Höllenfeuer von Feldteufel ================================================================================ Kapitel 9: Kapitel 09 --------------------- Kapitel 09 Bereits beim Öffnen der hölzernen Tür war klar, dass es sich um einen Pub und nicht um einen edlen Club handelte. Sofort wehte Artemis, Marylin und Chino dichter Rauch entgegen, die Luft roch nach verschüttetem Bier. Lautstark wurde an einigen Tischen Karten gespielt, wobei die Besucher vorrangig Männer waren. Einige von ihnen schauten auf, als sie das ungewöhnliche Trio eintreten sahen, widmeten sich allerdings bald wieder ihren eigenen Belangen. Eine weibliche Bedienung nahm an der Theke die Bestellungen entgegen. Während sich Artemis und Chino an einen unauffälligen Tisch im hintersten Bereich des Pubs zurückzogen, bestellte Marylin Getränke und etwas zu Essen. Artemis nutzte die Gelegenheit, um sich noch einmal alleine mit Chino zu unterhalten, nachdem er sich einige Schmerztabletten eingeworfen hatte. „Ihre Stimmungsschwankungen machen mir ein wenig Angst.“ „Es ist normal, dass sie von dem einen auf den anderen Moment instabil wirkt. Solange sie von dem, was sie erlebt hat, einigermaßen abgelenkt wird, geht es ihr gut. Sobald sie sich allerdings an den Mord an ihrem Kollegen erinnert, droht sie zusammen zu brechen oder fängt an zu weinen. Um darüber hinweg zu kommen, sollte man ihr schon mehr als ein paar Tage Zeit einräumen.“ „Du glaubst also, dass sie bald wieder ganz normal sein wird?“ „So wie ich sie bisher kennen gelernt habe, ist Marylin eine sehr starke Persönlichkeit. Sie wird wieder, aber es wird für immer etwas von dem, was sie gesehen hat, in ihr zurück bleiben. Ich würde die Möglichkeit, dass sie den Polizeidienst quittiert, nicht ausschließen. Aber sie ist weder ein völliges psychisches Wrack, noch wird sie jemals eines sein. Ihr wechselndes Gemüt ist gut nachvollziehbar, manche brauchen einige Tage, andere Monate, Jahre oder ein ganzes Leben, um mit so etwas klar zu kommen.“ „Gut, dann spricht ja nichts dagegen wenn...“ „Vergiss es!“, unterbrach Chino Artemis zischend. „Vorhin habe ich es dir bereits einmal gesagt und ich sage es dir wieder. Solltest du sie behandeln wie die anderen Frauen, die du spontan anbaggerst, könnte das durchaus negativen Einfluss auf sie nehmen. Sie ist psychisch noch zu labil. Du weißt nicht, was du damit anrichten könntest. Das weißt du nie, wenn du dich an eine Frau ran machst.“ Artemis wartete erst einige Sekunden abschätzend ab, dann lächelte er Chino herausfordernd an. „Du bist wohl noch nie scharf auf eine Frau gewesen, was? Wenn du sogar in deinem Kittel in einen Pub gehst, wird das auch nie was.“ „Im Gegensatz zu dir, mein lieber Artemis, weiß ich sehr wohl, wie es ist, eine Frau zu lieben und sie entsprechend zu behandeln“, erwiderte Chino mit einem gespielt herablassenden Ton. Zuerst wirkte Artemis etwas überrascht, dann klopfte er Chino anerkennend auf die Schulter. „Du hast eine Freundin?“ „Es ist nicht bloß eine Freundin. Ihr Name ist Maria.“ „Warum haben wir diese Maria denn noch nie kennen gelernt? Nicht, dass sie nur in deiner Phantasie existiert.“ „Sie ist nicht bloß reine Phantasie.“ Nun wirkte Chino leicht beleidigt. „Sie ist real. Und die schönste Frau, die auf dieser Welt existiert. Ihr habt sie noch nicht zu Gesicht bekommen, weil ich nicht will, dass sie jemand so sieht.“ „Was meinst du mit "so sieht"?“ „Maria... Sie ist... nicht ganz bei sich, könnte man sagen.“ „Deine Freundin ist eine Irre?“, platzte Artemis heraus, obwohl er sich eigentlich hatte zurück halten wollen. „Sie ist keine Irre! Sie ist von dem einen auf den anderen Tag verstummt und hat sich komplett in sich zurückgezogen. So sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht, bis zu ihr vorzudringen. Aber das ist etwas, das du nicht verstehen kannst. Nicht bei deinen Weibergeschichten.“ „Ich kann dich sehr wohl verstehen. Auch in meinem Leben gibt es eine Frau, die ich über alles liebe.“ „Du?“, fragte Chino und fing an zu lachen. „Niemals.“ „Es ist aber so. Ob du es glaubst oder nicht.“ „Das tue ich tatsächlich nicht.“ „Dann lass es bleiben“, seufzte Artemis genervt und beobachtete, wie sich Marylin ihren Weg zu ihnen durch den Irrgarten aus Tischen bahnte. In ihren Händen hielt sie einige Gläser und eine große Schale. Wenig später standen drei Bier und eine große Portion panierter Fisch und fettige Pommes vor ihnen. „Es sieht zwar nicht so aus, aber hier bekommt man das beste Bier und die Fish 'n Chips sind geradezu legendär.“ Etwas angewidert schaute Artemis dabei zu, wie Marylin Essig über die Pommes schüttete und sie danach mit Salz geradezu bombardierte. Genüsslich schob sich die Blondine einige Fritten in den Mund und spülte diese mit einem ordentlichen Schluck Bier herunter. Danach leckte sie sich genüsslich über die Finger. „Das ist so gut... Das Essen in der Anstalt war der reinste Horror.“ „Kann ich mir vorstellen“, bemerkte Artemis und nahm sich ebenfalls einen Pommes. „Dass das hier besser sein soll bezweifle ich allerdings.“ „Probieren Sie es doch erst einmal.“ Der kleine Ausflug, den Artemis mit Marylin und Chino veranstaltete sollte vorrangig dazu dienen, die Polizistin etwas abzulenken. Anscheinend verwirkte der Abend in einem von Marylin gewählten Pub seine Wirkung nicht. Marylin lachte inzwischen wesentlich häufiger und ließ sich darauf ein, wieder Dinge zu tun, die normale Menschen in ihrem Alter unternahmen. „Solange Sie es nicht probiert haben, können Sie es ja wohl auch nicht nicht mögen oder?“ „Da ist etwas dran. Aber bitte, duzen wir uns doch“, schlug Artemis vor, während er den Pommes aß. „Ich finde es schrecklich, von einer so jungen und hübschen Dame gesiezt zu werden, da fühle ich mich gleich um Jahre gealtert.“ Chino verdrehte genervt die Augen und versetzte Artemis unter dem Tisch einen kleinen Tritt. Marylin dagegen starrte verlegen ihr Bier an und drehte das Glas zwischen ihren Fingern. „Wenn es für Sie... Ich meine für dich in Ordnung ist.“ „Das ist es ganz bestimmt.“ Für einen Augenblick beherrschte eine peinliche Stille die Drei, bis Marylin erneut das Gespräch suchte. „Wir übernachten wirklich im Hotel Savoy?“ „Sicher. Das Zeug schmeckt übrigens schrecklich.“ Marylin ließ ein belustigtes Kichern hören, dann nahm sie sich noch einige Pommes. Das Zeitungspapier, mit dem die Schale ausgekleidet war, hatte sich inzwischen mit Fett vollgesogen und sie musste es mühsam entfernen, bevor sie die Pommes ohne Bedenken essen konnte. „Wie schaffst du es nur, so dünn zu bleiben bei dem Essen?“ „Ich mache viel Sport.“ „Ich auch. Was für Sport?“ „Vorrangig gehe ich oft laufen. In einem Verein Sport zu machen oder so kann ich mir nicht leisten.“ „Was für ein Zufall, ich gehe ebenfalls regelmäßig laufen.“ Zwar hörte Artemis, wie Chino ein gereiztes Stöhnen von sich gab, er ignorierte dieses allerdings. Momentan hatte er nur Augen für diese wunderschöne Frau, die gerade vor ihm saß. Natürlich, sie kam keinesfalls an Lydia heran, aber so eine Frau wie Lydia ein zweites Mal zu finden, hätte auch an ein Wunder gegrenzt. „Vielleicht können wir ja mal zusammen laufen gehen.“ „Nimm es mir bitte nicht übel, aber... Ich weiß, wie Männer wie du drauf sind.“ Mit gespielter Empörung wich Artemis zurück, legte sich eine Hand auf die Brust und leerte sein Glas Bier. Danach wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und grinste Marylin spöttisch an. Chino hingegen wirkte offensichtlich belustigt, denn er musste sich bereits die Hand vor den Mund halten, um nicht laut los zu lachen. „Männer wie ich?“ „Ach komm schon. Ich bin doch nicht blöd. Außerdem kann ich dir versichern, dass ich auf keine einzige deiner Anmachen eingehen werde“, sagte Marylin und leerte ebenfalls ihr Bier. Anstatt weiterhin auf den verwunderten Artemis einzugehen, begutachtete sie das noch immer volle Glas, das vor Chino stand. „Trinken Sie nichts?“ „Mich können Sie ebenfalls gern duzen. Aber um auf ihre Frage zurück zu kommen, ich trinke keinen Alkohol.“ „Entschuldige, das hätte ich vorher auch fragen können, anstatt dir einfach irgendein Getränk vor die Nase zu stellen.“ Da Marylin sichtlich betrübt wirkte, hob Chino beschwichtigend die Hände, um die junge Frau zu beruhigen. „Aber nicht doch. Das ist schon in Ordnung, immerhin hätte ich es dir auch vorher sagen können. Ich bin generell nicht durstig im Moment, das hätte ich viel eher erwähnen sollen.“ Artemis, der noch immer an Marylins Abfuhr zu arbeiten hatte, nahm Chinos Glas und trank es leer. Danach stand er auf, schnappte sich die drei Gläser und deutete in die Richtung des Tresens. Während Marylin sich noch ein Bier genehmigen wollte, lehnte Chino weiterhin ab. Nur mühsam gelang es Artemis, sich an den Tischen und den anderen Besuchern vorbei zu winden, damit er an den Tresen gelangen konnte. Der Pub schien geradezu unter der hohen Anzahl an Gästen zu zerbersten, was seiner Meinung nach höchstens an dem Bier, jedoch kaum an dem Essen liegen konnte. Artemis stellte die drei Gläser auf der Theke ab und orderte zwei neue. Als diese vor ihm abgestellt worden waren, wollte er sich gerade zum Gehen wenden, als ihm der Mann auffiel, der neben ihm stand. Die ganze Zeit während der Bestellung über hatte er ihn mit einer unangenehmen Genauigkeit geradezu observiert und das war etwas, das Artemis gar nicht mochte. Zudem wirkte der Mann eigenartig. Offenbar war er nicht nur Artemis aufgefallen, sondern auch den übrigen Besuchern. Der Priester war nicht der einzige, der den Unbekannten misstrauisch musterte. Die Stimmung war angespannt, es war, als würde der Duft von Ärger in der Luft liegen. Die langen, hellblonden Haare des Mannes und ein Paar grüner Augen waren alles, was unter seiner Kleidung hervor schaute. Er war in ein dreckiges, langes graues Gewand gewickelt, das bis zum Boden reichte. Seine Schuhe sahen aus wie die eines Artisten aus einem Zirkus, mit einer grünen aus Samt gefertigten Oberfläche und leicht gebogener Spitze. Als er eine seiner Hände hob, um den oberen Teil seines Gewandes vor seinem Mund zu entfernen, konnte Artemis die gebräunte Haut erkennen, die sogar noch einige Nuancen dunkler war als die von Chino. Zusammen mit dem blonden Haupthaar wirkte es etwas grotesk, als Artemis das sonnengegerbte Gesicht des Mannes vor sich sah. Dafür, dass er in solche Lumpen gekleidet war, sah er doch recht gepflegt aus. „Sind Sie ein Priester?“, wollte der Mann wissen, noch bevor Artemis ihn fragen konnte, warum er ihn so dämlich anstarrte. „Warum wollen Sie das wissen?“ „Bitte, wenn Sie ein Priester sind, dann sind Sie meine letzte Hoffnung.“ Die Stimme des Mannes wies einen eigentümlichen Akzent auf, den Artemis nicht deuten konnte. Dafür war sein Englisch definitiv nicht gut genug. „Meine Tochter... bitte, helfen Sie ihr.“ „Wenn Sie so dringend einen Priester benötigen, warum suchen Sie ausgerechnet in einer Kneipe?“ Artemis' Skepsis nahm mit jeder Sekunde zu. Er hatte keine Lust, so spät am Abend noch eine Predigt oder Messe abzuhalten, nur weil die Tochter irgendeines armen Schluckers aus irgendwelchen Gründen Trost benötigte. Außerdem war er der Meinung, dass seine Kopfschmerzen wieder zugenommen hätten. Alkohol und Tabletten vertrugen sich wohl wirklich nicht. „Tut mir leid, aber ich habe Feierabend.“ Als Artemis sich umdrehte um zu gehen, packte ihn der Fremde am Arm und hielt ihn so zurück. „Bitte, bitte, helfen Sie meiner Tochter.“ „Lassen Sie mich los“, forderte Artemis und hatte damit Erfolg, der Mann ließ seinen Arm wieder frei. „Ich habe es Ihnen eben schon einmal gesagt. Ich bin heute nicht mehr im Dienst.“ „Aber meine Tochter... Sie ist von einem Dämon besessen.“ Schlagartig hielt Artemis inne. Selbst wenn dieser fremde Mann der größte Spinner auf Erden sein sollte, musste er solche Aussagen ernst nehmen. Wann immer eine Person von einem Dämon besessen sein könnte und jemand aus der geheimen Abteilung vor Ort war, musste der betroffene Priester dieser Spur nachgehen. Das war einer der Nachteile, die dieser Job mit sich brachte. Jeder Hinweis auf Dämonen war wichtig und durfte nicht einfach abgetan werden. Leider gab es keine Möglichkeit, die Ernsthaftigkeit der jeweiligen Besessenheit zu prüfen. Manchmal wiesen die Betroffenen Verhaltensweisen auf, die wie aus billigen Romanen nach gespielt wirkten, andere hingegen konnten jahrelang vor sich hin leben, ohne dass jemand gemerkt hätte, dass ein Dämon den Körper des Menschen besetzt hielt. Außer Frage stand, dass diejenigen Dämonen, die sich auffällig verhielten, eindeutig die geringeren Überlebenschancen besaßen. Meistens handelte es sich dabei um schwache Dämonen, denn wirklich starke Exemplare, wie etwa Chino, lebten schon seit Jahrhunderten und wandelten noch immer unentdeckt unter den Menschen. „Woher wissen Sie, dass es sich um einen Dämonen handelt?“ „Sie benimmt sich komisch. Redet auf Sprachen, die sie nicht kennt, spuckt um sich und schreit Namen, die mir völlig fremd sind.“ „Litt Ihre Tochter in der Vergangenheit an Schizophrenie oder einer anderen psychischen Erkrankung?“ „Nein.“ Mit einem heftigen Kopfschütteln unterstrich der Fremde seine Aussage. „Niemals. Es ist, als wäre sie von innen heraus völlig ausgetauscht worden. Sogar mich wollte sie angreifen und töten, ihren eigenen Vater.“ „Verdammt“, flüsterte Artemis und schaute kurz zu Chino und Marylin hinüber. „Warten Sie kurz, ich komme gleich zurück.“ Indem er sich ein weiteres Mal durch die Massen drängelte, diesmal wesentlich aggressiver als zuvor, kämpfte sich Artemis zurück zu seinen beiden Begleitern. „Wer ist denn das?“, fragte Chino skeptisch. „Ich würde mich nicht mit dem zusammen sehen lassen wollen, so wie die Leute den anstarren. Als ob sie jeden Augenblick auf ihn einprügeln würden.“ „Da sagst du was. Der Mann hat mich gerade darauf angesprochen, dass seine Tochter von einem Dämon besessen sei. Ich fürchte, dass ich dem nachgehen muss.“ „Du treibst einen Dämon aus?“ Marylins Augen waren vor Faszination so groß geworden, dass Artemis meinte, sich darin spiegeln zu können. „So etwas gibt es?“ „Na ja...“ Voller Unbehagen wand sich Artemis noch einmal zu dem Fremden um, welcher ihm erwartungsvoll entgegen blickte. „Ich erkläre dir das ein anderes Mal. Umso schneller ich mit ihm gehe, desto eher bin ich wieder zurück. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern.“ „Meinst du, dass es klug ist, alleine mit dem Typen zu gehen? Es könnte eine Falle sein. Irgendwie kommt er mir seltsam vor. Wer sucht schon spät abends in einem Pub nach einem Priester. Vielleicht wäre es besser, wenn dich jemand begleitet.“ „Nein, auf keinen Fall“, wehrte Artemis ab und sein Blick fiel auf Marylin. „Wenn ich unsere Zeugin in Gefahr bringe, würde ich mir das nie verzeihen. Und Ethos erst recht nicht.“ „So habe ich das auch nicht gemeint“, sagte Chino erbost, als ob alleine der Gedanke daran, Marylin zu einer Austreibung mitzunehmen, eine schwere Straftat darstellte. „Ich kann auf mich aufpassen“, protestierte Marylin. Da sie in Windeseile das zweite Bier ausgetrunken hatte, vermutete Artemis, dass sie bereits leicht angetrunken war. Je nachdem, welche Charaktereigenschaften in diesen Zustand bei ihr hervortraten, konnte die Diskussion sehr einfach oder verdammt schwer mit ihr werden. Immerhin vergriff sie sich ebenfalls an dem Bier, das für Artemis gedacht war. Es schien, als versuche sie, sich Mut an zu trinken. Artemis kam eine Idee. „Komm doch einfach mit Chino und mir mit. Ich habe es mir anders überlegt.“ Was Marylin ein freudiges Strahlen entlockte, ließ bei Chino sämtliche Gesichtszüge entgleiten. Noch bevor er lautstarken Protest einlegen konnte, zwinkerte Artemis ihm kurz zu. Chino beruhigte sich daraufhin wieder und erhob sich, damit sie gehen konnten. Wie ein kleines Mädchen sprang auch Marylin von ihrem Stuhl auf und lief geradewegs auf die Tür zu, wenige Sekunden später war sie verschwunden. „Auf dem Weg zu der Tochter des Mannes werden wir sie im Hotel abladen“, flüsterte Artemis Chino zu, während er sich zu dem blonden Mann begab. Chino nickte nur still zur Antwort. Hoffentlich würde das so einfach gehen, wie Artemis es sich vorstellte. So, wie Marylin sich gerade benahm, reagierte der Alkohol mit einigen Medikamenten, die man ihr vor ihrer Entlassung gegeben haben könnte. Da ihm niemand gegenüber erwähnt hatte, ob und in welchem Maße Marylin Medikamente verabreicht worden waren, war Chino davon ausgegangen, dass sie keine bekommen hatte. Es war einer der wenigen Fehler, die ihm trotz seiner langjährigen Erfahrung noch immer unterliefen. Im Grunde genommen war es nicht sein Fehler, sondern der des entlassenden Arztes, aber er hätte dennoch besser darauf achten und noch einmal nachfragen sollen. So machte sich Chino schnellstmöglich daran, nach draußen zu gehen, um nach Marylin zu sehen. Artemis hingegen gesellte sich zu dem Fremden und bedeutete ihn, dass er seiner Tochter helfen werde. Sichtlich erfreut über Artemis' Entscheidung, wich ein Teil der Hoffnungslosigkeit aus dem Gesicht des Mannes. Er fasste Artemis am Handgelenk und drängte den Priester geradezu, ihm zu folgen. Unter einigen Bemühungen riss Artemis sich los und als sie den Pub verlassen hatten, brachte er den Mann dazu, noch einmal anzuhalten. Fast wäre er ohne Artemis geradezu davon gestürmt. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „McKenzey. Brooklyn McKenzey.“ „Ein Amerikaner“, säuselte Marylin, die inzwischen von Chino gestützt wurde und immer wieder zur Seite zu kippen drohte. „Er hört sich an wie ein Amerikaner. Zumindest sein Akzent.“ „Ich hoffe Sie haben Verständnis dafür, wenn wir unsere Freundin erst einmal nach Hause bringen, bevor wir uns um Ihre Tochter kümmern.“ „Natürlich. Ich gebe Ihnen meine Adresse“, sagte der Mann hastig und holte ein Stück Papier heraus, welches er Artemis in die Hand drückte. „Ich muss zurück zu Sarah, bitte, bitte kommen Sie bald.“ „Wir werden uns beeilen“, versicherte Artemis und schaute dem merkwürdigen Mann hinterher, bevor er sich wieder Chino und Marylin widmete. „Komischer Kerl...“ „Immerhin, wir sollten Marylin wirklich in das Hotel bringen. Es geht ihr nicht gut.“ „Es geht mir hervorragend!“ „Ja, das sehe ich...“, kommentierte Artemis und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hat nur drei Bier getrunken. Wie kann es sein, dass es ihr dadurch so schlecht geht?“ „So wie es aussieht, hat sie vor ihrer Entlassung noch einige stärkere Psychopharmaka verabreicht bekommen. Die vertragen sich natürlich nicht wirklich mit Alkohol, wodurch es ihr so schlecht geht. Im Gegenzug zu dir. Wie auch immer du das machst, dir erst Tabletten zu genehmigen und dann auch noch Alkohol zu trinken, ohne dass das irgendwelche Auswirkungen hat“, meinte Chino und schaute Artemis dazu missbilligend an. „Wie auch immer. Zu einem gewissen Teil könnten diese Medikamente auch ihre heutigen Stimmungsschwankungen verursacht haben. Jedenfalls würde das ebenfalls eine plausible Erklärung sein, warum sie zwischendurch normal und dann extrem emotional reagiert. Da sie eigentlich völlig gesund war bei ihrer Einlieferung, kann es sein, dass einige Medikamente die entgegengesetzte Wirkung erzielen. Solange sie unter dem Einfluss der Psychopharmaka ist, benimmt sie sich depressiv. Genau weiß ich es allerdings nicht, ich bin nicht dazu gekommen, sie dazu zu befragen. Wenn sie es uns bisher verschwiegen hat, wird sie uns auch kaum die Wahrheit sagen, nur, weil einer von uns nachfragt.“ Marylin schien von alldem nichts mehr mitzubekommen. Wie ohnmächtig hing sie in Chinos Armen, der sichtlich Mühe hatte, sie aufrecht zu halten. Mit einem starken Ruck hob er ihren Körper an, umfasste einerseits ihre Taille und legte ihren Arm über seine Schulter. So würde er sie bis zum Hotel, das nur wenige Straßen entfernt war, transportieren können ohne ihr aus Versehen weh zu tun. Als Chino sich in Bewegung setzte, schaute Artemis sich noch einmal um. In einer Gasse neben dem Pub standen einige Mülltonnen, auf und neben denen eine Versammlung Katzen saß. Sie schauten den Priester neugierig an, fast so, als würden sie ihn studieren. Der Blick der Katzen haftete so penetrant an ihm, dass Artemis Mühe hatte, sich von ihnen loszureißen. Eine der Katzen sprang von der Mülltonne herunter und blieb kurz stehen. Nachdem Artemis sich einige Schritte entfernt hatte, setzte sie zu einem Sprung an und hechtete los. Bald hatte der Schatten der Großstadt die Gestalt der Katze vollends verschlungen, weshalb weder Artemis noch Chino bemerkten, dass ihnen jemand auf den Fersen blieb. Mitten in der Nacht auf einer Polizeiwache zu stehen war kein Teil von Ethos' Plan gewesen. Genauso wenig, wie von Pater Berry, der seinen Kollegen alle zwei Minuten um Entschuldigung zu bitten schien. Vermutlich hatte er, als die Spurensicherung ihm zuvor gekommen war, gedacht, dass diese sich nicht weiterhin einmischen würde und deshalb seinen Fauxpas verschwiegen. Immerhin konnte Ethos der Sache mittlerweile etwas Positives abgewinnen. Zugegebenermaßen war Pater Berry keine besonders große Hilfe gewesen. Er hatte vor Ort nicht geholfen und, mit Ausnahme seiner Angaben über Pater Simmons, keine relevanten Informationen für den Priester bereitgehalten. Im Gegensatz zu der Spurensicherung um Kriminalkommissar Edwards, welcher ihm eine kleine Plastiktüte entgegen hielt. „Diesen Taler haben wir im Museum gefunden. Es handelt sich dabei nicht um ein Ausstellungsstück, das hat uns der Leiter versichert. Auf der Vorderseite befindet sich das Symbol einer Sonne. Zumindest vermuten wir, dass es sich um eine Sonne handelt. Es stehen auch zwei Zahlen darauf, deren Sinn wir allerdings noch nicht entschlüsseln konnten.“ Ethos begutachtete das runde goldene Objekt, das von Größe und Form tatsächlich an eine Münze erinnerte. Die Seitenränder wiesen kleine Einkerbungen auf, der äußere Rand stand ganz leicht über dem Rest der Fläche hinaus. Seltsam war jedoch, dass nur eine Seite eine Prägung aufwies. Demnach konnte es sich auch um ein Medaillon handeln, wogegen wiederum die Dicke des Objektes sprach. Diese betrug nur wenige Millimeter und Ethos hatte fast schon Angst, es zu zerbrechen, wenn er zu starken Druck darauf ausüben würde. Auf der Oberfläche war ein Kreis eingraviert worden, an dessen Seiten sich mehrere Fäden hinauf schlängelten. Jeder zweite Faden wuchs nach oben hin entzwei und bildete sich zu einer breiten geschlossenen Schlaufe. Von weitem sah es einer Sonne überaus ähnlich. Am oberen Rand stand die Zahl 756, am unteren 1870. Ethos reichte das Beweisstück an Berry weiter. „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie uns kontaktiert haben.“ „Ich weiß zwar nicht, warum mein Chef es angeordnet hat, dass sich ausgerechnet zwei Priester in meine Ermittlungen einmischen, aber wäre es nach mir gegangen, säßen Sie jetzt nicht hier. Der Befehl kam von ganz oben, bedanken Sie sich dort.“ Den schroffen Ton des Kriminalbeamten überhörte Ethos wohlwollend. Er würde sich an dessen Stelle genauso über die momentanen Entwicklungen ärgern. Stattdessen wartete Ethos, bis Berry sich die Münze ebenfalls angesehen hatte. „Ich hätte eine Theorie, wofür die beiden Zahlen stehen könnten“, sagte Ethos und nahm die Münze zurück. Zwar hatte Edwards es nicht erwähnt, aber wenn er schon darüber Bescheid wusste, dass zwei Priester sich in seine Ermittlungen mischten, dürfte ihm ebenfalls bekannt sein, dass diese sein Beweisstück obendrein mitnehmen würden. „Die Zahl 756 könnte für die Gründung des Vatikans stehen. Im Oktober 1870 hingegen wurde der Vatikan offiziell in das Gebiet Roms eingegliedert. Zu dem Sonnensymbol kann ich jedoch nichts sagen. Wofür es stehen soll, ist mir schleierhaft.“ „Sollten sich die Nummern tatsächlich auf den Vatikan oder die Kirche beziehen, sollte es doch viele Möglichkeiten der Interpretation geben oder nicht?“, fragte Edwards, nun deutlich stärker interessiert. „Das ist das Problem. Die Sonne könnte vieles bedeuten, aber mir fällt spontan keine Interpretation ein, die im direkten Zusammenhang mit den Zahlen steht. Ihnen, Pater Berry?“ „Nein.“ Die ganze Zeit über war Berry still gewesen, zudem wirkte er extrem angespannt. Sein Kiefer mahlte schon, seitdem sie im Büro des Kommissars saßen und sein Körper nahm seit jeher eine abwertende Haltung ein. Ab und zu schlug er nervös die Beine übereinander und drehte an einem goldenen Ring, der sich an seiner rechten Hand befand. „Aber wenn die Zahlen auf einen Zusammenhang mit dem Vatikan schließen lassen, ist es ungewöhnlich, dass wir sie am Tatort gefunden haben. Schließlich war, unseres Wissens nach, kein Mann der Kirche vor Ort.“ Pater Berry wollte gerade etwas sagen, doch Ethos kam ihm zuvor, indem er ihm das Wort mit einer Frage abschnitt und einen vielsagenden Blick zuwarf. Niemand durfte wissen, wer der tote Wächter in Wirklichkeit war. Das würde nur unangenehme Fragen aufwerfen. „Haben Sie die Münze auf Fingerabdrücke untersucht?“ „Gewiss. Bei den Abdrücken handelt es sich einerseits um die Abdrücke von einem der getöteten Nachtwächter. Zwei weitere Abdrücke befinden sich darauf, aber beide haben wir nicht in unserer Datenbank. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass die Größe der Abdrücke darauf schließen lässt, dass es sich um zwei männliche Individuen handelt. Oder sehr großen Frauen. Vielleicht ist der Täter dabei, möglicherweise weist diese Spur aber auch in eine Sackgasse.“ In Edwards' Stimme lag die Hoffnung, dass diese Informationen Ethos dazu bewegen konnten, die Münze wieder zurück zu geben. Erst wenn sie den Täter schnappen würden, würde es vielleicht möglich sein, eine der beiden anderen Fingerabdrücke zu identifizieren. Edwards hatte aber auch keine Ahnung, wie weitreichend die Beziehungen des Täters sein könnten und dass die Wahrscheinlichkeit, ihn ausgerechnet in London zu stellen, äußerst gering waren. Nur zu gern hätte Ethos den Mann darüber aufgeklärt, da er ihm kompetent und an der Lösung des Falles interessiert vorkam, doch die Verwirrung wäre hinterher wahrscheinlich noch um einiges größer, als ohnehin. Außerdem würde es zur Aufklärung des Falles kaum etwas beitragen. Das Risiko, dass dadurch etwas schief ging, war um einiges größer, als die Chancen, die sich daraus ergaben. „Das müssen wir leider in Betracht ziehen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellt diese Münze trotzdem den einzigen brauchbaren Hinweis dar, den wir haben. Wir werden der Spur nachgehen und Sie über alle Fortschritte informieren.“ „Ich bitte darum.“ Ethos hatte nicht damit gerechnet, dass der Kommissar so schnell klein-bei geben würde. Anscheinend war der Druck, der von oben auf ihn ausgeübt wurde, immens. Eine so gut funktionierende Zusammenarbeit hatte er selten bei Zivilisten erlebt. Zumal er dadurch gewillt war, den Kommissar auch tatsächlich über die Stände der Ermittlungen in Kenntnis zu setzen und es nicht als leere Phrase abzutun, nur damit der Polizist sich besser fühlte. Natürlich nur in der Hinsicht, die Dämonen mit keinem Wort zu erwähnen. Vorsichtig steckte Ethos die Münze ein, dann schüttelte er Edwards zum Abschied die Hand. Auch Pater Berry erhob sich aus seinem Stuhl und trottete schweigend hinter Ethos aus dem Büro heraus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)