Patchwork von Lyndis ================================================================================ Kapitel 1: Ohne Worte --------------------- Kai   "Was denkst du, wie dein neuer Dad so ist?" Ich schnaubte nur genervt. Was sollte die Frage denn? "Er ist nicht mein neuer Vater. Er ist irgendein Fremder, den ich bisher kaum gesehen habe und der mir vollkommen egal ist." Eigentlich hatte ich 'der mir vollkommen am Arsch vorbei geht' sagen wollen, aber diese Worte klangen merkwürdig in meinem Kopf. Sie passten nicht zu mir und meine Zunge hatte sich geweigert sie zu formen. Manchmal fragte ich mich, was genau mich davon abhielt, einfach so zu sprechen und zu sein, wie jeder andere auch. Es waren nur Worte, warum konnte ich sie also nicht aussprechen? Niemand war in der Nähe, dem sie sauer aufstoßen würden. Yuriy hätte sich wahrscheinlich noch darüber gefreut. Ich sollte aufhören über solche unsinnigen Sachen nachzudenken und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Schließlich führte ich gerade ein Gespräch.   "Warum nicht? Sei doch froh, dass jemand dein Dad sein will." Yuriy klang ein wenig beleidigt, doch ich ging nicht darauf ein, weil ich wusste, was los war. Jeder Mensch hatte gewisse Knöpfe, die, wenn sie gedrückt wurden, defensives oder aggressives Verhalten auslösten. Bei Yuriy war das zum Beispiel die Tatsache, dass er Waise war. Ich nahm allerdings keine Rücksicht darauf. Er musste lernen damit umgehen zu können und ich war definitiv nicht die Art von Person, die um ihn herum schlich und versuchte, ihn nicht an seine Vergangenheit oder seine aktuellen Probleme zu erinnern. Yuriy nahm ja auch keine Rücksicht darauf, dass ich angepisst darüber war, dass meine Mutter neu heiraten wollte und wir deshalb mit ihrem neuen Kerl und dessen Sohn in ein neues Haus zogen. Was ein Schwachsinn.   Yuriy schnaubte plötzlich angewidert neben mir. Ich kannte dieses Geräusch und sah deshalb in meine Hand. Ohne es zu merken, hatte ich eine Zigarette gezogen. Yuriy hasste Raucher, deshalb ließ er es normalerweise nicht zu, dass ich so einen Glimmstängel auch nur zur Hand nahm, wenn er dabei war. Ich machte das aber meistens unbewusst und aus reiner Gewohnheit, besonders wenn ich gestresst und mit den Gedanken wo anders war. Ich sollte mich wirklich mehr auf das Gespräch konzentrieren.   Ich steckte die Zigarette wieder weg und schlenderte mit ihm weiter durch die Straßen. Wir wollten zum Einkaufscenter um da dann weiter zu schlendern und zu reden. Wir hatten nicht wirklich etwas vor, aber das war nichts Neues. Wir trafen uns öfter einfach so um zu reden und weil wir beide chronisch unruhig waren, wanderten wir dabei eben umher. In dem Einkaufszentrum konnten wir uns unter hunderten anderen bewegen ohne bemerkt zu werden und das trotz der feuerroten Haare von Yuriy, das war ein interessantes Phänomen, zeigte aber nur die typische Anonymität einer Stadt. Persönlich fand ich das sehr angenehm. Ich war definitiv kein Dorfmensch.   "Du hast eh keine andere Wahl, als die Entscheidung deiner Mutter zu akzeptieren. Also mach das Beste draus." In Momenten wie diesen wurde mir wieder klar, warum ich ständig mit ihm herum hing. Ihm machte es nichts, wenn ich einfach nicht antwortete und er ritt nicht auf Themen herum, sondern schloss sie einfach ab, wenn er merkte, dass ich nicht darüber reden wollte. "Hn", bestätigte ich ihm seine Worte und ging weiter. "Ich weiß nicht, ob wir uns noch treffen können. Ich ziehe ans andere Ende der Stadt." Das war eigentlich das, was mich am meisten an der ganzen Sache nervte. Es war eigentlich egal, mit wem meine Mutter und ich zusammen zogen, schließlich konnte ich einfach verschwinden, wenn mir die anderen auf die Nerven gingen. Aber wir zogen so weit weg, dass ich sogar die Schule wechseln musste. Klar war innerhalb einer Stadt umzuziehen kein Weltuntergang, aber ich konnte mir regelmäßiges Busfahren nicht leisten. Vielleicht hätte ich einfach bei meinem Großvater bleiben sollen, nachdem meine Eltern sich hatten scheiden lassen. Er hatte es mir angeboten. Allerdings mochte ich meinen Großvater nicht besonders, weshalb ich wohl oder übel mit meiner Mutter mitgehen musste. Mein Vater war irgendwo im Ausland und deshalb auch keine Option für mich. "Kriegen wir schon hin." Klar, dachte ich sarkastisch. Es war immer wieder merkwürdig selbst wahrzunehmen, wenn ich etwas dachte. Metadenken sozusagen. Also darüber nachdenken, dass man nachdenkt.... ich schweifte schon wieder ab. Aber Yuriy schien auch keine wirkliche Antwort zu erwarten. Gut so. Mir war heute nicht nach reden. Ich glaubte nicht wirklich daran, dass wir uns noch so regelmäßig treffen würden. Allerdings war das vielleicht gut so. Es war nie gut sich zu sehr an die Gesellschaft von anderen zu gewöhnen. Irgendwann verschwanden sie alle. So wie mein Vater zum Beispiel. Dreckskerl.   Wir waren gerade eine Straße vor der Mall, als mich Yuriy plötzlich an sich zog und seine Lippen auf meine legte. Aus den Augenwinkeln sah ich kurz etwas goldgelbes und etwas schwarzes, das im Wind wehte, was meine Aufmerksamkeit kurz von dem Kuss weg lenkte. Ein weißer Schatten verschwand in einer Gasse. Kurz versuchte ich zu rekapitulieren was ich da gesehen hatte, doch musste ich feststellen, dass ich es nicht mehr zusammen bekam. Wofür war ein Unterbewusstsein gut, wenn man keine Informationen daraus abrufen konnte?   Harsch drückte ich Yuriy von mir. Ich hoffte, dass meine Körperhaltung und mein Blick den Ärger ausdrückten, den ich gerade empfand. Aber ich wusste, dass er das tat. "Lass das!", zischte ich mit Nachdruck. "Du weißt, dass ich das nicht leiden kann!" Doch das Funkeln in den Augen meines ach so guten Kumpels verriet mir, dass er mich absichtlich auf die Palme gebracht hatte. Dreckskerl!   "Wenigstens redest du jetzt wieder mit mir.", antwortete er mit einem verspielten Unterton. Der sollte bloß die Klappe halten und aufhören so überheblich zu grinsen. Yuriy machte das öfter. Ich hasste es. Nicht, dass es darum ging, dass er ein Kerl war. Ich war da relativ offen. Rein rational gesehen, war es vollkommen egal, wen man liebte oder auf wen man stand, solange man niemandem wehtat. Aber ich hasste öffentliches zur Schau stellen von Zärtlichkeiten! Das ging niemanden etwas an und schon gar nicht, wenn man nicht einmal zusammen war! Yuriy wusste das ganz genau und nutzte das immer wieder aus um mich zu ärgern. Ich ließ mich ärgern, warum auch immer. Es wäre einfacher ihn einfach machen zu lassen und darauf zu warten, dass es ihm langweilig wurde. Aber was sollte ich tun? Ihn mich einfach küssen lassen? Mitten auf der Straße? Das war absurd. Aber was er konnte, konnte ich schon lange. Aus Rache zog ich die Zigarette von vorher wieder aus meiner Hosentasche und zündete sie an. Genüsslich nahm ich einen Zug und pustete den Rauch in Yuriys Richtung. Angewidert wich der der kleinen Wolke aus, was mich dazu brachte zufrieden zu grinsen.   "Ja, ja. Hab schon kapiert.", murmelte mein armes Opfer nur genervt und wartete darauf, dass ich erfolgreich meine Sucht befriedigte und mich, wie er immer gerne erwähnte, ebenfalls erfolgreich umbrachte.   Hach, war das nicht eine perfekte Freundschaft?   *   "Kai, das ist Rei Kon." Ein Halbjapaner, eine Russin und zwei Chinesen leben in einem Haus... Klingt wie der Anfang von einem schlechten Witz, nicht? Jaaa... willkommen in meinem neuen Leben.   Jongdae Kon, den Vater von Rei, kannte ich bereits. Ich hatte ihn noch nicht oft gesehen, aber meine Mutter hatte wenigstens die Güte ihn mir ordentlich vorzustellen. Ich hatte nicht wirklich etwas gegen ihn. Er hatte sich bisher aus meinem Leben raus gehalten und behandelte meine Mutter augenscheinlich gut. Hoffentlich blieb das einfach so, dann kam ich mit ihm klar. Rei allerdings kannte ich noch nicht. Mutter hatte erwähnt, dass er einen Sohn hätte, aber ich sah ihn jetzt zum ersten Mal. Und irgendwie kam er mir bekannt vor. Nebenbei erwähnt kam ich mir vor wie in einem schlechten Film. So einem Patchwork Film, in dem die Kinder erst am Tag des Umzugs erfuhren, dass sie umzogen und dann auch erst die anderen Kinder kennenlernten. Nun, zumindest die Hälfte von diesem Szenario bewahrheitete sich für mich. Irgendwie nahm ich meiner Mutter das übel, aber vielleicht war es letztendlich doch besser gewesen. So hatte ich mich nicht schon früher über den Kerl aufregen können. Mutter kannte mich eben gut.   "Hn.", antwortete ich, weil wohl erwartet wurde, dass ich irgendwie bestätigte, dass ich die Informationen erhalten und verarbeitet hatte. Als würde irgendwer angst haben, dass ich nicht zuhörte. Blödsinn. Nur, weil man nicht viel redete, hieß das noch längst nicht, dass man nicht zuhörte. Im Gegenteil. Wenn man seine Kapazitäten nicht mit reden verschwendete, war man wesentlich aufmerksamer. Außerdem behielt man nur die Kontrolle über eine Situation, wenn man wusste, was um einen herum passierte. Wahrscheinlich war ich also aufmerksamer als die meisten anderen meines Alters. Aber woher sollte Kon das wissen?   Rei reagierte nur mit einem freundlichen Lächeln und einer kleinen Verbeugung. Der sagte gar nichts, was mich zugegeben ein wenig irritierte. Von mir wurde eine Antwort erwartet, aber der Kerl kam mit einem dämlichen Lächeln durch?   "Rei redet nicht, Schatz." Konnte meine Mutter nicht endlich mit diesen dämlichen Spitznamen aufhören? Ich war 17! Aber Moment... Fragend sah ich zu meiner Mutter empor, die mich auch verstand, ohne, dass ich es explizit aussprechen musste. Ich hatte sie eben gut erzogen. "Man weiß nicht genau warum. Du redest ja auch nicht viel. Ich denke also, ihr werdet euch schnell verstehen." Ja, natürlich. Weil das ja auch so funktionierte. Jugendliche brauchten ja nur die Illusion einer gemeinsamen Schnittstelle um miteinander klar zu kommen. Sicher. So funktionierte die Welt. "Schau nicht so Kai. Ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen." Das klang doch schon viel realistischer. Hoffentlich war das Haus groß genug, dass wir beide eigene Zimmer bekamen und nicht irgendwer auf die Idee gekommen war, uns zwangsweise zu sozialisieren, indem man uns in einen Raum zwängte. Das wär's ja noch.   Glücklicherweise stellte sich diese Befürchtung als irrtümlich heraus. Sehr schön. Ich zog die Tür hinter mir zu, schloss ab, baute zu aller erst meine Stereoanlage auf und machte mir Musik an. Da ich absolut keine Lust darauf hatte mit irgendwem zu interagieren, drehte ich die Musik nicht so laut auf, dass es irgendwen stören könnte. So würde keiner her kommen und sich beschweren wollen. Das dämliche Gehämmer und Geschreie gegen meine Tür verursachte nur Kopfschmerzen.   Es klopfte dennoch kurze Zeit gegen meine Tür. Es war etwas zögerlich und leise. Konnte nicht meine Mutter sein und Jongdae klopfte sicherlich auch energischer. Blieb nur einer übrig. Prima. Es klopfte noch einmal genauso leise und ich seufzte. Dafür hatte ich wirklich keinen Nerv.   Schwungvoll zog ich die Tür auf. Er sollte nicht denken, dass ich das hier gerne tat. "Was?" Rei lächelte nur. Ich hasste dieses Lächeln jetzt schon. Dann machte er eine Geste, die mir wohl sagen sollte, dass ich die Musik leiser machen sollte. Er fuchtelte auch etwas mit den Händen herum. War wohl so was wie Zeichensprache. Die sollte ich wohl besser lernen, wenn ich ihn künftig verstehen wollte. Kontrolle behalten und so... ihr wisst schon.   "Spucks aus, wenn du was willst!", knurrte ich aber nur. Ich hatte ihn verstanden, ja, aber das hieß sicherlich nicht, dass ich es ihm einfach machte. Wenn es keinen offensichtlichen Grund gab, warum er nicht sprach, dann musste es psychisch sein. Das wiederum bedeutete, dass er reden konnte, wenn er wollte. Er wollte nur eben nicht. Sein Entscheidung, aber ich würde ihn sicherlich nicht darin unterstützen. Rei deutete auf seine Ohren und machte die Geste zum leiser drehen der Musik erneut. Ja, ich wusste, dass es in seiner Blutslinie etwas vererbt wurde, das dafür sorgte, dass jeder in seiner Familie ein empfindliches Gehör hatte. Genauso wie einen besseren Geruchssinn. Die Augen waren im Allgemeinen wohl auch besser, aber sie waren leicht Farbenblind, weshalb sie hohe Kontraste bevorzugten. Man nannte die Angehörigen dieses Erbes oft Katzenmenschen, weil die Merkmale die gleichen wie bei einer Katze waren. Meine Mutter hatte mir davon erzählt, weil sie das besonders attraktiv an Jongdae fand. Ich hatte dazu ehrlich gesagt keine Meinung, aber ich verstand, dass Rei Musik so schlechter ertrug als andere und da unsere Zimmer direkt nebeneinander lagen, fühlte er sich wohl gestört. Vielleicht lösten zu laute Töne Kopfschmerzen bei ihm aus? Möglich wäre es. Das menschliche Gehirn war nicht auf solche Belastungen ausgelegt. War allerdings nicht mein Problem.   "Red mit mir oder verschwinde. Ich hab für so was keinen Nerv!" Ich wollte ihm die Tür schon vor der Nase zu werfen, doch er fing sie einfach ab. Mit einer Hand und das ohne jegliche Mühe. Oh ha, der Kerl war stark. Ich ließ ihn die Tür aufdrücken, einfach nur um zu sehen, was er vor hatte. Er schob mich stoisch beiseite und ging zu meiner Musikanlage. Dann drehte er die Musik... lauter? Er schenkte mir ein kurzes Lächeln und rauschte dann wieder aus dem Zimmer. Mit einem leisen Klick fiel die Tür ins Schloss und ließ mich vollkommen verwirrt zurück. ... Na wenigstens hatte der Kerl die Eier in der Hose sich durchzusetzen wenn er wollte. Trotzdem wurde ich aus ihm nicht schlau.   Ich räumte weiter mein Zeug in mein neues Zimmer und fand dabei mehr zufällig ein Bild von Yuriy. Ja! Natürlich! Ich weiß wieder, woher ich Rei kenne! Schwarze, lange Haare, weiße Kleidung und goldgelbe Augen. Er war derjenige, der gesehen hatte, wie Yuriy mich geküsst hatte! ... Oh scheiße. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass der Kerl nicht sprach.   *   Der Schulwechsel war für mich kein Problem. Ich hatte genauso viele Freunde dort wie vorher. Nämlich gar keine. Ich war nicht so verzweifelt unbedingt Freunde zu brauchen und gab mich deshalb nur mit Menschen ab, die mir zu hundert Prozent in den Kram passten und das waren definitiv nicht viele. Yuriy war einer davon, aber der war noch nie mit ihm auf eine Schule gegangen. Ich mochte an ihm, dass er einfach so war, wie er war, ganz ohne sich zu verstellen. Er war verkorkst, ja, aber er stand dazu. Das war eine Eigenschaft die ich sehr schätzte. Solange Yuriy mit sich selbst klar kam, änderte er nichts an sich. Fand er eine Eigenschaft, die ihn selbst störte, arbeitete er an sich, bis er diese überwunden hatte. Außerdem verstand Yuriy mich und war allgemein unkompliziert. Ich konnte ihm an den Kopf werfen, was ich wollte, es interessierte ihn nicht. Er wusste, dass wir Freunde waren und dass sich daran nichts änderte, solange wir das nicht eindeutig so aussprachen. Wir beide waren gut darin, die Launen des jeweils anderen einfach zu ertragen. Ein zusätzlicher Punkt war, dass Yuriy nicht versuchte mich zu ändern. Er nahm mich so wie ich war und das war angenehm. Selbst meine Mutter schaffte das nicht, die der festen Überzeugung war, dass ich nicht sozial genug war und zu wenig redete. Sie behauptete immer, dass sie sich deshalb Sorgen um mich machte, aber ich war mir sehr sicher, dass sie selbst es einfach nur merkwürdig und anormal fand.   Ich hatte auch noch eine Handvoll anderer Freunde, aber die waren ehrlich gesagt nicht der Rede wert. Yuriy war der wichtigste von ihnen.   Ich war also nicht enttäuscht, dass ich niemanden fand, der mich interessierte. In der Pause suchte ich mir einen neuen Stammplatz, an dem ich essen konnte ohne gestört zu werden und verbrachte den Rest der Zeit damit, Menschen von mir fern zu halten, die dachten, dass sie sich 'den Neuen' mal ansehen sollten, um ihn für sich zu gewinnen oder in die Klassengemeinschaft einzuführen. In spätestens einer Woche sollten sie alle begriffen haben, dass ich kein geselliger Typ war und mich dann in Ruhe lassen.   Rei war mit in meiner Klasse und schien schon länger auf der Schule zu sein. Man kannte ihn auf jeden Fall und das nicht gerade im Guten. Seine Weigerung zu sprechen, machte ihn zu einem Außenseiter. Ich hörte Schüler in mehreren Stufen und Klassen darüber flüstern, dass er seltsam war. Er grenzte sich selbst aus damit und schien auch nicht erpicht darauf zu sein, Freunde zu finden. Das war nicht mein Problem, aber es irritierte mich, weil mir das immer freundliche Lächeln in den Sinn kam. Jemand mit so einer Ausstrahlung wie er, müsste es eigentlich sehr leicht damit haben, Freundschaften zu schließen. Ich begann langsam wirklich mich zu fragen, was mit diesem Kerl nicht stimmte. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, warum mich das überhaupt interessierte.   *   Genervt saß ich in der Küche und starrte aus dem Fenster. Es war ein angenehmer Raum. Er war hell und warm. Ich war mir nicht sicher ob ich ihn mochte, weil er mich zu sehr an die Art Küche erinnerte, die man in Werbungen sah, wenn einem eine glückliche, voll funktionierende Familie vorgegaukelt wurde. So eine Familie mit 1,75 Kindern, einem Hund und einem Haus. So eine Familie eben, die einfach nicht existierte. Aber ich hatte es satt immer nur in meinem Zimmer zu sitzen und außer mir und Rei war sowieso niemand im Haus. Also warum nicht?   Es nervte mich, dass mir das Geld für die Busfahrt fehlte. Durch den Umzug war Mutter knapp bei Kasse und konnte mir kein Taschengeld geben. Ich hatte dem zugestimmt, obwohl ich wusste, was das bedeutete. Ich hatte Yuriy schon seit einem Monat nicht mehr gesehen und war auch so eigentlich nicht draußen gewesen. Ich wusste einfach nicht, was ich alleine anfangen sollte. Durch die Stadt wandern? Wofür? Da konnte ich auch zu Hause bleiben und lernen.   Ein dumpfes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Als ich meinen Kopf wandte, stieg mir der Geruch von warmem Kakao in die Nase. Rei stand am anderen Ende des Tisches und lächelte mich an. Wie sehr ich dieses Lächeln doch hasste. Es ging mir auf die Nerven, auch wenn ich nicht genau sagen konnte warum. Kein Mensch konnte dauernd so fröhlich sein! Vor allem nicht, wenn er nicht sprach. Und seine ständige Höflichkeit ging mir auch auf die Nerven. Warum hatte er mir einen Kakao vor die Nase gestellt? Um mich aufzumuntern? Warum? Ich war noch nicht eine Minute lang freundlich zu ihm gewesen. Ich hatte kaum mit ihm gesprochen. Warum war er so ekelhaft freundlich zu mir? Das ergab keinen Sinn!   "Verpiss dich", zischte ich nur und sah wieder aus dem Fenster. Er ging zur Küchenzeile und begann herum zu werkeln. Vermutlich kochte er Abendessen. Rei konnte gut kochen. Wirklich sehr gut. Und aus irgendeinem Grund nervte mich sogar das an ihm.   Der Kakao in meiner Hand fühlte sich angenehm warm an und gedankenverloren nahm ich einen Schluck. Er war genau richtig. Wie ätzend. Es verging eine Weile, in der nur die Geräusche des Kochens den Raum erfüllte und obwohl ich es gewohnt war zu schweigen, kannte ich diese Stille nicht. Immer wenn ich allein mit jemandem im Raum war, begann der früher oder später zu sprechen, weil er nervös wurde oder das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. So wurde immer geredet, wenn ich anwesend war, aber die Situation jetzt war neu. Diese Stille war bedrückend, auch wenn ich nicht genau sagen konnte wieso. Und so brachte mich Rei dazu etwas zu tun, was ich eigentlich gar nicht wollte. "Du hast nicht gerade viele Freunde, oder?" Es kam keine Reaktion. Rei machte einfach weiter, als hätte er mich nicht gehört. Also sprach ich einfach weiter und blickte dabei weiter aus dem Fenster. "Habe ich auch nicht. Ich finde, das ist nichts verwerfliches. Aber du scheinst mir doch eher jemand zu sein, der gerne viele Menschen um sich hat. Mir gehen Menschen meistens einfach nur auf die Nerven." Rei kochte einfach weiter. Wie unhöflich. "Aber selbst ich habe jemanden den ich mag. Und wenn jemand wie ich so jemanden finden kann, warum dann nicht auch jemand wie du? Du müsstest es so viel einfacher haben, als ich." Doch er antwortete nicht. Natürlich nicht. Das war wirklich frustrierend...   *   Es klopfte an meiner Zimmertür. Es war ein energisches klopfen, also konnte es nicht Rei sein. Ich stellte die Musik leiser, legte mein Buch zur Seite und stand aus dem Bett auf. Als ich die Tür öffnete sah ich Jongdae. Was wollte der denn von mir? Wollte er sich jetzt doch einmischen? Bisher hatte er sich wirklich erfolgreich raus gehalten. Es wäre mehr als enttäuschend, wenn er das jetzt ändern würde. "Ich hoffe ich störe nicht." Wenn er das getan hätte, hätte ich ihm das gesagt oder gar nicht erst die Tür aufgemacht. Was für eine unnötige Frage. "Ich wollte dir das hier geben." Eher desinteressiert blickte ich auf seine ausgestreckte Hand, in der sich ein paar Scheine befanden. Fragend sah ich wieder zu ihm auf. Wofür sollte das denn jetzt sein? "Ich habe mitbekommen, dass Nastja dir momentan kein Taschengeld geben kann und weil wir doch jetzt eine Familie sind..." Ich ließ ihn gar nicht erst aussprechen. "Brauche ich nicht." Als bräuchten wir Almosen von irgendeinem Kerl. Mutter konnte gut alleine für uns sorgen. Der sollte sich da nicht einmischen! "Schau mal... Rei hat gesagt du würdest gerne einen Freund besuchen. Also hat er zugestimmt, dass du die Hälfte von seinem..." Ich schlug seine Hand weg. Nicht so fest, dass das Geld durch die Gegend flog, aber dennoch mit genug Nachdruck, dass er verstand, dass ich das Geld nicht wollte. Danach warf ich ihm die Tür vor der Nase zu und schloss ab. So weit kam es noch, dass er so was annahm! Rei ging ihm langsam wirklich auf die Nerven!   *   Irgendwann hatte das passieren müssen. Und obwohl ich das wusste, war ich dennoch etwas erschrocken. In einem vier Köpfe Haushalt und nur einem Badezimmer, musste es irgendwann einmal passieren, dass man jemand anderen darin antraf, weil der vergessen hatte, abzuschließen. Rei war gerade aus der Dusche gestiegen und war dabei sich abzutrocknen. Seine unnötig langen Haare klebten an seinem gesamten Körper, der, zugegeben, nicht gerade unattraktiv war. Ich hätte ihn gerne genauer begutachtet, aber er schlang sich wie ein Mädchen das Tuch um seinen Körper. War ja fast niedlich wie schüchtern der war. "Ich schau dir schon nichts weg.", sagte ich und verdrehte einfach nur die Augen. Doch Rei rührte sich nicht und sah unsicher an mir vorbei. Er wurde nicht rot, aber ich sah die Scham in seinen Augen. Im ersten Moment dachte ich, er wäre wirklich einfach nur schüchtern. Auf den zweiten Blick erkannte ich aber, was er zu verstecken versuchte. Ich hatte mich schon immer gefragt, warum er ständig lange Kleidung trug, jetzt wusste ich es. Über seinen Oberkörper und seine Arme verteilt, sah man überall blaue Flecken. Manche waren schon am verblassen, andere schienen sehr frisch. Von wem kam das? Von seinem Vater? Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Das hätte ich mitbekommen. Unsere Zimmer waren schließlich direkt nebeneinander und ich war öfter zu Hause als unsere Eltern. Außerdem wirkte der Kerl definitiv nicht wie der Typ dafür. Wer also dann? Wenn es Schnittwunden wären, hätte ich sofort darauf getippt, dass er das selbst gewesen ist. Jemandem der ständig lächelt und sich für andere aufopferte, traute ich sofort zu, dass er so etwas tun würde. Aber sich selbst Hämatome zuzufügen, war wahrscheinlich nicht so einfach, wie sich zu schneiden. Deshalb schloss ich das eigentlich aus. ... Egal wer es war und warum, es ging mich nichts an. Nach ein paar Sekunden starren, drehte ich mich einfach um. "Sag Bescheid, wenn du fertig bist." Und damit ging ich wieder in mein Zimmer.   *   "Na los, sag doch, wenn es dir nicht gefällt" Es war mehr Zufall, dass ich mich in einem Teil des Schulhofes bewegte, den ich sonst nicht betrat. Hier war zu viel los, aber ich suchte einen Lehrer, der Pausenaufsicht hatte, weil ich mit ihm reden musste. Erst hatte ich den Kreis von Schülern gar nicht beachtet, aber die Wortwahl weckte meine Aufmerksamkeit. Ich ging näher heran um sehen zu können, was da abging. "Du sagst ja gar nichts. Also gefällt dir das wohl, was?" Die Jungen lachten, während ein anderer Junge in ihrer Mitte hin und her geschubst wurde. Es war Rei.   "Hey, was macht ihr da?" Der Trubel stoppte und sie sahen mich an. "Wir spielen nur, stimmt's?" Und damit sah der Redner in die Runde und letztendlich zu Rei, der nur zusammengekauert in der Mitte stand und gar nichts tat. "Na, da siehst du es. Wir haben viel Spaß miteinander." Der Redner zog Rei zu sich und schlang einen Arm um dessen Nacken. Es sollte wohl wie eine Kumpelhafte Umarmung aussehen, wirkte aber eher wie ein Schwitzkasten. "Lass ihn los." Der Redner und wohl auch Anführer der Truppe grinste nur: "Warum? Er hat doch Spaß mit uns. St..." Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, hatte ich ihn schon geschnappt, hatte Rei befreit und ihn zu Boden befördert. Er stammelte irgendwas abfälliges und erfand eine Ausrede, weshalb er jetzt unbedingt weg musste und verschwand dann. Seine Mitläufer gingen natürlich auch.   In Reis Augen sah ich die gleiche Scham, wie vor einigen Tagen im Bad. Damit war das Geheimnis also gelüftet. Er sah mich nicht an, zitterte aber leicht. Warum wehrte er sich denn nicht? Ich verstand diesen Kerl nicht. Er war stärker als ich und könnte diese Schlaffis mit Leichtigkeit vertreiben. Aber es ging mich nichts an. Deshalb ging ich einfach.   *   Ich hörte das Klopfen beinahe nicht, weil es kaum die Musik übertönte. Ich saß gerade an meinem Schreibtisch um zu lernen. In einer Woche stand eine wichtige Prüfung an. Es war der Abend, nachdem ich meinem baldigen Stiefbruder geholfen hatte. Die Sonne war längst untergegangen. Ich stellte die Musik leiser und öffnete die Tür. Es erstaunte mich nicht Rei zu sehen. Er sah mich an. Die Freundlichkeit, die er sonst ausstrahlte, war anscheinend komplett verschwunden. Mir blickten stumpfe Augen entgegen. Skeptisch hob ich eine Augenbraue, trat aber einen Schritt zurück um ihn herein zu lassen. Als ich die Tür wieder geschlossen hatte, sah ich ihn abwartend an. Er wirkte zögerlich. Nachdem ich einige Minuten einfach nur dagestanden und ihn beobachtet hatte, kam er langsam auf mich zu. Er sah mich nicht an. Als er vor mir stand, so dicht, dass kaum noch etwas zwischen uns passte, lehnte er sich langsam vor und verweilte so. Mit einem leicht genervten Seufzen hob ich meine Arme und legte sie um ihn, gab ihm somit die Umarmung die er sich offensichtlich wünschte. War ich neuerdings Babysitter?   Als ich spürte, wie meine Schulter langsam feucht wurde, legte ich eine Hand auf seinen Hinterkopf und streichelte ihn langsam. So was aber auch...   Nun ja... wenigstens zeigte er jetzt endlich sein wahres Gesicht. Kapitel 2: Nachforschung ------------------------ Kai   Nachdem ich Rei eine halbe Nacht lang getröstet hatte, war er dazu übergegangen, zumindest vor mir seine immer fröhliche Maske abzulegen. So musste ich sein ständiges Lächeln wenigstens nicht mehr ertragen. Allerdings schien er mir seitdem auch aus dem Weg zu gehen. Nichts, was mich sonderlich störte, aber es fiel immerhin auf.   Nachdem die erste Phase von Arbeiten für dieses Jahr herum war, hatte ich endlich beginnen können, Zeichensprache zu erlernen. Es half mir nicht besonders viel weiter, weil ich Rei kaum noch sah und der selbst mit seinen Händen nur das aller nötigste sprach, aber es reichte um zu verstehen, dass er selbst seinem Vater eine vollkommen heile Welt vor spielte. Rei war in sich einfach nur absurd. Eigentlich hielt ich ihn für intelligent. Seine Augen zeigten mir das. Er hatte aufmerksame, neugierige Augen und bisher war mir noch nie jemand dummes über den Weg gelaufen, der solche Augen besaß. Warum also verstand Rei nicht, dass man ihm helfen könnte, wenn er nur darum bat? Mutter hatte mir erzählt, dass Jongdae es sogar schon mit einem Therapeuten versucht hatte, aber selbst das hatte offensichtlich nichts gebracht. Von Jongdae selbst hatte ich erfahren, dass Rei wohl nach einem Todesfall in seinem Freundeskreis aufgehört hatte zu sprechen. Jemand, der ihm sehr nahe stand, hatte sich umgebracht.   Je mehr ich über Rei nachdachte, desto mehr fragte ich mich, warum mich das so sehr interessierte. Es war absurd, genau wie Rei selbst und vielleicht war es das. Ich mochte Herausforderungen und ich mochte es, Rätsel zu lösen. Rei war demnach also das perfekte Opfer dafür.   *   Reis Gesicht verzog sich angewidert, als er auf mich zu kam. Er kam gerade vom einkaufen zurück. Genervt seufzte ich und stieß dabei eine kleine Dunstwolke aus, die nicht nur der frostigen Umgebungstemperatur zuzurechnen war. "Du etwa auch?", knurrte ich missmutig. Dass aber auch jeder etwas gegen das Rauchen hatte. Nun ja, bei dem kleinen Moralapostel vor mir, war das eigentlich nicht verwunderlich. Es wunderte mich eher, dass wir schon ein halbes Jahr zusammen lebten und er mich jetzt zum ersten Mal beim Rauchen erwischte. Sein fragendes Gesicht indizierte, dass er nicht genau wusste, was ich meinte. Ich machte nur eine wegwerfende Handbewegung und machte somit klar, dass ich nicht darüber reden würde. Natürlich bohrte er nicht weiter. Das würde der kleine Mr. Perfect niemals. Wäre ja unhöflich. So nahm er einfach weiter seinen Weg über unsere Einfahrt auf, damit er endlich ins Haus kam. Mir fiel auf, dass seine Haare feucht glänzten und einzelne Wassertropfen an ihnen abperlten. Merkwürdig, schließlich hatte es weder geregnet noch geschneit. Ob er hingefallen war und so eine ordentliche Portion Schnee abbekommen hatte? Es lagen teilweise an die zehn Zentimeter, aber für gewöhnlich weder auf den Straßen noch den Gehwegen.   "Hat man dier schon wieder aufgelauert?" Das Mobbing schien sich nicht nur auf den Schulhof zu beschränken. Es war mir aber erst aufgefallen, nachdem ich erfahren hatte, was los war. Es erklärte vieles und vor allem, warum Rei nicht wirklich gerne draußen war. Er hatte nirgendwo, außer im Haus, seine Ruhe. Hierher traute sich keiner von diesen Feiglingen, die ihn schikanierten. Rei allerdings reagierte gar nicht. Als er auf meiner Höhe war, ich stand an dem Geländer unseres Treppenaufgangs zur Haustür, zog ich gerade noch einmal genüsslich an meiner Zigarette. Ich überlegte, ihm den Rauch einfach ins Gesicht zu pusten, in der Hoffnung, dass er dann irgendwie reagierte, doch ich kam gar nicht so weit. Mit einem gezielten Griff, schnappte er sich den Glimmstängel und schnippte ihn in den Schneehaufen direkt neben unserer Einfahrt. Dann ging er weiter. Ein merkwürdiger Geruch lag plötzlich in der Luft, was mich dazu veranlasste, den Atem, den ich versehentlich angehalten hatte vor Überraschung, auszustoßen und Rei hinein zu folgen. Der ließ sich nichts anmerken und verräumte seelenruhig die Einkäufe. Gerade als er die Hand aus einem Regal wieder zurück ziehen wollte, fing ich sie ab, was ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Ich schnaubte missbilligend, als ich die Brandwunde an seiner Fingerspitze sah. Der Trottel hatte es tatsächlich geschafft, sich bei seiner Aktion zu verletzen. Schade, das machte das ganze nämlich irgendwie weniger beeindruckend. "Tollpatsch", murmelte ich nur zu mir selbst und zog ihn von den Einkäufen weg, hin zum Wasserhahn. Während ich seine Hand unter eiskaltes Wasser hielt, kramte ich in unserer Medikamentenschublade herum, bis ich die Aspirin fand. Rei wehrte sich nicht, sah mich aber ziemlich verwirrt an. "Blutverdünner helfen die Giftstoffe, die sich bei einer Verbrennung bilden, abzutransportieren. Das vermeidet die Blasenbildung und fördert die Heilung.", erklärte ich kurz. Dass es außerdem die Schmerzen bekämpfte, war so offensichtlich, dass ich es nicht erwähnte. Ich spürte Reis Blick auf mir liegen. Ich spürte die Verwunderung und Verwirrung. Warum hatte er gegen die Verbrennung nicht selbst etwas unternommen? Und warum kümmerte ich mich plötzlich um ihn?   *   "Ich werde aus ihm nicht schlau.", seufzte ich und zog an meiner Zigarette. Yuriy hatte nichts dazu gesagt, dass ich sie mir angezündet hatte. Es war das erste Mal seit sechs Monaten, dass wir uns sahen. Wahrscheinlich wollte er ausnahmsweise nicht riskieren zu streiten. "Klingt, als ob du ihn magst." Das verspielte, teuflische Grinsen auf Yuriys Gesicht, sollte mir wahrscheinlich sagen, dass er mich damit aufziehen wollte, aber ich kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er das ernst meinte. Ich zuckte nur mit den Schultern. Hätte er mir das vor ein paar Monaten gesagt, hätte ich das ganz klar verneint, aber ich hatte mich jetzt schon so lange mit dem Chinesen beschäftigt, dass eine gewisse Sympathie vorhanden war. Warum es also abstreiten? Der Zeitraum, in dem ich versucht hatte mich dagegen zu wehren, war längst vergangen. Ich schnippte den Zigarettenstummel beiseite und vergrub meine Hände in den Taschen meiner Winterjacke. Es war noch immer recht kalt und ich trug keine Handschuhe. "Sieh mal einer an. Du streitest es ja nicht einmal ab." Wie hatte ich das vermisst. "Halt die Klappe.", warf ich ihm nur entgegen und fragte mich, wo meine Schlagfertigkeit geblieben war. "Wenn du ihn nicht zum Reden bringen kannst, wirst du wohl nie dahinter kommen. Nicht, dass ich annehme, dass ich das aufhält." "Hn.", mehr gab es dazu nicht zu sagen.   Als der erste Schnee gefallen war, hatte mich ein Nachbar, der schon ein wenig in die Jahre gekommen war, gefragt, ob ich ihm nicht den Gehweg zu seiner Haustür freischaufeln könne. Er hatte mir auch ein wenig Geld versprochen. Ich war kurz davor gewesen, ihm zu sagen, dass er mich in Ruhe lassen solle, doch dann war mir diese einmalige Chance aufgefallen. Wenn ich kein Taschengeld bekam, musste ich es mir eben selbst verdienen. Warum mir das noch nicht früher eingefallen war, wusste ich nicht. Aber ich war wohl selbst ein wenig zu sehr mit dem Schulwechsel und der allgemeinen Situation beschäftigt gewesen. Jetzt wo Winterferien waren, konnte ich das Lernen auch ein wenig vernachlässigen. Dadurch hatte ich Zeit um mir mein Taschengeld aufzubessern. Nach einigen Tagen hatte ich dann mehr als genug Geld zusammen, um eine ganze Weile regelmäßig zu Yuriy zu fahren. Alte Menschen konnten wirklich spendabel sein. Wenn der Schnee weg war, würde ich den Alten fragen, ob ich ihm seinen Rasen mähen sollte. Das würde dann nicht mehr tägliche, sondern nur noch wöchentliche Arbeit bedeuten, aber das war in Ordnung.   "Menschen wie er können nicht auf ewig schweigen. Besonders nicht, wenn ein Trauma das ausgelöst hat. Irgendwem hat er sich anvertraut und ich nehme schwer an, dass es ein Tagebuch ist. Wenn du wirklich wissen willst, was passiert ist, solltest du das suchen." Es machte sich wirklich immer wieder bezahlt intelligente Freunde zu haben. Daran hatte ich noch nicht gedacht gehabt, aber es klang logisch. Allein, dass Rei zu mir gekommen war, um sich trösten zu lassen, zeigte doch, dass er Unterstützung brauchte und sie auch wollte. Er konnte nicht mit anderen reden, aber sensible Menschen müssen ihre Sorgen und Nöte irgendwie aussprechen, um sie verarbeiten zu können. Wenn man nicht sprechen konnte und auch nicht das Gefühl hatte, sich jemandem anvertrauen zu können, musste ein Ausweg her. Ein Tagebuch erschien mir als die beste Lösung für dieses Problem. "Nein.", sagte ich dennoch. "Nein. Ich will es von ihm erfahren. Es macht keinen Spaß, wenn ich die Spielregeln einfach umgehe." Yuriy verdrehte die Augen, grinste aber dabei. Er kannte mich eben. "Bring ihn doch das nächste Mal mit." Verwirrt blickte ich zu ihm. Ich brauchte meine Frage nicht auszusprechen. "Das Problem ist doch, dass er verschlossen ist. Dann sollten wir ihm einen Grund geben, sich zu öffnen." Mein Blick wurde skeptisch. "Du willst ihn manipulieren?" Ein fast unschuldiger Blick traf mich. Aber nur fast. Wenn Yuriy eines nicht konnte, dann war es unschuldig aussehen. "Was denn? Findest du da etwa auch, dass es Spielregeln umgehen wäre? Außerdem ist manipulieren so ein unschönes Wort. Wir sind ein bisschen nett zu ihm, ich tue so, als würde mich interessieren was er zu sagen hat und schwupps, hast du, was du brauchst, um weiter zu machen." Abfällig schüttelte ich den Kopf: "Manchmal bist du wirklich abartig." "Also ist das ein 'Ja'?" "Psychopath" Yuriy grinste nur. "Ich wusste, dass dir die Idee zusagt."   *   Ich war mir ehrlich nicht sicher, ob ich wirklich angetan von der Idee war, aber ich hatte keine bessere, also hatte ich keine Wahl. Rei auch nicht, was ihm wohl einiges an Unwohlsein einbrachte. Ich sah ihm an, dass er nicht mit wollte, aber er wehrte sich nicht wirklich. Ich hatte ihm gesagt, dass ich mit Yuriy über ihn geredet hätte und dass er ihn gerne kennenlernen wollte. Gut, vielleicht hatte ich mich ungeschickt ausgedrückt und mich ein wenig in der Tonlage vergriffen. Wer wusste ob Rei jetzt nicht dachte, dass ich ihn zu seinem Henker brachte. Kurz warf ich einen Blick neben mich. Er trug es mit Fassung, einigermaßen zumindest. Er starrte auf seine Hände und versuchte nur mit der Kraft seiner Gedanken zu verschwinden. Also relativ normales Verhalten für ihn, sobald er sich in der Öffentlichkeit bewegte. Vielleicht... wirklich nur vielleicht, sollte ich an meinen sozialen Fähigkeiten ein klein wenig feilen. War jetzt aber sowieso zu spät.     "Na, ich hab ja schon gehört, dass du schüchtern bist, aber so sehr? Das hätte ich nicht erwartet. Na los, Kopf hoch, ich fress' dich schon nicht. Und beißen tu ich nur, wenn man mich darum bittet." Yuriy zwinkerte Rei zu, in der Hoffnung ihn etwas auflockern zu können, aber es bewirkte eher das Gegenteil. Rei versteckte sich halb hinter mir, was mich dazu brachte, genervt die Augen zu verdrehen. Zu Hause war der Kerl selbstbewusster. Energisch zog ich ihn hinter meinem Rücken hervor und schob ihn auf Yuriy zu. Der gab sich wirklich Mühe freundlich zu sein, aber machte damit eher wenig Eindruck.   ...   Ich weiß wirklich nicht, wie das passiert ist. Wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung wie er das gemacht hat, aber Yuriy hatte es tatsächlich geschafft, Rei dazu zu bringen, etwas offener zu werden. Rei lachte ab und an sogar, was merkwürdig war, denn er tat selbst das, ohne einen Laut von sich zu geben. Jedes Mal, wenn der Kerl sich selbst beim fröhlich sein erwischte, schien er ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Aber selbst das vergaß er anscheinend im Laufe des Nachmittags. Natürlich kommunizierten hauptsächlich Yuriy und ich. Rei hörte nur zu, nickte, lachte oder setzte seine Mimik ein, um Zustimmung, Mitleid, Sorge, Ablehnung oder sonst was auszudrücken. Eigentlich war es ein ziemlich entspannter Tag. Yuriy konnte, wenn er wollte, wirklich sozial sein. Es tat mir fast ein wenig leid für Rei, denn das ganze war schließlich nur aufgsetzt. Kapitel 3: Manipulation ----------------------- Kai   "Yuriy ist nett." Rei hatte endlich spitz bekommen, dass ich Zeichensprache beherrschte, seitdem 'redete' er ab und zu mit mir. Die letzte Zeit wirkte er allgemein glücklicher. Das hatte angefangen, kurz nachdem wir mit Yuriy weg gewesen waren. Es war merkwürdig und ich verstand es nicht. Mittlerweile blühten draußen wieder die ersten Blumen, es war Frühling. Immer wieder schade, ich mochte den Schnee. Er schien nicht nur die Welt zu bedecken und so von dem Dreck in ihr abzulenken, sondern auch all die nervigen Geräusche zu schlucken, die Menschen so verursachten. Im Winter war es ruhiger, es gab weniger Menschen auf den Straßen. Der Frühling lockte sie alle wieder raus. Furchtbar. Aber eigentlich interessierte mich das weniger. Mich interessierte mehr, was Rei plötzlich an Yuriy fand. Er war anfangs so schüchtern ihm gegenüber gewesen und so zurückhaltend und jetzt sagte er mir, mein Kumpel wäre nett? Ich hätte ja gelacht, wenn ich nicht gerade furchtbar schlechte Laune gehabt hätte. Wir drei hatten uns noch ein paar Mal getroffen, in der Hoffnung, Rei würde vertrauen zu uns fassen und uns mehr von sich preisgeben, aber dem war nicht so. Stattdessen wurde er anscheinend nur glücklicher, was mich langsam ungeduldig werden ließ. Ich erwischte Rei immer öfter dabei, wie er lächelnd aus dem Fenster sah und verträumt in die Gegend schaute. Ziemlich untypisches Verhalten für ihn, aber eigentlich nichts, was mich sonderlich interessieren sollte. Aus irgendeinem Grund tat es das aber doch. Warum? Keine Ahnung. Rei fuchtelte noch ein wenig in der Gegend herum, doch ich ignorierte ihn längst. Das war das schöne an Zeichensprache, wenn man sich nicht darauf konzentrierte, bemerkte man kaum, dass jemand gerade mit einem redete. Die Küchentür ging auf und anhand der schweren Schritte, die zu vernehmen waren, tippte ich auf Jongdae. Ich verschwendete meine Kraft nicht damit, extra meinen Kopf zu wenden, um diese Vermutung zu bestätigen. "Rei, würdest du Kai und mich kurz alleine lassen?" Oh ha, was kam denn jetzt? Bisher waren wir gut miteinander ausgekommen und er hatte sich aus meinem Kram raus gehalten, genauso wie ich mich aus seinem. Warum also plötzlich das Gespräch mit mir alleine suchen und dann auch noch in der Küche? Sonst war er immer in mein Zimmer gekommen, wenn er mich alleine sprechen wollte. Aber mein Zimmer war kein neutraler Boden. Die Küche war für ernste Gespräche geeigneter. Außerdem konnte ich ihm hier nicht die Tür vor der Nase zuwerfen. Ich schloss daraus also, dass es Ärger gab. Das interessierte mich aber nicht sonderlich, weshalb ich weiterhin mit grimmiger Miene aus dem Fenster starrte und an dem Kaffee in meiner Hand nippte. Jongdae kam um den Tisch herum und so in mein peripheres Sichtfeld. Wenn ich meinen Kopf gedreht hätte, hätte ich mich ganz normal mit ihm unterhalten können. Dass er sich nicht setzte, zeigte mir ebenfalls, dass das folgende Gespräch nicht auf Augenhöhe stattfinden würde. Er wollte Erziehungsberechtigter spielen, das würde sicherlich lustig werden. Irgendwann hatte der Zeitpunkt ja kommen müssen. Kein Erwachsener hielt es ewig durch, den 'lockeren neuen Elternteil' zu spielen. Ich war gespannt wer siegreich aus diesem Kampf hervorgehen würde. Natürlich sah ich ihn immer noch nicht an.   "Kai? Was ist los mit dir?" Ich antwortete nicht. Warum sollte ich auch? Er gab sich nicht einmal Mühe zu verbergen, dass er mich wegen irgendetwas 'ausschimpfen' wollte. Warum also sollte ich auf seine offensichtliche Falle reagieren? Noch ließ er sich aber nicht aus der Ruhe bringen. "Seit Monaten bist du nur noch genervt und schlecht gelaunt." Das war ich immer, offenbar war ihm das bisher nur noch nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hatte er langsam genug von mir. Ich war ihm auch nicht sozial genug und seiner Meinung nach zu ignorant um 'schöne, heile Familie' zu spielen. Es war nicht der erste Freund meiner Mutter, der sie wegen mir verlassen hatte. Es war ein Wunder, dass Mutter mir das noch nicht übel genommen hatte. Sie hätte mich auch einfach zu Großvater abschieben können, dann hätte sie ein einfacheres Leben, aber das tat sie nicht und das rechnete ich ihr hoch an. "Deine Mutter und ich machen uns Sorgen um dich." Nein, das machten sie nicht. Wenn sie das getan hätten, hätten wir zu dritt in meinem Zimmer gesessen und meine Mutter hätte geheult. Das lief immer so, wenn sie dachte, dass es mir nicht gut ging. Sie war eben eine sensible und einfühlsame Frau. "Kai, was ist los?" ... "Kai?" Langsam wurde er ungeduldiger. Nicht mehr lange. "Du weißt, du kannst über alles mit mir reden." Oh, die Stimme begann schon langsam zu beben. Von Rei war er so freches Verhalten wie von mir natürlich nicht gewohnt. Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn seine Autorität nicht akzeptiert wurde. Und wie die meisten Menschen... "Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!" ... wurde auch er laut und ausfallend. Damit hatte er verloren und ich meinte nicht nur diesen kleinen Kampf, sondern auch meinen kompletten Respekt. Ich hatte ihn für in Ordnung gehalten, aber er war auch kein Stück besser als alle anderen Menschen auch. Warum gab es nur so wenige Ausnahmen? Warum sah ich all das, aber niemand anderes? Warum verstand niemand, das ein Gespräch nicht nur aus Worten, sondern auch aus Körperhaltung, Tonfall und zig weiteren Dingen bestand, die zu beachten waren, wenn man irgendetwas erreichen wollte. Laut werden gehörte auf jeden Fall nicht zu den Methoden, die zu Erfolg führten. Wenn man nicht gerade jemanden vor sich hatte, der das Selbstbewusstsein eines geprügelten Hundes hatte, verursachte lauteres Reden nur Aggression. Ich war da keine Ausnahme, aber ich ließ mich nicht provozieren. "Ich habe es langsam wirklich satt, deine ständigen Launen ertragen zu müssen! Du streitest dich momentan ununterbrochen mit deiner Mutter!" Er tat das also, weil er sich Sorgen um Mutter machte. Ich musste gestehen, dass ich mich die letzte Zeit wirklich häufig mit ihr gestritten hatte, aber die Phasen gab es. Ich ertrug ja auch all ihre Phasen, in denen sie unerträglich war. Das war normal zwischen uns, auch wenn es uns beide natürlich belastete. Da sollte man sich aber nicht einmischen. Das wusste Mutter eigentlich auch, deshalb bezweifelte ich, dass sie ihn geschickt hatte. Respekt an den Mann, dass er die Beziehung zwischen mir und ihm riskierte, in der Hoffnung, meiner Mutter etwas gutes tun zu können. Es war die Hauptsache, dass er ihr gut tat. Ob wir beide miteinander klar kamen, war vollkommen egal. Ich könnte ausziehen, wenn es mir zu viel würde. Zu seinem Schutz schwieg ich... noch.   "Das kann so nicht weiter gehen! Interessiert deine Mutter dich denn gar nicht?" Mit einem lauten Knall stellte ich die Kaffeetasse auf den Tisch. Der Inhalt schwappte auf meine Hand und der Schmerz, den die heiße Flüssigkeit verursachte, half mir, meine Selbstbeherrschung zu behalten. Er hatte jetzt aber zumindest geschafft, dass ich ihn ansah und Worte an ihn verschwendete: "Und wenn es doch so weiter geht?" Meine Stimme war eiskalt. Ich konnte förmlich sehen, wie ihm Schauer den Rücken hinab jagten. Er war wirklich keinen Widerstand gewohnt. Die einfache Handhabung von Rei, hatte ihn nie gelehrt, wie man mit Rebellen umging. Gut für mich, schlecht für ihn. "Willst du mir mit Hausarrest drohen? Taschengeld kannst du mir ja schlecht streichen.", zischte ich leise. Ich blieb aber sitzen. Ich wollte ihm zeigen, dass man auch aus einer unterlegenen Position heraus Dominanz ausstrahlen konnte. Offensichtlich war Jongdae sprachlos. Tja, sein Pech, nicht meines. Damit musste er jetzt leben. "Was willst du schon tun, huh? Das einzige, was möglich wäre, wäre mich vor die Tür zu setzen und das kannst du nicht, nicht wahr? Nicht weil meine Mutter dagegen wäre, sondern weil ich deinen Sohn glücklich mache. Denn so beschissen meine Stimmung auch sein mag, so fröhlich wie momentan war Rei sicherlich seit Jahren nicht mehr. Und das würdest du niemals aufs Spiel setzen. Also halte dich zukünftig aus meinen Angelegenheiten raus, denn im Gegensatz zu dir, habe ich tatsächlich ein Druckmittel." Ich setzte noch ein kalten Schmunzeln hinterher, ehe ich aufstand und einfach aus dem Raum ging. Eigentlich hatte ich jetzt irrationales Rumschreien erwartet, aber anscheinend hatte ich einen so empfindlichen Nerv getroffen, dass er kein Wort mehr herausbrachte. Als ich wütend die Tür hinter mir zuwarf, sah ich kurz auf meine leicht verbrühte Hand. Um meinen eigenen Abgang gerade nicht zu untergraben, würde ich das verstecken müssen. Zumindest aber sollte Jongdae jetzt gelernt haben, dass nur dann wirklich Gefahr von mir ausging, wenn ich nicht stritt, sondern ruhig blieb. Das Geplänkel mit meiner Mutter war harmlos gegen das, was ich gerade getan hatte.   *   Einige Tage später war ich in der Stadt unterwegs. Ausnahmsweise traf ich mich mal nicht mit Yuriy, ich brauchte einfach Zeit für mich. Jongdae verhielt sich in meiner Gegenwart auffällig merkwürdig, seit er versucht hatte mich zu erziehen und zusätzlich ertrug ich die gute Laune von Rei nicht. Deshalb war ich nach der Schule nicht nach Hause gegangen, sondern irrte ziellos durch die Straßen.   Ich war einige Stunden unterwegs, die Sonne begann bereits unter zu gehen, als ich mich in dem Stadtteil wiederfand, in dem ich vor dem Umzug gelebt hatte. Ich war so gedankenverloren gewesen, dass ich sowohl die Zeit, als auch meine Umgebung vollkommen vergessen hatte. Aus alter Gewohnheit, war ich dann wohl in Richtung unserer längst verkauften Wohnung gegangen. Allerdings war ich wohl auch von diesem Weg abgekommen, denn das hier war nicht das Wohnviertel. Ich stand direkt in der Straße zu dem Einkaufszentrum, in dem Yuriy und ich immer umhergewandert sind. Sehr merkwürdig.   Gerade als ich mich umdrehen und zur nächsten Bushaltestelle zurück wollte, stachen mir feuerrote Haare ins Auge. Es gab diese Farbe nicht gerade oft und innerhalb eines Augenblickes beschloss ich, dass es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, Yuriy zu sehen. Ich freute mich sogar irgendwie darauf kurz mit ihm zu reden und hoffte, dass es mich etwas ruhiger machen würde. Doch als ich mich ganz zu ihm wandte, sah ich, dass er nicht alleine war. Rei war bei ihm. Meine Laune sank plötzlich rapide, die Vorfreude wich einem Gefühl, dass ich bisher nicht gekannt hatte. Ein brennendes, drängendes Gefühl, dass mich dazu verführen wollte, dort hin zu gehen und Rei eine runter zu hauen. Zu dieser Zeit konnte ich es nicht einordnen, aber ich ließ mich auch davon nicht beeindrucken. Die Frage, was Rei alleine bei Yuriy machte, ließ mich aber nicht los, weshalb ich beschloss, den beiden unauffällig zu folgen.   Yuriy redete wie immer recht viel, wenn Rei da war und Rei... nun, der hörte ihm einfach zu und strahlte ihn förmlich an. Plötzlich ergab vieles einen Sinn. Die gute Laune, dass er versucht hatte über Yuriy zu sprechen. Der kleine war tatsächlich in ihn verknallt. Armer Irrer. Als ob er je eine Chance hätte. Wahrscheinlich traf sich Yuriy nur wegen unseres Plans mit ihm. Das hob meine Laune aber ehrlich gesagt nicht. Ich folgte ihnen weiter bis zur Bushaltestelle, wo sie sich dann wohl endlich verabschieden würden. Als sie sich umarmten, wurde ich aber stutzig. So etwas machte Yuriy eigentlich nicht. Dann trennten sie sich wieder, aber Yuriy drückte Rei noch einen Kuss auf die Wange, bevor Letzterer in den Bus stieg.   Ohne weiter darüber nachzudenken trat ich aus meinem Versteck heraus und auf Yuriy zu, der gerade um eine Ecke bog, in eine ruhigere Straße. "Du scheinst ja einen Narren an ihm gefressen zu haben, wenn du dich jetzt sogar schon außerhalb unseres Plans mit ihm triffst." Er konnte nicht geahnt haben, dass ich hinter ihm war, doch statt irgendein Zeichen des Erschreckens von sich zu geben, blieb er einfach stehen und wandte sich grinsend um. "Eifersüchtig?" Konnte der Kerl nicht einmal ernst bleiben? Ich hatte wohl kaum Angst, dass Rei mir meinen besten Freund wegnehmen konnte. Da stand ich drüber. Ich schloss zu ihm auf: "Darum geht es doch gar nicht!" Eigentlich hatte ich weiter reden wollen, aber irgendwas in meinem Kopf gab gerade ein Warnsignal von sich, das ich nicht verstand. Es brachte mich aus dem Konzept. "Ach, und worum dann?" Yuriy hatte wieder sein verspieltes Grinsen auf den Lippen, was ich ihm diesmal am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte - mit einem Faustschlag. "Was hast du mit dem Schwachkopf zu tun und warum triffst du dich mit ihm, ohne mir was davon zu sagen?" Ich schwächelte und ich wusste nicht wieso. Meine sonst so gefasste Fassade bröckelte und das machte mir zugegeben etwas angst. Das rationale Denken fiel mir schwer und das Gefühl vorhin etwas falsches gesagt zu haben, blieb. Mein Geist wollte mir etwas mitteilen, was einfach nicht bei mir ankam. "Ich muss mich neuerdings also erst vor dir rechtfertigen, wenn ich mit irgendwem weggehen will?" Konnte er damit aufhören, alles mit einer Frage zu beantworten? Das war ja nicht zum aushalten! "Darum geht es nicht!" Ich wurde ungehalten und laut und ich wusste nicht warum. Mein Körper handelte von alleine, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte. Es fühlte sich nicht gut an. Und es war wirklich zum Kotzen, dass Yuriy noch immer grinste! "Hör endlich auf zu grinsen! Das hier ist ernst!", zischte ich. "Ach, und was wenn nicht? Was willst du dann machen?" Es war fast die gleiche Frage, die ich Jongdae gestellt hatte. Und sie brachte mich schier zu Weißglut. "Das hier!" Ohne nachzudenken riss ich ihn herum, drückte ihn gegen eine Wand und presste meine Lippen auf seine. Und wieder machte etwas 'klick' und alles ergab plötzlich einen Sinn. Meine schlechte Laune die letzte Zeit, die jedes mal schlimmer geworden war, wenn ich mit Rei bei Yuriy gewesen war, oder einer von beiden über den anderen geredet hatte. Auch das brennende Gefühl von vorhin, als ich die beiden gesehen hatte und das mich zu dieser Tat verleitet hatte. Eifersucht und tatsächliche Angst davor, dass Yuriy sich einen anderen Partner als mich suchen könnte.   Erschrocken über diese Erkenntnis, wollte ich mich wieder von ihm lösen, doch noch ehe ich auch nur gezuckt hatte, spürte ich eine Hand auf meinem Hinterkopf, die mich unnachgiebig an Ort und Stelle hielt. Ein Schauern durchzog meinen Körper kurz, ehe ich mich wieder dem Kuss hingab, der jetzt leidenschaftlich erwidert wurde. Für eine Weile verschwammen meine Gedanken einfach und ich ließ meinen Gefühlen ausnahmsweise freien Lauf. Irgendwann lösten wir uns dann wieder voneinander und nur durch unser schweres Atmen, konnte ich erahnen, dass der Kuss nicht nur einen kurzen Moment angedauert hatte.   Als das verspielte Grinsen auf Yuriys Gesichtszüge zurückkehrte, befürchtete ich kurz, dass er das alles nicht ernst genommen hatte, so wie sonst immer, wenn er mich aus Spaß geküsst hatte. "Ganz ehrlich: Hätte ich früher gewusst, dass man dich so 'rum kriegt, wäre einiges wesentlich einfacher gewesen." Und da aller guten Dinge drei waren, kam noch eine Erkenntnis oder eher eine Vermutung. All die Male, die Yuriy scheinbar herum gescherzt hatte, hätten auch ernstgemeinte Annäherungsversuche gewesen sein können. Er war genauso ungeschickt wie ich, was sozialen Umgang anging und gerade bei Gefühlen waren wir beide offensichtlich furchtbar. Ich hatte die ganze Zeit nicht bemerkt, dass ich verliebt war und er hatte es nicht geschafft, seine Gefühle ordentlich auszudrücken. Wir gaben jetzt schon ein furchtbares Paar ab. Ich grinste. "Und wer hat dich auf diese glorreiche Idee gebracht?" "Na, dein liebes Brüderchen." Mir entgleisten so deutlich die Gesichtszüge, dass sich Yuriy schier krümmte vor lachen. Rei hatte das eingefädelt? Das konnte nicht sein! Wie sollte das gehen? Aber Yuriy war glücklicherweise gesprächig und gnädig genug, es mir zu erklären: "Nach einigen unserer Treffen haben er und ich uns zufällig in der Stadt getroffen. Wir haben uns etwas umständlich über Papier und Stift unterhalten - du warst ja nicht zum Übersetzen dabei. Irgendwann hat er mich gefragt, ob ich etwas für dich empfinden würde, er hätte da so ein Gefühl. Nach etwas hin und her habe ich ihm dann gestanden, dass ich schon ne Weile verknallt in dich wäre und es aber irgendwie nicht über mich bringe es dir zu sagen, weil all meine Annäherungsversuche irgendwie immer schief gehen." Er zuckte kurz die Schultern und grinste schief: "Ich bin eben nicht gut in so was. Jedenfalls... na ja. Wir haben dann ein bisschen hin und her gesponnen und dann rückte er eben mit diesem Plan raus. Ich hab ihn für bescheuert, aber spaßig gehalten und warum nicht? Schlimmer konnte es ja nicht werden, oder? Hat ja auch ziemlich gut geklappt." "Von mir aus. Aber das ist unlogisch. Ihr könnt mich an der Bushaltestelle unmöglich gesehen haben." Jetzt wurde sein Grinsen noch breiter und so etwas wie Stolz legte sich in seinen Blick. "Ich nicht. Aber Rei hat dich bemerkt. Und weißt du, was er getan hat um mir das mitzuteilen?" Yuriy beugte sich zu mir, so dass sein Atem meine Lippen streifte und wisperte mir die nächsten Worte geradezu ehrfürchtig entgegen: "Er hat mir bei der Umarmung ein einziges Wort ins Ohr geflüstert..." Meine Augen wurden wahrscheinlich tellergroß und meine Kinnlade klappte herunter. Er hatte gesprochen? "Nur ein Wort: 'Kai' " Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)