Patchwork von Lyndis ================================================================================ Kapitel 1: Ohne Worte --------------------- Kai   "Was denkst du, wie dein neuer Dad so ist?" Ich schnaubte nur genervt. Was sollte die Frage denn? "Er ist nicht mein neuer Vater. Er ist irgendein Fremder, den ich bisher kaum gesehen habe und der mir vollkommen egal ist." Eigentlich hatte ich 'der mir vollkommen am Arsch vorbei geht' sagen wollen, aber diese Worte klangen merkwürdig in meinem Kopf. Sie passten nicht zu mir und meine Zunge hatte sich geweigert sie zu formen. Manchmal fragte ich mich, was genau mich davon abhielt, einfach so zu sprechen und zu sein, wie jeder andere auch. Es waren nur Worte, warum konnte ich sie also nicht aussprechen? Niemand war in der Nähe, dem sie sauer aufstoßen würden. Yuriy hätte sich wahrscheinlich noch darüber gefreut. Ich sollte aufhören über solche unsinnigen Sachen nachzudenken und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Schließlich führte ich gerade ein Gespräch.   "Warum nicht? Sei doch froh, dass jemand dein Dad sein will." Yuriy klang ein wenig beleidigt, doch ich ging nicht darauf ein, weil ich wusste, was los war. Jeder Mensch hatte gewisse Knöpfe, die, wenn sie gedrückt wurden, defensives oder aggressives Verhalten auslösten. Bei Yuriy war das zum Beispiel die Tatsache, dass er Waise war. Ich nahm allerdings keine Rücksicht darauf. Er musste lernen damit umgehen zu können und ich war definitiv nicht die Art von Person, die um ihn herum schlich und versuchte, ihn nicht an seine Vergangenheit oder seine aktuellen Probleme zu erinnern. Yuriy nahm ja auch keine Rücksicht darauf, dass ich angepisst darüber war, dass meine Mutter neu heiraten wollte und wir deshalb mit ihrem neuen Kerl und dessen Sohn in ein neues Haus zogen. Was ein Schwachsinn.   Yuriy schnaubte plötzlich angewidert neben mir. Ich kannte dieses Geräusch und sah deshalb in meine Hand. Ohne es zu merken, hatte ich eine Zigarette gezogen. Yuriy hasste Raucher, deshalb ließ er es normalerweise nicht zu, dass ich so einen Glimmstängel auch nur zur Hand nahm, wenn er dabei war. Ich machte das aber meistens unbewusst und aus reiner Gewohnheit, besonders wenn ich gestresst und mit den Gedanken wo anders war. Ich sollte mich wirklich mehr auf das Gespräch konzentrieren.   Ich steckte die Zigarette wieder weg und schlenderte mit ihm weiter durch die Straßen. Wir wollten zum Einkaufscenter um da dann weiter zu schlendern und zu reden. Wir hatten nicht wirklich etwas vor, aber das war nichts Neues. Wir trafen uns öfter einfach so um zu reden und weil wir beide chronisch unruhig waren, wanderten wir dabei eben umher. In dem Einkaufszentrum konnten wir uns unter hunderten anderen bewegen ohne bemerkt zu werden und das trotz der feuerroten Haare von Yuriy, das war ein interessantes Phänomen, zeigte aber nur die typische Anonymität einer Stadt. Persönlich fand ich das sehr angenehm. Ich war definitiv kein Dorfmensch.   "Du hast eh keine andere Wahl, als die Entscheidung deiner Mutter zu akzeptieren. Also mach das Beste draus." In Momenten wie diesen wurde mir wieder klar, warum ich ständig mit ihm herum hing. Ihm machte es nichts, wenn ich einfach nicht antwortete und er ritt nicht auf Themen herum, sondern schloss sie einfach ab, wenn er merkte, dass ich nicht darüber reden wollte. "Hn", bestätigte ich ihm seine Worte und ging weiter. "Ich weiß nicht, ob wir uns noch treffen können. Ich ziehe ans andere Ende der Stadt." Das war eigentlich das, was mich am meisten an der ganzen Sache nervte. Es war eigentlich egal, mit wem meine Mutter und ich zusammen zogen, schließlich konnte ich einfach verschwinden, wenn mir die anderen auf die Nerven gingen. Aber wir zogen so weit weg, dass ich sogar die Schule wechseln musste. Klar war innerhalb einer Stadt umzuziehen kein Weltuntergang, aber ich konnte mir regelmäßiges Busfahren nicht leisten. Vielleicht hätte ich einfach bei meinem Großvater bleiben sollen, nachdem meine Eltern sich hatten scheiden lassen. Er hatte es mir angeboten. Allerdings mochte ich meinen Großvater nicht besonders, weshalb ich wohl oder übel mit meiner Mutter mitgehen musste. Mein Vater war irgendwo im Ausland und deshalb auch keine Option für mich. "Kriegen wir schon hin." Klar, dachte ich sarkastisch. Es war immer wieder merkwürdig selbst wahrzunehmen, wenn ich etwas dachte. Metadenken sozusagen. Also darüber nachdenken, dass man nachdenkt.... ich schweifte schon wieder ab. Aber Yuriy schien auch keine wirkliche Antwort zu erwarten. Gut so. Mir war heute nicht nach reden. Ich glaubte nicht wirklich daran, dass wir uns noch so regelmäßig treffen würden. Allerdings war das vielleicht gut so. Es war nie gut sich zu sehr an die Gesellschaft von anderen zu gewöhnen. Irgendwann verschwanden sie alle. So wie mein Vater zum Beispiel. Dreckskerl.   Wir waren gerade eine Straße vor der Mall, als mich Yuriy plötzlich an sich zog und seine Lippen auf meine legte. Aus den Augenwinkeln sah ich kurz etwas goldgelbes und etwas schwarzes, das im Wind wehte, was meine Aufmerksamkeit kurz von dem Kuss weg lenkte. Ein weißer Schatten verschwand in einer Gasse. Kurz versuchte ich zu rekapitulieren was ich da gesehen hatte, doch musste ich feststellen, dass ich es nicht mehr zusammen bekam. Wofür war ein Unterbewusstsein gut, wenn man keine Informationen daraus abrufen konnte?   Harsch drückte ich Yuriy von mir. Ich hoffte, dass meine Körperhaltung und mein Blick den Ärger ausdrückten, den ich gerade empfand. Aber ich wusste, dass er das tat. "Lass das!", zischte ich mit Nachdruck. "Du weißt, dass ich das nicht leiden kann!" Doch das Funkeln in den Augen meines ach so guten Kumpels verriet mir, dass er mich absichtlich auf die Palme gebracht hatte. Dreckskerl!   "Wenigstens redest du jetzt wieder mit mir.", antwortete er mit einem verspielten Unterton. Der sollte bloß die Klappe halten und aufhören so überheblich zu grinsen. Yuriy machte das öfter. Ich hasste es. Nicht, dass es darum ging, dass er ein Kerl war. Ich war da relativ offen. Rein rational gesehen, war es vollkommen egal, wen man liebte oder auf wen man stand, solange man niemandem wehtat. Aber ich hasste öffentliches zur Schau stellen von Zärtlichkeiten! Das ging niemanden etwas an und schon gar nicht, wenn man nicht einmal zusammen war! Yuriy wusste das ganz genau und nutzte das immer wieder aus um mich zu ärgern. Ich ließ mich ärgern, warum auch immer. Es wäre einfacher ihn einfach machen zu lassen und darauf zu warten, dass es ihm langweilig wurde. Aber was sollte ich tun? Ihn mich einfach küssen lassen? Mitten auf der Straße? Das war absurd. Aber was er konnte, konnte ich schon lange. Aus Rache zog ich die Zigarette von vorher wieder aus meiner Hosentasche und zündete sie an. Genüsslich nahm ich einen Zug und pustete den Rauch in Yuriys Richtung. Angewidert wich der der kleinen Wolke aus, was mich dazu brachte zufrieden zu grinsen.   "Ja, ja. Hab schon kapiert.", murmelte mein armes Opfer nur genervt und wartete darauf, dass ich erfolgreich meine Sucht befriedigte und mich, wie er immer gerne erwähnte, ebenfalls erfolgreich umbrachte.   Hach, war das nicht eine perfekte Freundschaft?   *   "Kai, das ist Rei Kon." Ein Halbjapaner, eine Russin und zwei Chinesen leben in einem Haus... Klingt wie der Anfang von einem schlechten Witz, nicht? Jaaa... willkommen in meinem neuen Leben.   Jongdae Kon, den Vater von Rei, kannte ich bereits. Ich hatte ihn noch nicht oft gesehen, aber meine Mutter hatte wenigstens die Güte ihn mir ordentlich vorzustellen. Ich hatte nicht wirklich etwas gegen ihn. Er hatte sich bisher aus meinem Leben raus gehalten und behandelte meine Mutter augenscheinlich gut. Hoffentlich blieb das einfach so, dann kam ich mit ihm klar. Rei allerdings kannte ich noch nicht. Mutter hatte erwähnt, dass er einen Sohn hätte, aber ich sah ihn jetzt zum ersten Mal. Und irgendwie kam er mir bekannt vor. Nebenbei erwähnt kam ich mir vor wie in einem schlechten Film. So einem Patchwork Film, in dem die Kinder erst am Tag des Umzugs erfuhren, dass sie umzogen und dann auch erst die anderen Kinder kennenlernten. Nun, zumindest die Hälfte von diesem Szenario bewahrheitete sich für mich. Irgendwie nahm ich meiner Mutter das übel, aber vielleicht war es letztendlich doch besser gewesen. So hatte ich mich nicht schon früher über den Kerl aufregen können. Mutter kannte mich eben gut.   "Hn.", antwortete ich, weil wohl erwartet wurde, dass ich irgendwie bestätigte, dass ich die Informationen erhalten und verarbeitet hatte. Als würde irgendwer angst haben, dass ich nicht zuhörte. Blödsinn. Nur, weil man nicht viel redete, hieß das noch längst nicht, dass man nicht zuhörte. Im Gegenteil. Wenn man seine Kapazitäten nicht mit reden verschwendete, war man wesentlich aufmerksamer. Außerdem behielt man nur die Kontrolle über eine Situation, wenn man wusste, was um einen herum passierte. Wahrscheinlich war ich also aufmerksamer als die meisten anderen meines Alters. Aber woher sollte Kon das wissen?   Rei reagierte nur mit einem freundlichen Lächeln und einer kleinen Verbeugung. Der sagte gar nichts, was mich zugegeben ein wenig irritierte. Von mir wurde eine Antwort erwartet, aber der Kerl kam mit einem dämlichen Lächeln durch?   "Rei redet nicht, Schatz." Konnte meine Mutter nicht endlich mit diesen dämlichen Spitznamen aufhören? Ich war 17! Aber Moment... Fragend sah ich zu meiner Mutter empor, die mich auch verstand, ohne, dass ich es explizit aussprechen musste. Ich hatte sie eben gut erzogen. "Man weiß nicht genau warum. Du redest ja auch nicht viel. Ich denke also, ihr werdet euch schnell verstehen." Ja, natürlich. Weil das ja auch so funktionierte. Jugendliche brauchten ja nur die Illusion einer gemeinsamen Schnittstelle um miteinander klar zu kommen. Sicher. So funktionierte die Welt. "Schau nicht so Kai. Ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen." Das klang doch schon viel realistischer. Hoffentlich war das Haus groß genug, dass wir beide eigene Zimmer bekamen und nicht irgendwer auf die Idee gekommen war, uns zwangsweise zu sozialisieren, indem man uns in einen Raum zwängte. Das wär's ja noch.   Glücklicherweise stellte sich diese Befürchtung als irrtümlich heraus. Sehr schön. Ich zog die Tür hinter mir zu, schloss ab, baute zu aller erst meine Stereoanlage auf und machte mir Musik an. Da ich absolut keine Lust darauf hatte mit irgendwem zu interagieren, drehte ich die Musik nicht so laut auf, dass es irgendwen stören könnte. So würde keiner her kommen und sich beschweren wollen. Das dämliche Gehämmer und Geschreie gegen meine Tür verursachte nur Kopfschmerzen.   Es klopfte dennoch kurze Zeit gegen meine Tür. Es war etwas zögerlich und leise. Konnte nicht meine Mutter sein und Jongdae klopfte sicherlich auch energischer. Blieb nur einer übrig. Prima. Es klopfte noch einmal genauso leise und ich seufzte. Dafür hatte ich wirklich keinen Nerv.   Schwungvoll zog ich die Tür auf. Er sollte nicht denken, dass ich das hier gerne tat. "Was?" Rei lächelte nur. Ich hasste dieses Lächeln jetzt schon. Dann machte er eine Geste, die mir wohl sagen sollte, dass ich die Musik leiser machen sollte. Er fuchtelte auch etwas mit den Händen herum. War wohl so was wie Zeichensprache. Die sollte ich wohl besser lernen, wenn ich ihn künftig verstehen wollte. Kontrolle behalten und so... ihr wisst schon.   "Spucks aus, wenn du was willst!", knurrte ich aber nur. Ich hatte ihn verstanden, ja, aber das hieß sicherlich nicht, dass ich es ihm einfach machte. Wenn es keinen offensichtlichen Grund gab, warum er nicht sprach, dann musste es psychisch sein. Das wiederum bedeutete, dass er reden konnte, wenn er wollte. Er wollte nur eben nicht. Sein Entscheidung, aber ich würde ihn sicherlich nicht darin unterstützen. Rei deutete auf seine Ohren und machte die Geste zum leiser drehen der Musik erneut. Ja, ich wusste, dass es in seiner Blutslinie etwas vererbt wurde, das dafür sorgte, dass jeder in seiner Familie ein empfindliches Gehör hatte. Genauso wie einen besseren Geruchssinn. Die Augen waren im Allgemeinen wohl auch besser, aber sie waren leicht Farbenblind, weshalb sie hohe Kontraste bevorzugten. Man nannte die Angehörigen dieses Erbes oft Katzenmenschen, weil die Merkmale die gleichen wie bei einer Katze waren. Meine Mutter hatte mir davon erzählt, weil sie das besonders attraktiv an Jongdae fand. Ich hatte dazu ehrlich gesagt keine Meinung, aber ich verstand, dass Rei Musik so schlechter ertrug als andere und da unsere Zimmer direkt nebeneinander lagen, fühlte er sich wohl gestört. Vielleicht lösten zu laute Töne Kopfschmerzen bei ihm aus? Möglich wäre es. Das menschliche Gehirn war nicht auf solche Belastungen ausgelegt. War allerdings nicht mein Problem.   "Red mit mir oder verschwinde. Ich hab für so was keinen Nerv!" Ich wollte ihm die Tür schon vor der Nase zu werfen, doch er fing sie einfach ab. Mit einer Hand und das ohne jegliche Mühe. Oh ha, der Kerl war stark. Ich ließ ihn die Tür aufdrücken, einfach nur um zu sehen, was er vor hatte. Er schob mich stoisch beiseite und ging zu meiner Musikanlage. Dann drehte er die Musik... lauter? Er schenkte mir ein kurzes Lächeln und rauschte dann wieder aus dem Zimmer. Mit einem leisen Klick fiel die Tür ins Schloss und ließ mich vollkommen verwirrt zurück. ... Na wenigstens hatte der Kerl die Eier in der Hose sich durchzusetzen wenn er wollte. Trotzdem wurde ich aus ihm nicht schlau.   Ich räumte weiter mein Zeug in mein neues Zimmer und fand dabei mehr zufällig ein Bild von Yuriy. Ja! Natürlich! Ich weiß wieder, woher ich Rei kenne! Schwarze, lange Haare, weiße Kleidung und goldgelbe Augen. Er war derjenige, der gesehen hatte, wie Yuriy mich geküsst hatte! ... Oh scheiße. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass der Kerl nicht sprach.   *   Der Schulwechsel war für mich kein Problem. Ich hatte genauso viele Freunde dort wie vorher. Nämlich gar keine. Ich war nicht so verzweifelt unbedingt Freunde zu brauchen und gab mich deshalb nur mit Menschen ab, die mir zu hundert Prozent in den Kram passten und das waren definitiv nicht viele. Yuriy war einer davon, aber der war noch nie mit ihm auf eine Schule gegangen. Ich mochte an ihm, dass er einfach so war, wie er war, ganz ohne sich zu verstellen. Er war verkorkst, ja, aber er stand dazu. Das war eine Eigenschaft die ich sehr schätzte. Solange Yuriy mit sich selbst klar kam, änderte er nichts an sich. Fand er eine Eigenschaft, die ihn selbst störte, arbeitete er an sich, bis er diese überwunden hatte. Außerdem verstand Yuriy mich und war allgemein unkompliziert. Ich konnte ihm an den Kopf werfen, was ich wollte, es interessierte ihn nicht. Er wusste, dass wir Freunde waren und dass sich daran nichts änderte, solange wir das nicht eindeutig so aussprachen. Wir beide waren gut darin, die Launen des jeweils anderen einfach zu ertragen. Ein zusätzlicher Punkt war, dass Yuriy nicht versuchte mich zu ändern. Er nahm mich so wie ich war und das war angenehm. Selbst meine Mutter schaffte das nicht, die der festen Überzeugung war, dass ich nicht sozial genug war und zu wenig redete. Sie behauptete immer, dass sie sich deshalb Sorgen um mich machte, aber ich war mir sehr sicher, dass sie selbst es einfach nur merkwürdig und anormal fand.   Ich hatte auch noch eine Handvoll anderer Freunde, aber die waren ehrlich gesagt nicht der Rede wert. Yuriy war der wichtigste von ihnen.   Ich war also nicht enttäuscht, dass ich niemanden fand, der mich interessierte. In der Pause suchte ich mir einen neuen Stammplatz, an dem ich essen konnte ohne gestört zu werden und verbrachte den Rest der Zeit damit, Menschen von mir fern zu halten, die dachten, dass sie sich 'den Neuen' mal ansehen sollten, um ihn für sich zu gewinnen oder in die Klassengemeinschaft einzuführen. In spätestens einer Woche sollten sie alle begriffen haben, dass ich kein geselliger Typ war und mich dann in Ruhe lassen.   Rei war mit in meiner Klasse und schien schon länger auf der Schule zu sein. Man kannte ihn auf jeden Fall und das nicht gerade im Guten. Seine Weigerung zu sprechen, machte ihn zu einem Außenseiter. Ich hörte Schüler in mehreren Stufen und Klassen darüber flüstern, dass er seltsam war. Er grenzte sich selbst aus damit und schien auch nicht erpicht darauf zu sein, Freunde zu finden. Das war nicht mein Problem, aber es irritierte mich, weil mir das immer freundliche Lächeln in den Sinn kam. Jemand mit so einer Ausstrahlung wie er, müsste es eigentlich sehr leicht damit haben, Freundschaften zu schließen. Ich begann langsam wirklich mich zu fragen, was mit diesem Kerl nicht stimmte. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, warum mich das überhaupt interessierte.   *   Genervt saß ich in der Küche und starrte aus dem Fenster. Es war ein angenehmer Raum. Er war hell und warm. Ich war mir nicht sicher ob ich ihn mochte, weil er mich zu sehr an die Art Küche erinnerte, die man in Werbungen sah, wenn einem eine glückliche, voll funktionierende Familie vorgegaukelt wurde. So eine Familie mit 1,75 Kindern, einem Hund und einem Haus. So eine Familie eben, die einfach nicht existierte. Aber ich hatte es satt immer nur in meinem Zimmer zu sitzen und außer mir und Rei war sowieso niemand im Haus. Also warum nicht?   Es nervte mich, dass mir das Geld für die Busfahrt fehlte. Durch den Umzug war Mutter knapp bei Kasse und konnte mir kein Taschengeld geben. Ich hatte dem zugestimmt, obwohl ich wusste, was das bedeutete. Ich hatte Yuriy schon seit einem Monat nicht mehr gesehen und war auch so eigentlich nicht draußen gewesen. Ich wusste einfach nicht, was ich alleine anfangen sollte. Durch die Stadt wandern? Wofür? Da konnte ich auch zu Hause bleiben und lernen.   Ein dumpfes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Als ich meinen Kopf wandte, stieg mir der Geruch von warmem Kakao in die Nase. Rei stand am anderen Ende des Tisches und lächelte mich an. Wie sehr ich dieses Lächeln doch hasste. Es ging mir auf die Nerven, auch wenn ich nicht genau sagen konnte warum. Kein Mensch konnte dauernd so fröhlich sein! Vor allem nicht, wenn er nicht sprach. Und seine ständige Höflichkeit ging mir auch auf die Nerven. Warum hatte er mir einen Kakao vor die Nase gestellt? Um mich aufzumuntern? Warum? Ich war noch nicht eine Minute lang freundlich zu ihm gewesen. Ich hatte kaum mit ihm gesprochen. Warum war er so ekelhaft freundlich zu mir? Das ergab keinen Sinn!   "Verpiss dich", zischte ich nur und sah wieder aus dem Fenster. Er ging zur Küchenzeile und begann herum zu werkeln. Vermutlich kochte er Abendessen. Rei konnte gut kochen. Wirklich sehr gut. Und aus irgendeinem Grund nervte mich sogar das an ihm.   Der Kakao in meiner Hand fühlte sich angenehm warm an und gedankenverloren nahm ich einen Schluck. Er war genau richtig. Wie ätzend. Es verging eine Weile, in der nur die Geräusche des Kochens den Raum erfüllte und obwohl ich es gewohnt war zu schweigen, kannte ich diese Stille nicht. Immer wenn ich allein mit jemandem im Raum war, begann der früher oder später zu sprechen, weil er nervös wurde oder das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. So wurde immer geredet, wenn ich anwesend war, aber die Situation jetzt war neu. Diese Stille war bedrückend, auch wenn ich nicht genau sagen konnte wieso. Und so brachte mich Rei dazu etwas zu tun, was ich eigentlich gar nicht wollte. "Du hast nicht gerade viele Freunde, oder?" Es kam keine Reaktion. Rei machte einfach weiter, als hätte er mich nicht gehört. Also sprach ich einfach weiter und blickte dabei weiter aus dem Fenster. "Habe ich auch nicht. Ich finde, das ist nichts verwerfliches. Aber du scheinst mir doch eher jemand zu sein, der gerne viele Menschen um sich hat. Mir gehen Menschen meistens einfach nur auf die Nerven." Rei kochte einfach weiter. Wie unhöflich. "Aber selbst ich habe jemanden den ich mag. Und wenn jemand wie ich so jemanden finden kann, warum dann nicht auch jemand wie du? Du müsstest es so viel einfacher haben, als ich." Doch er antwortete nicht. Natürlich nicht. Das war wirklich frustrierend...   *   Es klopfte an meiner Zimmertür. Es war ein energisches klopfen, also konnte es nicht Rei sein. Ich stellte die Musik leiser, legte mein Buch zur Seite und stand aus dem Bett auf. Als ich die Tür öffnete sah ich Jongdae. Was wollte der denn von mir? Wollte er sich jetzt doch einmischen? Bisher hatte er sich wirklich erfolgreich raus gehalten. Es wäre mehr als enttäuschend, wenn er das jetzt ändern würde. "Ich hoffe ich störe nicht." Wenn er das getan hätte, hätte ich ihm das gesagt oder gar nicht erst die Tür aufgemacht. Was für eine unnötige Frage. "Ich wollte dir das hier geben." Eher desinteressiert blickte ich auf seine ausgestreckte Hand, in der sich ein paar Scheine befanden. Fragend sah ich wieder zu ihm auf. Wofür sollte das denn jetzt sein? "Ich habe mitbekommen, dass Nastja dir momentan kein Taschengeld geben kann und weil wir doch jetzt eine Familie sind..." Ich ließ ihn gar nicht erst aussprechen. "Brauche ich nicht." Als bräuchten wir Almosen von irgendeinem Kerl. Mutter konnte gut alleine für uns sorgen. Der sollte sich da nicht einmischen! "Schau mal... Rei hat gesagt du würdest gerne einen Freund besuchen. Also hat er zugestimmt, dass du die Hälfte von seinem..." Ich schlug seine Hand weg. Nicht so fest, dass das Geld durch die Gegend flog, aber dennoch mit genug Nachdruck, dass er verstand, dass ich das Geld nicht wollte. Danach warf ich ihm die Tür vor der Nase zu und schloss ab. So weit kam es noch, dass er so was annahm! Rei ging ihm langsam wirklich auf die Nerven!   *   Irgendwann hatte das passieren müssen. Und obwohl ich das wusste, war ich dennoch etwas erschrocken. In einem vier Köpfe Haushalt und nur einem Badezimmer, musste es irgendwann einmal passieren, dass man jemand anderen darin antraf, weil der vergessen hatte, abzuschließen. Rei war gerade aus der Dusche gestiegen und war dabei sich abzutrocknen. Seine unnötig langen Haare klebten an seinem gesamten Körper, der, zugegeben, nicht gerade unattraktiv war. Ich hätte ihn gerne genauer begutachtet, aber er schlang sich wie ein Mädchen das Tuch um seinen Körper. War ja fast niedlich wie schüchtern der war. "Ich schau dir schon nichts weg.", sagte ich und verdrehte einfach nur die Augen. Doch Rei rührte sich nicht und sah unsicher an mir vorbei. Er wurde nicht rot, aber ich sah die Scham in seinen Augen. Im ersten Moment dachte ich, er wäre wirklich einfach nur schüchtern. Auf den zweiten Blick erkannte ich aber, was er zu verstecken versuchte. Ich hatte mich schon immer gefragt, warum er ständig lange Kleidung trug, jetzt wusste ich es. Über seinen Oberkörper und seine Arme verteilt, sah man überall blaue Flecken. Manche waren schon am verblassen, andere schienen sehr frisch. Von wem kam das? Von seinem Vater? Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Das hätte ich mitbekommen. Unsere Zimmer waren schließlich direkt nebeneinander und ich war öfter zu Hause als unsere Eltern. Außerdem wirkte der Kerl definitiv nicht wie der Typ dafür. Wer also dann? Wenn es Schnittwunden wären, hätte ich sofort darauf getippt, dass er das selbst gewesen ist. Jemandem der ständig lächelt und sich für andere aufopferte, traute ich sofort zu, dass er so etwas tun würde. Aber sich selbst Hämatome zuzufügen, war wahrscheinlich nicht so einfach, wie sich zu schneiden. Deshalb schloss ich das eigentlich aus. ... Egal wer es war und warum, es ging mich nichts an. Nach ein paar Sekunden starren, drehte ich mich einfach um. "Sag Bescheid, wenn du fertig bist." Und damit ging ich wieder in mein Zimmer.   *   "Na los, sag doch, wenn es dir nicht gefällt" Es war mehr Zufall, dass ich mich in einem Teil des Schulhofes bewegte, den ich sonst nicht betrat. Hier war zu viel los, aber ich suchte einen Lehrer, der Pausenaufsicht hatte, weil ich mit ihm reden musste. Erst hatte ich den Kreis von Schülern gar nicht beachtet, aber die Wortwahl weckte meine Aufmerksamkeit. Ich ging näher heran um sehen zu können, was da abging. "Du sagst ja gar nichts. Also gefällt dir das wohl, was?" Die Jungen lachten, während ein anderer Junge in ihrer Mitte hin und her geschubst wurde. Es war Rei.   "Hey, was macht ihr da?" Der Trubel stoppte und sie sahen mich an. "Wir spielen nur, stimmt's?" Und damit sah der Redner in die Runde und letztendlich zu Rei, der nur zusammengekauert in der Mitte stand und gar nichts tat. "Na, da siehst du es. Wir haben viel Spaß miteinander." Der Redner zog Rei zu sich und schlang einen Arm um dessen Nacken. Es sollte wohl wie eine Kumpelhafte Umarmung aussehen, wirkte aber eher wie ein Schwitzkasten. "Lass ihn los." Der Redner und wohl auch Anführer der Truppe grinste nur: "Warum? Er hat doch Spaß mit uns. St..." Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, hatte ich ihn schon geschnappt, hatte Rei befreit und ihn zu Boden befördert. Er stammelte irgendwas abfälliges und erfand eine Ausrede, weshalb er jetzt unbedingt weg musste und verschwand dann. Seine Mitläufer gingen natürlich auch.   In Reis Augen sah ich die gleiche Scham, wie vor einigen Tagen im Bad. Damit war das Geheimnis also gelüftet. Er sah mich nicht an, zitterte aber leicht. Warum wehrte er sich denn nicht? Ich verstand diesen Kerl nicht. Er war stärker als ich und könnte diese Schlaffis mit Leichtigkeit vertreiben. Aber es ging mich nichts an. Deshalb ging ich einfach.   *   Ich hörte das Klopfen beinahe nicht, weil es kaum die Musik übertönte. Ich saß gerade an meinem Schreibtisch um zu lernen. In einer Woche stand eine wichtige Prüfung an. Es war der Abend, nachdem ich meinem baldigen Stiefbruder geholfen hatte. Die Sonne war längst untergegangen. Ich stellte die Musik leiser und öffnete die Tür. Es erstaunte mich nicht Rei zu sehen. Er sah mich an. Die Freundlichkeit, die er sonst ausstrahlte, war anscheinend komplett verschwunden. Mir blickten stumpfe Augen entgegen. Skeptisch hob ich eine Augenbraue, trat aber einen Schritt zurück um ihn herein zu lassen. Als ich die Tür wieder geschlossen hatte, sah ich ihn abwartend an. Er wirkte zögerlich. Nachdem ich einige Minuten einfach nur dagestanden und ihn beobachtet hatte, kam er langsam auf mich zu. Er sah mich nicht an. Als er vor mir stand, so dicht, dass kaum noch etwas zwischen uns passte, lehnte er sich langsam vor und verweilte so. Mit einem leicht genervten Seufzen hob ich meine Arme und legte sie um ihn, gab ihm somit die Umarmung die er sich offensichtlich wünschte. War ich neuerdings Babysitter?   Als ich spürte, wie meine Schulter langsam feucht wurde, legte ich eine Hand auf seinen Hinterkopf und streichelte ihn langsam. So was aber auch...   Nun ja... wenigstens zeigte er jetzt endlich sein wahres Gesicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)