Die Hexe und die Priesterin von Platan ================================================================================ Wonach Hexen sich sehnen ------------------------ Sekunde. Hatte Stella sie richtig verstanden? Sagte sie gerade etwa, sie musste sterben? Wieso sagte sie so etwas? Selbst wenn diese wahnwitzige Vorstellung von Unsterblichkeit der Wahrheit entsprach, sollte sie so etwas Schreckliches nicht sagen, geschweige denn noch dabei lächeln, als würde es ihr nichts ausmachen. „Es macht mir nichts aus“, sprach Luna an, was Stella soeben noch gedacht hatte. Konnten Hexen etwa Gedanken lesen? „Bis vor kurzem hätte es mir noch was ausgemacht, aber jetzt nicht mehr.“ Verzweifelt blickte Stella sie an und verstand gar nichts mehr. Alles, was sie wollte, war, dass sie nicht hingerichtet wurde, bloß weil irgendein Fluch laut ihrer Aussage dafür sorgte, dass Menschen in einer Hexe nur das Böse sahen. „Und warum jetzt nicht mehr?“ Wie auf Stichwort wurde Lunas Lächeln noch breiter und ein paar letzte Tränen liefen über ihre geröteten Wangen. „Weil ich jetzt so unbeschreiblich glücklich bin.“ Ob es daran lag, dass Stella von Natur aus sensibel war oder schlicht ebenfalls weinen musste, sobald es jemand anderes tat, konnte sie nicht sagen, doch auch ihr kamen die Tränen. Luna weitete ihre Erklärung schließlich mehr aus. „Ich bin so dankbar dafür, dass ich dich gestern gefunden habe und dich kennenlernen durfte, auch wenn es nur für eine sehr kurze Zeit war. Deine Sichtweise, mit der du Hexen betrachtest und die Gedanken, die du dir um sie machst, obwohl die ganze Welt sie als Unheil bezeichnet, hat mich wirklich sehr berührt. Anfangs konnte ich es erst nicht glauben, dass mir nach all den unzähligen Jahren endlich so ein Mensch begegnet. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben, aber jetzt weiß ich, dass es dich gibt und du hast mir meinen Mut zurückgegeben.“ „Du tust so, als sei ich das Wichtigste auf der Welt für dich. Dabei kennst du mich doch gar nicht und ich kenne dich nicht“, widersprach Stella und schüttelte den Kopf. „Ich weiß“, meinte Luna und schmunzelte leicht. „Und doch stehen wir hier und weinen uns wegen dem jeweils anderen die Augen aus.“ „Das ist nicht witzig“, betonte sie und legte beide Hände auf Lunas Schultern. „Ich will nicht, dass du stirbst!“ „Weil es falsch ist?“ „Niemand sollte gewaltsam aus dem Leben gerissen werden! Egal ob Mensch, Hexe, Tier oder welche Formen von Lebewesen es sonst noch geben mag!“ Warum regte sie sich so auf? Was hatte dieses Herzrasen zu bedeuten? Auf einmal wollte sie die Hexe, Luna, nicht mehr einfach nur warnen, sondern beschützen. „Du bist zu gut mir“, sagte diese in einem Ton, der Stella richtig wütend machte. Eine Wut, die ihr bekannt vorkam. „Rede nicht so über dich!“, widersprach sie ihr und fing an, sie zu schütteln. „Du darfst nicht so schlecht von dir sprechen, als wärst du es nicht wert! Ich hasse es, wenn du das tust!“ „Warum?“ „Was?“, hielt Stella inne. Richtig, warum sagte sie so was? Es fühlte sich wie eine lästige Gewohnheit an, solche Worte von Luna zu hören und sich darüber aufzuregen zu müssen. „Du hast es auch von Anfang an gespürt, oder? Dieses vertraute Gefühl zwischen uns.“ Das Lächeln schwand nicht aus Lunas Gesicht, aber ein trauriger Glanz schimmerte in ihren Augen. „Ich würde dich wirklich gern besser kennenlernen, aber meine jetzige Kraft reicht leider nicht aus, um uns beide vor den Soldaten zu schützen. Erinnerst du dich an die Nacht? Du hast es gesehen, oder? Etwas Dunkles, das meinen Körper verlassen hat, nicht wahr? Es wäre zu kompliziert und ich habe auch nicht die Zeit, um es dir ausführlich zu erklären, aber: Das waren sozusagen Abfallstoffe, eine noch niedere Form als negative Strömungen die entstehen, wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen und die nur in Ruhephasen abgebaut werden können und müssen. Sonst können sich unsere Reserven nicht wieder füllen und darum habe ich momentan nur noch so viel übrig, dass ich dich allein vor den Soldaten schützen kann.“ Stella wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war gekommen, um Luna zu warnen und zu retten, doch es lief bisher genau andersherum, nicht so wie geplant. Diese Hexe hatte ihr das Leben gerettet und sich um sie gekümmert. Zwar hatte sie schon immer geahnt, dass diese Leute sicherlich nicht so bösartig waren, wie jedermann behauptete, aber nun hegte sie keinerlei Zweifel mehr daran. Wäre Luna böse oder würde schlechte Absichten verfolgen, hätte sie Stella im Wald sterben lassen und sie schamlos zurücklassen können, um ihre eigene Haut zu retten. Mit dieser Situation war Stella völlig überfordert. Die Lage schien so aussichtslos. „Aber ich ... ich will dich doch auch noch besser kennenlernen.“ „Stella, du hast bis jetzt für mich gekämpft. Kannst du mir auch noch einen Gefallen tun?“ Unsicher sah sie Luna an. Sie fürchtete sich vor der Bitte, die sie stellen würde, aber nickte ohne Worte und sah, wie sich Erleichterung in der Mimik ihres Gegenübers ausbreitete. „Vertraue mir, bitte.“ Mit diesen Worten löste sie sich von Stellas Griff und entfernte sich einige Schritte von ihr. „Und vertraue dem Schicksal.“ „Dem Schicksal?“, wiederholte Stella ratlos. „Ja, ich meine ... Stella und Luna. Denkst du, das ist Zufall?“ Jetzt, wo sie es ansprach, bemerkte auch Stella, dass die Bedeutungen der Namen erschreckend gut zueinander passten. „Mein Ausbilder sagt immer, es gibt keine Zufälle.“ „Ein weiser Mann.“ Mit leichten Schritten bewegte sie sich auf die Tür zu, griff nach der Klinke und öffnete sie, ging jedoch noch nicht raus. „Weißt du, wonach Hexen sich am meisten sehnen?“ Stella schüttelte den Kopf. Nicht, weil sie es nicht wusste, sondern weil sie es nicht hören wollte. Luna sagte es ihr dennoch. „Wir sehnen uns danach gesehen zu werden. Verstanden zu werden. Wir wollen nicht mal gerettet werden. Wir wollen einfach nur leben.“ „Das kannst du“, versuchte Stella sie umzustimmen. „Wir finden eine Lösung!“ „Aber ich habe meine Lösung doch schon gefunden“, entgegnete Luna zufrieden und nickte ihr zu. „Das mit deiner Mutter tut mir wirklich sehr leid. Sie hatte ein starkes Herz, nur deswegen hat sie es geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Viel Hilfe war dabei nicht nötig gewesen. Du bist ihr sehr ähnlich. Also bleib auch du stark, bis wir uns wiedersehen, okay? Diesmal enttäusche ich dich nicht.“ Plötzlich schien die Zeit anzuhalten. Wie erstarrt stand Stella da und sah Luna hinterher, wie sie die Hütte verließ und die Tür hinter sich schloss. Einige Sekunden lang war sie nicht dazu imstande, sich zu rühren, weil sie diese Erkenntnis verarbeiten musste, die sie soeben gänzlich aus der Bahn warf. Die Hexe, die damals ihrer Mutter geholfen hatte, war Luna? War die Welt so klein oder das Schicksal so groß? Kaum war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, zog sie ein merkwürdiges Geräusch in die Realität zurück. Es hörte sich so an, als würden tausende Regentropfen auf das Dach der Hütte niederprasseln und im harmonischen Einklang miteinander ein melodisches Rauschen dabei wiedergeben und zwischen diesem wohlklingenden Geräusch mischte sich dann plötzlich eine Stimme. Eine tiefe Männerstimme, die laut und fordernd wie ein Störfaktor zwischen dem Rauschen hervorstach. „Endlich haben wir dich gefunden, Hexe!“ Die Soldaten! Sie waren also hier. Sie hatten Luna gefunden. Sie würden sie mitnehmen. Sie würde hingerichtet werden. ... Nein! Sofort hatte Stella die Kontrolle über ihren Körper wiedergefunden und stürmte geradewegs zur Tür. Abgeschlossen! Mehrmals drückte sie die Klinke. Klick! Klick! Klick! Nichts. Also ging sie zum Fenster und schlug ohne darüber nachzudenken mit dem Ellenbogen dagegen. Nichts. Rasch schnappte sie sich einen von den Stühlen und schlug ihn mit voller Wucht gegen das Glas. Nichts. ... Das gibt’s doch nicht! Draußen ertönte abermals die strenge Stimme eines Mannes, vermutlich der Anführer des Trupps. „Du wirst mit uns kommen! Wenn du dich wehrst, werden wir dich mit Gewalt dazu zwingen müssen!“ „Nein!“, schrie Stella und schlug mit dem Stuhl ein weiteres Mal auf das Fenster ein. Nichts. „Nein, lasst sie in Ruhe!“ Nochmal schlug sie zu. Wieder nichts. Sie ließ den Stuhl fallen und schlug nun mit den Fäusten gegen die Scheibe. Natürlich auch nichts. Herzrasen. Verzweifelt huschte sie nochmal zur Tür und rüttelte dort erneut an der Klinke. Nichts. Also warf sie sich mit ihrem Körper dagegen. Nichts. ... Nein! Nein! Nein! Das prasselnde Geräusch hielt an. Es war bestimmt kein gewöhnlicher Regen. Luna musste etwas mit der Hütte angestellt hatten. Warum? „Luna! Lass mich raus! Hörst du?!“, rief sie so laut sie nur konnte. „Hört mich jemand?! Nehmt sie nicht mit! Ich kann alles erklären! Sie ist nicht böse! Das ist alles nur ein Missverständnis! Hallo?! Hallo! Luna!“ Ununterbrochen schlug sie auf die Tür ein. Schrie. Und schlug. Schrie. Und schlug. Niemand hörte sie. Waren die Soldaten längst mit ihr verschwunden? Hatten sie Stella nicht gehört? Was hatte Luna getan? Warum ging sie freiwillig in den Tod, nur um sie zu schützen? „Du kennst mich doch gar nicht, warum?“, fragte Stella in die Stille hinein. „Warum? Komm zurück. Ich will dich doch noch besser kennenlernen.“ Irgendwann sackte sie an der Tür zusammen, als sie erkannte, dass sie hier nicht rauskommen würde. Offenbar kannte Luna sie bereits ziemlich gut oder es war nur zu vorhersehbar, dass sie versuchen wollte, ihr Opfer zu verhindern. Ihr gingen nochmal ihre letzten Worte durch den Kopf. „... bis wir uns wiedersehen, okay?“ Wiedersehen. Luna hatte sie darum gebeten, ihr zu vertrauen. Konnte sie das auch? Diesmal würde sie sie nicht enttäuschen? Hatte sie das denn je getan? Eigentlich waren sie Fremde füreinander. Wie konnte man da also einander vertrauen? Andererseits: Was hatte dieser Schmerz zu bedeuten, den Stella empfand? Sicher, sie fand es immer traurig, wenn jemand starb. Erst recht bei einer Hinrichtung und sie weinte dabei auch immer, aber noch nie hatte sie dabei solch einen sehnsüchtigen Schmerz im Herzen verspürt. Das vertraute Gefühl, das von Anfang an da gewesen war, lag es daran, dass sie Luna als Kind schon einmal gesehen hatte, als diese ihrer Mutter das Leben rettete oder lag die Antwort noch tiefer in der Vergangenheit? Und diese Faszination, als sie zum ersten Mal ihr Gesicht sah? Ihr wahres Ich, wie sie durch ihre Erklärung durchsickern ließ? Was hatte all das zu bedeuten? „Luna“, murmelte Stella und legte den Kopf auf die Knie. Sie schloss die Augen und versuchte, zumindest im Geiste bei ihr zu sein. *** Stella hatte die Hütte erst verlassen können, als es bereits zu spät war. Luna war hingerichtet worden. Verbrannt, was die klassischste Methode dafür war, wenn das Volk einer Hexe das Leben nahm, im Namen des Gesetzes. Der Regen, den sie bis zum Schluss wahrgenommen hatte, war gar keiner. Leider konnte sie sich nicht erklären, was es sonst gewesen sein könnte, denn als sie draußen vor der Hütte stand, konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Ihr fiel jedoch gleich auf, dass weder der Boden noch die Hütte nass waren. Was für ein Zauber es auch gewesen sein mag, sie vermutete, dass es die Behausung für das menschliche Auge von Außenstehenden unsichtbar gemacht hatte. Andernfalls hätten die Soldaten die Hütte garantiert abgebrannt oder sie zumindest durchsucht und auf den Kopf gestellt, wenn sie sie gesehen hätten. Auf die Art hatte Luna also ihre letzten Reserven eingesetzt, um sie zu schützen und als sie starb, schwand auch die Magie. Am liebsten wäre Stella dort geblieben, aber es sprach zu vieles dagegen. Zum einen hatte sie keine Erfahrung darin, sich allein durch die Mittel des Waldes am Leben zu erhalten und zum anderen plante man, eine Handelsroute durch diesen zu bauen. Früher oder später hätte sie also jemand entdeckt und in einer Zeit, in der Hexen ein großes Thema waren, galten Leute die einsam und allein im Wald lebten als äußerst verdächtig. Also machte sie sich auf dem Weg zurück nach Hause. In das Königreich, das Luna hatte hinrichten lassen. Dabei ließ sie sich Zeit, weil sie nicht miterleben wollte, wie die Leute diesen Tod feierten. Das hätte sie nicht ertragen. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie hatte viel zu viele neue Erkenntnisse über Hexen gewonnen und ihr Bild über sie glich nun in keinster Weise mehr dem der anderen. Niemandem konnte sie davon erzählen, ohne als verrückt abgestempelt zu werden. Dabei schienen die Hexen Hilfe zu brauchen. Wenn ein Fluch die Menschheit glauben ließ, sie wären böse, musste ihn auch jemand auf sie ausgesprochen haben. Irgendjemand war für dieses Leid verantwortlich, dass sie durchleben mussten. Ganz allein. Es gab noch so vieles, was ihr unklar war. So vieles, was sie gerne verstehen wollte. Richtig, es hatte im Grunde erst begonnen. Was sie erlebt hatte, war gerade erst der Anfang. Gewiss würde sie nicht so tun, als wäre all dies niemals passiert und als ahnungslose Priesterin ihr Dasein fristen, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. Nein, jemand musste den ersten Schritt machen. Jemand musste den Hexen beistehen. Sie musste nur einen Weg finden, ihnen zu helfen. Außerdem hatte Luna ihr gesagt, sie würden sich wiedersehen und auch wenn es schwerfiel, wollte Stella daran glauben. Sobald der Tag kam, würde ihr Abenteuer erst richtig anfangen. Abenteuer? Nein. Ihre Mission. Ihr Schicksal. Ihr gemeinsames Schicksal, dass sie auf magische Weise mit Luna verband. Zuversichtlich kehrte sie nach Hause zurück, diesmal überraschenderweise ohne sich zu verlaufen, und wartete seitdem darauf, sie wiederzusehen. Eine Fremde, die sich insgeheim längst fest in ihrem Herzen verankert hatte, wo sie es schon immer gewesen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)