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Six Feet Under : Potluck

von

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Ho! Ho! Oh...

 

Diese Zeit im Jahr.

Diese Zeit im Jahr, welche seit Nathaniel Seniors Tod für die restliche Fisher-Familie für immer einen schalen Beigeschmack hatte und für alle Zeiten haben würde. Und dieses Jahr sollte der ohnehin schon bittere Geschmack um eine weitere Nuance bereichert werden.

Mit einem zähen Platsch landete der braune Teig in der Backform.

"Soll ich dir wirklich nicht helfen?"

"Nein, Mom, ich denke, ich schaffe es gerade so, ein Blech Brownies hinzubekommen." Unwirsch strich Claire den braunen Teig glatt, der in der Mitte der Backform thronte. "Trotzdem Danke", fügte sie nach einem Blick auf die verkniffenen Mundwinkel ihrer Mutter versöhnlich hinzu.

"Wir hatten nie eine Weihnachtsfeier", sinnierte Ruth, während sie ihrer Tochter beim Bändigen des widerspenstigen Teiges zusah. "Ich weiß gar nicht, warum. Dein Vater meinte einmal, wir würden sowieso gestört werden, weil die meisten Menschen kurz vor, während oder kurz nach den Festtagen versterben würden. Aber das ist doch kein Grund, oder?"

Claire wich den nach Bestätigung heischenden Blicken ihrer Mutter aus und zuckte schnell mit den Schultern. "Wahrscheinlich wird einigen Leuten erst an den Feiertagen klar, dass sie alleine sind. Im Gegensatz zu mir..."

"Bitte?" Ruth sah ihre Tochter fragend an, die sich, um eine Antwort drückend, kommentarlos die Backform nahm und zum Ofen ging.

"Ich finde, es wäre schön geworden. Wir alle an Weihnachten versammelt, stell dir das mal vor! Nicht nur wir, sondern wirklich alle, meine ich. Federico, Vanessa und die Kinder, David und Keith mit ihren Jungs. Maya, Nate und-"

"Und Lisa? Oder Nate und Brenda?" Claire biss sich auf die Lippe, als ihr ihre Worte bewusst wurden. Was konnte ihre Mutter dafür, dass die Leute bei Braeden Chemical auf die dämliche Idee gekommen waren, eine Weihnachtsfeier auszurichten. Und jeder bringt was mit, klangen Kirstens unerträglich überschwängliche Worte in ihren Ohren nach. Claire schloss mit einem Ruck die Ofentür und wandte sich zu ihrer Mutter um, die bereits Wasser für das schmutzige Geschirr in die Spüle laufen ließ.

"Ich mache das, Mom."

Nur ungern ließ sich Ruth von ihrer Tochter zum Küchentisch hindirigieren. Mit einem leisen Seufzen setzte sie sich auf ihren Platz und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte.

Claire ließ die Teigschüssel ins Wasser gleiten und versuchte gleichzeitig die Anwesenheit ihrer Mutter, die ihr bei jedem einzelnen Handgriff zusah, auszublenden.

Was wusste sie, warum ihr Vater es für eine schlechte Idee gehalten hatte, eine Weihnachtsfeier bei Fisher & Son's zu veranstalten?! Vielleicht hatte er ja geahnt, wie so etwas üblicherweise endete.

Irgendwann waren alle so betrunken, dass der Chef seinen Angestellten das Du anbot – was am nächsten Arbeitstag sowieso wieder vergessen war und statt eines besseren Verhältnisses untereinander, doch nur dazu führte, dass sich keiner mehr in die Augen gucken wollte.

Dann gab es die Neue – in diesem Fall wäre das sie selbst -, die betreten vor sich hinguckte, aufpasste, dass sie keine Fehler machte und sich wie ein ausgesetztes Hündchen freute, sobald einer der alten Hasen mit ihr sprach.

Der Streber der Abteilung würde etwas besonders Ausgefallenes für das Buffet mitbringen, um sich damit zu profilieren. Und den sonst so verklemmten Mitarbeiter nicht zu vergessen, der ausgerechnet an Weihnachten seine witzige Seite präsentieren wollte und im Rentier-Pulli auftauchte – und sich damit vor den Klatschtanten, die tratschend in einer Ecke des Büros standen, zum Idioten machte.

Sie mussten Nathaniel eigentlich dankbar sein, dass er ihre Familie vor so etwas bewahrt hatte. Die normalen Familienfeiern waren schon chaotisch genug, und das multipliziert mit ihrer durch die Vorbereitung gestressten Mutter...

Claire lachte leise vor sich hin. "Paps, hatte schon recht."

 

 

Der Idiot mit dem Rentier-Pulli war Ted. Auch wenn Claire zugeben musste, dass sein Outfit nur zwei Drittel des betriebsinternen Idioten ausmachte. Der Weihnachts-Pulli war nämlich lediglich eine Krawatte und die Rentiere weiße, tänzelnde Hirsche und Schneeflocken auf rotem Grund. Scheußlich genug, aber wenigstens nicht allzu lächerlich. Die Krawatte blinkte zumindest nicht, oder quäkte leiernd Jingle Bells vor sich hin, sobald man sie auch nur aus Versehen schief ansah.

"Wo bekommt man solche hässlichen Krawatten her? Ich wüsste da jemanden, dem ich so etwas schenken könnte..."

Ted überhörte geflissentlich Claires bissigen Unterton. "Wo ist deine Kamera? Hast du Kirsten nicht versprochen, sie mitzubringen, um Bilder von unserer Feier zu machen?"

Claire verzog das Gesicht, als hätte Ted sie in Wirklichkeit gefragt, was sie von gerösteten Kakerlaken auf Rucola-Salat hielt. "Die habe ich wohl vergessen. Tut mir echt leid."

Teds Mund bog sich zu einem breiten Grinsen. Claire war eine schlechte Lügnerin. "Da wird Kirsten aber enttäuscht sein", murmelte er süffisant und trank einen Schluck von dem Cocktail, den einer ihrer Kollegen an der improvisierten Bar, die eigentlich aus zwei parallel zueinander stehenden Tischen bestand, ausschenkte.

"Sieht das nicht affig aus?", bemerkte Ted. Er nickte zu dem Cocktail-Typen hin, der mit hochroten Wangen zwischen den beiden Tischen hin und her wuselte und sich fast ein Bein ausriss, um dem Abteilungsleiter einen besonders schicken Drink zu kredenzen. "So aufgezogen kenne ich ihn gar nicht..."

"Wenigstens sind die Cocktails gut." Wie zum Beweis leerte Claire das mit einem giftgrünen Getränk gefüllte Glas. "Und was haben Sie zu unserem Potluck beigesteuert, Herr Anwalt?"

"Ich verweigere die Aussage", witzelte Ted.

"Ah, verstehe." Claire sah Ted von oben bis unten an und rückte eine unsichtbare Brille auf ihrer Nase zurecht. "Das soll wohl heißen, dass Ihre bloße Anwesenheit genügt?"

"Natürlich!" Ted tat empört. "Und... und ich kann keine Cocktails mixen."

"Besser für unseren Cocktailfreund! Sonst hättest du ihm am Ende noch die Show gestohlen." Claire erbleichte plötzlich und Ted griff nach ihrem Arm.

"Was ist los?"

"Ich – oh, mein Gott", stammelte Claire. Sie sah Ted entgeistert an. "Weißt du, was wir sind?"

Ted schüttelte leicht den Kopf. "Nein, keine Ahnung. Was sind wir denn? Kollegen? Mehr als Kollegen?"

Claire riss die Augen auf. Ihre Hand legte sich auf Teds Hand, die ihren Arm noch immer stützte. "Du bist der verklemmte Witzbold mit der Weihnachts-Krawatte", hauchte sie.

"Danke für das Kompliment." Ted verbiss sich das Lachen.

"Ich bin die Neue, die so zu tun versucht, als ob es ihr nichts ausmache, dass sich alle schon ewig kennen. Aber das Schlimmste ist: wir beide zusammen sind die Klatschtanten!"

"Wie schrecklich", erwiderte Ted im gleichen düsteren Weltuntergangs-Tonfall wie Claire. "Kann man was dagegen machen?"

Claire schüttelte mit ernster Miene den Kopf. "Wir sind so lange die Klatschtanten, bis sich ein paar Neue dazu qualifizieren."

"Das wird 'ne lange Zeit bis zur nächsten Weihnachtsfeier. Die sollten wir uns so gemütlich wie nur möglich machen." Ted prostete Claire mit seinem Cocktail zu und trank einen großen Schluck.

"Die beste Lösung ist wohl noch ein Cocktail", pflichtete ihm Claire schief grinsend zu.

 

 

"Das ist die langweiligste Weihnachtsfeier, die ich kenne." Dieses Mal war ihr Cocktail blau. Ein wirklich hübsches Blau, wie Claire neidlos zugeben musste. Und er duftete nach Cocos. Nichtsdestotrotz. "Das hier ist sogar noch schlimmer als sämtliche Familienfeiern bei uns Zuhause."

"Du übertreibst sicher, oder?" Ted verbiss sich erfolglos das Grinsen. "Was kann schon schlimmer sein, als das hier?"

"Du kennst meine Familie eben nicht", fügte Claire hinzu und machte eine bedeutungsschwangere Pause. Ja, nichts kam an ihre Familie ran. Mit ihrer nervösen Mutter, Nate und Brenda, die sich vor aller Augen beharkten. Nur Maya war in Ordnung. Die war authentisch. Sie verstellte sich nicht, sondern war einfach nur Maya. War das nicht traurig? Das einzige Familienmitglied, das an den Feiertagen aushaltbar war, trug noch Windeln und bekam kaum einen anständigen Satz heraus.

"Ich wette, du kämst klasse bei meiner Familie an."

Ted grinste ein bisschen verlegen.

"Doch ehrlich", versuchte Claire ihn zu überzeugen. "Anzugträger kommen in meiner Familie echt gut an. Auch die, die nicht in den Särgen liegen."

"Claire! Claire!"

Claire zuckte zusammen, als sie die Stimme hörte.

Kirsten kam winkend auf sie zugerannt. In ihrer erhobenen Hand schwenkte sie ein Cocktailglas, dessen pinker Inhalt gefährlich nahe hin und her schwappte. "Mach ein Foto von uns, Claire, mach ein Foto!", freute sich Kirsten unbändig und legte einen Arm um Teds Schultern, der aussah, als wäre er jetzt lieber in einer römischen Arena zur Zeiten Kaiser Neros, um dort gegen Löwen und Tiger kämpfen zu müssen. Dabei sah er Claire hilfesuchend an.

Claire seufzte.

Es war Zeit, Kirsten die schlechte Nachricht zu überbringen.

"Ich habe meine Kamera zuhause vergessen." Scheinbar betreten warf Claire ihrer Kollegin einen möglichst unschuldigen Augenaufschlag zu. Hoffentlich kaufte sie es ihr ab... "Tut mir echt leid."

"Oh."

Es funktionierte.

"Na macht nichts", flötete Kirsten. Ihre aufgesetzte Heiterkeit schmerzte schon fast in den Ohren. Sie sah zu Ted, der wie das Kaninchen vor der Schlange wirkte. "Als ob wir Fotos bräuchten, oder?" Sie zwinkerte Ted zu, der hilflos zu lachen begann. Endlich ließ sie ihn wieder los und rannte mit ihrem Cocktail zum nächsten Opfer.

Ted atmete sichtlich auf.

"Hoffentlich verpasse ich die nächste Weihnachtsfeier." Mit offenem Mund sah Claire Kirsten nach, die wie ein aufgezogenes Spielzeug von einem Kollegen zum anderen huschte und dabei lauthals ihre Belanglosigkeiten verteilte.

"Wenn nicht, kannst du sicher sein, dir das mit dem vergessenen Fotoapparat jedes Mal wieder von neuem anhören zu müssen."

Claire warf Ted einen vorwurfsvollen Blick zu. "Du hättest mich ja vorher warnen können."

"Was? Und mir den Spaß verderben?" Ted lachte tonlos auf. "Nein, junge Frau, da müssen Sie schon selbst durch."

"Vielen Dank auch..." Claire nippte an ihrem Cocktail.

Von irgendwoher hatte Ted plötzlich ein Canapé bekommen. Er hielt Claire das Stück Brot mit Grünzeug unter die Nase. Es hatte die Größe einer Briefmarke und mindestens fünf verschiedene Beläge, was bei dieser Größe nahezu an ein Wunder der Statik grenzte.

"Hier, der Abend wird sicher lang", Ted gab Claire das mundgerechte – naja, Nahrungsmittel war wohl etwas übertrieben.

Mit spitzen Fingern nahm Claire das Häppchen entgegen. "Plötzlich hätte ich furchtbar Lust auf den Kartoffelsalat von meiner Mutter."

"Ist der so gut?" Ted grinste amüsiert.

"Nein, eben nicht." Hatte sie das Teil schon gegessen? Sie hatte es gar nicht mitbekommen. "Aber der macht wenigstens satt."

"Wie wäre es mit Kuchen?" Ted war schon mit Blicken auf der Suche nach etwas Essbarem, was größer als eine Briefmarke war. "Hey, hier gibt es Brownies", rief er erfreut aus. "Sogar mehrere Sorten."

"Na klasse", seufzte Claire laut auf. Sie war also nicht nur die Neue, die sich nichts traute, und die Klatschtante, die den Fotoapparat vergessen hatte. Jetzt war sie auch noch die Einfallslose, die eines von fünf Blechen Brownies mitgebracht hatte.

 

 

Stolz wie ein Jäger nach erfolgreicher Jagd kam Ted einige Augenblicke später mit einem Pappteller in der Hand zurück, in dessen Mitte ein Stück ihres eigenen Kuchens lag.

So langsam fühlte sich Claire hier wirklich wie Zuhause. Es war alles so vertraut. Und das war kein Kompliment.

"Fehlt eigentlich nur noch die ein oder andere Leiche." Claire lachte über ihre eigene Feststellung. Abwartend sah sie zu Ted, der etwas brauchte, um den Witz zu verstehen.

Ted warf ihr einen unkonzentrierten Blick zu, der gleich darauf an ihrer Wange und ihrem Ohr vorbei wanderte.

"Ich glaube, wir brauchen einen Notarzt", murmelte er abwesend und stellte den Pappteller auf der improvisierten Cocktailbar ab. Sie hatten sich den ganzen Abend kaum zehn Schritte davon entfernt gehabt.

"Komm schon, so schlimm ist mein Kuchen auch wieder nicht", witzelte Claire. Doch Ted ging nicht darauf ein und das erste Mal fiel Claire auf, dass er an ihr vorbei sah. Sie folgte seinen Blicken und drehte sich um.

 

Auf dem Boden lag umringt von anderen eine Frau, die Claire hier zwar hin und wieder gesehen, aber bisher kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Und sie lag etwas zu reglos für Claires Geschmack da. Zu vertraut reglos. Schockiert sah sie zu, jemand den oberen Knopf an der Bluse der Unbekannten öffnete. Jemand anderes fühlte ihren Puls.

Das dunkle Haar umrahmte das Gesicht der Fremden, deren Gesichtsfarbe trotz des Make-Ups seltsam bleich war. Was für eine Verschwendung. Ausgerechnet eine ihrer Kolleginnen, die sie gerne näher kennengelernt hätte.

Claire wandte sich ab.

 

 

"Wer hätte mit so einem Ende gerechnet?" Ted sah vorsichtig zu Claire hinüber, die, nachdem Alice abtransportiert worden war, bis jetzt ohne ein Wort gesagt zu haben in ihr Auto gestiegen und losgefahren war.

Eine nachdenkliche Falte hatte sich zwischen Claires Augenbrauen gebildet, doch sie schwieg weiterhin.

Vorsichtig hob Ted die Folie des Kuchens an, der auf seinen Knien thronte. "Dein Kuchen riecht wirklich gut."

"Brownies", flüsterte Claire vor sich hin. "Es sind Brownies. Und sie sind schrecklich. Niemand hat davon gegessen."

"Da irrst du dich." Ted schlug die Folie zurück. "Es fehlen zwei Stücke. Eines habe ich genommen und jemand anderes das zweite."

"Unmöglich." Claire fühlte sich, als wache sie endlich aus ihrer Schockstarre auf. "Ich hatte die verdammten Brownies den ganzen Abend im Blick. Niemand hat sich davon was genommen."

"Einspruch, Euer Ehren." Ted hob das silbern glänzende Kuchenblech hoch. Zwei viereckige Portionen waren aus dem dunklen Kuchen herausgeschnitten.

Claire löste ihre Blicke kurz von der Straße, die nahezu menschenleer war.

"Das sind nicht meine Brownies", stellte sie fest. "Meine hatten keinen Schnickschnack wie Karamellfrosting." Auf die Idee hätte sie auch mal kommen können. Vielleicht wären ihre Brownies dann auch besser bei der Belegschaft angekommen.

"Schade, da wird sich wohl jetzt jemand anderes über deine Brownies freuen."

Claire schüttelte leicht den Kopf. Teds Versuch, sie nicht wie die Idiotin des Abends dastehen zu lassen, war irgendwie rührend.

Sie hielten vor Teds Appartement.

Ted öffnete die Tür. Er stieg aus dem Wagen und beugte sich dann noch einmal zu Claire hinab, die ein gequältes Lächeln hervorbrachte.

"Der Abend war trotzdem ganz-" Ted hielt inne, als Claire die Augen verdrehte. "Gut, bis auf den Schluss." Er biss sich auf die Lippe und dachte nach. "Und die Krawatte", fügte er hinzu und endlich lachte Claire.

 

 

Bis in jeden Knochen erschöpft schlich sich Claire in die Küche. Sie stellte das Blech mit den fremden Brownies auf dem großen Küchentisch ab und suchte nach einem Stück Papier und etwas zu schreiben.

Lasst es euch schmecken und weckt mich bitte nicht vor Neujahr. Claire

Sie lehnte den Zettel gut sichtbar gegen die Brownies, nahm sich ein Glas und zwei Aspirin und machte sich auf den Weg zu ihrer kleinen Wohnung über der Garage.

 

 

"Gute Morgen", begrüßte Ruth ihre Tochter fröhlich, die ziemlich verschlafen an ihr vorbei zur Kaffeemaschine hinüber tappte.

"Morgen", erwiderte Claire schlapp. Sie nahm sich eine Tasse des heißen Kaffees und setzte sich damit zu ihrer Mutter an den Küchentisch.

"Und wie war eure Feier?", erkundigte sich Ruth interessiert. Seit Nathaniel Seniors Tod war sie an allem interessiert. Noch mehr als früher.

"Ganz gut", murmelte Claire verschlafen und nippte an ihrem Kaffee. Sie hatte nicht den Hauch eines Katers und dass, obwohl sie nicht einmal die Aspirin genommen hatte. Sie war, gleich nachdem sie sich ins Bett gelegt hatte, eingeschlafen und erst heute morgen wieder wach geworden. Vermutlich war die Feier einfach nicht lange genug gewesen, um sich so etwas wie einen Minikater anzutrinken.

"Vielen Dank für die Brownies." Ruth hob kurz den Kopf von der Zeitschrift, die vor ihr auf der Tischplatte lag.

"Keine Ursache." Claire schloss die Augen und ließ den heißen Kaffeedampf in ihre Nase steigen. Verdammte Brownies.

"Ich werde später mit Nate und David über eine Betriebsfeier sprechen. Was meinst du?"

Jetzt hatte Ruth die volle Aufmerksamkeit von ihrer Tochter.

"Bitte nicht", hauchte Claire ungläubig. "Du weißt ja nicht, was du damit anrichtest." Am Ende war sie wieder die Idiotin, die sich mit etwas Selbstgebackenem blamierte.

"Sei doch nicht immer so negativ", ermahnte Ruth ihre Tochter. "Gleich nachher werde ich mit deinen Brüdern darüber sprechen, sobald sie die Kundin hergerichtet haben. Viel Arbeit haben sie mal ausnahmsweise nicht."

Claire lächelte mild. "So früh schon Kundschaft?"

"Sie kam schon ziemlich früh heute morgen, was du wüsstest, wenn du zu normalen Zeiten aufstehen würdest." Ruth blätterte weiter in ihrem Magazin. "Sie brach wohl gestern abend auf einer Feier tot zusammen. Sie-" Ruth hob den Kopf, als Claire von ihrem Stuhl auffuhr.

"Entschuldige mich bitte, Mom."

 

 

"Sag mir bitte bitte, dass sie nicht Alice heißt!"

"Okay, sie heißt nicht Alice", antwortete David seiner Schwester beruhigend, die aufgelöst vor ihm im Vorbereitungsraum stand und ihn aus weit geöffneten Augen ansah. Er streifte sich die Einweghandschuhe von den Händen und warf sie in den Mülleimer. "Warum ist es denn so wichtig für dich, dass sie nicht Alice heißt?", hakte er bedächtig nach.

"Obwohl sie natürlich Alice heißt", warf Rico aus dem Hintergrund ein. Er zog die Abdeckung über den auf dem metallenen Tisch aufgebahrten Leichnam. Nicht schnell genug. Claire hatte das dunkle, wellige Haar der Toten bereits erkannt.

"Oh nein", stieß sie leise aus. Ausgerechnet Alice. Ein kalter Schauer lief ihr über die Arme bis in ihre Fingerspitzen, die sich plötzlich taub anfühlten.

"Woher kanntest du sie?"

Claire sah ihren Bruder eine Weile stumm an. "Sie arbeitete bei Braeden Chemical und brach gestern Abend auf unserer Weihnachtsfeier zusammen", weihte sie David ein, der einen Sekundenbruchteil brauchte, bis er verstand.

"Tut mir leid für dich." Es klang ehrlich.

"Wenigstens starb sie glücklich", meldete sich Rico erneut aus dem Hintergrund zu Wort.

"Was?" Claire sah von David zu Rico hinüber, die sich bedeutsame Blicke zuwarfen.

"Eure Weihnachtsfeier war wohl der Brüller", witzelte Rico weiter. Sein Grinsen reichte ihm nun von einem Ohr zum anderen. "Sie hatte 'ne schöne Menge Pot intus." Er sah auf die zugedeckte Leiche vor sich hinab. Die Konturen ihrer Nase und der Augenhöhlen zeichneten sich geisterhaft unter dem weißen Tuch ab. "Dabei wirkt sie nicht mal wie jemand, der auf das Zeug steht."

"Stille Wasser sind eben tief", frotzelte David.

"Sie hat ja nicht mal geraucht", warf Claire atemlos ein. Das einzige, was sie von ihrer nahezu völlig unbekannten Kollegin wusste, war, dass sie nie draußen bei den Rauchern gestanden hatte. Der Grund, weshalb sie so neugierig auf sie gewesen war.

"Geraucht hatte sie das Zeug auch nicht", belehrte Rico Claire. Er hatte mittlerweile wieder die Kontrolle über seine Mundwinkel. "Es war wohl in Keksen oder so. Ihr habt da scheinbar einen Scherzkeks zum Kollegen."

"Es war aber nicht die Todesursache", fügte David hinzu. "Sie hatte eine allergische Reaktion auf die Glasur." Erstaunt sah David seine erbleichende Schwester an.

"Die verdammten Brownies", fluchte Claire heiser. Sie hörte kaum das, was David ihr sagte. In ihren Ohren rauschte ihr Blut wie ein tosender Wasserfall. Verdammte Brownies! Verdammt! "Verdammt, die Brownies!"

Ratlos sahen David und Rico Claire nach, die aus dem Raum stürmte.

 

"Mom! Mom, wo sind die verdammten Brownies?"

"Claire Simone Fisher! Wir sind hier nicht in einer Hafenkneipe!"

"Wo sind die Brownies, Mom?" Claire raste kopflos durch die Küche auf den Kühlschrank zu und riss dessen Tür auf, dass die Flaschen darin heftig klirrend gegeneinander stießen. "Wo sind die Brownies, Mom? Bitte sag mir, ihr habt keine gegessen!" Sie hatte keine Zeit, ihre fehlenden Manieren zu diskutieren. Sie musste ihre Familie vor dem Pot retten!

Wie ein Schlag traf es Claire, als sie sich umdrehte und das leere Kuchenblech in der Spüle liegen sah. Von den Brownies keine Spur.

"Wer hat davon gegessen?", schrie Claire ihre Mutter an. Sie war den Tränen nahe. Maya. Oh Gott... Bitte nicht Maya.

Wortlos ging Ruth an ihrer Tochter vorbei zum Kühlschrank hin. Sie öffnete das obere Eisfach, nahm etwas heraus, das in Plastikfolie eingewickelt war und warf es donnernd auf den Küchentisch.

"Hier sind deine verdammten Brownies!"

"Wer hat davon gegessen? Ihr habt hoffentlich nichts davon gegessen!" Claire versuchte, durch die beschlagene Folie hindurch die Stücke abzuschätzen. Brenda war schwanger, wenn sie-

"Niemand hat bisher davon gegessen." Ruth klang beherrscht, was bedeutete, dass sie zutiefst verletzt war. "Niemand hat bisher davon gegessen, weil sich einfach niemand in dieser Familie die Zeit nimmt, sich mit den anderen an den Tisch zu setzen und gemeinsam ein paar verfluchte Brownies zu essen. Die beiden Stücke daraus fehlten schon vorher." Sie zog den Zettel, den Claire geschrieben hatte, aus der Tasche ihrer Schürze und pfefferte ihn neben die gefrorenen Brownies. "Das nächste Mal stellst du uns nichts hin, wenn du nicht möchtest, dass wir davon etwas essen."

"Das ist doch nicht der Grund." Claire war erleichtert ohne dass sie sich besser fühlte. Beschissenes Gefühl. "Ich erkläre es dir später. Zuerst muss ich die Brownies entsorgen."

 

 

"Mach keine Witze." Mit offenem Mund sah Ted Claire an, die vor ihm stand und das Blech voller Brownies in den Händen hielt, das er gestern Abend von der Feier mitgenommen hatte.

"Über Pot mache ich keine Witze, Herr Anwalt."

"Das ist ein Beweisstück", sagte Ted vorsichtig und betrachtete sich das Blech mit den gefrorenen braunen Küchlein, die Claire nun auf seinem Wohnzimmertisch abstellte.

"Das weiß doch niemand." Claire folgte Teds Blicken auf die Kuchenstücke mit dem weißen Pelz auf der Glasur. Kleine Eisspitzen hoben sich davon ab.

"Stimmt." Ted nickte zu den Brownies. "Gefrierbrand", stellte er trocken fest.

"Uninteressant", platzte es aus Claire hervor. Sie wartete, bis Ted den Blick hob und sie ansah. Ihre Mundwinkel bogen sich zu einem breiten Grinsen. "Hast du eine Mikrowelle?"

 

 

 



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