Unvergessen von Daelis (Ewig lebst du in unseren Herzen fort) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Sie konnte es nicht glauben, einfach nicht fassen und wollte es auch gar nicht. Es durfte einfach nicht sein. Es war nicht richtig. Selbst jetzt, Tage später, Wochen später, Monate später konnte sie es einfach nicht begreifen. Nach außen war Normalität eingekehrt, doch in ihr herrschte noch immer ein Aufruhr wie in den ersten Stunden, nachdem die Nachricht sie erreicht hatte. Allein daran zu denken, schnürte ihr die Kehle zu, raubte ihr förmlich den Atem. Sofort stiegen Tränen in die blauen Augen, flossen über die blassen Wangen und tropften schließlich am Kinn hinab auf ihre Jacke.   ♫ You seemed alright until that fateful night. Saw you hanging on a rope, could not believe you'd given up your hope. ♫   Der Wind blies kalt um diese Jahreszeit. November. Golden und Rot waren die Blätter gefärbt, tauchten die Welt in herrlichste Herbstfarben, doch sie war blind für die Schönheit des Ortes, sah nur die kleinen violetten Blüten der Blumen, die sie und ihre kleine Schwester dort eingepflanzt hatten, damit sie Wurzeln schlügen. Sie hatten sie für sie gepflanzt. Sie hatte Violett geliebt, es war immer ihre Lieblingsfarbe gewesen. Deshalb violette Blumen.   ♫ Tell me why you left us grieving. Tell me why you let us feel this guilt and pain. Speak to me and tell me who's the one to blame. Tell me why you stay, stay and haunt me. ♫   Eigentlich wusste sie gar nicht, weshalb es sie immer wieder hierher trieb. Es spendete ihr keinen Trost, sie fühlte sich nicht besser, wenn sie herkam. Ganz in Gegenteil. Jedes Mal schlug ihr Herz schwer in der Brust, wenn sie aus dem Auto stieg und das schmiedeeiserne Tor sah, das sie durchqueren musste. Nur wenige Meter, ein paar Schritte, zwei Windungen des Kieselsteinweges. Rund um sie herum blühte es überall. Jeder Schritt, der sie näher an ihr Ziel brachte, fühlte sich schwerer an als der vorhergegangene.   ♫ You left us restless. Thinking 'bout the mistakes we made, mistakes that made you leave us. Yet part of you remains ♫   Stumm stand sie da. Bebend ging sie in die Knie, saß schließlich und schluchzte unkontrolliert. Ihre Augen brannten, ihre Wangen waren nass und ihre Ärmel ebenfalls. Träne um Träne tropfte hinab. Die erste bahnten den Weg für die, die folgten. Jedes Zeitgefühl war vergessen, während sie dort saß. Sie wusste nicht, ob jemand an ihr vorbei ging, ob jemand sie weinen sah und es war ihr auch gleichgültig. Jedes Mal, wenn sie herkam, fühlte es sich an, wie der Weg zum Galgen und doch kam sie immer wieder her, ruhelos und zerschmettert.   ♫ Right in my mind I ask myself the question: why? In my mind you stay all time. In my mind I keep on asking why you had to die. In my mind you stay alive. ♫   Die Zeit heilt alle Wunden. Das sagte man und doch wollte es ihr einfach nicht so vorkommen, auch wenn sie es nach außen Jedem vorspielte. Jeder sollte glauben, dass es ihr gut ging, dass sie zurecht kam, dass sie bewältigte, was geschehen war. Doch es waren Lügen. Lügen, die sie selbst so unglaublich gerne glauben würde. Ach könnte sie es nur. Es waren Kleinigkeiten, die sie zurückwarfen, Erinnerungen aufwühlten, Ängste aus der Tiefe rissen und ihr Alpträume sandten, die sie nachts heimsuchten, sodass sie zitternd und mit tränennassem Gesicht erwachte. Nein. Die Zeit heilte die Wunden nicht. Sie ließ sie vielleicht vernarben, doch ob das auch für diese galt, dessen war sie sich nicht so sicher. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach der Erde ausstreckte, die eine kupferfarbene Urne barg. Es kam ihr vor wie gestern und doch, als wäre es keine Erinnerung, sondern nur ein Film gewesen, nicht Teil ihres Lebens. Ihr Geist wanderte zurück zu dem Tag, an dem sie, ganz in Schwarz, hier gestanden hatte. Die Sonne hatte geschienen und sie hatte ein völlig zerfleddertes Taschentuch in den Händen geknüllt, als könne sie sich daran festhalten, während ihr die Realität den Boden unter den Füßen wegzog. Es fühlte sich an, als falle sie in ein Loch, einen Abgrund, einen Schlund und kein Boden war in Sicht, wenn es denn einen gab.   ♫ You left us restless. You have never cried. You never complained about anything. You suffered unobtrusively. ♫   Hatte sie sich auch so gefühlt? War das ihr Ende gewesen, hatte das ihren Beschluss bekräftigt, zu gehen? Hatte sie deshalb sie und ihre Schwester zurückgelassen? Ungläubig stand sie vor dem kleinen, quadratischen Fleck aufgewühlter Erde. Den Korb mit Blütenblättern daneben hatte sie vollkommen ausgeblendet, bunte Kleckse in der Welt, die mit einem Male so farblos schien. Alles hier fühlte sich surreal an, falsch. Kein Wort drang über ihre Lippen, während sie da stand und stumme Tränen weinte. Sie bemerkte ihren Partner neben sich kaum, der sich doch hilflos fühlen musste ob dieser Situation, spürte kaum die klamme Hand ihrer Schwester, die ihre ergriff. So uneins sie sich oft gewesen waren, heute waren sie zusammen und brauchten einander mehr denn je. Sie beide hatten sie verloren. Endgültig und für immer. Sie beide fühlten den Verlust, den Schmerz, die Angst und auch die Schuld. Sie brauchten einander nicht zu fragen, um zu wissen, dass sie die gleichen Überlegungen quälten, die gleiche Schuld. Es hatte doch alles so ausgesehen, als ginge es aufwärts. Sie hatte sich Hilfe gesucht, hatte erkannt, dass sie Hilfe brauchte, war diesen ersten und vielleicht schwersten Schritt gegangen. Und dann... dann hatte alles ganz schnell ein Ende gefunden. An einem Tag wie jedem anderen, einen Tag nur vor ihrem Geburtstag. Ein kurzer Moment, ein Schritt auf die Gleise. Kein Abschiedsgruß. Nur ein toter Körper, zerschmettert zur Unkenntlichkeit.   ♫ Tell me why you left us grieving. Tell me why you let us feel this guilt and pain. Speak to me and tell me who's the one to blame. Tell me why you stay, stay and haunt me. ♫   Sie schämte sich ihrer Tränen nicht, des unterdrückten Schluchzens, das doch schon ein halber Schrei war. Sie schämte sich, dass sie nicht dort gewesen war, um sie aufzuhalten. Warum war sie nicht dort gewesen? Wieso hatte sie es nicht kommen sehen? Warum hatte sie sie nicht aufgehalten? Jede Nacht konnte sie sich selbst sehen, wie sie im Dunkeln stand an den einsamen Bahngleisen im Nirgendwo. Sie sah den roten Wagen, sah die schmale Gestalt, die zu retten sie verpasst hatte. Und dann ein Licht, ein lautes Geräusch. Der nahende Zug, ein unhörbarer Aufprall, übertönt, von ihrem eigenen Schrei, der doch ungehört blieb. Egal wie oft sie schrie und hoffte, wie sehr sie es sich wünschte, es war geschehen und sie konnte es nicht ändern. Im Grunde, das wusste sie, narrten diese Träume sie nur. Seit ihrem Tod hatte sie diese Bahngleise nicht ein einziges Mal gesehen, war sogar Umwege gefahren, nur um sie nicht passieren zu müssen. Sie wusste, wenn sie dort wäre, würde sie dort stehen und sich die Gleise ansehen. Die Träume würden ins Wachen dringen obwohl es doch nur Bilder ihrer Fantasie waren, denn sie war ja gar nicht dabei gewesen. Nach ihrem Tod hatten sie sie nicht noch einmal sehen dürfen. Die Kripo-Polizisten hatten ihr, als die ersten Angehörige, die man ausfindig gemacht hatte, am morgen erzählt, dass es besser so sei. Sie wollten eine Beschreibung von den Dingen, die sie bei sich hatte. Ein Foto hätte nicht genügt zur Identifizierung. ♫ In my mind I ask myself the question: why? In my mind you stay all time. In my mind I keep on asking why you had to die. In my mind you stay alive. ♫   Es war ihr vorgekommen wie ein Alptraum. Ein schrecklicher Alptraum, der einfach nicht wahr sein durfte. Wie durch einen dicken Schleier oder Wasser hörte sie ihren Partner, den Polizisten und die Partnerin ihres Vaters sprechen, doch ihre Worte verstand sie kaum. Konnte es wahr sein? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dagesessen hatte, den Blick auf die Polizeibeamten gerichtet hatte, beide in zivil und sichtlich unglücklich, so tragische Kunde bringen zu müssen. Leise und ruhig, dann aber stockend und unterbrochen von Schluchzern beantwortete sie die Fragen, während in ihrer Kehle ein Kloß wuchs, der ihr immer weiter die Luft abschnürte und der den ganzen Tag über und auch in der Nacht nicht hatte weichen wollen.   ♫ In my mind I ask myself the question: why? In my mind you stay all time. In my mind I keep on asking why you had to die. In my mind you stay alive. ♫   Sie hatte geweint, geschrien, geschluchzt und die Welt verflucht, die zugelassen hatte, dass so etwas geschehen war, dass so etwas überhaupt geschehen konnte. Wo war der Gott, von dem so viele Menschen sprachen? Wo waren die Engel und guten Geister? Wo waren die Ältesten und Ahnen, die über ihre Familien wachten? Wo war sie selbst gewesen?   ♫ In my mind, in my mind you stay alive. In my mind, in my mind you stay all time. ♫   Warum? Diese Frage, das ahnte sie, würde sie vielleicht für immer verfolgen. Im Traum wie im Wachen dachte sie darüber nach, immer wieder. Warum? Auf diese Frage gab es so viele Antworten. Depression, Angst, Chorea Huntington, Untersuchungen und noch mehr Angst und Depressionen. Und doch gab es keine Antwort auf diese Frage. Warum? Es wollte ihr nicht in den Sinn und selbst wenn ihr Verstand begriff, was geschehen war und was dazu geführt haben könnte, so sperrte sich ihr Herz doch und wollte nicht begreifen. Warum? Warum nur?   ♫ In my mind I ask myself the question: why? In my mind you stay all time. One last time speak to me and tell me why you had to die. In my mind you stay alive. ♫   Sie erinnerte sich an ihr letztes Treffen, den Abend zuvor. Alles war ihr normal erschienen, nichts hatte sie geahnt. Sie hatten sich sogar für den nächsten Tag verabredet. Genau, denn schließlich stand ihr Geburtstag an. Was hatten sie sonst noch besprochen? Spielte es eine Rolle? Ich weiß nicht mehr, welche meine letzten Worte zu ihr waren, doch ich hoffe es waren die, von denen ich es denke. „Ich hab dich lieb, Mama. Bis morgen.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)