Patchwork von Lyndis ================================================================================ Kapitel 2: Nachforschung ------------------------ Kai   Nachdem ich Rei eine halbe Nacht lang getröstet hatte, war er dazu übergegangen, zumindest vor mir seine immer fröhliche Maske abzulegen. So musste ich sein ständiges Lächeln wenigstens nicht mehr ertragen. Allerdings schien er mir seitdem auch aus dem Weg zu gehen. Nichts, was mich sonderlich störte, aber es fiel immerhin auf.   Nachdem die erste Phase von Arbeiten für dieses Jahr herum war, hatte ich endlich beginnen können, Zeichensprache zu erlernen. Es half mir nicht besonders viel weiter, weil ich Rei kaum noch sah und der selbst mit seinen Händen nur das aller nötigste sprach, aber es reichte um zu verstehen, dass er selbst seinem Vater eine vollkommen heile Welt vor spielte. Rei war in sich einfach nur absurd. Eigentlich hielt ich ihn für intelligent. Seine Augen zeigten mir das. Er hatte aufmerksame, neugierige Augen und bisher war mir noch nie jemand dummes über den Weg gelaufen, der solche Augen besaß. Warum also verstand Rei nicht, dass man ihm helfen könnte, wenn er nur darum bat? Mutter hatte mir erzählt, dass Jongdae es sogar schon mit einem Therapeuten versucht hatte, aber selbst das hatte offensichtlich nichts gebracht. Von Jongdae selbst hatte ich erfahren, dass Rei wohl nach einem Todesfall in seinem Freundeskreis aufgehört hatte zu sprechen. Jemand, der ihm sehr nahe stand, hatte sich umgebracht.   Je mehr ich über Rei nachdachte, desto mehr fragte ich mich, warum mich das so sehr interessierte. Es war absurd, genau wie Rei selbst und vielleicht war es das. Ich mochte Herausforderungen und ich mochte es, Rätsel zu lösen. Rei war demnach also das perfekte Opfer dafür.   *   Reis Gesicht verzog sich angewidert, als er auf mich zu kam. Er kam gerade vom einkaufen zurück. Genervt seufzte ich und stieß dabei eine kleine Dunstwolke aus, die nicht nur der frostigen Umgebungstemperatur zuzurechnen war. "Du etwa auch?", knurrte ich missmutig. Dass aber auch jeder etwas gegen das Rauchen hatte. Nun ja, bei dem kleinen Moralapostel vor mir, war das eigentlich nicht verwunderlich. Es wunderte mich eher, dass wir schon ein halbes Jahr zusammen lebten und er mich jetzt zum ersten Mal beim Rauchen erwischte. Sein fragendes Gesicht indizierte, dass er nicht genau wusste, was ich meinte. Ich machte nur eine wegwerfende Handbewegung und machte somit klar, dass ich nicht darüber reden würde. Natürlich bohrte er nicht weiter. Das würde der kleine Mr. Perfect niemals. Wäre ja unhöflich. So nahm er einfach weiter seinen Weg über unsere Einfahrt auf, damit er endlich ins Haus kam. Mir fiel auf, dass seine Haare feucht glänzten und einzelne Wassertropfen an ihnen abperlten. Merkwürdig, schließlich hatte es weder geregnet noch geschneit. Ob er hingefallen war und so eine ordentliche Portion Schnee abbekommen hatte? Es lagen teilweise an die zehn Zentimeter, aber für gewöhnlich weder auf den Straßen noch den Gehwegen.   "Hat man dier schon wieder aufgelauert?" Das Mobbing schien sich nicht nur auf den Schulhof zu beschränken. Es war mir aber erst aufgefallen, nachdem ich erfahren hatte, was los war. Es erklärte vieles und vor allem, warum Rei nicht wirklich gerne draußen war. Er hatte nirgendwo, außer im Haus, seine Ruhe. Hierher traute sich keiner von diesen Feiglingen, die ihn schikanierten. Rei allerdings reagierte gar nicht. Als er auf meiner Höhe war, ich stand an dem Geländer unseres Treppenaufgangs zur Haustür, zog ich gerade noch einmal genüsslich an meiner Zigarette. Ich überlegte, ihm den Rauch einfach ins Gesicht zu pusten, in der Hoffnung, dass er dann irgendwie reagierte, doch ich kam gar nicht so weit. Mit einem gezielten Griff, schnappte er sich den Glimmstängel und schnippte ihn in den Schneehaufen direkt neben unserer Einfahrt. Dann ging er weiter. Ein merkwürdiger Geruch lag plötzlich in der Luft, was mich dazu veranlasste, den Atem, den ich versehentlich angehalten hatte vor Überraschung, auszustoßen und Rei hinein zu folgen. Der ließ sich nichts anmerken und verräumte seelenruhig die Einkäufe. Gerade als er die Hand aus einem Regal wieder zurück ziehen wollte, fing ich sie ab, was ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Ich schnaubte missbilligend, als ich die Brandwunde an seiner Fingerspitze sah. Der Trottel hatte es tatsächlich geschafft, sich bei seiner Aktion zu verletzen. Schade, das machte das ganze nämlich irgendwie weniger beeindruckend. "Tollpatsch", murmelte ich nur zu mir selbst und zog ihn von den Einkäufen weg, hin zum Wasserhahn. Während ich seine Hand unter eiskaltes Wasser hielt, kramte ich in unserer Medikamentenschublade herum, bis ich die Aspirin fand. Rei wehrte sich nicht, sah mich aber ziemlich verwirrt an. "Blutverdünner helfen die Giftstoffe, die sich bei einer Verbrennung bilden, abzutransportieren. Das vermeidet die Blasenbildung und fördert die Heilung.", erklärte ich kurz. Dass es außerdem die Schmerzen bekämpfte, war so offensichtlich, dass ich es nicht erwähnte. Ich spürte Reis Blick auf mir liegen. Ich spürte die Verwunderung und Verwirrung. Warum hatte er gegen die Verbrennung nicht selbst etwas unternommen? Und warum kümmerte ich mich plötzlich um ihn?   *   "Ich werde aus ihm nicht schlau.", seufzte ich und zog an meiner Zigarette. Yuriy hatte nichts dazu gesagt, dass ich sie mir angezündet hatte. Es war das erste Mal seit sechs Monaten, dass wir uns sahen. Wahrscheinlich wollte er ausnahmsweise nicht riskieren zu streiten. "Klingt, als ob du ihn magst." Das verspielte, teuflische Grinsen auf Yuriys Gesicht, sollte mir wahrscheinlich sagen, dass er mich damit aufziehen wollte, aber ich kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er das ernst meinte. Ich zuckte nur mit den Schultern. Hätte er mir das vor ein paar Monaten gesagt, hätte ich das ganz klar verneint, aber ich hatte mich jetzt schon so lange mit dem Chinesen beschäftigt, dass eine gewisse Sympathie vorhanden war. Warum es also abstreiten? Der Zeitraum, in dem ich versucht hatte mich dagegen zu wehren, war längst vergangen. Ich schnippte den Zigarettenstummel beiseite und vergrub meine Hände in den Taschen meiner Winterjacke. Es war noch immer recht kalt und ich trug keine Handschuhe. "Sieh mal einer an. Du streitest es ja nicht einmal ab." Wie hatte ich das vermisst. "Halt die Klappe.", warf ich ihm nur entgegen und fragte mich, wo meine Schlagfertigkeit geblieben war. "Wenn du ihn nicht zum Reden bringen kannst, wirst du wohl nie dahinter kommen. Nicht, dass ich annehme, dass ich das aufhält." "Hn.", mehr gab es dazu nicht zu sagen.   Als der erste Schnee gefallen war, hatte mich ein Nachbar, der schon ein wenig in die Jahre gekommen war, gefragt, ob ich ihm nicht den Gehweg zu seiner Haustür freischaufeln könne. Er hatte mir auch ein wenig Geld versprochen. Ich war kurz davor gewesen, ihm zu sagen, dass er mich in Ruhe lassen solle, doch dann war mir diese einmalige Chance aufgefallen. Wenn ich kein Taschengeld bekam, musste ich es mir eben selbst verdienen. Warum mir das noch nicht früher eingefallen war, wusste ich nicht. Aber ich war wohl selbst ein wenig zu sehr mit dem Schulwechsel und der allgemeinen Situation beschäftigt gewesen. Jetzt wo Winterferien waren, konnte ich das Lernen auch ein wenig vernachlässigen. Dadurch hatte ich Zeit um mir mein Taschengeld aufzubessern. Nach einigen Tagen hatte ich dann mehr als genug Geld zusammen, um eine ganze Weile regelmäßig zu Yuriy zu fahren. Alte Menschen konnten wirklich spendabel sein. Wenn der Schnee weg war, würde ich den Alten fragen, ob ich ihm seinen Rasen mähen sollte. Das würde dann nicht mehr tägliche, sondern nur noch wöchentliche Arbeit bedeuten, aber das war in Ordnung.   "Menschen wie er können nicht auf ewig schweigen. Besonders nicht, wenn ein Trauma das ausgelöst hat. Irgendwem hat er sich anvertraut und ich nehme schwer an, dass es ein Tagebuch ist. Wenn du wirklich wissen willst, was passiert ist, solltest du das suchen." Es machte sich wirklich immer wieder bezahlt intelligente Freunde zu haben. Daran hatte ich noch nicht gedacht gehabt, aber es klang logisch. Allein, dass Rei zu mir gekommen war, um sich trösten zu lassen, zeigte doch, dass er Unterstützung brauchte und sie auch wollte. Er konnte nicht mit anderen reden, aber sensible Menschen müssen ihre Sorgen und Nöte irgendwie aussprechen, um sie verarbeiten zu können. Wenn man nicht sprechen konnte und auch nicht das Gefühl hatte, sich jemandem anvertrauen zu können, musste ein Ausweg her. Ein Tagebuch erschien mir als die beste Lösung für dieses Problem. "Nein.", sagte ich dennoch. "Nein. Ich will es von ihm erfahren. Es macht keinen Spaß, wenn ich die Spielregeln einfach umgehe." Yuriy verdrehte die Augen, grinste aber dabei. Er kannte mich eben. "Bring ihn doch das nächste Mal mit." Verwirrt blickte ich zu ihm. Ich brauchte meine Frage nicht auszusprechen. "Das Problem ist doch, dass er verschlossen ist. Dann sollten wir ihm einen Grund geben, sich zu öffnen." Mein Blick wurde skeptisch. "Du willst ihn manipulieren?" Ein fast unschuldiger Blick traf mich. Aber nur fast. Wenn Yuriy eines nicht konnte, dann war es unschuldig aussehen. "Was denn? Findest du da etwa auch, dass es Spielregeln umgehen wäre? Außerdem ist manipulieren so ein unschönes Wort. Wir sind ein bisschen nett zu ihm, ich tue so, als würde mich interessieren was er zu sagen hat und schwupps, hast du, was du brauchst, um weiter zu machen." Abfällig schüttelte ich den Kopf: "Manchmal bist du wirklich abartig." "Also ist das ein 'Ja'?" "Psychopath" Yuriy grinste nur. "Ich wusste, dass dir die Idee zusagt."   *   Ich war mir ehrlich nicht sicher, ob ich wirklich angetan von der Idee war, aber ich hatte keine bessere, also hatte ich keine Wahl. Rei auch nicht, was ihm wohl einiges an Unwohlsein einbrachte. Ich sah ihm an, dass er nicht mit wollte, aber er wehrte sich nicht wirklich. Ich hatte ihm gesagt, dass ich mit Yuriy über ihn geredet hätte und dass er ihn gerne kennenlernen wollte. Gut, vielleicht hatte ich mich ungeschickt ausgedrückt und mich ein wenig in der Tonlage vergriffen. Wer wusste ob Rei jetzt nicht dachte, dass ich ihn zu seinem Henker brachte. Kurz warf ich einen Blick neben mich. Er trug es mit Fassung, einigermaßen zumindest. Er starrte auf seine Hände und versuchte nur mit der Kraft seiner Gedanken zu verschwinden. Also relativ normales Verhalten für ihn, sobald er sich in der Öffentlichkeit bewegte. Vielleicht... wirklich nur vielleicht, sollte ich an meinen sozialen Fähigkeiten ein klein wenig feilen. War jetzt aber sowieso zu spät.     "Na, ich hab ja schon gehört, dass du schüchtern bist, aber so sehr? Das hätte ich nicht erwartet. Na los, Kopf hoch, ich fress' dich schon nicht. Und beißen tu ich nur, wenn man mich darum bittet." Yuriy zwinkerte Rei zu, in der Hoffnung ihn etwas auflockern zu können, aber es bewirkte eher das Gegenteil. Rei versteckte sich halb hinter mir, was mich dazu brachte, genervt die Augen zu verdrehen. Zu Hause war der Kerl selbstbewusster. Energisch zog ich ihn hinter meinem Rücken hervor und schob ihn auf Yuriy zu. Der gab sich wirklich Mühe freundlich zu sein, aber machte damit eher wenig Eindruck.   ...   Ich weiß wirklich nicht, wie das passiert ist. Wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung wie er das gemacht hat, aber Yuriy hatte es tatsächlich geschafft, Rei dazu zu bringen, etwas offener zu werden. Rei lachte ab und an sogar, was merkwürdig war, denn er tat selbst das, ohne einen Laut von sich zu geben. Jedes Mal, wenn der Kerl sich selbst beim fröhlich sein erwischte, schien er ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Aber selbst das vergaß er anscheinend im Laufe des Nachmittags. Natürlich kommunizierten hauptsächlich Yuriy und ich. Rei hörte nur zu, nickte, lachte oder setzte seine Mimik ein, um Zustimmung, Mitleid, Sorge, Ablehnung oder sonst was auszudrücken. Eigentlich war es ein ziemlich entspannter Tag. Yuriy konnte, wenn er wollte, wirklich sozial sein. Es tat mir fast ein wenig leid für Rei, denn das ganze war schließlich nur aufgsetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)