich habe mir den Weg hier aufgeschrieben. Das ist gar nicht so weit weg.“, sagte ich lächelnd und kramte aus der Tasche ein weißes Papier mit der Wegbeschreibung heraus. Er schüttelte den Kopf. „Quatsch. Ich bring dich heim und damit basta.“ „A-aber…“ „Na los, Kari. Lass dich von ihm nach Hause bringen.“, sagte nun auch Yolei. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule!“ Und damit verabschiedeten sich die anderen. „Wann findet diese Projektwoche denn statt?“, fragte ich ihn als wir durch die Häuser schlenderten. „In zwei Wochen soll es losgehen.“, antwortete er und seufzte dann. „Irgendwie freue ich mich drauf, aber irgendwie auch nicht.“ Fragend schaute ich ihn an. „Naja, die Woche wird bestimmt ganz interessant. Auch, weil wir da keine Schule haben und so. Aber danach müssen wir diese blöde Hausarbeit schreiben und dann noch dieses Referat…“ Ich nickte zustimmend. „Ja, du hast Recht. Und du und Ken, ihr wisst auch noch nicht, was ihr machen wollt?“ Langsam nickte er, während er wohl über etwas nachdachte. „Ich hätte schon ein paar Ideen, aber ich weiß nicht, ob Ken das auch möchte.“ „Zum Beispiel?“ „Naja…Wir haben hier in Tokyo so viele verschiedene Schulen. Deshalb fände ich es ganz interessant mal zu sehen, wie die anderen Schulen sind. Ich meine damit nicht die öffentlichen Standardschulen, sondern auch mal eine Privatschule, oder eine Akademie. Wir könnten zum Beispiel jeden Tag eine neue Schule besuchen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufschreiben.“ „Jeden Tag eine neue?? Ist das nicht ein wenig…anstrengend?“, zweifelte ich. Jeden Tag eine neue Schule, die endlosen Wege und neue Schüler und Lehrer. Wie anstrengend das sein musste. „Vielleicht ist jeden Tag auch zu knapp. An einem Tag kriegt man wahrscheinlich kaum Infos, du hast recht.“ „Das meinte ich eigentlich nicht…“ „Ist vielleicht auch keine so gute Idee.“, meinte er und kratzte sich den Kopf. Dann grinste er wieder. „Wird schon schief gehen.“ Zu Hause legte ich meine Tasche beiseite und ging in das Wohnzimmer. Dort lag Tai auf dem Sofa und zappte mit der Fernbedienung durch die Sender. Er hatte heute keine Uni, weshalb er seine Familie heute besuchte. Allerdings stellte es sich am Ende heraus, dass Frau und Herr Yagami bis spät abends nicht daheim sein würden und ich war auch erst nachmittags zu Hause. Er hatte heute also den ganzen Tag nichts zu tun. „Warum mache ich mir überhaupt die Mühe hierher zu kommen, wenn eh niemand da ist.“, brummte er und schaltete den Fernseher aus. Ich setzte mich auf den Sessel. „Ich bin froh, dass du gekommen bist.“, entgegnete ich höflich, aber er brummte wieder. „Jaja.“ Er gähnte. „Was gab’s Neues in der Schule?“ Ich blickte ihn für einige Sekunden an, ehe ich antwortete. „In der Schule…“ „Ja, in der Schule. Da, wo ich ja zum Glück nicht mehr bin.“ Er lachte kurz, als er plötzlich inne hielt. „Ach scheiße.“, rief er und setzte sich auf. „Dein erster Schultag!!“ Ich verkniff mir ein leises Grinsen und nickte. Er schlug die Hand gegen seine Stirn. „Oh man, tut mir leid. Das habe ich total vergessen. Ich war seit Tagen nicht mehr hier und dann die Uni… Stimmt, heute bist du ja wieder zur Schule gegangen!“ „Ist schon in Ordnung. Kein Problem.“, beruhigte ich ihn. „Schule war ganz okay. Die Klasse war wirklich sehr nett und der Lehrer war auch zuvorkommend.“, berichtete ich ihm. Er nickte zögernd. „Und…kam dir irgendetwas…vertraulich vor?“, fragte er vorsichtig. Einen Moment schwieg ich. „Nein. Tut mir leid.“, antwortete ich schließlich schwach. Er seufzte und ich versuchte mein schlechtes Gewissen im Zaun zu halten. Schließlich stand er auf und tätschelte mir den Kopf. „Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen.“ Er lächelte mich an. „Das wird schon wieder.“ Ich erwiderte sein Lächeln nur schwach. „Hast du Hunger? Lass uns mal was zu Essen machen. Mama und Paps wollen vielleicht nachher auch was.“, wechselte er das Thema. Ich ging darauf ein. „Klar. Bin dabei.“ ——————— TAKERU „Und? Wie findest du die Idee?“ Ken schwieg für einen Augenblick. „Hm…“, machte er schließlich vom anderen Ende des Handys. „…Wenn’s dir nicht gefällt, sag es ruhig.“, sagte ich und senkte die Schultern. Vielleicht war die Idee ja doch nicht so toll. „Ja, klingt eigentlich super.“, antwortete er schließlich und ich fing an zu grinsen. „Also bist du dabei?“ „Dabei bin ich sowieso. Die Idee find’ ich ganz gut. Andere Schulen besuchen und mit den Schülern dort Interviews führen…“ Er schwieg für einen Moment. „Aber…“ „Aber?“, hakte ich nach. „Vielleicht ist jeden Tag eine neue Schule besuchen zu viel. Wir bräuchten dann von fünf Schulen die Erlaubnis, dass wir deren Schule besuchen können. Und in einem Tag kriegen wir bestimmt nicht genug Infos.“ „Ja, darüber habe ich auch nachgedacht. Vielleicht sollten wir uns nur auf zwei oder so entscheiden?“ „Genau. Vielleicht reicht sogar nur eine? Wir könnten die dann mit unserer Schule vergleichen.“ „Wir schauen einfach mal. Lass uns mal raussuchen, welche Schule oder Akademie denn so interessant sein könnte.“, schlug ich vor. „Das sollte eine sein, die ein totales Gegenteil ist zu unserer Schule. Irgendwas extremes.“ „Klingt gut.“, erwiderte ich lächelnd und schrieb es mir auf einen Zettel auf. „Wie läuft es so mit Kari?“, fragte Ken plötzlich. Ich hob überrascht die Augenbrauen. „Wie meinst du das?“ „Naja…Ich möchte mich nicht einmischen. Aber seit dem Unfall…Also…ihr ward doch verlobt und so…Und jetzt kann sich Kari ja nicht erinnern und…“, stotterte er und ich konnte mir vorstellen, wie er rot wurde. „Keine Sorge. Wir haben das schon geklärt. Wir…“, ich schwieg kurz. „Tut mir leid. Ich hätte nichts sagen sollen!“, entschuldigte sich Ken etwas panisch. „Nein, quatsch. Alles okay. Kari und ich… Wir haben die Verlobung erst mal zurückgezogen.“, antwortete ich matt. „Zu…zurückgezogen?“ Er klang etwas verdattert. „Ja…Solange ihre Erinnerung noch nicht wieder da ist. Sie weiß ja im Moment nicht wirklich, wer wir sind und sonst wäre sie mit einer wildfremden Person irgendwie verlobt.“ Ich schluckte schwer. „Das tut mir sehr leid.“, antwortete er leise. Ich lachte auf. „Man, Ken! Entschuldige dich nicht ständig! Wir sind doch Kumpels, verdammt!“ „T-Tut mir leid…ich meine…ehh…“ Ich verdrehte die Augen. „Entschuldigung nicht angenommen.“ „Was?!“ Ich grinste und blickte dann auf die Uhr. „Okay, ich leg jetzt auf. Meine Mutter kommt gleich wieder und ich muss noch Essen machen.“ „Okay… Dann sehen wir uns morgen.“, erwiderte Ken. „Yep. Bis dann!“ „Bis morgen, T.K.“, verabschiedete er sich und legte auf. Kapitel 13: Wendung ------------------- KARI Erschrocken schlug ich die Augen auf. Nein…Es war nur ein Traum. Nur…ein böser Traum… Ich wischte mir über die schweißnasse Stirn und setzte mich auf. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es noch mitten in der Nacht war. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an und mir war unglaublich heiß. Noch immer war ich etwas außer Atem. Da war dieser Lastwagen, der auf mich zu raste. Dann die vielen Schreie. Stöhnend richtete ich mich auf und starrte auf meine verschwitzten Hände in der Dunkelheit. Wie es wohl den anderen ging? Vermissten sie mich? Wie viel hatte Akemi ihnen erzählt? Wie viel wussten sie bescheid? Ich dachte an meine Eltern. Besonders meine Mutter machte sich immer so schrecklich viele Sorgen um Tai und mich. Wie ging es ihr? Und Papa? Was war mit Tai, Takeru und den anderen? Vielleicht hatte Akemi ihnen alles erzählt? Machten sie sich Sorgen um mich? Ich senkte den Kopf. Ich glaubte so fest daran, dass wir uns bald sehen würden. Natürlich…war da dieser kleine Funken der Unsicherheit und Angst. Dass ich mir alles nur einbildete und es gar keine Hikari Yagami da draußen mehr gab. Dass Akemi Ito gar nicht in meinem richtigen Körper war, sondern dass ich alleine hier in dieser unglaublich verrückten Lage war. Aber ich wollte das einfach nicht glauben. Ich musste daran glauben, dass Akemi ebenfalls noch am Leben und in meinem Körper war. Wenn ich… Wenn ich diese Hoffnung nicht hätte… Ich wagte kaum diesen Gedanken weiterzudenken. „Reiß dich zusammen, Kari.“, flüsterte ich mir zu. In großen, eleganten Lettern stand auf dem Schild geschrieben: „Schulfest“. Viele Schüler, sowie deren Familien und Freunde tummelten sich auf dem riesigen Schulhof, die geschmückt war mit Girlanden, Blumen und Lichtern. Überall standen kleinere Stände, wo Getränke und Snacks verkauft wurden. So viel anders als bei meiner Schule war es im ersten Augenblick nicht. Doch anstatt, dass sich die Erwachsenen amüsierten und feierten, kam es mir dann eher so vor als hätten sie sich nur versammelt, um sich über ihre Arbeit auszutauschen und Kontakte mit anderen Geschäftspartnern zu knüpfen. Die ganze Atmosphäre war teilweise zwar locker, doch kam mir alles so gespielt von den Erwachsenen vor. Als würde jeder zeigen wollen, wie hoch ihre Stellung war. Ich stand an einen der reich verzierten Zelte und verteilte jedem Neuankömmling ein Schulprospekt. Aus den Augenwinkel konnte ich Matsumoto an der Mauer stehen sehen. Er unterhielt sich mit einem Mann, ebenfalls in einem dunklen Anzug. Ob der auch auf jemanden aufpasste? „Akemi, hast du eben Zeit? Ich brauch Hilfe bei den Kartons!“ Shin, ein Mitschüler, stellte sich vor mich hin und zeigte mit dem Daumen hinter sich. „Ich bin für die Lieferungen zuständig. Der Wagen mit den Süßigkeiten ist angekommen. Wir brauchen Verstärkung.“ „Ich muss hier aber Prospekte austeilen.“, sagte ich und zeigte ihm die Prospekte auf den Tischen. „Lass die einfach. Die Leute hier haben doch eh alle schon eins.“ Ich beäugte ihn misstrauisch. „Ich sollte trotzdem hier bleiben. Außerdem-..“ „Hör mal, ich mach nur das, was man mir aufgetragen hat. Der Lehrer ruft nach Leuten, die im Moment nicht beschäftigt sind und du hast grade eh nix zu tun, also komm endlich.“ Er verdrehte die Augen und drehte sich um und ging einfach davon. Sollte ich mitgehen? Oder nicht? Shin gehörte nicht zu Kanas Untertanen. Er interessierte sich eher wenig für das, was die anderen machten. Plötzlich fiel mir etwas ein. Vielleicht war das die Chance, um unbemerkt abzuhauen? Der Wagen hatte bestimmt hinter der Schule geparkt, damit die Gäste nichts von dem ganzen Aufbau mitbekamen. Und Matsumoto wusste, dass ich mit den anderen mithalf und ständig hin und her laufen musste! Vielleicht konnte ich mich unbemerkt ausschleichen! Hoffnungsvoll biss ich mir leicht auf die Lippen und beobachtete Matsumoto, der noch immer an der Mauer stand und sich unterhielt. Ja, das war die Chance! Mit entschlossener Miene legte ich die Prospekte auf den Tisch und marschierte Shin hinterher, der bereits im Schulgebäude verschwunden war. Durch die Menge der Menschen konnte Matsumoto mich sicherlich nicht so schnell finden und wenn er bemerken würde, dass ich nicht mehr am eigentlichen Platz stand, wäre ich schon längst verschwunden! Meine Schritte wurden ungeduldig, aber ich zwang mich nicht zu schnell zu laufen. Ich betrat endlich das Schulgebäude. Leider wartete Shin bereits auf mich, sodass ich mich noch nicht wegschleichen konnte. Alles klar, kein Problem, dachte ich. Es würde schon noch der Augenblick kommen, wo ich mich unbemerkt aus dem Staub machen konnte. „Hierlang.“, sagte er und wir gingen den Weg zum Hintereingang. „Da seid ihr ja endlich.“ Ein großer dickbäuchiger Mann zog an seiner Zigarette und zeigte dann mit seinem Kinn auf die Kartons neben seinem Lastwagen. „Hier ist die Lieferung.“, brummte er. „Alles klar. Die bringen wir dann hinein.“, sagte Shin und ich folgte ihm. „Bin dann weg.“, sagte der Fahrer wieder brummend und stieg in seinen Laster. „Auf geht’s. Die bringen wir alle ins Lehrerzimmer.“, sagte nun Shin und hob einen Karton auf. Ich machte es ihm gleich und war überrascht von dem Gewicht. „Sind wir die einzigen, die diese Kartons hochtragen sollen?“, fragte ich ihn. „Ja. Ich geh schon mal vor.“ Und schon war er verschwunden. „Meine Güte, freundlicher geht es kaum oder was.“, murmelte ich. Ich wartete noch einen Moment bis ich seine Schritte nicht mehr hören konnte. Dann ließ ich den Karton wieder sinken. Meine Chance!!! „Oh, Akemi! Das bist doch du, oder?“ Kana und zwei ihrer Freundinnen hatten mich entdeckt und schritten nun auf mich zu. Woher kam die denn wieder her? Sie hob eine Augenbraue und beäugte belustigt die Kartons um mich herum. „Oh je, da hast du ja noch was vor dir, nicht wahr?“ „Komm, Kana. Lass die blöden Sprüche und verschwinde einfach.“ Ich hatte im Moment einfach nicht den Nerv für Kindereien. Wer weiß, wie viel Zeit ich überhaupt hatte! Vielleicht fand mich Matsumoto doch noch! Kana fing an wieder ihr freundlichstes Lächeln zu zeigen. „Ich wollte dich doch nur fragen, ob ich dir helfen kann.“ „Das schätze ich bestimmt sehr, aber ich brauche deine Hilfe nicht, danke.“, entgegnete ich sarkastisch und hob den Karton wieder auf. „Jedes Mal so gemein. Ich als Klassensprecherin kann das nicht tolerieren.“ Sie schritt auf mich zu und beugte sich leicht zu mir. „Ich weiß ja nicht, wer dich als Klassensprecherin auserwählt hat, aber demokratisch ist das bestimmt nicht abgelaufen.“, sagte ich nur und hielt ihren Blick stand. „Wie viele hast du um die Finger gewickelt und wie viele hast du bedroht, damit sie für dich stimmen, hm?“ Ihre Augen verloren für einen Moment den falschen Glanz, den sie immer hatte und wurden dunkel. „Weißt du, Akemi… Ich würde den Mund nicht so weit aufreißen. Mir hast du besser gefallen, als du noch stumm wie Brot warst. Aber naja… Jeder verändert sich ja mit dem Alter, nicht wahr?“ Sie kam mir noch ein wenig näher und jetzt lächelte sie auch nicht mehr. „Wenn du wüsstest, was ich alles über deine Familie weiß…Was dein Vater getan hat! Wenn das in die Öffentlichkeit kommt…Ihr wäret völlig ruiniert. “ Sie schwieg einen Moment und ich starrte sie an. Was meinte sie damit? Plötzlich, mit einem Ruck, zog sie fest an der Öffnung des Kartons, sodass das braune Kartonpapier aufriss und die ganzen Süßigkeiten sich wie eine Welle auf den Boden verstreuten. Ich keuchte vor Schreck auf und starrte auf den Chaos. „Ups! Was ist denn da passiert!“, rief Kana und lachte. „Meine Güte, Akemi! Was hast du getan!“ Ihre beiden Freundinnen, die nichts von unserem Gespräch gehört hatten, lachten ebenfalls. „Es regnet Süßigkeiten, Kana!“, rief eine von beiden und alle drei fingen schallend an zu lachen. In mir brodelte es wieder. Nein…Diesmal konnte ich das nicht auf mir sitzen lassen! Dieses Mal nicht!! Kana lachte noch immer und hakte sich wieder bei ihren Freundinnen ein. „Ich würde dir ja gerne helfen, aber du hast ja ausdrücklich betont, dass du keine Hilfe brauchst.“ Mit den Worten drehte sie sich um. Aber ich ließ sie nicht weiter gehen. Laut knallte ich den kaputten Karton auf den Boden und rannte ihr nach. „Bleib stehen, du Biest!!“, rief ich vor Wut und stürzte mich auf sie. Meine Hände krallten sich in ihre Haare. Sie schrie vor Schreck und vor Schmerz auf als ich an ihren Haaren zog. Ihre beiden Freundinnen ließen sie erschrocken los und schrieen ebenfalls laut auf. „Lass mich sofort los!!!“, kreischte Kana und schlug mit ihren Händen auf meine Finger. „Erst wenn du dich entschuldigst und den Müll hier wegmachst!!“, fauchte ich und zog noch kräftiger an den Haaren. „Loslassen, hab ich gesagt!!“ „Entschuldige dich!!“ Sie wehrte sich mit aller Kraft, aber ich ließ sie nicht los. Auch sie klammerte sich jetzt an meine Haare und trat mich an die Oberschenkel. Vor Schmerz keuchte ich auf, aber ich dachte nicht daran nachzugeben! „Wir holen den Lehrer, Kana!!“, rief eines der Mädchen und wollte weglaufen. „Bleibt gefälligst hier!!“, schrie Kana mit aller Kraft und zog mich noch kräftiger an den Haaren. Ich stöhnte, aber ich tat es ihr gleich. „Was ist denn hier los?“ Noch immer an den Haaren krallend drehten wir uns zum Eingang und sahen Shin, der zurückgekommen war, um die restlichen Kartons hinauszutragen. Er schaute uns schockiert an. Dann, als hätte jemand einen Schalter umgedreht, blinzelte er und ging mit entschlossenen Schritten auf uns zu. Mit den Händen zwang er uns auseinander zu gehen und langsam ließ ich sie los. Meine Finger schmerzen von dem Druck und meine Haare waren mit Sicherheit ein Desaster. Aber Kana sah auch nicht besser aus. „Was ist passiert?“, fragte Shin noch einmal und schaute uns abwechselnd an. Kana, die eben noch den Todesblick aufgesetzt hatte, legte nun wieder ihre Unschuldsmiene auf und wimmerte. „Sie…Sie ist einfach auf mich losgestürmt…Ich weiß auch nicht, wieso…Ich habe sie nur gefragt…ob ich ihr helfen soll mit den Kartons…Aber das wollte sie dann nicht und ist dann…völlig ausgerastet…“ Wie, um ihre Aussage zu unterstreichen, wischte sie sich eine Krokodilsträne weg. Meine Augen verengten sich und ich konnte nicht fassen, was sie von sich gab. „Das ist nicht dein Ernst!“, zischte ich und starrte sie an. Mit dem Finger zeigte ich auf den kaputten Karton und den Süßigkeiten. „Sie hat dieses Chaos verursacht!! Das ist bestimmt nicht meine Schuld!“ Sie blickte Shin an und blinzelte ihre Tränen weg. „Shin, du weißt genau, dass ich nicht lüge, stimmt’s?“ Er schwieg. Dann seufzte er. „Hört mal, ich habe echt keine Zeit und kein Bock auf diese Kinderkacke. Egal, wer schuld hat, bevor ein Lehrer kommt, müssen wir das alles hier aufräumen, sonst kriegt nicht nur ihr Ärger, sondern auch ich.“ Er stampfte mit genervter Miene an uns vorbei zu den Kartons und Kana blickte ihm wütend hinterher. Ich schnaubte nur und schüttelte bei ihrem Anblick nur den Kopf. Wie konnte man bloß so falsch sein? „Halt du bloß die Klappe, Ito!“, fauchte sie mich an. „Das wird Konsequenzen haben, das schwöre ich dir!“ Und mit diesen Worten verschwand sie einfach, ohne sich noch einmal umzudrehen. Fast verblüfft schaute ich ihr hinterher. „Lass sie einfach. Die hätte sowieso nicht mitgeholfen.“ Shin drehte sich zu mir und verdrehte die Augen. Ich biss mir leicht auf die Lippen. In was für eine Situation war ich da nur reingeraten? Shin sammelte die Süßigkeiten auf und tat sie in einen der Kartons, während ich noch unsicher daneben stand. War das nicht meine Chance abzuhauen? Ich könnte mich jetzt wegschleichen, für ihn wäre es dann zu spät mich aufzuhalten. Dann aber bekam ich Gewissensbisse. Es würde ziemlich gemein von mir sein, ihn jetzt so im Stich zu lassen, nachdem wir dieses Chaos verursacht hatten. Und es war ja nicht so, dass Kana alleine schuld hatte. Auch ich war beteiligt daran gewesen und wenn ich mich jetzt wegschleichen würde, wäre ich kein Deut besser als Kana. Ich ging also ebenfalls in die Knie, um die Süßigkeiten aufzuheben. „Tut mir leid…“, murmelte ich. Er schüttelte den Kopf. „Ist doch egal. Lass uns hier schnell fertig werden und dann ist auch gut.“ Ich biss mir leicht auf die Lippen. „Ich hätte nicht so ausrasten dürfen. Es stimmt, was Kana gesagt hat. Ich hab sie wirklich angegriffen.“ Er hielt kurz inne und blickte mich an. Dann hob er eine Augenbraue und schnaubte. „Weißt du, dass du dich ganz schön verändert hast?“ Ich blinzelte kurz irritiert, dann verstand ich, was er meinte. Er hatte von Akemi gesprochen! „Das…das ist doch egal. Komm, beeilen wir uns, der Lehrer kommt bestimmt gleich!“, sagte ich etwas lauter. Er schnaubte wieder nur. „Ist auch wirklich nichts geschehen?“, fragte der Lehrer und schaute auf unsere Kartons, die ordentlich neben dem Eingang standen. „Ich habe hier was von einem Streit gehört?“ Er zeigte auf die beiden Mädchen hinter sich. Das waren die Freundinnen von Kana. Shin schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung. Das war alles ein Missverständnis und wir haben es aufgeklärt.“ Der Lehrer seufzte. „Na gut. Ich habe jetzt sowieso keinen Nerv dafür. Ich muss mich um so viele anderen Dinge kümmern.“ „Bitte überanstrengen Sie sich nicht.“ Er klopfte Shin auf die Schulter. „Danke, Shin. Auf dich ist Verlass.“ Shin nickte und der Lehrer ging davon. Die beiden Freundinnen von Kana schenkten mir noch einen giftigen Blick, ehe sie sich umdrehten und abhauten. „Puh, das wäre dann wohl geschafft. Lass uns diese Kartons endlich abgeben.“ Er schaute auf die Uhr und stöhnte genervt. „Verdammt, er wartet sicher schon!“ Mit eiliger Miene schnappte er sich zwei Kartons auf einmal und rief mir noch hinterher: „Beweg dich, du Faulpelz!!“ Ich hob ebenfalls ein Karton und lief ihm schnell hinterher. Auf gleicher Höhe angekommen, fragte ich keuchend: „Wartest du auf jemanden?“ „Ja, ein Kumpel von mir will sich heute das Schulfest anschauen.“ „Ach so.“ Nachdem wir alle Kartons abgegeben hatten - endlich waren wir diese Dinger los - machten wir uns wieder auf dem Weg zum Schulhof. Sofort war Matsumoto bei mir. „Da bist du ja.“, sagte er mit strenger Stimme und ich wurde innerlich ganz klein und stöhnte leise. Verdammt nochmal. Alles war schief gegangen. Shin hatte mich gehört und hob eine Augenbraue. „Was ist los?“ Ich schüttelte nur den Kopf. Matsumoto schaute auf die Uhr. „Bist du mit deiner Arbeit fertig?“ „Ich weiß nicht…Ich muss noch die Prospekte verteilen.“ „Die Prospekte wurden schon von anderen Schülern verteilt. Ein Lehrer hat sie dazu aufgefordert.“ „Oh…“, machte ich nur etwas perplex und ließ dann die Schultern hängen. Ich wollte noch nicht nach Hause. Shin, der mich von der Seite aus beobachtet hatte, wandte sich zu Matsumoto. „Einige Gäste würden gerne einen Rundgang durch die Schule machen und ich habe mich dazu bereit erklärt sie ihnen zu zeigen. Aber ich könnte Hilfe gebrauchen und wenn Akemi im Moment frei ist, würde ich sie gerne dabei haben. Wäre das wohl möglich?“ Überrascht blickte ich ihn an. Kurze Zeit schwieg Matsumoto, ehe er dann antwortete. „Na schön. Bring sie doch wieder zum Eingang hierher, damit wir später nach Hause können.“ Shin nickte. „Mach ich.“ Dann wandte er sich mir zu. „Komm mit.“ Ich lief ihm hinterher und blickte kurz nach hinten. Matsumoto unterhielt sich wieder mit dem Mann im dunklen Anzug. „Sag mal…“, fing Shin an. „Warum brauchst du eigentlich einen Aufpasser?“ Ich wich seinem Blick aus. „Ist doch egal.“ „Na los, sag schon.“ Einen Moment schwieg ich. „Ich hab…Mist gebaut.“ Fast ungläubig schaute er mich an. „DU hast Mist gebaut?“ Dann fing er an zu lachen. Aber so richtig. „Das hätte ich gerne gesehen!“ Er grinste. „Was grinst du so?“, kam es bockig von mir und er schüttelte nur den Kopf. Plötzlich blickte er an mir vorbei und seine Augen fingen an zu leuchten. „Hey!! Ichijouji!“ Er hob die Hand, wie zum Gruß und winkte. In mir stockte alles. Was? Was??? Langsam drehte ich mich um. Ja, es war Ichijouji. Es war wirklich, wahrhaftig Ken!! Ken kam näher und lächelte freundlich. Shin ging ebenfalls auf ihn zu. „Na, Shin? Alles klar? Mann, du bist ja groß geworden.“ „Klaro. Hast du lange gewartet? Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.“ Ken schüttelte beruhigend den Kopf. „Kein Problem. Wir sind auch eben angekommen.“ „Dann bin ich beruhigt.“ Ken grinste und schaute an ihn vorbei, direkt in meine Augen. Ich war noch immer wie versteinert und konnte seinem Blick nicht ausweichen. Es war Ken! Es war Ken!! „Oh, das ist eine Mitschülerin von mir. Sie wollte mir dabei helfen, euch die Schule zu zeigen.“ Ken kam auf mich zu und hob die Hand. „Ich danke dir vielmals.“ Mein Blick ging von seinem Gesicht zur Hand und ich schluckte. Langsam und mit zitternden Fingern griff ich nach ihr und er schüttelte sie. „Kein Problem.“, flüsterte ich. „Wo ist eigentlich dein Freund, der mitgekommen ist?“, fragte Shin ihn und schaute sich um. Auch Ken schaute in die Menge auf dem Schulhof. „Der wollte sich schon mal ein wenig alleine umschauen. Mann, Shin…“, sagte er plötzlich lächelnd. „Nochmal vielen Dank! Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, wo wir eine Privatschule herkriegen könnten. Bisher haben wir nur Absagen bekommen.“ „Kein Problem. Das ist doch das Mindeste, was ich für dich tun kann.“, erwiderte Shin und grinste. „Wann fangt ihr dann mit eurem Projekt an?“ „Ab nächste Woche Montag werden wir dann dabei sein. Wir haben vor jede Klassenstufe, bis zur dritten, abzuklappern.“ Shin hob erfreut die Augenbrauen. „Heißt das, ihr besucht auch mal die erste Klasse? Vielleicht kommt ihr ja in unsere Klasse!“ „Das wäre schön.“ Ich hob überrascht meinen Kopf. „Was??“, kam es laut von mir und die beiden schaute mich an. „Ihr…kommt hierher? Du? Du kommst hierher? Auf diese Schule??“ „Ehm…ja.“, kam es mit verwirrter Miene von Ken. „Unsere Abschlussklasse macht ein Projekt und mein Projektpartner und ich haben uns deshalb als Thema überlegt, eine Privatschule mit unserer eigenen Schule zu vergleichen.“ „Ich glaube, so anders ist es gar nicht.“, kam es von Shin, der die Stirn runzelte. Ich schluckte hart und blickte ihn eindringlich an. „Ken, ich…“, raunte ich und er blinzelte überrascht. „Da seid ihr ja!“, kam es plötzlich hinter mir. Shin hob die Hand zum Gruß und strahlte. Ken sah mich immer noch fragend an. „Kennen wir uns?“, fragte er dann. Meine Lippen zitterten und fast hätte ich aufgeschluchzt. Seine Augen weiteten sich. „Was ist denn los?“, kam es fast ängstlich von ihm, als er mich so sah. Dann wurde er abgelenkt, denn Shin klopfte ihm auf die Schulter. „Dein Kumpel ist da.“ Entschuldigend lächelte Ken mich noch einmal an und ging an mir vorbei. „T.K., wo warst du? Ich hab dich gesucht!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)