24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 1. Türchen: Pink ---------------- Mürrisch verließ ich das Parkhaus, wo ich nach bestimmt zehnmal im Kreis fahren endlich einen Platz ergattert hatte, und zwar im obersten Stockwerk. Ich rückte meinen Mantelkragen zurecht und ging die Straße entlang, auf die Ampel zu. Mein Ziel war das griechische Restaurant, wo heute unsere Weihnachtsfeier stattfand, die Betriebsweihnachtsfeier. Was hatte mich geritten, zuzusagen? Mein blöder Optimismus, gepaart mit der Hoffnung darauf, einen netten Abend mit Leuten zu verbringen, mit denen ich nichts gemeinsam hatte außer, dass wir täglich acht Stunden in dergleichen Firma arbeiteten? Nun… manche Dinge musste man einfach hinter sich bringen. Als ich an der Ampel den Blick schweifen ließ, wurde ich gefangen genommen von der pinkfarbenen Haarpracht einer Frau in Jeans und schwarzer Jacke auf der anderen Straßenseite. Nicht das knallige Pink wie von jener Telefongesellschaft, sondern ein zartes, pastelliges Zuckerwattenpink. Schon bog sie links um die Ecke, und da wurde die Ampel endlich grün. Mein Herz tat einen Satz; schrie mich an, der langbeinigen Schönen zu folgen, das sollte oberste Priorität haben. Meine letzte Beziehung war schon ein Weilchen her. Natürlich musste ich es clever einfädeln, ihr zuvorkommen und es so aussehen lassen, als wäre ich ihr ganz zufällig hier über den Weg gelaufen und mir einen Einstieg in ein Gespräch überlegen, der nicht allzu plump war. Statt nach rechts zum Griechen folgte ich ihr, die ganze enge Gasse entlang. Wo mochte sie bloß hinwollen? Wenn sie in einen Club ging, war das perfekt. Wenn sie allerdings Freunde besuchte, hatte ich schlechte Karten. Mein Adrenalinspiegel stieg merklich an. So viel Action würde ich jedenfalls nicht auf der Weihnachtsfeier haben. Auf der Arbeit gab es ja nicht mal Frauen, die mir gefielen. Nun war mir klar, wohin sie wollte: Auf den Weihnachtsmarkt. Ich stand plötzlich inmitten von Buden, die ganz und gar in rosa Knisterpapier eingewickelt waren wie Geschenkpäckchen. Keine Bude, die nicht bunt, glitzernd oder funkelnd daherkam, oder manchmal auch alles zusammen. Das war kein normaler Weihnachtsmarkt... „Dat es ija Wahnsinn. de janze Hötte! So bunt und kitschig!“, hörte ich eine ältere Dame im Dialekt sagen, die neben einem Mann herging, der ihr Sohn sein könnte. „Wie lange jit et diesen Weihnachtsmarkt eigentlich? „Erst wenige Jahre“, antwortete ihr Begleiter. Die Pinkhaarige stand nur ein paar Buden weiter beim Glühweinstand an. Mir lief trotz der Kälte der Schweiß aus sämtlichen Poren, und um mich wieder zu sammeln, suchte ich an einem Stand, wo glitzernde Dekoartikel verkauft wurden, nach einem Geschenk für eine gute Freundin, die solche kitschige Kinkerlitzchen liebte. Meine Entscheidung fiel auf einen Engel, der dieselbe Pose eingenommen hatte wie einer der beiden auf dem Gemälde Raffaels. Dann aber hielt mich nichts mehr davon ab, meine Schöne am Glühweinstand aufzusuchen, der die Quelle der musikalischen Untermalung war. Nach Chris Rea, und dem unverzichtbarem WHAM war nun „Do they know it's Christmas time“ an der Reihe. „Spenden für den Welt-Aids-Tag heute?”, rief jemand in Marktschreierstimme hinter mir. Ich drehte mich um zu dem Mann, der mich strahlend anlächelte, als ich ein Zwei-Euro-Stück rauskramte und es in seine Spardose einwarf. Warum nicht – die Adventszeit hatte begonnen; ich hatte noch keine nennenswerte gute Tat vollbracht dieses Jahr, also zumindest nicht, dass ich wüsste. Außerdem – wer so oft und gern Pornos konsumierte wie ich, und das auch noch gratis, der durfte auch mal zu diesem Zweck spenden. Ich reihte mich in die Schlange vor dem Stand ein, als mir von der Seite überraschend ein Glas Punsch gereicht wurde. Neben mir stand mein Objekt der Begierde und mein Herz setzte aus. „Ich dachte, ich gebe meinem Beschatter einen aus.“ Uff! Diese warmen braunen Augen und dieses Lächeln mit den Grübchen am Mundwinkel ganz aus der Nähe! Aber es war keine Sie, sondern ein Er: Ein junger Mann mit weichen Gesichtszügen und androgyner Statur, die man leicht für die einer sportlichen Frau halten konnte, vor allem in einer dicken Winterjacke. War ich überrascht? Vielleicht ein bisschen, aber nicht von meiner Reaktion auf ihn, die absolut nicht in Ekel umschlug. Genauso wenig wie ich Ekel bei den Pornos empfand, wo keine Frauen mitspielten…im Gegenteil. Unbewusst war ich wohl meinem Herzen gefolgt. „Danke!“ Ich nahm einen Schluck, ohne den Blick von ihm zu nehmen, registrierte den süßen, zimtigen Geschmack. „Deine Haare…sie sind fantastisch! Steht dir ausgezeichnet, diese Farbe!“ Er lächelte mit gequältem Gesichtsausdruck. „Meinst du das im Ernst?“ „Aber ja! Pink ist eine coole Farbe. Pink ist das neue Schwarz! Es lebe Pink!!“ „Jetzt übertreibst du aber!“, lachte er. „Eigentlich habe ich eine Wette verloren. Von selbst wäre ich sicher nicht auf die Idee gekommen, sie mir schweinchenrosa zu färben.“ „Ach so ist das.“ Wir mussten beide lachen. Und nahmen dann noch einen Schluck Punsch. „Kommst du von hier?“, wollte er wissen. Ich nickte, und sagte, als was ich arbeitete. „Und was machst du?“ „Ich gehe hier auf die Universität. Und natürlich auch gerne ins Nachtleben...“ Verschwörerisch grinste er. „Übrigens, ich heiße Valentin. Nachher kommen noch ein paar Freunde und wir machen die Clubs unsicher. Kommst du mit?“ „Weißt du, ich sollte eigentlich schon seit einer halben Stunde bei meiner Betriebsweihnachtsfeier sein…“ „Und wieso bist du es nicht?“, fragte er frech nach. „Nicht, dass dein Chef noch schlecht von dir denkt.“ „Ich sah in der Masse einen Kopf mit Haaren wie Zuckerwatte, und dem musste ich einfach hinterher“, gab ich zu. „Also… krieg ich deine Handynummer, Valentin?“ „Meine Nummer?“ Er lächelte verschmitzt und zückte sein Smartphone. „Okay. Unter welchem Namen darf ich dich denn einspeichern?“ „Max.“ „Nun, Max. Ich sollte dir vielleicht noch offen was sagen…“ Seine Miene wurde ernst. „Ich bin ganz Ohr?“ „Ich bin HIV-positiv, nur damit du es weißt.“ „Ok“, sagte ich dazu. Ich bewunderte seine Offenheit. „Deswegen meinst du, ich würde dich jetzt nicht mehr kennenlernen wollen?“ „Ist meine Sorge denn berechtigt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wenn es dir nichts ausmacht, dass ich dreiunddreißig bin?“ Sein Lächeln, oh, sein wunder, wunderschönes Lächeln! Scheiß auf die Weihnachtsfeier – die fand ja jedes Jahr statt. Ihn aber gab es nur heute, hier und in Pink. 2. Türchen: Chemie ------------------ Es ist fast sechs, und ich brüte immer noch am Schreibtisch über meinen Schulheften. Viel früher hätte ich anfangen sollen zu lernen, denn die Schulaufgabe ist nächste Woche. Aber Lernen, für Chemie?! Da gibt es tausend bessere Dinge, denen ich Vorrang gewährt habe, was ich jetzt bereue. Zum Beispiel Plätzchenbacken. Gierig nehme ich mir den letzten Zimtstern von dem Teller, den mir meine Mutter zur Motivation hingestellt hat. Mein Tee ist inzwischen kalt geworden. Ich komme nicht wirklich weiter, kann die Aufgaben nicht lösen, bei denen mir nicht mal mein Vater helfen kann. Nichts gegen Naturwissenschaften. Mathematik liebe ich. Zahlen, Rationalität, Logik, alles ergibt Sinn. Doch Chemie? Das ist Buch mit Sieben Siegeln für mich. Hier kommt es nur darauf an, wo man die Striche setzt – statt mit Zahlen hat man es mit Buchstaben zu tun. Die Lehrerin zeichnet Buchstabengebilde an die Tafel, faselt was von „Bindungen“ und schon wird eine Reihe von C zu Alkohol. Mit dem Stoff hinke ich so weit hinterher, man kann fast nicht glauben, dass ich in die zehnte Klasse gehe und nächstes Jahr meinen Realschulabschluss mache. Oh Mann! Ich könnte heulen! Draußen hat es zu schneien angefangen, bemerke ich durch einen Blick aus dem Fenster, wo die Straßen im Dunkeln weiß leuchten. Die Aldehyde sind nicht mein einziges Problem. Ich habe noch ein viel größeres: Maja. Oder genauer gesagt, das Fehlen von Maja. Weil sie jetzt einen Freund hat. Einer, der Pullis trägt, die ihm bis zu den Kniekehlen reichen. Er geht in unsere Parallelklasse und seinen Namen vergesse ich andauernd, weil mein Gehirn sich weigert, ihn ins Langzeitgedächtnis aufzunehmen. Nach den ganzen Prüfungen wollten wir beide eine Woche Urlaub machen bei ihrer Tante in Berlin. Wir waren seit der fünften Klasse die besten Freundinnen. Haben alles zusammen gemacht. Nebeneinander gesessen, zusammen gelernt, unser Pausenbrot geteilt. Viel miteinander genommen und oft in einem Bett geschlafen. Gegen die Zicken aus der Klasse zusammengehalten. Meine Pinnwand ist voll mit Fotos von uns. Sie wohnt im Nachbarort und ist oft bei mir, weil es hier so ruhig und mein Zimmer so groß ist. Maja kann ich alles sagen – nur nicht, dass ihr Freund scheiße ist. Seit einer Woche redet Maja nicht mehr mit mir, nur noch mit Nadine, neben die sie sich jetzt gesetzt, hat um mir eins auszuwischen! Weil ich ihm ins Gesicht gesagt habe, dass es mir egal ist, ob er Daniel oder Dirk oder Dorian heißt und ich ihn nicht kennenlernen will. Das hat sie mir nicht verziehen. Wir haben uns doch geschworen, dass es niemals ein Typ schaffen wird, uns auseinander zu reißen. Dass wir die besten Freundinnen für immer bleiben werden. Doch jetzt ist ironischerweise genau das geschehen! Maja… Ich brauche sie doch so sehr. Ich kämpfe gegen die Tränen an. Ich wollte unbedingt ihre Reaktion auf mein Weihnachtsgeschenk erleben! Und Silvester wollten wir zusammen feiern und gleichzeitig in ihren Geburtstag am ersten Januar hinein feiern. Was, wenn wir nächstes Jahr von der Schule abgehen und uns dann für immer aus den Augen verlieren? Schon der Gedanke tut so weh wie ein Tritt in den Magen. Die Türklingel. Wer kann das sein? Ich lege den Bleistift zur Seite und gehe nach unten. „Hey“, begrüßt mich Maja mit ihrem Maja-Lächeln. Auf ihren Wollmantel fallen ihre glatten blonden Haare, die ein paar Schneeflocken aufgefangen haben. Und ich sage gar nichts, umarme sie nur, spüre die Kälte an ihrem Gesicht. Meine Maja... „Sitzt du gerade an Chemie? Hab ich mir gedacht.“ Sie geht rein, zieht ihre Stiefel und ihren Mantel aus und folgt mir dann nach oben. „Was ist überhaupt der Unterschied zwischen einem Molekül und einem Atom?“, frage ich genervt eine halbe Stunde später, als wir zu zweit an meinem Schreibtisch sitzen, und sie prustet angesichts meiner Wissenslücken. „Ich kapier dieses blöde Fach nicht, und wenn ich ins Zeugnis eine Fünf kriege, reißt mir meine Mutter den Kopf ab! Hilf mir, Maja!“ „Also, ein Molekül… Hm, wie erkläre ich das am besten? Atome gehen Bindungen ein – wie Liebespaare.“ Ich erröte. „Ja. Wie du und-…“ Ich stocke, sein Name fällt mir natürlich nicht ein, doch Maja erspart mir die Blamage, indem sie mir ins Wort fällt: „Ich hab Dennis den Laufpass gegeben.“ „Wieso?“, frage ich nach. „Hat die Chemie doch nicht gestimmt?“ Sie zuckte die Achseln. „Von Anfang an nicht. Ich wollt eigentlich nur wissen wie ist, einen Freund zu haben, und jetzt weiß ich es.“ Und ihre Augen starren mich an, so tief und eindringlich, dass ich woanders hinschauen muss. „Magst du auch Früchtetee? Ich muss kurz nach unten, um neuen zu kochen.“ Als mit dem Tablett, der Kanne und den Tassen wieder ins Zimmer komme, liegt Maja auf meinem Bett. Sie reagiert zuerst nicht, als ich ihr etwas zurufe, denn sie hat ihre Kopfhörer eingestöpselt. Ich krieche zu ihr aufs Bett, bekomme einen Ohrstöpsel ab. Still lausche ich der Musik, die Augen geschlossen, neben ihr liegend, bis sie verklingt. „Maja. Bitte sei nicht böse, dass ich es nicht so schnell kapiere. Du bist eben ein Chemie-Genie. Eine beste Freundin mit Nachhilfelehrer-Bonus. Du solltest mit der Frau Schmidt die Plätze tauschen, du kannst das viel besser erklären. Aber hab Geduld mit mir…Ich glaube, drei- bis viermal müssen wir uns noch treffen. Bitte. Und es tut mir Leid, was ich über Dennis gesagt habe.“ Doch sie lächelt nicht, schaut mir nur streng an. Hab ich sie beleidigt? „Nur das, Lucy?!“ Sie macht Anstalten, das Bett zu verlassen, doch stattdessen rollt sie sich auf mich. Ich mustere ihr Gesicht inmitten ihrer weichen Haare, die mich am Hals kitzeln; schaue in ihre Augen, während sie heiße Luft ausatmet. Dann – mir kommt es vor wie in Zeitlupe – senkt sie ihre Lippen auf meine. Wir küssen uns, auf meinem Bett, während wir uns umarmen, und die Chemie-Schulaufgabe so weit weg ist wie ein fremder Kontinent. Alles was zählt, ist Maja, die mir ihre Liebe zeigt; mit ihr an meiner Seite fürchte ich mir vor nichts und niemanden. Alles ist wieder gut – sogar besser als vorher. 3. Türchen: Treue ----------------- Tücher in allen erdenklichen Farben und Mustern hingen an Haken, und die Regale standen voll mit Kerzen, Truhen und mysteriös anmutenden Skulpturen, die Wände waren mit schwarzem Samt verkleidet. Aus der einen Ecke mit den Duftölen strömte ein süßlicher Duft. Bea war noch nie in so einem sonderbaren Laden gewesen. „Guten Tag“, begrüßte sie die alte Frau, die hinter der Theke saß. Bea betrachtete ihr faltenüberzogenes Gesicht mit Ehrfurcht. Sie sah so allwissend und geheimnisvoll aus. Passte perfekt hier hinein, in dieses Esoterik-Lädchen. Zukunft vorhersagen: 5 Euro für eine Woche, 19 Euro für einen Monat, verhieß das kleine Schild auf der Theke. Und ein weiteres: Stehlen bringt dir 7 Jahre Pech! „Tach. Ich…schau mich nur um.“ „Wolle zum Stricken finden Sie da hinten, in dem Korb bei den Stoffen“, sagte die Alte, ohne aufzusehen. Sie war in ein Buch vertieft. Kopfschüttelnd ging Bea zur Wolle und schaute sich die verschiedenen Farben an. Woher hatte sie gewusst, dass sie nach Wolle suchte? Gegen Krankheiten, für Glück oder für die Ewige Treue... Sie nahm ein Wollknäuel nach dem anderen aus dem Korb. Ewige Treue klang gut, und sie waren auch nicht viel teurer als normale Wolle. Doch was konnte sie denn stricken für Sascha, das ihnen Ewige Treue bescherte? Einen Schal? Eine Unterhose? Eine Mütze? War es dann mit der Treue vorbei, wenn Sascha sie abnahm? Sie entschied sich für Wolle in schönem, satten Grün wie die Wiesen auf der Alm, wo Sascha und sie im Sommer zusammen Urlaub gemacht hatten, bezahlte und verließ das Geschäft. Länger hätte sie es eh nicht ausgehalten, weil sie von den Räucherstäbchen bereits Kopfschmerzen bekam. V on der ruhigen Seitenstraße aus ging sie auf die belebte Fußgängerzone. Von dort aus konnte man nach links zum Einkaufszentrum und nach rechts in den kleinen Park. Und genau da wollte sie hin. Das Wetter war perfekt. Keine grauen Wolken, nicht zu kalt heute. Die perfekte Auszeit vom Uni-Stress. Enten schwammen im Teich, wurden gefüttert von einer jungen Frau im schwarzen Mantel. Es war so idyllisch, das man kaum glauben konnte, mitten in der Stadt zu sein. Bea pflanzte sich und ihre Umhängetasche auf eine der Bänke und packte die Wolle und ihr Strickzeug aus. Einige Maschen hatte sie bereits gestrickt, als plötzlich die junge Frau neben ihr auf der Parkbank Platz nahm. Sie schaute die Wolle an, oder genauer gesagt, das goldene Etikett auf der Wolle. „Ist das aus diesem Esoterik-Laden? Für die Ewige Treue?“ „Ja.“ Bea grinste. „Ein Weihnachtsgeschenk für meinen Schatz. Mal schauen, ob es wirkt…“ Doch auf dem Gesicht der blonden Frau spiegelte sich Entsetzen und sie begann zu zittern. „Gibt es diesen Laden etwa immer noch?! Man sollte ihn schließen!“ „Wieso das denn?“ Bea ließ sich nicht beirren und strickte weiter. Der Faden floss nur so zwischen ihren Fingern hindurch. „Es ist eine unglaubliche und verrückte Geschichte. Vor vier Jahren ist sie mir passiert. Damals war ich noch Studentin… und seit anderthalb Jahren glücklich mit meinem Freund, Kai. Doch weil ich mal betrogen worden war, wollte ich sichergehen, Glück in der Liebe zu haben. Durch Zufall habe ich in der Adventszeit diese Wolle entdeckt, als ich nach einem Geschenk gesucht habe, und diese Wolle hat mich schließlich überzeugt…“ Sie unterbrach die Geschichte, um nach einem Taschentuch zu kramen. Bea strickte weiter. „Jedenfalls, ich habe ihm einen schönen Schal gestrickt. Aber!“ Sie schniefte. „Wenn ich vorher nur gewusst hätte…“ „Was gewusst?“ Bea blickte genervt auf. Die sollte endlich mal zum Punkt kommen. „Dass in dieser Wolle böse Magie steckt!“, flüsterte die Frau und ihre Augen quollen fast hervor. Bea prustete. Ja, sicher, ganz bestimmt. Böse Magie! „Der Tag…ich kann mich genau erinnern. Es war ein Montag, der zwölfte Dezember. Und ich war bei einer Freundin, für die Uni lernen. Ihr habe ich von dem Schal erzählt, und sie hat sich natürlich drüber lustig gemacht. Ich habe ja auch nicht so wirklich dran geglaubt. Aber als Kai dann gestorben ist…“ Die Schultern der Frau bebten. „Nicht einfach gestorben. Er wurde erdrosselt! Von diesem Schal! Es war dieser verdammte Schal und nichts sonst. Ewige Treue!“ „Was hat das damit zu tun, dass er mit einem Schal erdrosselt wurde?“ „Er hat mich an jenem Tag betrogen. Oder, wollte mich betrügen, mit einer gemeinsamen Freundin, Clarissa hieß sie. Das kam vor Gericht dann heraus, sie wurde angeklagt, ihn umgebracht zu haben. Sie hat erzählt, wie es war: Nämlich dass sie diesen verdammten Schal nicht von seinem Hals abbekam, als sie… mit ihm zugange war. Wie eine böse Schlange hat er sich immer fester um seinen Hals geschnürt.“ „Ach“, sagte Bea unbeeindruckt. Dass es merkwürdige sexuelle Vorlieben gab, war ihr nicht unbekannt. Auch sie mochte es mit Sascha ein bisschen härter. Dieser Schal war der Übeltäter… Davon bin ich felsenfest überzeugt, so sehr ich Clarissa hasse für das, was sie getan hat. Aber sie ist es nicht gewesen, es war der Schal! Ich schwöre es! Sein Auftrag war für die Ewige Treue zu sorgen. Und weil Kai untreu war, musste er sterben. Der Schal hat nur das getan, wofür er gestrickt worden war.“ „Ganz sicher.“ Ob sie das im Gerichtssaal genau so dargestellt hatte? Das war sicher spaßiger gewesen als bei Barbara Salesch. „Er ist tot! Mein Freund ist tot! Erwürgt von meinem Schal! Den ich gestrickt habe mit genau dieser Wolle! Ist das nicht Beweis genug?! Ich kann Ihnen das Grab zeigen!“ „Es tut mir Leid, dass Sie ihren Freund verloren haben, und das auch noch so kurz vor Weihnachten. Aber meiner Ansicht nach sollten Sie besser den Fakten vertrauen. Nämlich, dass Kai und diese Clarissa einen Unfall hatten, weil sie ihm einen kleinen Kick verschaffen wollte. Nicht so selten, wie Sie meinen. Hat sogar einen Namen, der mir gerade nicht einfällt.“ Zudem empfand sie die Frau als krankhaft eifersüchtig, paranoid und ziemlich abergläubisch, doch das sagte sie lieber nicht. „Und jetzt muss ich gehen.“ Bea stand auf. Sie fröstelte. Doch die Frau rief ihr hinterher: „Schmeißen Sie die Wolle weg! Hören Sie auf mich, sie bringt Unglück! Ich weiß, dass Sie mir glauben, tief in Ihrem Inneren. Sie sind mir nämlich sehr ähnlich. Glauben auch an Übersinnliches. Sonst hätten Sie die Wolle doch nicht gekauft, oder?“ 4. Türchen: Amore ----------------- Den Scheibenwischer seines Fiats hatte Michael auf die höchste Stufe gestellt, um dem Schneeregen Herr zu werden. Ja, allmählich wurde es Winter. Meine verhasste Jahreszeit, wie ich ihm verriet. „Ich mag auch den Sommer lieber“, sagte Michael, und auf seinen Lippen zeigte sich ein Lächeln, während er geradeaus auf den Verkehr schaute. Unruhig rutschte ich mit den Füßen herum, heute war es so beengt unter dem Beifahrersitz, weil da noch eine Tasche von ihm lag, heute Morgen auch schon. Michael war vier Jahre älter als ich, arbeitete in derselben Firma und wohnte in der nächsten Stadt. Daher nahm er mich mit zur Arbeit, wann immer ich keine Berufsschule hatte. Anfangs hatte ich Magenschmerzen, und wagte kaum zu atmen im Beifahrersitz. Er lockerte die Atmosphäre durch ein Gespräch auf, doch das führte nur dazu, dass ich mich noch mehr verkrampfte. Aus der Angst, dass er mich nicht mehr interessant fand, wenn er mich erst mal näher kennenlernte … Dass er mich zum Gähnen langweilig fand, und mich daher meiden würde. Während etwas in mir sich jedoch sehnlichst wünschte, dass wir Freunde wurden, denn er war so ein toller Kerl! Zugegeben, ich hatte mir sogar einige Male vorgestellt, wie es wäre, mit ihm mehr als bloß befreundet zu sein… Aber erstens würde sich Michael niemals auf mein Niveau herab begeben. Was sollte er von einem Azubi wollen, der noch bei seinen Eltern wohnte und obendrein noch Jungfrau war? Zudem waren wir Arbeitskollegen in derselben Abteilung. Nein, das war gar nicht gut. „Ach ja, Luca, diese Tüte, die unter dem Sitz liegt, schau mal rein, da ist was für dich drin.“ „Für mich?“ Ich hievte die ausgebeulte Stofftasche hoch. Viele dicke Bücher. Und eine CD und eine DVD… „Das alles?“ Ich nahm ein Buch nach dem anderen heraus. Italienisch für Anfänger. Wörterbücher Deutsch-Italienisch; ein Lehrbuch, ein Arbeitsheft, Sprach-CDs, Vokabelhefte… „Ich möchte dir das geben, sieh es als Nikolausgeschenk an. In der Schule hatte ich Italienisch, aber leider nur zwei Jahre, danach habe ich alleine weitergemacht.“ Das hätte ich gestern in unserer Mittagspause besser nicht gesagt. Dass ich zur Hälfte italienischer Abstammung war. Sein Interesse war entfacht; er hatte mir regelrecht ein Loch in den Bauch gefragt. Ob ich die Sprache fließend sprechen konnte, ob ich schon oft in Italien gewesen war…was ich gerne italienisches kochte. Dabei hatte ich nur zufällig einen italienischen Vater, den ich nie kennengelernt hatte. Und in Italien war ich auch noch nie gewesen. Am Stoppschild kam er zum Stehen, schaute mich eindringlich an. „Wenn dir das Lernen aus den Büchern zu mühsam ist, kannst du auch einfach die Kopfhörer aufsetzen und die Lektionen von der CD anhören. Glaub mir, der Tag wird schon sehr bald kommen, an dem du dir wünschst, dass du die Sprache gelernt hättest.“ Ich seufzte nur. „Das ist ja lieb von dir. Aber ich weiß nicht… Schon Englisch habe ich gehasst.“ „Hör dir wenigstens die erste Lektion an, okay? Eine Fremdsprache zu lernen, ist zwar harte Arbeit, aber niemals eine vergebliche. Es bedeutet immer eine Bereicherung! Verlieren kannst du gar nichts, nur gewinnen!“ Ich seufzte nachgiebig. „Okay, wenn es dir wichtig ist.“ „Nein, tu es nicht für mich, sondern weil du dir selbst etwas Gutes tun willst! Willst du denn nicht deine Wurzeln kennenlernen? Aus dir selbst muss die Motivation kommen, aus deinem Herzen!“ „Hm.“ Ich schaute aus dem Fenster, betrachtete meine vorbeiziehende weihnachtlich geschmückte Stadt, all die leuchtenden Girlanden an den Straßenlaternen. Bald waren wir da. Anstatt mich auf der Hauptstraße raus zu schmeißen, wo ich zehn Minuten bis nach Hause zu laufen hätte, fuhr er jedes Mal durch die Dreißigerzone im Wohngebiet, in dem es vor engen, unübersichtlichen Gassen, wo rechts vor links galt, nur so wimmelt, vor bis zu meinem Haus. Und fuhr erst dann weiter und den ganzen Weg zurück, wenn ich den Schlüssel ins Schloss steckte. „Ich glaube, deinen Vater würde es stolz machen. Überleg es dir. So. Da wären wir. Jetzt kommst du möglichst trocken an.“ „Danke. Bis Montag!“ Mit der Tasche stieg ich aus. ~ Später blätterte ich an meinem Schreibtisch das Lehrbuch durch, in das Michael bunte Post-ist hineingeklebt hatte, überflog Textpassagen und betrachtete witzige Illustrationen. Was hatte ihn dazu bewegt, diese Sprache zu lernen? Wozu paukten die Leute überhaupt Fremdsprachen? Um einmal im Jahr im Ausland Urlaub zu machen und dort „un Latte Macchiato e un pezzo di tiramisù, per favore“ zu bestellen? Plötzlich fiel mir zwischen den Buchseiten ein Foto in die Hände. Es zeigte eine jüngere Version von Michael, der mit einer blauen Badehose im Meer stand, bis zum Bauchnabel im Wasser. Im Hintergrund weißer Strand und viele bunte Sonnenschirme der Strandbesucher. Er lachte vergnügt. Und hatte einen dunkelhaarigen jungen Mann huckepack genommen, der genauso ausgelassen lachte und sich dabei an Michael festkrallte, als wären sie allein auf der Welt. Auf der Rückseite des Fotos stand etwas geschrieben, auf Italienisch. Ich erkannte die Wörter „sole“ und „bella“ und am Schluss „Ti amo“. Ich gab den Text bei Google translate ein. Sinngemäß bedeuteten sie: Mein lieber Schatz, ich vermisse die Sonne und deine Lippen, die nach Salzwasser schmecken. Es war so ein schöner Sommer mit dir. Ich liebe dich, dein Angelo Das musste ich erst mal sacken lassen… Laut dem Datum musste Michael da siebzehn gewesen sein. Mir wurde heiß, meine Wangen glühten. Sollte ich dieses Foto entdecken? Hast du für Angelo Italienisch gelernt? Ist das der Junge auf dem Foto, das im Buch war? Seid ihr noch zusammen? schrieb ich Michael. Und er schrieb bald darauf zurück: Es war bei meinem Austauschjahr in der zehnten Klasse. Angelo wurde mein erster Freund, aber die Fernbeziehung hielt nicht lang. Ich wusste gar nicht mehr, dass das Bild drin war, vermutlich habe ich es rein, damit ich beim Lernen an ihn denke. Sekunden später folgte eine weitere Nachricht, die ich zwei Mal lesen musste: Ich könnte mir aber vorstellen, einen süßen blonden Halbitaliener namens Luca in mein Herz zu schließen. Sag, magst du mal mit mir ausgehen? 5. Türchen: Nikolaus -------------------- Um neun Uhr saß ich am Küchentisch und nahm mein Abendessen ein, die Dosensuppe, die ich fix aufgewärmt hatte. Um mich für die Nachtschicht zu stärken, die von zehn bis sechs Uhr morgen früh ging. Jule schlich um meinen Stuhl herum. Mittlerweile hielt sie sich daran, nur mit Kopfhörern Musik zu hören, wenn ich am Nachmittag nach der Arbeit und Hausarbeit in unruhigen Schlaf gefallen war. „Na? Hast du alle Hausaufgaben fertig?“, fragte ich sie. „Leg deinen Deutschaufsatz auf den Küchentisch, wenn ich heimkomme, lese ich ihn mal durch.“ „Jaaaa“, antwortete meine pubertierende Schwester genervt. „Wir haben übrigens Samstagabend. Der fünfte Dezember.“ „Stimmt…“ Die Nachtschicht brachte mich mit den Tagen derart durcheinander, dass ich oft nicht spontan sagen konnte, welchen Wochentag wir hatten. Dazu kam, dass ich sechs Tage die Woche arbeitete, und das dauerhaft in der Nachtschicht. Den Sonntagszuschlag nutzte ich immer aus; da verdiente man ein bisschen mehr und ich schaffte es, jeden Monat etwas zurückzulegen. „Dann lern noch ein bisschen was für die Schule. Hast du nächste Woche nicht eine Matheklausur? Setz dich hin und lerne dafür. Das ist im Moment das einzige, mit dem du mir helfen kannst.“ „Ich weiß. Trotzdem habe ich vorhin dein Auto abgekehrt, es hat nämlich geschneit. Fahr bloß vorsichtig, Jutta.“ Scheiße, dachte ich, scheiße. Ich hatte einen Anfahrtsweg von zwanzig Minuten zur Arbeit. In einem rostigen Kleinwagen mit – Gott sein Dank! – Winterreifen, außerdem TÜV bis Februar. Extra für diese Arbeit gekauft. Sein Baujahr lag länger zurück als mein Geburtsjahr, und beim Starten klang er wie ein alter Mann mit Bronchitis. Wenn er überhaupt ansprang heute… „Danke, Jule.“ Die Sorge in ihrer Stimme war mir nicht entgangen, und der Kummer darüber, dass wir nur noch uns beide hatten. Seit dem Sommer, wo unsere Mutter verunglückt war. Seitdem lebten wir in dieser engen Zweizimmerwohnung zusammen und ich sorgte für sie. Mein Studium hatte ich für ein Semester auf Eis gelegt, um als Hilfsarbeiterin zum Mindestlohn im Zentrallogistiklager einer Spielwarenkette zu arbeiten. Froh darüber, dass sie mich ohne jegliche Berufserfahrung genommen hatten, mich und andere kunterbunt zusammen gewürfelte Externe, die den Überbedarf in der Weihnachtszeit in zwei zusätzlichen Schichten deckten. Ich stand auf, um mein Pausebrot zu packen: Ein Apfel, dessen Schale schon leicht schrumpelig war, einen preisreduzierten Fruchtjoghurt und zwei Scheiben Brot vom Vortag aus dem Discounter, die ich mit Wurst belegte und in die Brotdose legte. „Immer Wurst“, beschwerte sich Jule. „Wie kann man bloß Tiere essen!“ Ich rollte mit den Augen, weil ich es leid war, diese Diskussion mit ihr zu führen. „Dann iss eben Käse, und nicht immer diesen teuren Tofu-Fraß.“ Immer ihre Sonderwünsche nach veganem Aufstrich oder veganem Dies und Das, die gingen unnötig ins Geld. „Mama war auch Vegetarierin“, erinnerte sie mich und es traf mich wie ein Stich. Schnell ging ich ins Bad, wo durch Jules Duschaktion immer noch alles dampfig und feuchtwarm war. Jule schielte zur Tür herein, als ich am Zähneputzen war. „Du… Jutta, wann heizen wir eigentlich?“ Ich spuckte den Schaum ins Waschbecken und spülte meinen Mund, während ich in Gedanken antworte: Am liebsten überhaupt nicht. Mir grauste vor einer explodierenden Gasrechnung. „Neulich habe ich doch Wolldecken und Wärmflaschen gekauft.“ „Aber meine Füße sind eiskalt! Ich habe drei Paar Socken plus Hausschuhe an, und trotzdem friere ich! Du kriegst die Kälte ja nicht mit, wenn du abends im Bett liegst und schläfst.“ „Ich heize nächste Woche“, vertröstete ich sie. „Das sagst du schon seit vier Wochen und es wird immer kälter!“ Ich legte die Wimperntusche beiseite und schaute sie an. Ihr kritischer Blick genügte, sie brauchte es nicht zu sagen. Ich sah so scheiße aus, dass nicht mal mehr Schminke viel kaschierte, ich könnte sie mir gleich sparen. Vampire gab es tatsächlich: Es waren Leute wie ich, die sich mit fahlem Teint, Augenringen und geröteten Augen durch den Tag schleppten, mit schmerzenden Rücken oder Füßen von den ungesunden Sicherheitsschuhen. Immerzu durstig von der Dehydrierung, die der Schlafmangel und die körperliche Belastung außerhalb der menschlichen Leistungszeiten mit sich brachte; gierig nach Arbeit und dem Geld, das sie einbrachte. Mit ungesunden Neid auf jene, die es besser hatten als man selbst. Und der wachsenden Sorge, was geschah, wenn man krank wurde, das Auto versagte oder wenn im Januar alles vorbei war. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch auf Erden, der nicht wollte, dass Weihnachten kam. Nicht nur, weil sich damit meine Arbeit und meine Geldquelle dem Ende neigte. Ich wollte auch kein Weihnachten ohne Mama. „Tschüssi, schau nicht zu lange fern und schlaf gut! Bis morgen früh! Und mach niemandem die Tür auf.“ Mein schlechtes Gewissen, sie Nacht für Nacht sich selbst zu überlassen, grinste ich wie immer weg. Wenn man sich einredete, dass alles gut wurde, wurde auch alles gut, hatte ich festgestellt. ~ Um halb eins war die Fünfzehn-Minuten-Pause, wo wir uns an unserem Lieblingstisch im Pauseraum trafen, die vier Kollegen, mit denen ich mich am besten verstand. Seit kurzen fehlte aber eine davon. „Was ist eigentlich mit Pauline?“, fragte ich. „Wahrscheinlich gefeuert. Schließlich war sie ´ne ganze Woche krank. Meinst du, die machen das lange mit?“, antwortete Renate, die nie ein Blatt vor den Mund nahm. „Nee. Krank werden darf man nicht“, meinte Olga, die ihren Kaffee geholt hatte und sich ebenfalls setzte. „Ohh, aber die Pickliste, die ich heute gekriegt habe, die macht mich krank! Habt ihr auch solche Stückzahlen? Wie ätzend!“, beschwerte sich Renate. „War ja klar, dass wieder ich die kriege.“ Ich stutzte, als ich meine Tasche aufmachte. Ein grinsender Schokoladen-Nikolaus schaute heraus, an dem ein Notizzettel befestigt war. Ich las die Handschrift meiner Schwester: Lass ihn dir schmecken, du hast ihn dir verdient! Du bist die beste Schwester, die man sich wünschen kann. Ich liebe dich. Deine Jule! PS: Hab dein Weihnachtsgeschenk schon =) Meine Augen wurden feucht und ich blinzelte die Tränen weg. Sie war wirklich eine Liebe, meine kleine Schwester, und sie sollte es gut haben. Scheiß drauf, ich würde heizen, sobald ich nach Hause kam. Sie konnte schließlich am allerwenigsten etwas für unsere Lage, und ihre Gesundheit ging vor! 6. Türchen: Schloss ------------------- Hand in Hand gingen Anita und Steffi durch die nächtliche Stadt, auf den Weg in Anitas Wohnung. Gerade vom Abendessen bei Dominique und Faruk kommend, guten Freunden von ihnen. Nur ein weiteres Pärchen, das die sternenklare Nacht und die frische Luft genoss. Dick in Schal und Mütze eingepackt trotzten sie der Kälte. „Ahh, der kann wirklich so gut kochen, wie du gesagt hast“, schwärmte Anita. „Aber dass ihr auf seinen Kirchenaustritt angestoßen habt, das finde ich irgendwie… Naja, das ist doch eher eine private Sache, oder?“ „Wieso? Das macht schon Sinn, wenn man weiß, was Dominique erlebt hat, mit seinem Ex. Also, die ganze Geschichte kenn ich auch nicht. Aber ich weiß, dass er sich lieber für die Kirche entschieden hat und ihn dafür sitzen gelassen. Das ist doch ein Tritt in die Fresse! Ich glaube, ich hätte genauso gehandelt an seiner Stelle. Boah, ich glaub ich wär sowas von ausgerastet und hätte alle Holzkreuze mit Benzin übergossen!“ „Oh. Das wusste ich gar nicht. War er Priester oder sowas?“ „Noch nicht, er studiert noch. Da lang? Sicher?“, fragte sie nach, als Anita auf die Ampel drückte. „Ich hab einen kleinen Umweg vor, weil ich dir was zeigen will“, antwortete sie geheimnisvoll, und Steffi beschloss, ihr einfach zu folgen. Sie erreichten den Steg und gingen dort nebeneinander die Treppenstufen hinauf. Etwa in der Mitte der Fußgängerbrücke blieb Anita stehen. Sie stützte sich mit den Ellbogen am Geländer ab und schaute in die Ferne. Zu Wolkenkratzern, die der Stadt den Spitznamen „Mainhattan“ verpasst hatten. Steffi lehnte sich rücklings gegen das Geländer, erfreute sich am Schauspiel des Windes, der Anitas roten Locken Leben einhauchte, sie zu Minischlangen verwandelte. Und es gelang ihr, alle Gesprächsfetzen vorbeigehender Passanten auszublenden, die eingehakt ihre Spaziergänge unternahmen, oder Gruppen von Touristen die die Stadt besichtigten. „Schau mal. Siehst du das? Überall am Geländer. Die Schlösser...“ „Ja...“ Das Geländer war kunstvoll gestaltet, erinnerte an Blumen, die in Kreise gefasst waren. Hier und da hingen kleinere oder größere Träubchen von Vorhängeschlössern herum. In allen erdenklichen Farben, Formen und Größen, soweit das Auge reichte. Wie ein stählerner Flickenteppich, wenn man die Augen zusammenkniff. „Willst du sie fotografieren? Und einen Bericht darüber schreiben?“ Anita studierte Onlinejournalismus und war immer mit einer Kamera bewaffnet. Oft beneidete Steffi sie um ihre Kreativität, und das Talent, für die Dinge, die sie begeisterten, sich so lange hinzusetzen, bis sie die Lösung hatte. Während sie sich selbst als durchschnittliches Mädchen definierte, das ein Durchschnittsfach studierte und ganz banalen Hobbies nachging, wie etwa Volleyball spielen und Backen. Anita antworte nicht, während sie in den Tiefen ihrer Handtasche kramte und dann ihre Kompaktkamera zutage förderte. Und noch etwas. Ein kleines, verschnürtes Stoffbeutelchen, das sie ihrer Freundin reichte. „Mach es auf.“ Steffi tat es, und war verblüfft, als sie das kleine Vorhängeschloss zutage förderte. In Pink war es lackiert, und ihre beiden Namen waren eingraviert. Und das heutige Datum. „Ich habe es in Auftrag gegeben“, erzählte sie. „Weißt du noch, was vor einem Jahr war, Schatz?“ Und wie genau sie das wusste. Anitas Lächeln jetzt war genau das gleiche, wie zu Anfang ihres Studiums letztes Jahr im Oktober, als sie sie fragte, ob neben ihr noch frei war. Am Tisch in der Mensa, wo sie zu Mittag aß. Natürlich sagte sie Ja, schon alleine aus dem Grund, weil sie eine unscheinbare Schönheit war. Bratkartoffeln mit Fischstäbchen und einen Salat hatten sie beide gehabt, das wusste sie immer noch, weil sie alles, was Anita betraf, in einen unendlich großen Extra-Container im Gedächtnis einspeicherte. Sie waren ins Gespräch gekommen, fanden sich gegenseitig interessant und hatten bald jede Pause zusammen zu Mittag gegessen. So nahm es seinen Lauf, bis sie sich zwei Monate später auf einer Party geküsst hatten. Der Anfang von etwas ganz Großem. Heute könnte sich Steffi nicht mehr vorstellen, Anita nicht zu lieben. „Heute ist unser Jahrestag“, verkündete sie. „Deswegen werden wir zusammen diesen kitschigen Brauch begehen.“ „Was meinst du?“ „Das kennst du nicht? Wirklich nicht“, fragte sie ungläubig. „So oft sind wir über diese Brücke hier gelaufen, und du wusstest nicht, dass sie für ihre Liebesschlösser berühmt ist? Nun… man kommt mit seinem Partner her, und hängt ein Schloss an das Geländer. Den Schlüssel wirft man ins Wasser. Das soll der Liebe Glück bringen.“ „Nicht wirklich, oder?“, fragte Steffi skeptisch nach. „Ach, komm schon, Schatz, sei nicht so….“ Steffi musste einfach lachen, und weil Anita es so sehr wollte, konnte sie nicht Nein sagen. Also taten sie es so, wie sie erklärt hatte. Das Schloss befestigte sie an einem gut sichtbaren Platz, und Anita fotografierte sie dabei, dann das Schloss und dann sie allein. Dann machte sie eine ganze Fotostrecke von Steffi, wie sie den Schlüssel über das Geländer warf, wo die Nacht ihn verschluckte. „Na, hoffentlich trotzt es Wind und Wetter“, murmelte sie. „Ist das auch rostfreier Edelstahl?“ Anita lachte und nahm sie in eine zärtliche Umarmung, bei der ihr verflucht warm wurde. „Ich will noch so viele Jahrestage mit dir erleben, Steffi. Du machst so glücklich, und ich liebe dich!“ Als Antwort gab sie ihr einen Kuss, in den sie alle Gefühle hineinpackte, die sie für sie empfand. Eine prickelnde Glutwelle schien dabei ihren ganzen Körper entlang zu kriechen. Und dann traf sie die allererste Schneeflocke des Jahres auf der Nasenspitze; schmolz schon, kurz nachdem sie ihre wunderbare Kühle wahrgenommen hatte. „Lass und jetzt nach Hause gehen, Schatz. Ich merke schon, du kannst es kaum erwarten.“ 7. Türchen: Bootsfahrt ---------------------- Montagnachmittag. Pascal saß noch im Büro. Nur noch eine Stunde durchhalten. Dann war Feierabend und er hätte ein paar Stunden Ruhe vor der Arbeit und vor seinem Chef. Der seinen Kaffee aus jener Tasse zu trinken pflegte, auf der stand: Ich BOSS, du NIX! Das einzig schöne an seiner Arbeit war die Aussicht auf die Innenstadt vom Fenster aus. „Fink!“, zerriss ein Brüllen die arbeitstüchtige Stille, die nur von Tastaturgeklapper und gelegentlichem Kaffeeschlürfen untermalt wurde. Pascal zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Wenn man vom Teufel sprach… Im Türrahmen stand sein Chef und machte eine eindeutige Handbewegung, die soviel wie „Mitkommen, und zwar sofort!“, bedeutete. Pascal schluckte die Angst hinab und bemühte sich, seine schlotternden Knie zu verbergen. Das hier hörte sich absolut nicht gut an. Ihm wurde fast schlecht, als er sich in den Sessel niederlies, auf den sein fast kahlköpfiger Chef zeigte. „Fink, heute habe ich bei einem Telefongespräch mit meinem guten alten Freund Patrick Schickl herausgefunden, dass er ein gemeinsamer Bekannter von uns beiden ist.“ Pascal rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum, als Patricks Name fiel. Das war das Ende! Gleich würde er ihm die Kündigung überreichen! „Ich habe Patrick viel zu verdanken. Wir sind schon ein halbes Leben gute Freunde. Deswegen will ich auch, dass er glücklich ist! Also. Ist es wahr, dass Sie eine Affäre miteinander haben?“ Pascals Gesicht lief knallrot an. „Das…“ Er schluckte und suchte nach den richtigen Worten, „ist vorbei.“ Nahm er zumindest an. Patrick hatte sich schon seit Wochen nicht mehr gemeldet. Was sollte das sonst zu bedeuten haben? „Da irren Sie sich, Fink. Nun, Patrick soll es Ihnen selbst sagen. Sie haben jetzt Feierabend. Die Lohnabrechnungen sollen die anderen fertig machen! Sie sind sowieso mein fleißigster Mitarbeiter in dieser Horde von Banausen.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „In zwanzig Minuten treffen Sie Patrick im Gasthaus am See. Oder Sie sind gefeuert!“ Pascal starrte ihn an wie das aus dem Nest gefallene Küken, das einer Katze gegenüberstand. Jetzt lachte sein Chef. „Meine Güte, Fink, verstehen Sie keinen Spaß? Das war ironisch gemeint! Seien Sie doch nicht so ein ängstliches Karnickel, mit dem man alles machen kann!“ „Das mit Patrick und mir ist kein Problem für Sie?“ „Herrgott, Fink. Das ist doch wohl Ihre Sache. Sie sind erwachsen. Weder könnte ich Ihnen den Umgang verbieten, noch ihn erzwingen. Also fragen Sie doch nicht sowas! Und jetzt fort mit Ihnen. Hoffentlich färbt von Patrick was auf Sie ab.“ Damit drehte er sich in seinem Schreibtischstuhl um. ~ Pascal flitzte also mit seinem Corsa an den Stadtrand hinaus, und hoffte, nicht geblitzt zu werden. Sich in eine enge Parklücke gequetscht, stieg er aus und rannte auf das Lokal zu. Irgendwie war es ihm unangenehm, dass Patrick ihn jetzt in seinem verschwitzten Hemd sah, ausgerechnet Patrick, der erfolgreiche Modedesigner! Aber war das nicht das Geringste seiner Probleme? Vielleicht hatte er ihn nur hergebeten, um endgültig mit ihm Schluss zu machen. Der Kellner führte ihn an seinen Tisch. Sein Geliebter saß in der Ecke bei der Glasfront, bei Kerzenschein in eine Modezeitschrift vertieft und die Stirn in Falten gezogen. Er trug einen weißen Anzug, der wie Seide glänzte. Und hatte seine mittellangen Haare mit den silbernen Strähnen zum Zopf gebunden. So einen schönen Anblick bot er, dass er es gar nicht wagte, ihn zu stören. Als er den Kopf hob und Pascal ansah, glättete sich seine Stirn und er lächelte. „Grüß dich, mein Teuerster“, hauchte Patrick und packte die Zeitschrift weg. „Wie geht es dir? Hungrig? Möchtest du wieder die Jakobsmuscheln mit Sauce Hollandaise?“ Beim Kellner bestellte er auf sein Nicken eben dieses Gericht mit einem Sauvignon blanc. „Ich hab mir Sorgen gemacht! Du hast auf keine einzige meine Nachrichten reagiert.“ Patrick seufzte. „Ja. Die Modenschau hat mich auf Trab gehalten. Aber ich habe auch Abstand und Zeit zum Nachdenken gebraucht.“ „Von mir? Wieso?“ Er runzelte die Stirn und wartete, dass Patrick weitersprach. „Weil ich mir wie ein alter geiler Bock vorkomme, wenn ich mit dir zusammen bin. Der Altersunterschied...“ Er brach ab, legte die Hand auf seine, wo Pascals die Kühle seines klobigen Goldringes fühlte. „Willst du wirklich mit mir zusammen sein?“ „Ja!“ „Meinst du nicht, dass du etwas verpasst, wenn du deine Zeit mit mir vergeudest? Du bist erst Mitte Zwanzig, während ich bald…“ Er senkte die Stimme. „Während ich bald meinen Fünfzigsten feiern darf.“ „Was heißt denn hier vergeuden? Diese Bootsfahrt hätte ich mit niemand anderem als dir unternommen!“ Beide schauten sie durch die Glasfront nach draußen. Dort hatte man Ausblick auf den kleinen See, der dem Lokal seinen Namen gab. Heute spiegelten sich darin nur die grauen Wolken des Dezemberhimmels. Doch als sie im Sommer hier zu Abend gegessen hatten, waren die Leuchtröhren der kleinen Paddelboote in der Spiegelung des Wassers zerflossen, und nach dem Essen hatte Pascal unbedingt eines mieten wollen. Im Sonnenuntergang an Patrick geschmiegt, mit Enten, Schwänen und dem Grillenzirpen war es der romantischste Abend und die die kürzeste Stunde geworden, die er je erlebt hatte. „Mit keinem anderen wäre sie so schön gewesen wie mit dir“, stimmte ihm Patrick zu. „Und ich hatte schon gehofft, du würdest jemanden in deinem Alter finden.“ „Was – deswegen lässt du mich wochenlang sitzen?! DAS ist ja wohl Zeitverschwendung! Ich hätte viele Gründe erwartet. Dass ich dir zu langweilig und 0815 bin und du mich deswegen nicht mehr sehen willst. Oder dass du meinst, ich wäre auf dein Geld scharf. Weil wir uns in ganz unterschiedlichen Schichten bewegen. Das alles hätte ich verstanden. Aber nicht, dass du dir einredest, du wärst zu alt! Und dass du dich bei meinem Chef ausheulst... und er mich dann gleich her zitiert um mich zu dir zu schicken…“ „Du hast mir nie erzählt, dass du in Jürgens Firma arbeitest. Sonst hätte ich dir längst erzählt, dass ich ihn seit Ewigkeiten kenne.“ Nein, das hatte Pascal nicht, er hatte nur angedeutet, dass er kaufmännischer Angestellter war. Seine Branche hatte einen noch schlechteren Ruf als die Versicherungsbranche, und deswegen erzählte er nicht gern davon. Angenehmes Schweigen lag zwischen ihnen. Er konnte so ungezwungen bei ihm sitzen, seine Finger in seine verkeilt haben, während er in seinen Augen versank, und sich dabei wohlfühlen. „Bin ich froh, dass wir das jetzt geklärt haben.“ 8. Türchen: SgwdT ----------------- Sie war hübsch. Ich nippte an meiner zweiten Tasse Kakao. Ja, verdammt hübsch auf eine unscheinbare Art. Und ein Modell, das sich gut zum Üben eignete. Mein Dozent hatte uns empfohlen, wo immer wir auch waren, Menschen abzuzeichnen bei allem, was sie taten. Und nun saß ich in einem vollen Café in der Innenstadt und zeichnete mit Bleistift auf meinen billigen Skizzenblock diese Frau, die an einem Tisch am Fenster saß, die Passanten beobachtete, die ihre Weihnachtseinkäufe in der geschmückten Fußgängerzone erledigten, und sich dabei unbeobachtet fühlte. Immer wieder schrieb sie dabei etwas in ein Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag. Ich schätzte sie auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig. Frauen zeichnete ich mit Vorliebe, schon seit ich einen Stift in der Hand halten konnte. Sie trug eine hochgeschlossene schwarze Seidenbluse, die einen harten Kontrast zu ihrer elfenbeinfarbenen Haut bildete. Kräuselte ab und an ihre Lippen und schüttelte unmerklich den Kopf. Den Moment, als sie die Teetasse an ihre sinnlichen Lippen führte und dabei den Finger abspreizte, hatte ich nahezu perfekt eingefangen. Aus ihrem hochgesteckten honigblonden Haar hatte sich eine Strähne gelöst, die ihr nun vor ihrer randlosen Brille baumelte, sie jedoch nicht zu stören schien. Sie blätterte eine Seite um und schrieb seelenruhig weiter. Ich zeichnete auch diese verwegene Strähne in ihr Gesicht. Wie wohl ihr Name lautete, das Zauberwort, das sie aufhorchen lassen und den Blick suchend im Raum umherwandern lassen würde, nach der Person, die ihn ausgesprochen hatte? Plötzlich klappte sie das Buch zu und legte es auf den Stuhl. Dann erhob sie sich und ging wohl zur Toilette. Ich schraffierte ihre Schatten und zeichnete noch zwei andere Leute im Café, und trank meine Tasse aus. Doch sie kam nicht wieder, schien wohl schon bezahlt zu haben und gegangen zu sein. Ich zahlte und erkundigte mich beim Cafébesitzer nach ihr. Erfuhr, dass sie regelmäßig herkam und etwa eine Stunde blieb. Im Gehen nahm ich unauffällig ihr in schwarzes Leder gebundenes Buch vom Stuhl und packte es in meine Umhängetasche. Ich klaute es nicht, ich rettete es. Draußen schaute ich neugierig hinein. Gleich auf der ersten Seite prangte ein Stempel mit einer Adresse, darüber in feinsäuberlicher Handschrift: „Dieses Büchlein ist mein Leben! Bei Verlust bitte ich, es unfrei an folgende Adresse zu schicken“ Susanne. Ihr Name lautete Susanne. Und die Adresse lag nur einige Straßen vom Café entfernt. Vielleicht war sie jetzt sogar zuhause? Um das Buch nicht durchzublättern, war meine Neugier viel zu groß… „S… g... w, d, T“, entzifferte ich mühsam das einsam dastehende Wort auf der dritten Seite. SgwdT? Was war das denn? Ein Kürzel für irgendwas? Die unbedruckten Blanko-Seiten waren bis zur Hälfte beschrieben, mit Kugelschreiber. Und es herrschte das Chaos. Kreuz und quer waren Passagen geschrieben in mickriger, unleserlicher Schrift; dazu Pfeile, Wellen- und Zickzacklinien und komplett durchgestrichene oder eingekastelte Absätze. Das @-Zeichen hier und dort, eingekringelte Zahlen. Konnte die Schreiberin selbst darin noch etwas erkennen? Das einzige, was mir regelrecht ins Auge sprang war das unterstrichene Wort ‚Emma‘ hier und dort. Und ‚Carina‘. Emma und Carina - wie die Protagonisten aus dem erfolgreichen Erotikroman? Bloß ein Zufall? Oder hielt ich tatsächlich das Manuskript meines Lieblingsbuches in Händen?! Ich beeilte mich, zu ihrem Haus zu kommen und dort zu klingeln. Tatsächlich stand der Name auf der Türklingel. „Ja?“, ertönte eine Frauenstimme aus dem Sprecher. „Äh, hallo, mein Name ist Carina Schneider“, sagte ich und meine Stimme überschlug sich. „Ich habe Ihr Notizbuch gefunden, das Sie im Café haben liegen lassen. Soll ich es in Ihren Briefkasten legen?“ Pause. Dann: „Kommen Sie hoch. Dritter Stock.“ Der Summer ertönte, und ich beeilte mich einzutreten und dann die Treppen hochzugehen. Mein Herz raste von der ungewohnten sportlichen Aktivität. Da stand sie im Türrahmen – mit ihrer Hochsteckfrisur, noch immer die Seidenbluse von vorhin an. Lippenstift hatte sie nun aufgetragen, das dunkelste Rot, das noch als Rot durchgehen durfte. Die Lieblingsfarbe der Emma von Wolfspelz, die Adlige mit der sadistischen Ader. In die sich die Fotographie-Studentin Carina unsterblich verliebte… Die Bücher standen seit Wochen auf den Bestsellerlisten und in meinem Regal, der letzte Band würde im Frühjahr rauskommen, ich war schon gespannt auf das Finale. Doch ich hatte noch nie ein Foto der Autorin gesehen... „Hier, bitte sehr.“ Das Buch hielt ich ihr hin, sie nahm es, blätterte auf die Seite, in dem das Lesezeichen steckte und nickte. Im Hintergrund hörte ich Sittiche zwitschern. „Vielen Dank! Ich habe es schon vermisst. Sonst passiert es mir nie, dass ich es aus der Hand lege. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee, Kaffee, Cola, Bier?“ „Nichts von alldem, ich hätte einfach nur gerne ein Autogramm von Ihnen“, gab ich zurück und sie hob die Brauen. „SgwdT – das steht doch für ‚So grün wie der Teufel‘, nicht wahr?“, konfrontierte ich sie mit ihrem Buch. „Haben Sie die Bücher geschrieben?“ „Richtig“, antwortete sie mit einem dezenten Lächeln. „Und zwar unter dem Pseudonym…“ „Madeleine Stramm“, ergänzte ich. „Ich habe Ihre Romane verschlungen, mehrmals. Ich habe noch nie so einen fesselnden Roman gelesen und…“ Oh Mann, die Zweideutigkeit meiner Worte wurde mir erst jetzt bewusst. Ich errötete, während Susannes Grinsen breiter wurde. „Jedenfalls, Emma und Carina sind einfach füreinander bestimmt!“ „Nun, mal sehen, was Emma davon hält – sie ist schließlich ein harter Kern, mit einer stacheligen Schale.“ Ich reichte ihr einen Kugelschreiber und schlug die Seite meines Skizzenblocks auf, wo ich sie gezeichnet hatte. „Bitte hier hin.“ „Das ist … bin das etwa ich?!“ „Ja. Ich studiere an der Kunsthochschule. Und zeichne oft und gerne Menschen. Und Sie saßen im Café und boten sich geradezu an…Verzeihen Sie, falls-“ Doch sie lachte. „Gute Arbeit. Vor allem, da ich überhaupt nichts bemerkt habe.“ „Sie waren wohl zu sehr ins Schreiben vertieft.“ Sie nahm den Stift und unterschrieb mit Madeleine Stramm, in derselben unentzifferbaren Kritzelschrift wie im Notizbuch. „Vielen, vielen Dank!“ Ich konnte es kaum fassen, dass ich ihr leibhaftig gegenüberstand. „Carina. Die Deadline rückt zwar immer näher, aber ich würd dich trotzdem gerne zum Essen einladen, Freitagabend um achtzehn Uhr. Im Domus“, sagte sie und es klang wie eine Drohung. Wie viel Emma wohl in Susanne schlummerte? „Ich werde da sein!“, sagte ich mit heißen Ohren, und jetzt schon aufgeregt, was mich dort wohl erwarten würde. „Auf Wiedersehen!“ 9. Türchen: Tannenbaum ---------------------- Ich saß im Auto von der Arbeit nach Hause, als ich bemerkte, dass der Christbaumverkauf auf dem Parkplatz des Supermarktes geöffnet hatte, und parkte dort. Heute konnte man den Schnee förmlich riechen in der Luft. Wenn ich das sagte, lachen mich die Leute oft aus. Aber dann erwidere ich, dass sie sich den Geruch, wenn Schnee liegt, nicht tief genug einprägen, um ihn wiederzuerkennen, bevor der Schnee fällt. Oberflächliche Leute halt. Schon von Weitem sah ich die Spitze eines Baumes, der über die anderen ragte. Im Näherkommen bewunderte ich seinen kerzengerade gewachsenen Stamm und die dichten Zweige. Ich kannte mich mit Bäumen nicht aus, aber dieser hier erschien mir als ein besonders prachtvolles Exemplar. Einmal umrundete ich ihn, sog mit geschlossenen Augen diesen unverwechselbaren Duft ein, der mich an glückliche Feiertage mit der Familie erinnerte. „Dich nehme ich!“, beschloss ich. Glücklich darüber, schon so früh gekommen zu sein, damit mir auch niemand diesen Baum wegschnappte. „Der soll es sein!“, hörte ich eine Männerstimme hinter mir sagen, mit erschütternder Bestimmtheit in der Stimme. Mit dem Verkäufer trabte er auf mich und meinen Baum zu, sein grauer Wollmantel wehte hinter ihm her. „Nichts da. Ich habe mich soeben entschlossen, ihn zu kaufen!“, entgegnete ich und starrte ihn finster an. „Ich habe ihn zuerst gesehen“, entgegnete der Mann mit gereckter Brust. Er war etwa in meinem Alter, hatte ein spitzes Kinn, einen gepflegten Drei-Tage-Bart und eine interessant geschwungene Nase. Seine gescheitelten Haare trugen den Farbton von Vollmilchschokolade – mit Sicherheit gefärbt! – ebenso wie seine Augen, und fielen ihm in Föhnwellen nach hinten bis aufs Ohr, wobei sie eine hohe Stirn präsentierten. Er schien ein typischer Gewinnertyp zu sein; diese unerträglichen Supertypen, denen aus unerklärlichen Gründen alles zuzufliegen scheint: Geld, gutes Aussehen, Erfolg, Frauen. Christbäume… „Ich will ihn viel mehr, als Sie ihn wollen“, entgegnete ich trotzig. „Und er hat mich als Besitzer auserkoren. Sehen Sie? Die Spitze zeigt sogar in meine Richtung!“ Nun, ehrlich gesagt, der Wind blies in diesem Moment ziemlich günstig. Der Mann zog seine eine Augenbraue so weit er konnte Richtung Haaransatz, und betrachtete mich abschätzend. „Gut, Sie sollen Ihre Chance bekommen. Mann gegen Mann.“ Auf mein Stirnrunzeln griff er in seine Tasche und holte eine kleine Blechbüchse heraus. „In einem Kartenspiel.“ Und zu dem Verkäufer sagte er: „Packen Sie ihn schon mal ein, der Gewinner wird ihn kaufen.“ „Ahahaha“, lachte der Verkäufer und hielt seinen kugelrunden Bauch. „Gut, ich mache ihn zurecht. Viel Glück!“ Der Fremde setzte sich auf einen Mauervorsprung und holte die Karten heraus, die er zu mischen begann. „Ich soll hier und jetzt Karten spielen?“, fragte ich skeptisch und schaute zu, wie er mit flinken Fingern die Karten mischte. „Ihnen bleibt wohl keine andere Wahl. Also. Welches ist ihr liebstes Kartenspiel?“ „Keine Ahnung?“ „Nun, dann schlage ich Mau-Mau vor, das dürften sogar Sie kennen, nicht wahr?“ „Ja“, sagte ich und setzte mich ihm gegenüber. „Ich kann es ganz gut.“ Keine Busfahrt von der Schule heim, auf der ich nicht mit meinen Kumpels eine Partie Mau-Mau spielte. Doch das war fast zwanzig Jahre her… Föhnwelle teilte die Spielkarten aus und ich betrachtete sie. Französisches Blatt. Offensichtlich waren sie schon etliche Jahre alt, so geschmeidig und biegsam wie sie in der Hand lagen, und so vergilbt sie an den Kanten waren. Das Muster auf der Rückseite war teilweise abgeblättert. Dass sie arg abgenutzt waren, fand ich aber schön, zeigte es doch, dass zahllose Spiele mit ihnen ausgetragen worden waren. Meine Karten waren gar nicht mal so übel. Immerhin eine Sieben darunter und ein Bube. Ich bekam den ersten Zug und drehte die Karte in der Mitte um. Unser Spiel verlief stumm, bis ich einen Buben legte. „Ich wünsche mir Herz.“ „Hach ja, wer nicht?“ Und er legte ebenfalls einen Buben, worauf er Pik forderte. Ich räusperte mich. „Ehhm… Ich meine mich zu erinnern…“, setzte ich an, auf den Herz-Buben deutend. Föhnwelle sah mich herausfordernd an; die Art, wie er seine schmale Unterlippe mit den Schneidezähnen malträtierte, ließ mich fast bereuen, etwas gesagt zu haben. „Dass Bube auf Bube stinkt? Nun, diese Regel habe ich geändert, um ein Zeichen zu setzen.“ „Ich verstehe“, sagte ich knapp, denn darüber wollte ich jetzt nicht ausführlich diskutieren. Nicht darüber. Nicht mit ihm. Scheiße, mir lief es kalt den Rücken hinunter, als er sich die Lippen leckte und ich schaute schnell weg. Ich zitterte, als ich eine Karte ziehen musste und sein gewünschtes Pik legte. Ausgerechnet eine Pik Dame. Er zog die Brauen hoch, mustert mich nun noch durchdringender, ich jedoch zuckte bloß die Achseln. Seine nächste Karte legte er ab, ohne den Blick von mir zu nehmen. Eine Sieben. Die ich mit einer eigenen Sieben triumphierend konterte. Bis er eine neue Sieben drauflegte. Mir blieb nichts anderes übrig, als nun sechs Karten zu ziehen. Während Föhnwelle nur noch zwei in der Hand hielt. „Mau“, sagte er und legte die vorletzte Karte ab. Ich musste abermals ziehen und legte den einarmigen König nieder und hoffte... Föhnwelle zögerte zu lange für meinen Geschmack, genoss meine Anspannung. Er lächelte breit, wobei seine Augenfältchen sichtbar wurden, und ich wusste, dass ich verloren hatte. Noch bevor er seinen letzten König ablegte und das vernichtende „Mau-Mau!“ aussprach. „Ich will Revanche!“, forderte ich lautstark. während er die Karten zurück in die Büchse packte und sie in seinem Mantel verschwinden ließ. „Die bekommen Sie gerne.“ Er lächelte. „Bei Tee und Lebkuchen in meinem bescheidenen Heim, wo Sie die Tanne bewundern dürfen.“ Den Baum. Den hatte ich ja ganz vergessen während unseres Spiels… Er reichte mir eine Visitenkarte. Frederik lautete sein Vorname. „Und wem habe ich das Vergnügen?“, wollte Frederik wissen. „Felix.“ Wir reichten uns die Hand und er schmunzelte. „Na sowas, dem Namen machen Sie ja nicht wirklich Ehre. Wobei – Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Auf Widersehen, Felix.“ Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. 10. Türchen: Löwenherz ---------------------- Es ist der vertraute Klang deiner Stimme, die ganz weit weg scheint, wie hinter einer dicken Schallmauer. „Nicht, wahr, Leo?“, sagst du, und verschwommene Lichtflecke zwängen sich zwischen meine Wimpern. Du drückst ganz sachte meine Hand, und obwohl mich Schmerz im Kopf beißt, als ich die Augen öffnen will, reiße ich sie dennoch auf. Muss ein paarmal blinzeln, bis dein Schemen klare Gestalt annimmt. Dann ist auch dein Gesicht deutlich fokussiert. Dein Chorknabengesicht mit den Pausbacken, den vollen roten Lippen und rotblonden Locken, die dir in die Augen ragen. Umgeben von all dem Weiß bist du mein Prinz auf dem Ross, der mich wachgeküsst hat in einem hellen Garten, wo es nach Blumen duftet. „Leo. Bist du wach?“, rufst du und deine Miene erhellt sich. „Samuel“, krächze ich heiser und räuspere mich um meine Kehle freizumachen. Du bist das Erste, das Klarste und Strahlendste nach einem langen verschwommenen Traum, der von Schmerz geprägt war. An die Details erinnere ich mich nicht, aber das ist vielleicht auch besser so. „Schön dich zu sehen. Wo bin ich? Was ist passiert?“ Deine Lippe bebt und du ringst um Fassung. Tränen laufen dir die Wangen hinab, weil du ein wahres Sensibelchen bist. Ich bemerke, dass in meiner Hand ein Schlauch endet, eine Infusion. Und ein Stück von meinem Kopfverband ragt in mein Blickfeld. Ich bin im Krankenhaus. Aber du bist da. Alles wird gut. „Oh Mann! Fünf Tage sind vergangen seit der bösen Nacht… Deine Familie hatte solche Angst um dich! Und wir auch! Wir waren abwechselnd bei dir… Gott, Leo, wenn ich dich verloren hätte, ich will es mir nicht mal vorstellen! Das ist alles so schrecklich…Du bist ja quasi wegen mir hier…“ Du wischst dir mit einem Ärmel die Tränen weg und lässt dafür meine Hand los. „Ich kann es immer noch nicht begreifen, wie jemand so ein Arschloch sein kann und sowas tut!“ „Erzähl mir, was passiert ist, Samuel“, rede ich ruhig auf dich ein. Ich befand mich an der Schwelle des Todes und du bist es, der jetzt beruhigt werden muss. Typisch du. So süß. „Brauchst du was? Soll ich eine Schwester holen?“ „Nur dich“, antworte ich und die Wehmut kann man deutlich aus meiner Stimme heraushören. Wahrscheinlich zögerst du daher einen Augenblick, bevor du sagst: „Wir waren doch weg, am Samstagabend, wollten nach der Disco nach Hause und haben auf die U-Bahn gewartet. Puh... Dann kam dieser besoffene Typ daher, hat uns angepöbelt. Wenn du nicht gewesen wärst, und dich dem Angreifer todesmutig in die Quere gestellt hättest, dann läge vielleicht ich oder Joshua jetzt hier, oder sogar drei Meter tiefer. Ich kann es echt nicht fassen, dass der Typ dir eine Glasflasche übergezogen hat! Und weißt du was? Du stehst sogar in der Zeitung! Sie haben den Überfall als genau das angeprangert, was er war: Hass und Homophobie! Und dich für deine heldenhafte Tat geehrt. Die Leute haben dir Blumen geschickt, ohne dass sie dich kennen, ist das nicht Wahnsinn?!“ Du bleckst dir die Lippen und deine Augen funkeln vor Stolz. Ich schiele zu den bunten Sträußen und Briefkuverts auf dem Tisch und wühle in meinem Gedächtnis, doch das was du erzählst, hört sich absolut nicht nach mir an. Ich kann mich nicht mehr an Samstag erinnern oder an die Disco. Auch nicht an den Angreifer oder den Schlag, den er mir verpasst hatte. Vielleicht war ich zu betrunken gewesen. Ich befühle meinen Kopf, den Verband und das dicke Pflaster an meiner Schläfe und seufze. „Leonie, meine Leo – du machst deinem Namen alle Ehre. Tapfer und mutig wie eine Löwin, sich so einem Kerl, einem halben Tier, entgegenzustellen! Du bist meine Heldin! Ich schulde dir wohl einen Riesengefallen…“, redest du weiter. Ich platze schneller heraus als ich denken kann: „Sei mein Freund, Samuel!“ Du kicherst. „Ich bin dein Freund, seit dem Kindergarten. Und du meine Freundin! Nein, du bist eher wie meine große Schwester, du hast immer schon auf mich aufgepasst.“ Und du küsst mich auf die Wange. Doch mein Gesichtsausdruck bleibt hart. Ich habe es satt, sie verstecken zu müssen, meine Gefühle für dich, ich kann es nicht länger ertragen. Deine Freundschaft genießen und warten und hoffen, ohne jemals die geringste Chance bei dir zu haben. „Nur mein Freund! Aber ich will mehr! Ich liebe dich, Samuel!“ Als du merkst, dass ich die Faust geballt habe und gegen die Tränen ankämpfe, weil mein Herz brennt, weichst du ein Stück vor mir zurück. „Leonie“, sagst du erschrocken, was mich noch wütender macht. Diesen hässlichen Namen zu hören, den ich am liebsten abkürze; ihn gerade jetzt in dieser Situation zu hören, wo ich am Boden zerstört bin und noch dazu aus deinem Mund! „Du machst doch Witze, oder? Na sicher tust du das. Du bist noch nicht wieder auf der Höhe nach der Gehirnerschütterung, das ist ganz normal...“ „Schade, dass ich nicht gestorben bin“, sage ich leise, weil ich befürchte, dass mein Schädel wieder aufplatzt, wenn ich schreie, und Blut herausschießt wie Lava aus einem Vulkan. Wie blind und blöd bist du eigentlich! Du hast nie etwas bemerkt. Schwafelst ständig was von inneren Werten, von Toleranz und Vielfalt, dabei reduzierst du mich doch genauso auf das Äußere, auf meinen Körper, eine Hülle, die nun mal weiblich ist. Wo wir uns im Geiste doch gleichen! Du setzt mich schachmatt, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hat. Denn es ist eine Schlacht, für die ich die falsche Rüstung trage. Ganz bedrückt stehst du da und nestelst an deinen zu langen Ärmeln herum. „Es tut mir wirklich Leid, dass du dir da was erhoffst… Jedenfalls habe ich dich sehr gerne, und das beste Weihnachtsgeschenk hast du mir bereits gemacht, indem du lebst und gesund bist, Leo. Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann, und platonisch liebe ich dich über alles. Aber du verdienst einen Kerl, der kein halbes Mädchen ist.“ Du reichst mir ein Taschentuchpäckchen, auf dessen Verpackung Schneeflocken gedruckt sind und meinst dann, dass du jemanden holst. Dafür bin ich dankbar. Dass du dich jetzt zurückziehst. Der Wutanfall hat mich erschöpft und ich schließe die Augen. Wenn ich wieder erwache, dann hast du hoffentlich alles vergessen und wir können wieder ganz normal miteinander reden. ~*~ 11. Türchen: Christstollen -------------------------- „Xaver…“, seufze ich, „lass uns nach Hause gehen, ich bin müde.“ Wir sitzen im Café unseres Kinos, um nach dem neuen Bond noch einen Cappuccino zu trinken. Xaver liebt Bond-Filme, besitzt die ganze Sammlung auf DVD und hat etliche im Kino gesehen. Ich dagegen habe ihn nur seinetwegen angesehen. „Schönen Abend noch“, wünscht mir die junge Frau, nachdem ich gezahlt habe, und schaut mich so seltsam dabei an. Ich friere trotz meiner Winterjacke und der Handschuhe, und weiß nicht, was schlimmer ist: die eisige Kälte oder die Müdigkeit. Wahrscheinlich friere ich wegen meiner Müdigkeit. „Der Tag heute war der Schönste seit langem! Danke, Schatz“, lächele ich, bleibe stehen und betrachte die Sterne. „Weißt du noch, wie wir im Sommer auf dem Balkon gelegen und die Sterne betrachtet haben? Es war so verdammt warm gewesen. So warm, wie es jetzt eiskalt ist.“ Sein Gejammer über diese „Wüstenhitze“ habe ich noch gut in den Ohren. Kälte mag er lieber. Und er ist eher der schweigsame Typ, der mich reden lässt mit den Leuten. Glücklich hake ich mich bei ihm unter. Ich liebe Xavers kräftige Arme und was er damit alles anstellen kann. Zum Beispiel mich tragen. Oder als Feuerwehrmann Menschen retten. Dann sind wir auch schon an der Haustür angekommen. Ich bemerke, dass im Treppenhaus Licht brennt. „Guten Abend“, grüßt uns da auch schon unsere Nachbarin Frau Schlemmer, eine Dame im fortgeschrittenen Alter, mit Brille und rot gefärbter Dauerwelle. Ich wundere mich darüber, dass sie heute grüßt, denn sonst ignoriert sie uns komplett. Xaver kann die Schlemmer nicht ausstehen, vom ersten Tag an, wo sie eingezogen war, ein Jahr ist das jetzt her, und bezeichnet sie als „frustriertes Waschweib“. Sie wohnt im Stockwerk unter uns und klingelt oft Sturm, wenn ihr die Musik zu laut ist, um uns dann anzufauchen – und zu laut ist ihr alles, was einen Dezibel über Zimmerlautstärke misst. „Wie geht es Ihnen?“, will sie wissen. „Gut, danke der Nachfrage“, antworte ich knapp, und wir schlüpfen an ihr vorbei zum Aufzug. Einige Sekunden vergehen, bis der Fahrstuhl im Erdgeschoss hält. „Wenn Sie was brauchen, dann zögern Sie nicht, zu fragen.“ „Danke, Frau Schlemmer“, ist alles, was ich darauf höflich antworte, verwundert über ihr plötzliches Interesse. Der Fahrstuhl muss in den fünften Stock, was einige Zeit dauert. Viel zu lange. „Wir sind ja gleich daheim, Schatz.“ Wie aufs Stichwort hält der Fahrstuhl an und die Türen öffnen sich. Xaver folgt mir in die Wohnung, hängt wie immer als erstes seinen Mantel auf seinen Garderobehaken und schlüpft dann aus seinen Halbstiefeln, die er auf dem Teppich abstellt. Was das angeht, ist er sehr pingelig. Kein Besucher darf in Straßenschuhen die Wohnung betreten. Dann verschwindet er im Wohnzimmer, wo ich eine Lampe habe brennen lassen. „Na, Moneypenny, noch wach?“ Die schwarze Hauskatze sitzt keine drei Meter von der Tür entfernt, unbeweglich wie ein Denkmal. Ich bücke mich, um sie zu streicheln. Doch Moneypenny mag jetzt nicht gestreichelt werden, herrje, ich weiß nie, was sie von mir will, diese eitle Diva. Xaver mag sie lieber als mich. Ihm ist sie zugelaufen, lange vor meiner Zeit. Sie wendet sich enttäuscht ab und tapst ins Wohnzimmer, springt geschmeidig auf den Ohrensessel. Xavers Lieblingssessel. Gedankenverloren starre ich diesen Sessel an, unter der Stehlampe, wo Xaver oft seine Fachbücher liest. Und mein Blick fällt auf ihren Fressnapf, den sie gar nicht angerührt hat. Plötzlich kann ich mich mehr dazu überwinden, das Wohnzimmer zu betreten. Nicht, ohne Xavers karierten Wollmantel vom Haken zu nehmen, und meine Nase im Stoff zu vergraben. Mit dem Mantel gehe ich um den Sessel herum, erblicke dort die Katze zusammengerollt, deren Augen mich anstarren wie zwei grüne Vollmonde in der Nacht. Ich nehme sie, um sie auf meinen Schoß zu setzen, wo Xavers Mantel liegt. Ich streichele die mager gewordene Katze, die bei mir nie schnurrt, sondern das nur bei Xaver tut. Tat. Ich muss lernen, in der Vergangenheitsform von Xaver zu sprechen. „Du musst doch was fressen! Ich muss mich auch dazu zwingen. Meinst du, das hätte er gewollt, dass ich dich auch noch verliere?“ Als ich auf den Wohnzimmerschrank schaue und das Foto von ihm und mir sehe, kehren meine Kopfschmerzen zurück. Xaver ist tot. Er starb bei einem Feuerwehr-Einsatz vor zwei Monaten. Die vierköpfige Familie hatte er aber aus dem brennenden Haus retten können. Die Todesanzeigen aus der Zeitung mit all dem Lob über den mutigen Feuerwehrmann, den pflichtbewussten Kameraden und tollen Freund, sie liegen alle noch auf dem Schrank, zwischen den Beileidskarten von Freunden. Meine Tränen tropfen auf Moneypennys Fell. „Er war ein wunderbarer Mensch, nicht wahr? So wenig Zeit war uns beiden vergönnt, viel zu wenig, selbst zwanzig Jahre mit Xaver wären zu wenig! Ich vermisse ihn! So sehr, dass ich im Kino zwei Eintrittskarten gekauft habe und dann neben einem leeren Sitz gesessen habe. Verrückt, nicht? Aber er hat sich doch so wahnsinnig auf diesen Bond gefreut! Und ich habe gespürt, dass er bei mir war, den ganzen Abend…“ Ich weiß nicht, wie lange ich so schon dasitze und Moneypenny streichele und in Gedanken ganz bei Xaver bin, an dem mich jeder Quadratzentimeter in dieser Wohnung erinnert. Jedenfalls schreckt uns die Türklingel auf. Moneypenny springt von meinem Schoß und ich erhebe mich widerwillig, um an die Tür zu gehen. Wer kann das sein? Frau Schlemmer steht davor. Sie hält in ihren Händen ein Tablett mit einem Christstollen und einer Flasche Wein darauf und mir klappt der Mund auf. „Hallo, Frau Wolf. Ich hoffe, ich störe nicht. Nun, naja… Sie machen gerade eine schwere Zeit durch. Ich habe auch vor nicht allzu langer Zeit meinen Mann verloren. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit ist das ganz schlimm für mich. Hier, das ist für Sie, ein Christstollen, den ich selbst gebacken habe.“ Ich schaue von dem mit Puderzucker bedeckten Gebäck zu ihrem freundlich lächelnden Gesicht und war so gerührt, dass mir schon wieder die Tränen kamen. „Vielen Dank, Frau Schlemmer“, sage ich. „Möchten Sie nicht hereinkommen?“ Ein überraschtes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Gerne! Sie dürfen mich auch Marlies nennen“, meint sie, bevor sie herein kommt. 12. Türchen: Vanillkipferl -------------------------- Vanillkipferl sind meine Lieblingssorte von allen Weihnachtsplätzchen. Ich knete den Teig durch, mach ihn zu einer langen Rolle und zwacke davon immer wieder kleine Teile ab, die ich einzeln mit den Händen zu Kipferl forme. Der Backofen ist bereits am Vorheizen. Die zwei Bleche lege ich mit Backpapier aus und platziere darauf liebevoll meine Kipferl. Nach dem Backen würden sie in Puderzucker gewälzt werden und nahezu himmlisch schmecken. Nur ganze leise spielt das Radio, und ich drehe es lauter, denn das Rumoren des uralten Backofens gruselt mich, jedes Mal aufs neue. Aus der Ferne vernehme ich das Knattern eines Motorrads, das näher kommt und hier am Haus verklingt. Mein Herz beginnt höher zu schlagen. Denn das Motorrad verbinde ich mit R. Schulz, der neue Name auf dem Klingelschild seit Oktober. Wir sind uns einige Male im Treppenhaus begegnet. Zuerst dachte ich, gähn, noch so ein einfältiger Macho, wie er rumläuft mit seiner Stachelfrisur, fehlt nur noch, dass er einen blöden Spruch reißt, oder mir hinterher pfeift, nicht mal grün hinter den Ohren… Und dann habe ich genauer hingesehen. Und noch genauer. Und habe festgestellt, dass ich mich geirrt hatte – sie war nämlich eine Frau! Merkwürdigerweise war, glaube ich, genau das der Moment, wo ich mich in sie verguckt hatte. In diese taffe Frau, bei der ich mir vorstelle, dass sie breitbeinig auf dem Friseurstuhl Platz nimmt und einen Herren-Haarschnitt fordert, dabei mit ihrem Blick verrät, dass sie ihren Stahlkappen-Stiefel in seinem Allerwertesten versenken würde, wenn der Friseur sich weigert. Kann man verknallt sein und sich gleichzeitig vor ihr fürchten? Oder ist das schizophren? Das ist nämlich meine aktuelle Situation. Einerseits sehne ich mich schmerzlich danach, an ihren Rücken gekuschelt auf ihrem Motorrad davonzuknattern, andrerseits schrillen sämtliche Alarmglocken in mir, wenn mich ihre dolchscharfen grünen Augen im Treppenhaus ansehen… Wenn sie in ihren Briefkasten schaut, wird sie gleich klingeln. Denn da liegt die Nachricht von der Post, dass ich ein Paket für sie angenommen habe, weil sie noch nicht zuhause war. Für Rebecca Schulz. Während ich die Kipferl forme, überlege ich, wie ich subtil durchsickern lassen kann, dass ich an ihr interessiert bin, ohne dass es peinlich wird. Sie auf einen Kaffee einladen, meint eine Freundin von mir – aber das ist doch viel zu direkt! Total nicht meine Art, sowas kann ich einfach nicht. Was, wenn sie gar nichts von mir will? Es klingelt! Gleichzeitig gibt es einen lauten Knall. Ich zucke zusammen. Dunkelgrauer Dampf steigt aus dem Backofen auf. Ich eile zum Fenster, reiße es auf. Sehe, wie die Backofentür wie grobkörniger Zucker zu Boden rieselt – zu tausend Scherben zerbröselt! Heilige Scheiße! Beide Hände halte ich an den Mund gepresst, starre wie hypnotisiert auf die Bescherung. Das ist doch nicht wirklich gerade passiert, oder?! Es klingelt nochmal. Leben fährt in meinen Körper zurück und ich schalte endlich den Ofen ab. Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und eile zur Tür. Hole vorher tief Luft und sammele allen Mut. Sie ist es! Oh mein Gott. Breitbeinig steht sie in ihrer Motorradkluft auf meiner Türschwelle, den Helm unter den Arm geklemmt, ganz lässig. Einen Kopf größer ist sie als ich, hat ein Augenbrauen-Piercing. Und schwarze, zentimeterkurze Haare voller Gel. Ihre Augen blitzen mich böse von oben herab an. Ihr hartes Moschusparfüm mit einer leisen Zitrus-Note wabert in meine Nase und direkt in mein Herz… Ich muss zwei Atemzüge holen um mich zu fangen, es ist immer aufs Neue eine Wucht, ihr gegenüber zu stehen. „Du hast ein Paket für mich angenommen“, beschuldigt sie mich und ich muss schlucken angesichts des harten Tonfalls. „Ja. Einen Moment…“ Ich gehe zur Seite, um es zu holen. Tränen verschleiern mir die Sicht. Alles ist gelaufen. Keine Vanillkipferl dieses Jahr! Ich kann ihr nicht in die Augen sehen und weiß nicht, was schlimmer ist; ihre Gefühlskälte oder dass mein Backofen kaputt ist – beides zusammen ist das der Tropfen, der das Fass buchstäblich zum Überlaufen bringt. Ich bekomme einen regelrechten Heulkrampf, als sie das Paket nimmt. Rotz läuft mir aus der Nase. „Alles okay?“, erkundigt sie sich. Ich schüttele den Kopf, kann aber auch nichts sagen, weil ich zu heftig schluchze. Sie handelt. Indem sie Paket und Helm ablegt und mich umarmt. Meine Knie werden weich wie Pudding in ihren starken Armen. „Schhh“, sagt Rebecca nah an meinem Ohr, und nun klingt sie nicht mehr so, als ob sie mich schlachten will. Sie klopft mir immer wieder beruhigend auf den Rücken. Wahnsinn, wie weich sie ist und wie zart ihre Finger, die sich in meinen Locken verfangen. „Jetzt beruhig dich doch erst mal. Was ist denn los?“ Was los ist? Ich werde nächstes Jahr Dreißig. Hab noch nichts erreicht, auf das ich stolz sein kann. Ich werde meine Eltern um Geld für eine Backofen-Reparatur anbetteln müssen. Meine ganze Woche war scheiße. Und ich blamiere mich hier vor ihr zu Tode… Nur das ist los. „Mein Backofen“, sage ich. „Ist kaputt gegangen.“ „Dein Backofen?“, fragt sie nach. „Soll ich ihn mir mal anschauen? Ich bin Elektronikerin.“ Also führe ich sie in meine Küche, wo das Häufchen Elend auf dem Boden liegt, das vor fünf Minuten noch eine Backofentür gewesen war. „Puhh, das ist mal ein ordentlicher Sprung, sowas habe ich ja noch nie gesehen“, sagt sie, kniet sich hin und schaut sich die Fassung und die Röhre an. Die Vanillkipferl liegen noch roh auf den Blechen, Reste des Teiges auf der Arbeitsfläche. Sie beachtet all das nicht, ist ganz in ihrem Element. „Schätze mal, es wird dich billiger kommen, einen neuen Ofen zu besorgen.“ Super. „Und die Plätzchen? Die kann ich nicht so lange aufheben.“ Ich deute auf die Bleche. „Back sie oben bei mir.“ Wir fahren mit dem Fahrstuhl zwei Etagen nach oben, während mein Herz immer schneller schlägt. Ich mache mich viel zu verrückt – das ist Wahnsinn! Falls sie mir einen Korb gibt, dann sehe ich mein Herz schon genauso zerspringen wie die Glastür. Sie trägt das Paket und ihren Helm in die Wohnung, und ich meine zwei Bleche, den Teig, etwas Mehl und Puderzucker. Ihre Wohnung sieht viel heimischer aus als ich es mir ausgemalt hatte, hell und freundlich eingerichtet mit abstrakten Gemälden. Sie überlässt mir die Küche, mit den Worten, mich dort auszubreiten wie es mir beliebt, weil Kochen und Backen eh nicht ihr Ding ist. Während sie sich umziehen geht. Zehn Minuten später sind die Vanillkipferl im Ofen und köstlicher Duft breitet sich aus. Ich lehne an der Arbeitsfläche gegenüber dem Ofen. Rebecca gesellt sich zu mir in Jeans, einem schwarzen Kapuzenpullover und…riesigen Eulen-Plüschpantoffeln. Ihr Arm berührt meinen; sie ist mir so nah wie nie zuvor. Ihre Augen sind jetzt so weich und freundlich und fixieren meine, während ich halb zerfließe. Jetzt lacht sie, und ihr Lachen ist so schön und weiblich, und steht ihr. „Da grübel ich wochenlang, wie ich dich ansprechen könnte, und jetzt stehst du in meiner Küche“, sagt Rebecca. „Magst du ein Bier, Silke?“ „Gern.“ Mein Kopf legt sich wie von selbst auf ihrer Schulter ab. 13. Türchen: Familie -------------------- Ich sitze auf meinem Bett, mit der Pinguin-Decke, und Papa hilft mir, meinen roten Pullover anzuziehen, weil er gesagt hat, dass wir heute endlich auf den Weihnachtsmarkt gehen! Ich habe schon die Blumen-Strumpfhose an und die Jeans mit den Herzen auf den Taschen, und auch die neuen Stiefel mit der schönen Schmetterlingschnalle. Nur beim Pullover muss mir Papa dieses Mal helfen. Ich mag keine Anziehsachen, auf denen nichts drauf gedruckt ist, die sind langweilig und hässlich und ich zieh sie nicht gerne an. Außer wenn der Pullover rot ist, so wie dieser, dann mag ich ihn. Rot ist meine Lieblingsfarbe, und dieser hier ist mein Lieblingspullover, weil Oma ihn für mich gestrickt hat. „Der Kopf geht nicht durch“, murmelt er. „Bist du über Nacht gewachsen, oder was?!“ Ich kichere, weil seine Stimme so anders klingt, wenn mir der Rolli vom Pullover genau über den Ohren liegt. „Och, Merle, was ist denn schon wieder so lustig…“ Plötzlich wird es hell und ich sehe Papas Gesicht vor mir. „Und wieso hast du die Weinkorken einfach in die Ecke geschmissen? Wolltest du mit denen nicht was basteln?“ „Ja, schon, aber die stinken so eklig…“ Und da klingelt es an der Tür. „Das ist bestimmt der Simon“, sagt Papa. „Oh! Darf ich aufmachen, Papa?“ Papa erlaubt es mir und ich renne zu unserer Haustür. Es ist wirklich der Simon! Und er hat sogar die Marilyn mitgebracht! Sie steht neben ihm und wedelt mit dem Schwanz. Die Marilyn ist ein Golden Retriever, das ist eine Langhaar-Hunderasse, und sie sieht wirklich fast so aus wie aus Gold. „Hallo Merle! Na, bist du wieder gesund?“, fragt er mich. „Jaa!“, sage ich. „Wie schön. Dann können wir ja doch auf den Weihnachtsmarkt.“ Und dann kommt Papa, gibt dem Simon ein Bussi und umarmt ihn ganz lang. Marilyn leckt mir das Gesicht ab und ich muss lachen, weil das so kitzelt. Sie hat so ein weiches Fell, aber eine ganz kalte Nase. Sie ist fünf Jahre alt, genauso alt wie ich, aber der Simon hat mir erklärt, dass sie für einen Hund schon alt ist, weil Hunde schneller wachsen als Menschen. Und dass sie keinen Schnupfen hat, obwohl sie diese kalte Nase hat. Dann muss ich sie loslassen, weil ich meine Handschuhe anziehen soll. Und meine Mütze, die rote Jacke und den Schal muss ich auch anziehen, erst dann können wir weg. Sogar der Simon hat eine Mütze an, weil es so kalt ist. Kalt, aber geschneit hat es bis jetzt noch nicht. Dabei will ich so gern einen Schneemann bauen. Und Schlittenfahren, mit dem Simon. Heute habe ich aus bunter Werbung, die Papa mir gegeben hat, Sterne und Schneeflocken ausgeschnitten und mit Kleber aufgeklebt, und darunter habe ich den Simon und mich gemalt wie wir beide Schlitten fahren. Ich zeige ihm das Bild, ich auf dem Flurschrank gelegt habe. „Sehr schön“, lobt mich der Simon. „Tja, dann wollen wir mal hoffen, dass es bald schneit, hm? Wenn du es dir ganz fest wünschst…“ Ich mache große Augen. „Man muss es sich nur ganz doll wünschen, damit es schneit?“ „Simon meint, wenn man sich etwas ganz fest wünscht, dann findet man einen Weg, wie man es sich erfüllen kann“, sagt Papa und knotet seinen schwarzen Schal. * Wir gehen endlich zum Weihnachtsmarkt. Der ist sooo riesig! Und da sind so viele Leute! Papa geht neben dem Simon, der die Marilyn an der Leine hält. Und ich laufe neben der Marilyn her und passe auf, damit ihr niemand auf die Pfoten tritt. Manche Leute haben auch Hunde dabei, aber keiner ist so schön wie die Marilyn. Hinter mir höre ich Papa mit dem Simon reden und lachen. Ich mag den Simon und finde es schön, dass Papa den Simon liebhat. Wenn er da ist, dann lacht Papa viel öfter als sonst. Manchmal kocht er sogar was zum Abendessen, das viel besser schmeckt als das was Papa kocht. Danach spielen wir Halli-Galli oder Mensch ärgere dich nicht. Da kann er Papa immer überreden, mitzuspielen. Wenn ich dann ins Bett muss, sitzen sie noch lange auf dem Sofa, trinken Wein und unterhalten sich über Erwachsenensachen, die voll langweilig sind. Wenn ich mal groß bin, dann werde ich nie ekligen Wein trinken und über langweilige Sachen reden! Bloß kann der Simon immer nur am Wochenende. Weil er einen Beruf hat, aber ich weiß nicht genau wie der heißt. Er macht, dass Computer wieder funktionieren. Und Papa bringt Kindern und Erwachsenen Gitarre spielen bei. Er ist Gitarrenlehrer. „Papa, schau mal, eine Karussell-Pyramide! Papaaa-haa!“, rufe ich so lange, bis er endlich her guckt und zeige nach vorne, auf den sich drehenden spitzen Turm mit den drei Stockwerken. „Das ist kein Karussell, Merle. Wir sind ja schließlich nicht auf dem Jahrmarkt.“ „Aber die dreht sich!“ „Ja, das ist eine Weihnachts-Pyramide. Siehst du nicht die Drei Könige, die das Christkind besuchen? Man kann da leider nicht mitfahren“, erklärt mir der Simon. „Und wenn wir ganz lieb fragen?“ „Nicht mal dann, das ist nämlich viel zu gefährlich. Ich habe eine viel bessere Idee. Komm, gib mir deine Hand. Und dem Simon auch.“ Dafür muss ich zwischen sie in die Mitte gehen. Jetzt sind wir eine Familie genau wie neulich… Nachts bin ich zu Papa ins Bett gekrochen, weil ich wach war und allein in meinem Zimmer Angst gehabt habe. Papa sagte, ich soll leise sein, damit ich den Simon nicht wecke. Und hat mir dann ein Lied auf Englisch vorgesungen, damit ich einschlafe. Das schöne von Metallica, sein Lieblingslied. Da hab ich gar keine Angst mehr gehabt. Weil ich wusste, auf der einen Seite liegt Papa und der Simon auf der anderen, und ich in der Mitte, dann kann mir überhaupt nichts mehr passieren im Dunkeln. Papa und der Simon nehmen meine Hand, singen zusammen mit mir: „Engelchen, Engelchen, fliiieg!“ und dann machen sie, dass ich fliegen kann. Ganz hoch in die Luft! Von hier oben sieht man viel mehr vom Weihnachtsmarkt. Fliegen ist so klasse. Ich will nochmal, nochmal… 14. Türchen: Blind-Date ----------------------- Anne war aufgeregt. Doppel aufgeregt. Schließlich hatte sie noch nie ein Blind Date gehabt. Alles war möglich. Sicherheitshalber war sie fast eine Stunde vor dem vereinbarten Treffpunkt aufgekreuzt. Sie versuchte ihre Nervosität zu drosseln. Es war noch schlimmer als bei ihrem allerersten Date. Damals, im zarten Alter von Fünfzehn, als ihr Schwarm ein Witz mit kaum drei Barthaaren war. Nun war sie drei Exen weiter und um viele Dates, sogar Speed-Dates, erfahrener, doch immer noch war die Nervosität vorhanden. Mit ihrer geblümten Lieblings-Handtasche ging sie durch den schneebedeckten Park. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Dieses Geräusch liebte sie. Die Hände hatte sie vor der Kälte in den Taschen ihres weinroten Mantels versteckt, ein Schnäppchen aus ihrer Lieblingsboutique. Und das Erkennungsmerkmal für Jan. Heute war es ruhig, der höher gelegene Park in der Innenstadt war nahezu verlassen bis auf die Handvoll Kinder, die einen Schneemann bauten. Ein paar Spatzen zankten sich um eine liegen gelassene Brezel. Der Trubel vom Weihnachtsmarkt schallte nicht bis hierher, das verhinderten die Büsche und Bäume. Jan wohnte auch hier in der Stadt. Ob er wohl auch so gern Spaziergänge mochte wie sie? Mit einem Couchpotato konnte sie nämlich überhaupt nichts anfangen. Mithilfe ihres Taschenspiegels zog sie sich die Lippen noch einmal nach. „Anne Müller?“ Ein Mann mit Halbglatze, mittelgroß, unscheinbar in Grau, Schwarz und Brauntöne gekleidet, rief ihren Namen. Anne erschrak fast zu Tode und konnte es gerade noch verhindern, nicht laut aufzuschreien. Sie hatte ihn auf dieser Parkbank überhaupt nicht wahrgenommen und er hatte sie überrascht. Denn wenn sie sich nicht unbeobachtet gefühlt hätte, dann hätte sie niemals ihre Lippen nachgezogen. „J-ja, die bin ich.“ Elegant packte sie ihre Schminkutensilien weg. Das war Jan…? „Tut mir Leid, dass ich Sie erschreckt habe, ich kann nämlich ziemlich unscheinbar sein, wenn ich will. Und das musste ich sein, um sie zu beobachten, und sichergehen, dass Sie die Richtige sind. Bitte setzen Sie sich auf die Bank…“ „Du darfst gerne Anne sagen.“ Er nickte. „Nennen Sie mich Ralf.“ Komische Marotte, ihr einen falschen Namen zu nennen, überlegte sie, als sie sich setzte. Doch angesichts all der Risiken, die das Internet barg, keine allzu schlechte Idee. Sie dagegen hatte ihm leichtsinnig ihren wahren Namen genannt. Zwar ein Allerweltsname, aber zusammen mit ihrem Gesicht doch unverwechselbar. Oder? „Ich bin etwas spät dran. Ich musste noch einen Verfolger abschütteln.“ Anne lachte, sein Humor gefiel ihr. Dann stutzte sie: Hatte sie etwa die Zeiten durcheinander gebracht? Bis jetzt hatte sie angenommen, zu früh dran zu sein, wieso war er dann zu spät? Mit Anfang dreißig ließ es schon nach bei ihr! Diplomatisch lächelnd, versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen. In diesem Moment kam ein Herr des Weges, einen weißen Pudel an der Leine. „Wie süß“, sagte Anne. „Magst du Hunde, Ralf? Ich hatte vor Jahren mal einen Dackel. Pluto. Wir hatten eine tolle Zeit, bis er von einem Laster überfahren wurde.“ Ralf starrte sie an und Anne biss sich auf die Lippen. Das war wirklich ein unglücklicher Auftakt für ein Date. „Diese Tasche“, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Handtasche. „Schlecht. Zu auffällig. Man wird sie wiedererkennen. Uns.“ „Aber ich mag gern auffällige Accessoires. Diese hier ist ein Unikat, meine Cousine ist Schneiderin und hat sie mir geschenkt.“ Anne krallte mich etwas fester an ihre Tasche. „Ich falle nicht gerne auf.“ „Das sehe ich“, meinte sie trocken. Welchen Frauentyp er wohl bevorzugte? Mausgraue Mauerblümchen? Das war sie mal gewesen. Zum Glück war das lange her. „Was bist du denn von Beruf, Ralf?“ Ralf schnaubte nur und schüttelte den Kopf. Anne bemerkte, dass er selten und nicht lange Blickkontakt hielt. Seine Augen flitzten dauernd irgendwohin, zu diesem Busch oder zu jenem Spaziergänger. Als wäre er paranoid. „In meinem Job macht man sich oft die Hände schmutzig, und vor allem macht man sich nicht viele Freunde.“ „Okay…Bist du etwa bei der kommunalen Verkehrsüberwachung und verteilst den ganzen Tag Knöllchen?“, scherzte sie. „Was soll das werden, Anne?“ „Na – Smalltalk, was tut man denn sonst bei einem Blind-Date?“ „Ha, ha, sehr witzig“, sagte er, „schön wäre es! Anne, Sie sind zwar sehr bezaubernd, aber könnten wir langsam das Geschäftliche ansprechen? Mein Kommen hat mich nämlich einige Überwindung gekostet und war mit sehr vielen Risiken verbunden. Deswegen appelliere ich an Ihre Professionalität.“ Geschäftliches? Professionell? Risiken? Von was bitte sprach er?! Anne klappte der Mund auf und wusste nicht, wie ihr geschah. Ihr Blutdruck schnellte in die Höhe. Das alles hatte einen seltsamen Beigeschmack… Ralf sprach ruhig weiter: „Den USB-Stick habe ich nicht bei mir. Er befindet sich in einem Schließfach im Hauptbahnhof. Sie wissen ja, dass Sie Ihre Quelle schützen müssen, nicht wahr? Nichtsdestotrotz werde ich für eine Weile untertauchen.“ „Was?“ Anne schüttelte ungläubig den Kopf. „Wovon zur Hölle reden Sie?! Wer sind Sie überhaupt?“, fragte sie herausfordernd. Nun bemerkte auch Ralf, dass irgendwas nicht stimmte und rappelte sich auf. Er starrte sie feindselig an. „Diese Frage sollte eher ich stellen! Für eine Enthüllungsjournalistin stellen Sie sich aber reichlich dämlich an!“, erwiderte er gereizt. Enthüllungsjournalistin? „Wer ist Ihr Auftraggeber?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden!“, erwiderte Anne, und bekam Angst. Das hier anscheinend kein harmloses Date, so viel stand fest. Ralf hatte plötzlich seine Hände an ihrem Mantel und Anne schrie auf. „Nehmen Sie die Finger weg!“ „Ich muss sichergehen, dass Sie nicht bewaffnet sind!“ „Sie spinnen ja wohl!“, schrie sie wütend, und holte ihr Handy, um Gabi anzurufen, die in einem Café in der Nähe wartete und über das Date informiert war. Oder vielleicht sollte sie gleich die Polizei rufen? „Lassen Sie mich in Ruhe! Sie kranke Reporter-Tusse!“, brüllte da ein großer blonder Mann, der an ihnen vorbeirannte, von einer Frau in einem feuerwehrroten Mantel verfolgt. „Sie sind ja total bekloppt!“ „Ich vermute…“, sagte Anne leise, „dass hier eine Verwechslung vorliegt.“ Doch der mysteriöse Ralf war bereits in den Schatten der Bäume verschwunden, genauso unscheinbar, wie er aufgetaucht war. Auf ein Blind-Date würde sie sich nie wieder einlassen, beschloss Anne und ging nach Hause. 15. Türchen: Alleinerziehend ---------------------------- Johanna trug ihre Haare heute in eleganten Wellen. Vereinzelte Strähnen ihrer roten Naturhaarfarbe schimmerten durch die schwarze Tönung hindurch, als trotzten sie der Chemie und somit auch dem Willen ihrer Besitzerin. Das gefiel mir; zeigte es, dass gegen die Natur eben nichts ankam. „Ich mit einer anderen Frau in der Küche – nie hätte ich geglaubt, dass das so harmonisch sein kann wie mit dir“, gestand Johanna, die am Herd stand, während ich auf der anderen Seite der Arbeitsfläche mit dem Kurbeln ihrer selbstgemachten Nudeln beschäftigt war. Und ab und zu ihr herüber sah. Denn ihre leidenschaftlichen, fast schon feenhaft anmutenden Bewegungen faszinierten mich. Darin lag so viel Liebe und Achtung, egal ob sie Zwiebeln schälte oder eine Dose Mais öffnete. Jedes einzelne Pfefferkörnchen in der Pfeffermühle, mit der sie jetzt hantierte, schien sie zu ehren. Mit einer anderen Frau in der Küche… Ich wusste selbst nicht, wieso ich in Gedanken „Küche“ mit „Bett“ austauschte und dabei einen warmen Schauer spürte. Mich für eine Sekunde nicht mehr nur als Mutter fühlte. Als hätte ich meinen Sohn Joel für diesen Augenblick vergessen. Mit Johannas Sohn Finn, der sein bester Freund war, spielte er in dessen Kinderzimmer. Beide würden nächstes Jahr zusammen eingeschult werden. „Weil weißt du, ich kann nicht mal mit meiner Mutter in ein und derselben Küche stehen, das gibt bloß Stress und Streit.“ Sie lachte und warf mir über die Schulter ein Lächeln zu. „Maria, die Tomatensoße… wie findest du sie?“ Sie hielt mir einen Löffel zum Probieren hin, und ich kostete davon. „Zucker. Und Basilikum. Außerdem eine halbe, gewürfelte Karotte“, verriet ich ihr. „Meine Oma…hach, die konnte kochen, für ihre Pasta würde man sterben wollen.“ Wir kicherten. „Aber du könntest mir mal eben helfen, Johanna… Mit dieser Nudelwalze. Da geht echt überhaupt nichts, das fühlt sich an, wie eingerostet.“ „Lass mal sehen“, meinte meine Gastgeberin und nahm die Kurbel in die Hand. „Du hast Recht…Wie peinlich! Nnnnggh!“, gab sie schnaubend von sich, ohne einen Erfolg zu erzielen. Wir rackerten uns zu zweit an dieser Maschine ab, während sich die Nudelteigmasse nur behäbig langsam durch die Walzen bewegen ließ. Unsere Daumennägel wurden schon weiß vor Anstrengung. Zwischen meinen Haarspitzen zog Johannas heißer Atem hindurch wie Wind durch Grashalme. Ich realisierte erst jetzt, als man den Abstand zwischen uns nicht mehr Abstand nennen konnte, wie gut sie sich anfühlte. Und wie gut sie roch – nicht ihr fruchtiges Parfüm, sondern sie persönlich. Ich blickte von der Kurbel, wo der Druck von Johannas Händen sichtbar nachgelassen hatte, ihre bebenden Schultern entlang hoch zu ihr. Traf ihren Blick. Interpretierte ihn richtig. In der nächsten Sekunde lachten wir beide aus vollem Hals los. Die Augen zugekniffen, den Mund aufgerissen und jeden Muskel unserer Körper in Anspruch nehmend, so unbeschwert wie junge Frauen, denen die Bürden der Alleinerziehenden noch in weiter Ferne lagen. Jeder Außenstehende würde uns sicher für verrückt erklären, weil wir ohne ersichtlichen Grund vor Lachen beinahe weinten, und allein durch diesen Gedanken musste ich noch mehr lachen. Beide rangen wir um Fassung und steckten uns aber immer wieder gegenseitig mit Lachstakkatos an. „So gelacht“, sagte ich atemlos und wischte sich Tränen aus dem Augenwinkel, „habe ich schon ewig lange nicht mehr!“ „Vergiss das Essen. Ich habe Bauchschmerzen.“ „Hoffentlich ist deine Knoblauchpresse nicht auch so eingerostet…“ Doch mit etwa Fett behob sie das Problem und ich konnte meine Nudeln walzen, während wir uns weiter unterhielten. Von unsinnigen Haushaltsgeräten und Männern die sie erfanden, und von den Männern allgemein, kamen wir schließlich auf unsere Söhne zu sprechen. „Ehrlich gesagt. Wenn ich gewusst hätte, dass Ben sich aus dem Staub macht und ich das mit Finn ganz allein stemmen muss – ich hätte nie ein Kind bekommen, das kannst du mir glauben! Männer...“ Sie verdrehte die Augen. „Männer werden nie erwachsen, habe ich festgestellt. Sobald ihre eigene Mutter keine Lust mehr hat, holen sie sich eine Frau, die dann deren Aufgaben erledigt: Ihm Mut zusprechen, hinter ihm aufräumen, für ihn kochen und das Haus in Glanz erstrahlen lassen. Und die Verantwortung für ihn zu übernehmen, ihn an seine Termine erinnert... Ich fasse es nicht, wie viele Frauen so etwas mitmachen. Seit mir dieser Gedanke gekommen ist, kann ich Männer nicht mehr so ansehen wie früher.“ „Da ist viel Wahres dran“, pflichtete ich ihr bei. „Du warst nicht verheiratet, oder?“ „Nein, verheiratet waren wir nie, Peter und ich. Ich … war die heimliche Geliebte, fünfzehn Jahre jünger als seine Frau, und er hat sich natürlich für sie entschieden“, gestand ich. „Vielleicht ist es besser so. Das hat mir ohnehin zu schaffen gemacht – dieses Gefühl, als betrüge ich zwei Menschen auf einmal. Er wollte auch gar nicht, dass ich Joel behalte“, sagte ich mit Bitterkeit in der Stimme. „Ich musste mich entscheiden – zwischen Peter und dem Ungeborenen! Aber weißt du, am Ende hätte ich gar nichts gehabt, das war mir irgendwie klar. Jetzt habe ich wenigstens Joel. Ich mag vielleicht nicht zur Ehefrau taugen, aber ich bin allemal eine gute Mutter!“ Ohne meinen Sohn hätte ich niemals diese tolle Frau kennengelernt, wurde mir bewusst. Wer sonst verstand genau, wie ich mich fühlte und was ich durchmachte? Ich sprach nicht mehr weiter, denn in diesem Moment berührte Johanna mich; ihre kleine Hand mit den spitzen Fingernägeln lag plötzlich auf meiner eigenen. Diese Berührung brachte mich fast zum Explodieren. Alles zog sich in mir zusammen. „Vielleicht …“, sagte sie mit ihrem Lächeln, das ich so an ihr mochte, „sollten wir öfters mal zusammen kochen? Nächstes Mal eine Pizza nach dem Rezept deiner Oma, und unsere Jungs sollen tatkräftig mithelfen.“ „Super Idee!“ „Maria…“ Johanna nahm die Hand von meiner, um mein Gesicht zu berühren, meine dunklen Haare beiseite zu streichen und mir tief in die Augen zu schauen. „Weißt du, was mir ehrlich gesagt am meisten fehlt, als Single? Kann sein, dass ich da auch eingerostet bin“, hauchte sie. Und schloss die Augen während sie gleichzeitig den Abstand unserer Lippen verringerte, deren alleiniger Anblick mir ein Kribbeln einjagten. Dieser Kuss war nur eine Frage der Zeit gewesen. 16. Türchen: Badboy ------------------- Katja saß mit dem Rücken gegen ihre Badezimmertür gelehnt, eine wenig bequeme Pose, und das auch noch in ihrem dünnen rosa Seiden-Negligé. Seit Minuten hämmerte ihr Freund von außen gegen die Tür, doch sie würde nicht aufmachen. „Katja, bitte! Bald ist Weihnachten“, versuchte er es weiter. Sie schnaubte. „Für dich gibt es kein Weihnachten mehr. Nicht nach dem, was du getan hast.“ „Na gut. Du wirst schon rauskommen, wenn du Hunger hast.“ Sie hörte, wie er sich entfernte und flammte auf vor Zorn angesichts ihrer Dummheit; sie allein, mit ihrem Smartphone im Badezimmer eingeschlossen wie ein ängstliches kleines Mädchen! Dies war immer noch ihre Wohnung! Die Sorgen und Problemchen ihrer Freundinnen, die würde sie heute gern haben wollen – mein Freund findet mich zu fett, hat mich betrogen oder ist mies im Bett – alles Lappalien! Sie dagegen hatte sich mit einem Kriminellen eingelassen! Was sie wohl dazu sagen würden? Sie riss die Tür auf, verdammt bereit dazu, die 110 zu wählen, das war sogar ihre Pflicht! Hier war er nicht, im Flur auch nicht. Etwa seelenruhig die Brötchen am Frühstückstisch weiter verzehrend, von dem sie abrupt aufgestanden war, seit er ihr sein großes, schmutziges Geheimnis anvertraut hatte – seelenruhig zwischen Kaffee und Frischkäseaufstrich. Genau dort fand sie ihn an. Von ihrem Schnauben, als sie die Hände in die Hüften stemmte, flackerten die drei brennenden Kerzen am Adventskranz. „Immer noch das Ding in der Hand? Du bist doch keine Petze, Katja.“ „Sag mir nicht, was ich bin, Thorsten!“, erwiderte sie scharf, „ich weiß jetzt, was du bist!“ Bloß wusste sie nicht so wirklich, was sie mit dem Wissen anfangen sollte. „Schatz“, sagte er und es klang liebevoll. „Ist es nicht das, von dem du träumst, seit du ein kleines Mädchen bist? Reich zu sein wie eine Prinzessin? Zehn Millionen. Mit mir kannst du ein Leben in Luxus führen.“ „Das kann ich auch mit jemand anderem haben. Ganz legal.“ Er schüttelte den Kopf. „So abgebrüht bist nicht mal du, dass du einen alten Sack mit Kohle der wahren Liebe vorziehen würdest.“ „Bist du dir da sicher? Du kennst mich kaum. Ein Dreivierteljahr, was ist das schon.“ Eine Weile blickten sie sich abschätzig an. Sekunden, in denen sie die Monate mit ihm Revue passieren ließ. Das Für und Wider abwägte. Die Risiken mit den Chancen, die sich boten, verglich. „Ruf an. Ich werde mich stellen, mit allen Konsequenzen, und dir versprechen, dass dir nichts passiert. Ich würde doch niemals etwas tun, was dir schadet, mein Schatz!“ „Du bist ein Gauner, ein durchtriebener Hund, der mit allen Wassern gewaschen ist, und wahrscheinlich kann man es dir nicht mal nachweisen.“ Er grinste sein fieses Grinsen, das seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass sie sich in ihn verliebt hatte, in diesen stillen IT-Angestellten mit der Streberbrille. Doch stille Wasser waren tief. „Du nicht minder. Du bist die Schöne und das Biest in einem. Du würdest es nie zugeben, aber bei jedem Kinofilm schlägt dein Herz für den Bösewicht! Und dein Lieblings-Pärchen ist Bonnie und Clyde. Denn auch du hast deine dunkle Seite, bist ein Narziss, wie er im Buche steht. Wie oft hast du in deinem Leben schon gelogen, etwas mitgehen lassen, das Vertrauen anderer ausgenutzt, einem Mann das Herz gebrochen und seine teuren Geschenke verkauft? Wie viele Leichen hast du wirklich im Keller, Katja?“ Sie kniff die Augen zu, und meinte mit gefährlicher Stimme: „Ich werde dir auch das Herz brechen. Und dann schneide ich es heraus und dünste es mit Zwiebeln an.“ „Du bist die einzige Vegetarierin, der ich das zutrauen würde.“ Sie hielt das Phone immer noch in der Hand, bloß einen Fingerdruck von der Polizei entfernt – und haderte mit sich. Seine Hände schlangen sich um ihre Taille. Er war vom Esstisch aufgestanden, ganz leise, ganz seine Art. Küsste sie auf ihre Haare. „Du liebst das Meer. Wie wäre es mit einer Insel im Süden, da wo es warm und zwölf Stunden am Tag hell ist? Wir kaufen ein schickes Häuschen mit Pool, mein Prinzesschen, du willst es doch auch. Du liebst die Freiheit, den Schöngeist und die Liebe.“ „Fass mich nicht an.“ Und er ließ sie augenblicklich los, sprach aber weiter: „Die Welt ist schlecht, das weißt du. Aber durch eine, auf den ersten Blick noch schlechtere Tat, kann man sie manchmal ein bisschen besser machen. Diese Manager sind schlechte Menschen. Und diese Firmen haben genug Dreck am Stecken, hinterziehen Steuern und beuten arme Arbeiter aus!“ „Grund, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen? Geld macht auch nicht glücklich.“ „Aber Geld ausgeben schon. Vor allem wenn man sich vorstellt, in welchen korrupten Löchern es sonst versickert wäre…“ Ein Lächeln huschte über Katjas Gesicht. „Außerdem kommen sie mir nicht auf die Schliche, niemals, denn ich habe jahrelang darauf hingearbeitet und alles sorgfältig organisiert. Es war, sozusagen, der Coup meines Lebens.“ Jetzt drehte sie sich zu ihm um, in der Hand noch immer das Phone, mit der Sprachaufnahme-App am Laufen. „Du liebst mich. Du würdest alles für mich tun. Ich kann es spüren, wenn ich dir in die Augen sehe“, flüsterte er. „Du musst keine überflüssigen Worte verschwenden, die die Gefühle nur schwammig umschreiben, die du empfindest.“ „Dann sag mir doch mal, was Romantik für mich ist!“ Doch er streckte einfach nur seine Finger aus und fuhr mit einem Millimeter Abstand die Konturen ihres Gesichts nach. Sie schloss die Augen, seufzte und genoss. Die Erinnerung an diese zärtliche Geste, hundertmal gespürt, war es, die ihr jetzt dieses wohlige Kribbeln verpasste. „Romantik. Das kann ich dir sagen: Du träumst von hauchzarten, kalorienarmen Waffeln, die man in einem Eisen gebacken hat, das mit Rosenöl gefettet ist, und serviert werden sie dir an einem Tisch am Meer, von einem Mann, der bloß Fliege und Schürze trägt… Ist es das?“ Er wusste ganz genau, wo sie verwundbar war. Stil, Eleganz und Eloquenz, diese Kombination war bei Männern heutzutage rar gesät. „Haargenau. Und wann erfüllst du mir diesen Traum?“ Er nahm ihre Hand, und küsste sie und nahm ihr das Handy ab. Beendete die laufende Sprachaufnahme und löschte sie. „Schon morgen früh, wenn du willst. Schatz, wir sind reich, und bald ist Weihnachten!“ 17. Türchen: Schaukelpferd -------------------------- Das Werbeprospekt des Möbelgeschäfts aus dem Briefkasten geholt, lief Christoph ins Schlafzimmer, wo Gloria halb im Kleiderschrank abgetaucht war. „Süße! Schau mal, das ganze Christbaumschmuck-Sortiment im Angebot! Die haben echt alle Farben! Wollen wir nicht hinfahren und uns umschauen?“ Der Kopf seiner Freundin kam hinter der Eichentür zum Vorschein. Sie strich ihr Haar aus ihrem Gesicht und sah ihn vorwurfsvoll an. „Du kennst meine Meinung dazu, Liebling. Und die lautet wie?“ Zerknirscht ließ Christoph den Kopf hängen. „Ach Mensch. Ich kann es nicht fassen, dass ich dieses Jahr das erste Weihnachten ohne Baum feiern werde…das hat für mich irgendwie immer dazugehört.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Wir Menschen haben einfach nicht das Recht, Bäume zu kaufen; sie nur deswegen zu fällen, weil sie ihn für ein paar Tage in ihre Wohnzimmer stellen wollen, und sie mit kitschigem Schmuck behängen, wie es ihnen in den Kram passt!“ „Ich hab´s kapiert. Soll ich dich dann ein Stück begleiten, wo ich eh zu Mark gehe?“ Die VHS, wo sie einen Englisch-Kurs belegte, lag auf dem Weg dahin. Sie hob fragend die Brauen. „Zu Mark in die Schreinerei, ich wollte doch das Schaukelpferd abholen.“ „Ach so. Nein, du musst nicht auf mich warten, geh ruhig.“ „Okay. Bis später, Süße!“ Er küsste sie zum Abschied. Mark wohnte nicht weit weg in diesem kleinen Städtchen. Sie waren gemeinsam aufgewachsen und zur Schule gegangen und bis heute gute Freunde geblieben. Mittlerweile hatte er Frau und Kind und führte die Schreinerei seines Vaters, und daher hatte Christoph ihn beauftragt, ein Schaukelpferd für seinen kleinen Neffen anzufertigen. „Wow! Ein Prachtexemplar! Wirklich tolle Arbeit“, staunte Christoph und musterte das fertige Pferd. In liebevoller Feinarbeit waren Augen, Zaumzeug, Schweif und Mähne hinein geschnitzt. Am vorderen Bein hatte es die Steigbügel zum Abstützen der Füße, und an der Mähne Griffe zum Festhalten. Damit hätte er nun alle Geschenke beisammen. Alle, bis auf das für Gloria… Bei keinem seiner Freunde und Verwandte musste er so lange darüber nachgrübeln wie bei ihr. Vom Geschäftlichen kamen sie zum Privaten zu sprechen, saßen bald eine Stunde in seinem Hinterzimmer bei Kaffee. „Chris, das mit dir und Gloria. Ist das was Ernstes?“ „Ich hoffe“, sagte Christoph und lächelte. „Hmm. Verstehe.“ „Was hast du gegen Gloria?“ Er zuckte die Schultern. „Wollen wir nicht mal wieder was zusammen unternehmen, nur wir zwei. Vielleicht lernst du da eine kennen, die von der Mentalität her besser zu dir passt, als diese dahergelaufene Großstädterin...“ „Mark!“, rief Christoph entsetzt aus. Gloria hatte oft angedeutet, dass Mark sie nicht mochte. Doch er hatte es nicht wahrhaben wollen. Mit aufkeimender Wut im Bauch verließ er die Schreinerei. Gloria war ein Stadtkind – na und? Sie passte trotzdem viel besser zu ihm, als es all die anderen getan hatten. Sie war DIE Frau für ihn. ~ Mit dem Schaukelpferd unterm Arm spazierte Christoph durch die abendliche Stadt. Dieses gewisse vorweihnachtliche Etwas, das in der Luft lag, genießend. Nicht unbedingt auf den Weihnachtschmuck bezogen, sondern auf diese unbeschreibliche Magie, die in der Luft lag. Jene Vorfreude, die man nur vor Weihnachten hatte; dass bald etwas Wunderbares gefeiert wurde, und der Zauber, der den Menschen das Herz erwärmte. Er sprang unwillkürlich zur Seite, als sich die massive Haustür zu seiner Linken öffnete und – Gloria heraustrat! Aus der Psychotherapeutischen Praxis, an der er gerade dicht vorbeigelaufen war! Sie hatte die Kapuze ihres roten Pullovers über den Kopf gezogen, über dem sie eine fellbesetzte Steppweste trug. Den Kopf hatte sie eingezogen, sodass sie ihn, vielleicht auch wegen ihrer Haare, gar nicht bemerkte, und sie klammerte sich an ihre Handtasche. Er rief ihren Namen, und sie drehte sich um. Der Schrecken schien ihr in alle Glieder gefahren zu sein und sie starrte ihn nur stumm an. „Süße, was machst du denn hier?“ „Christoph!“ Sie fasste sich ans Herz. „Du solltest mich nicht sehen…“ „Tja – das habe ich aber.“ Er ging auf sie zu, bemerkte die Tränenspuren auf ihren Wangen, die dort Schminke hinterlassen hatten. „Was ist denn mit deinem Kurs?“ „Es gibt keinen…Das war eine Ausrede! Weil ich dir doch nicht sagen konnte, dass ich zu einer Psychologin gehe!“ „Wieso konntest du das denn nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Zuhause, ja? Da erzähl ich dir alles.“ Er hob das Schaukelpferd in die Höhe, als sie schweigend nebeneinander hergingen, ihre Schritte aneinander angepasst. „Wie findest du es?“ „Süß“, antwortete sie. Danach sprachen sie nichts mehr, bis sie in der Wohnung angekommen waren. Christoph kochte Tee, und Gloria nahm auf der Couch Platz, deckte sich mit der Kuscheldecke zu bis zum Kinn. „Bevor ich dich kennen gelernt habe“, begann sie, „war ich in einer Klinik. Weil ich zusammengebrochen bin, mir ist alles zuviel geworden. Weil weißt, du, vor Jahren, da brauchte ich dringend Geld, weil ich Schulden hatte und…“ Unter heftigsten Schluchzen sprach sie weiter, während ihr der Rotz aus der Nase lief: „und… ich habe die Therapie gebraucht, weil…ich habe …“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und fast konnte Christoph es nicht verstehen, als sie sagte: „ich bin anschaffen gegangen.“ Sorgenvoll betrachtete Christoph sie, doch sie bekam es nicht mit, so sehr weinte und zitterte sie. „Erst war ich Kellnerin, in dem Club. Keine Stripperin! Ich dachte, ich hätte das unter Kontrolle… oh Gott, ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte!“ Er setzte sich neben sie auf die Decke, reichte ihr die Teetasse. „Da. Trink den heißen Tee, Gloria.“ Sie schüttelte den Kopf. „Dieser Name! Er passt überhaupt nicht zu mir! Ruhm und Ehre bedeutet er, dabei habe ich weder das eine, noch das andere!“ „Du hast doch viel mehr als das: Du bist ehrlich. Du hättest mir alles Mögliche erzählen können, aber du hast dich für die Wahrheit entschieden, was sehr mutig war. Das verdient Respekt.“ Wut überkam ihm, blinde Wut auf seine Geschlechtsgenossen, die meinten, das Recht zu haben, Sex mit einer Frau zu erkaufen, wann immer sie wollten, und mit ihr dann anzustellen, was ihnen in den Kram passte. Ihre Würde mit Füßen traten. Er schämte sich für all diese Männer. Ganz aufgelöst schaute sie ihm ins Gesicht. „Und jetzt? Christoph, hast du überhaupt verstanden? Ich hab es mit Männern gemacht, und dafür Geld genommen! Ich bin eine Hure!“ „War. Das warst du“, korrigierte er. „Aber du wirst es nicht wieder tun, oder?“ „Nein! Nie wieder, Christoph! Nur über meine Leiche! Ich hasse mich selbst dafür!“ „Gut. Gloria. Süße. Du kannst weder was für deinen Namen, noch für dein Schicksal“, sprach er während er sie beruhigend hin und her wiegte, und sie sich an ihn klammerte. Sie besaß die Gabe, jedem Tag eine andere Farbe zu verpassen; mit ihr würde ihm niemals langweilig werden. Niemals könnte er sie von sich stoßen. „Soll ich meine Koffer packen und gehen?“ „Nein! Du hast doch hier deinen Platz und dein Leben! Und mich. Und wer weiß, vielleicht kommt der Tag, wo ich bei Mark das Schaukelpferd für unser Kind abhole.“ 18. Türchen: Einladung ---------------------- Benno parkte den Kombi an seinem Stellplatz und stieg in aller Gemütsruhe aus. Seinen Feierabend plante er mit einer Tiefkühlpizza, einer DVD und dazu Bier und ein, zwei Dosen Chips zu verbringen. Er staunte nicht schlecht, als er in seinen Briefkasten schaute. Er hatte Rechnungen erwartet oder Werbung, aber alles was er vorfand, war eine Postkarte aus Österreich… Sie zeigte ein verschneites Tal in den Bergen. Seine Hände zitterten, als er sie las. Benno, ich weiß, es ist drei Jahre her… aber erinnerst du dich noch an diese Hütte bei Tirol? Das Ferienhaus meiner Eltern? Ich würde dich wahnsinnig gerne wiedersehen und lade dich ein! Übers Wochenende? Du wolltest doch spontaner werden. Ich freu mich auf dich. Tobi xxx PS: Ski fahren werden wir diesmal nicht, keine Sorge ;) Tobias. Liebevoll strich Benno über die handgeschriebenen Zeilen. Wer von ihnen hatte eigentlich Schluss gemacht? Benno konnte sich nicht mehr erinnern, nicht mal an einen Streit. Sang- und klanglos war er aus seinem Leben verschwunden, hatte nichts mehr von sich hören lassen. Und jetzt hatte er ihn Hals über Kopf nach Österreich eingeladen? Benno kratzte sich an seinem krausen Vollbart, während er nachdachte. Tobias hatte die Sonne in sein Leben gebracht. Er war ein wahrer Adrenalinsüchtiger, der alle möglichen Outdoor-Sportarten, vor allem Extremsportarten ausprobierte und hatte es sogar geschafft, ihn, Benno, für Sport zu begeistern. Zumindest eine Zeit lang. Benno schloss die Haustür auf, legte seine Pizza in den Ofen und nach dem Essen duschte er. Vor einer Entscheidung sollte man immer heiß duschen, das machte den Kopf frei. Dann kramte er eine Reisetasche hervor, um für zwei Tage zu packen. Nicht mal Tobias´ aktuelle Handynummer hatte er – da war kein Anschluss unter dieser Nummer. War das nicht verrückt? Am Montag musste er einen wichtigen Kunden gewinnen und dafür vorbereitet sein... Aber Tobias hatte ihn nun mal eingeladen, nicht irgendwer, sondern Tobias! Unwillkürlich verglich er die wenigen Dates, die er hatte, mit ihm. Und keiner konnte auch nur ansatzweise mit ihm mithalten. Denn die Zeit mit ihm war so intensiv wie mit keinem anderen gewesen. Er musste ihn einfach wiedersehen, er konnte gar nicht anders. Sie hatten mal einen Tandem-Bungeejump gemacht, an den ihn eine Urkunde erinnerte. Ein Foto von ihnen beiden nach dem Sprung war darauf zu sehen. Er, der Schrank von einem Mann, krallte sich leichenblass an Tobias, dieser halben Portion, weil ihm kotzübel war – für solche Nahtoderfahrungen war er einfach nicht geschaffen, er hatte lieber festen Boden unter den Füßen. Tobias dagegen strahlte in die Kamera und schmiegte sich an „sein Bärchen“. „Ja“, sagte er zu sich selbst, während er das Foto betrachtete. „Ich nehme deine Einladung an. Weil du mein Sonnenstrahl bist!“ In seinem Navi war die Adresse noch gespeichert. Sie waren mit seinem Auto hingefahren, vor drei Jahren. Und hatten sich mit CDs und Hörbüchern die Zeit im Stau vertrieben. Heute war wieder Stau, aber nicht so schlimm, es ging langsam voran, wegen des Schneefalls, der heftiger wurde, je weiter er nach Süden kam. Nach zweieinhalb Stunden kaufte er an einer Tankstelle einen Weihnachtsstern im Übertopf. Und einen flauschigen Teddybären mit großen braunen Knopfaugen, den er auf den Beifahrersitz setzte. Nach vier Stunden war er endlich da. Alles war so, wie er es in Erinnerung hatte, die Gegend so idyllisch wie eh und je. Das alte Fachwerkhaus stand noch, war beleuchtet und Rauch stieg vom Kamin auf. Erinnerungen von vor drei Jahren kamen ihm hoch... wie er sich dort zu Hause gefühlt hatte. Als er klingelte und niemand öffnete, kamen ihm Zweifel an seiner Entscheidung. Das Haus schien bewohnt, aber was, wenn Tobias es untervermietet hatte? So weit war er gefahren, und hatte nicht mal seine Telefonnummer. Wie sollte er ihn bloß finden? Schließlich öffnete sich doch die Tür und – es war Tobias. Immer noch dünn wie eh und je. Sein weizenblondes Haar trug er noch genauso wie früher, vorne länger als hinten, und denselben Kleidungsstil. Doch… Benno haute ja sonst nichts um, doch jetzt musste er schlucken: Tobias saß im Rollstuhl! Das geliebte Lächeln zeigte sich in dessen Gesicht. „Benno. Dass du kommst, hätte ich nie im Leben gedacht! Wie geht es dir denn?“ Wie eine Statue stand Benno da und wusste nicht, was er sagen sollte, oder eher, was er sagen durfte. „Du hast mir sogar was mitgebracht? Wie niedlich! Los, komm rein, es ist saukalt hier draußen.“ Tobias wendete den sportlich aussehenden Rollstuhl, und Benno folgte ihm ins Haus. Warm war es, und ein Feuer knisterte im Kamin. Wenig später saßen sie davor mit einer Tasse Kaffee, Tobias erzählte und Benno hörte zu. Seit einem Unfall bei einer Mountainbike-Tour vor zwei Jahren war er querschnittsgelähmt, spürte ab Bauchnabel abwärts nichts mehr. Im Ferienhaus suchte er Abstand vom Stress zuhause, vom Behördenkram und Leuten, die ihn enttäuscht hatten. Es kam ihm zugute, dass das Haus ebenerdig, geräumig und barrierefrei war, weil seine Eltern es später als Altersruhesitz nutzen wollten. Benno bemerkte, wie still Tobias dasaß, nicht mehr wie früher immer mit einem Fuß zappelte, was ihn immer genervt hatte. Stattdessen spielte er an den Ohren des Teddybären herum. „Es tut mir leid, Benno! Es war hinterhältig, es in der Postkarte mit keinem Wort zu erwähnen…eigentlich war es eine Verzweiflungstat gewesen, dir zu schreiben, so nach dem Motto, ich habe ja nichts mehr zu verlieren! Anzurufen habe ich mich auch nicht getraut. Ich habe aber jeden Tag an dich gedacht… aber ich erwarte natürlich nicht, dass du dableibst, nachdem ich dich so verarscht habe.“ „Verarscht, wieso?“ „Na, jetzt bist du Stunden gefahren, nur um mich zu sehen, und ich... schau mich doch an!“ Benno legte die Hand auf seine, bevor Tobias das Bärenohr ganz abriss. „Ich hatte auch Sehnsucht nach dir, Tobi, habe aber angenommen, dass es einen anderen Grund dafür gibt, dass du dich nicht mehr meldest, und du deine Nummer geändert hast. Und jetzt bin ich bei dir, es ist alles perfekt! Lass uns das Wochenende einfach zusammen genießen!“ „Benno, ich werde nie wieder laufen können.“ „Ich liebe dich, Tobias! Daran haben die Jahre nichts geändert!“, sagte Benno nah an seinem Gesicht. „Und du wolltest ja sowieso über die Schwelle getragen werden, hast du mir irgendwann mal verraten.“ Jetzt musste Tobias lachen. „Ach Bärchen. Ich wünschte, ich hätte mich viel früher bei dir gemeldet!“ Sie verschmolzen zu einem langen Kuss, einen richtigen Kuss vom richtigen Mann. 19. Türchen: Glockenspiel ------------------------- Tina schlenderte mit ihren Freunden, oder besser ausgedrückt, den Leuten, mit denen sie in ihrer neuen Schule herumhing, über den überschaubaren Weihnachtsmarkt im Dorf, gleich neben der Kirche. Doch an keiner Bude machte einer von ihnen Halt, denn Lucas, Bruno, Vanessa und Angelina hatten nur im Sinn, so schnell wie möglich zum Glühweinstand zu kommen, wo sich bereits eine kleine Menge versammelt hatte. Tina trottete schweigend hinterher und fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen. Denn die vier waren schon seit Jahren eine verschworene Clique, und Angelina war mit Lucas zusammen, der schon siebzehn war. „Die Tanita!“, prustete Vanessa, und Tina schaute zu der Bude, wo Waffeln verkauft wurden. Und tatsächlich bediente dort ihre Mitschülerin, mit der niemand etwas zu tun haben wollte, die Kunden. Unter anderen Umständen hätte sich Tina gefreut, mit dem zurückgezogenen Mädchen einmal ins Gespräch zu kommen; im Unterricht bot sich kaum die Gelegenheit und in der Pause erst recht nicht. „Was macht´n die hier?“ Bruno rümpfte die Nase und ging auf den Stand zu. Die anderen folgten ihm. „Na, reicht das Geld wohl nicht, was deine Mutter beim Putzen verdient?“, grölte Lucas, und Bruno lachte. Tina schämte sich so sehr, dass sie sich nicht traute, Tanita auch nur anzusehen. „Hm, ich würde eigentlich schon ganz gerne eine Waffel essen“, sagte Angelina ganz leise. „Lieber ´ne Tasse Glühwein“, sagte Lucas und rotzte auf den Boden. „Du musst sowieso abnehmen!“ Er schlang den Arm um die Taille seiner Freundin und ging auf die Bude gegenüber zu. Bruno gesellte sich neben Tina. „Du hast ja gar keine Handschuhe an… Willst du meine haben?“ Dazu sein Blick, den sie unheimlich fand; unwiderstehlich würden dagegen andere Mädchen sagen. „Mir ist nicht kalt“, erwiderte Tina darauf und wandte sich von ihm ab. „Holt ihr mal eine Tasse für jeden?“, fragte Lucas und schickte Vanessa und Angelina zu der Warteschlange rüber, während er einen Tisch beschlagnahmte. Tina stellte sich mit den Jungs an den Tisch und hörte nur mit einem Ohr ihren Gesprächen zu. Was machte sie bloß hier? Anfang des Schuljahres hatte sie sich noch so willkommen gefühlt, und konnte ihr Glück nicht fassen, denn sie war vorher noch nie in einer so beliebten Clique gewesen. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, sie akzeptierten sie nur, weil ihre Eltern Geld hatten. Tanita tat ihr so leid, diese Beleidigung hatte sie einfach nicht verdient! Von ihrem Platz aus konnte sie ihr dabei zusehen, wie sie mit anmutigen Bewegungen die Kelle schwang, um Teig in das Waffeleisen zu gießen. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der ihr fast bis zum Steiß reichte. Dann drehte sie sich zu ihrer Kundin, einem kleinen Mädchen um, wobei ihre Wangen von der Hitze gerötet waren. Oder von dem Zwischenfall eben vor Zorn. In diesem Moment kamen die Mädchen mit fünf Tassen zurück. „Na endlich, hat ja echt eine Ewigkeit gedauert“, rief Lucas und nahm Vanessa die Tasse ab. „Deine Tasse, Tina. Kinderpunsch, weil du magst ja keinen Alkohol.“ Vanessa stellte die Tasse vor ihr ab und gebrauchte so viel Gewalt als wolle sie einen Nagel einschlagen. Roter Punsch verschüttete dabei auf den Tisch. Sie hatte immer geahnt, dass Vanessa eifersüchtig auf sie war. Und wie um das zu bekräftigen sagte Bruno: „Ich geb ihn dir aus, Tinchen. Um meine Schulden bei dir zum Teil zu begleichen, okay?“ Doch Tina wollte nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Außer Tanita Sie rannte weg von der Clique und hin zu dem verzaubernden Duft der Waffelbude. Tanita schaute sie mit ihren großen Rehaugen an. „Eine Waffel mit Puderzucker. Und...entschuldige bitte das mit den Schwachköpfen vorhin“, fügte sie hinzu. „Ach...“, sprach Tanita, „ich kenn sie doch gar nicht anders.“ Tina sah ihr dabei zu, wie sie den Waffelteig auf das Eisen verteilte und ihr kamen plötzlich Zweifel an ihrer Entscheidung, einfach abzuhauen, denn das würde Konsequenzen haben. In ihrem Nacken spürte sie die Blicke der anderen wie Giftpfeile. Doch sie konzentrierte sich ganz auf die Wärme, die vom Waffeleisen ausging und den Zimtgeruch. Es dauerte schier unendlich lang, bis die Waffel fertig war, das hatte Tina gar nicht bedacht. Sie lächelte und suchte krampfhaft ein Gesprächsthema, doch ihr fiel keines ein. Spontan war sie noch nie gewesen. „Wie gut, dass bald Weihnachtsferien sind“, versuchte sie es. Tanita nickte bedächtig. „Ja, nur noch zwei Tage Schule in diesem Jahr.“ Sie drehte sich um, holte die Waffel heraus und berieselte sie mit Puderzucker. „Hier, bitte“, sagte sie und überreichte sie Tina mit einer Serviette. Ihre Fingerkuppen berührten sich kurz und vor Schreck hätte Tina sie beinahe fallen gelassen. „Danke.“ Sie ging alleine vor sich hin, betrachtete die Buden und riss dabei ein herzförmiges Teil nach der anderen von der Waffel ab; der süße Teig schmeckte noch besser als er roch, und vertrieb die Gedanken daran, was ihre sogenannten ‚Freunde‘ wohl jetzt von ihr halten mochten. Doch weil der Glühweinstand hinter dem gigantischen Weihnachtsbaum gelegen war, konnten sie sie nicht mehr sehen. „Hey“, riss eine Stimme sie aus ihren trüben Gedanken, und Tina drehte sich um. Tanita stand vor ihr, die Schürze mit einer Jacke getauscht. „Ich habe jetzt Feierabend.“ „Ach?“ Tanita strich mit seinem Daumen über ihren Mundwinkel. „Du hattest da Puderzucker“, erklärte sie und war so rot um die Wangen wie sie selbst es sein musste. „Oh, Tanita! Ich habe total vergessen, deine Waffel zu bezahlen…“ „Geht aufs Haus.“ Tanita lachte und richtete ihren Blick auf den Kirchturm. Dabei fasste sie Tina am Arm. „Psst. Hör gleich mal gut zu…“ Im nächsten Moment legte das Glockenspiel der Kirche los; ein heller, melodischer Klang, auf den immer weitere folgten und dem Platz eine märchenhafte Präsenz verlieh, wie aus einem anderen Jahrhundert. Das Glockenspiel, für das dieses kleine Dorf sehr berühmt war. Fasziniert schaute sie zuerst ihr Gegenüber an, dann hinauf zum Kirchturm. Genau dorthin blicken sie auch heute, auf dem Weihnachtsmarkt des Dorfes, während das Glockenspiel ertönt. „Hier hat sich in fünf Jahren nicht viel geändert“, meint Tanita nachdenklich. „Doch“, bemerkt Tina und beugt sich zum Ohr ihrer Liebsten, „die Waffeln schmecken nicht halb so gut wie früher.“ ~ * ~ 20. Türchen: Magnus ------------------- Wo war mein neues Lieblings-Shirt, das sündhaft teure? Es hatte Knöpfe und V-Ausschnitt, und betonte meinen Bizeps perfekt... Die Tür klingelte. Mir fiel da nur einer ein, der das sein konnte: Magnus. Natürlich. Diesen Kerl, den ich eines Nachts mit nach Hause genommen hatte, wurde ich nicht mehr los. „Hey. Wie läuft’s?“ „Gut, bis du geklingelt hast. Was willst du?“ „Wenn du schon so direkt fragst: dich flachlegen.“ „Nee, heute nicht. Aber auch nicht morgen oder übermorgen. Selbst mein Dildo hat einen höheren IQ als du!“ Dabei kamen wir im Bett eigentlich ganz gut miteinander klar. Nur den Kerl, der am Schwanz hing, konnte ich nicht ausstehen. Aber man musste nehmen, was man kriegen konnte! Glücklicherweise hatte er noch nie darauf bestanden, bei mir zu übernachten. Vielleicht, weil er eine Freundin hatte. Ich wollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, doch er klemmte seinen Fuß dazwischen. „Aber jetzt bin ich da! Extra hergefahren! Und du hast was Besseres vor!?“ „Genau! Also frag nächstes Mal vorher!“ Ich kickte seinen Fuß weg und schloss die Tür. Dann suchte ich weiter nach meinem Shirt. Mein WhatsApp-Ton ließ mich aufhorchen. Magnus hatte geschrieben: Vermisst du etwas? Ich habe nämlich in der Wäsche was gefunden, das nicht mir gehört. Darunter ein Foto von meinem Lieblingsshirt! Ich fluchte. Schaute aus dem Fenster. Magnus´ Auto stand immer noch um die Ecke geparkt. Lauerte er mir auf, bis ich das Haus verließ? Eilig tippte ich: Gib es mir zurück!!! Die Antwort kam prompt: Ich geb´s dir gerne. Was krieg ich dafür? Du darfst mich auf den Weihnachtsmarkt begleiten , antwortete ich. Im Gedränge könnte ich ihn ja dann ‚verlieren‘… Magnus antwortete mit einem Daumen hoch. Und bot an, zu fahren. Eine halbe Stunde später verließ ich die Wohnung. Magnus´ Auto war verriegelt. Drinnen telefonierte er und gebot mir zu warten. Sein Gesicht war eine starre Maske. Musste ein verdammt wichtiges und ernstes Gespräch sein. Also wartete ich minutenlang, während es immer heftiger schneite. Das grenzte an einen Schneesturm! Endlich ließ er seine Scheibe hinunter und warf mir das Shirt zu. „Jetzt bin ich dir nichts mehr schuldig! Den Weihnachtsmarkt muss ich leider abblasen.“ „Was ist passiert?“ Er schüttelte nur den Kopf, vermied es, mich anzusehen. „Sebastian“, sagte er mit ernster Stimme und betonte meinen Namen, wie er ihn noch nie zuvor ausgesprochen hatte. „Leb wohl.“ „Sag mir doch was los ist!“ Doch er ignorierte mich, ließ die Scheibe hoch und startete den Motor. Impulsiv langte ich nach dem Türgriff. Einige Meter schleifte er mich mit, bis er das bemerkte und abbremste. „Lass mich rein! Oder ich schmeiß mich vor dein Auto!“, brüllte ich und meinte es ernst. Da entriegelte er die Tür. Also setzte ich mich auf den Beifahrersitz, bevor er es sich anders überlegte. „Ich will dich nicht mit reinziehen, Sebastian.“ Ich wurde ich immer neugieriger. Denn Magnus´ Fassade schien einen winzigen Riss bekommen zu haben, und was darunter lag, war interessant und sehenswert… Seit diesem Telefonat war er nicht mehr der Alte. Er zog seinen Zündschlüssel und die Scheibenwischer kamen zum Stillstand. Schnee setzte sich auf der Frontscheibe ab. Auch auf der Heckscheibe und den Seiten. Ich wartete immer noch geduldig und lauschte seinem Atem, der in Wölkchen aus seiner Nase strömte. Die Straßenlaterne war die einzige Lichtquelle. „Okay“, sagte er nach endlosen Minuten des Stillschweigens, als hätte er nur darauf gewartet, eingeschneit zu werden, bevor er sprechen konnte. „Ich habe das noch keinem Menschen erzählt.“ Oh Gott, lass es bitte keine unheilbare Krankheit sein. Damit würde ich überhaupt nicht klarkommen. Außerdem hätte er es einfach nicht verdient! Und ich staunte über mich selbst – empfand ich etwa was für ihn?! „Meine Eltern, meine Schwester, meine Verlobte, ja, jeder der mich kennt, denkt, dass ich tot bin. Sie trauern um mich.“ „Wieso das?“ „Ich bin beileibe kein Unschuldslamm. Früher war ich LKW-Fahrer, weißt du? Bis ich dann erfuhr, für wen ich überhaupt arbeitete. Ich habe meine Nase zu tief hineingesteckt und geschnüffelt… habe mehr Kohle angeboten bekommen, wenn ich noch andere Dinge erledige – aber das hat seinen Tribut gefordert. Als ich erkannt habe, worauf ich mich einlasse, stand ich schon bis zum Hals in der Scheiße, und bekam es mit der organisierten Kriminalität zu tun und allem was dazugehört.“ „Oh mein Gott! Wann war das?“ „Vor fünf Jahren. Seit fünf Jahren bin ich offiziell tot. Ich lebe nun schon fünf Jahre so – mit einer fremden Lebensgeschichte, als jemand, der ich nicht bin. Kannst du dir das vorstellen? Alles, was ich heute bin, ist ein Alias. Eine zusammengebastelte Identität, um mich und die Leute in meinem Umfeld zu schützen. Ich musste mich krass verändern. Alle meine Gewohnheiten ablegen. Alle meine Hobbys aufgeben. Sonst hätten sie mich aufspüren können.“ Ich musste das erst mal sacken lassen. „Sie sind noch immer hinter dir her?“ Er schüttelte den Kopf. „Gerade habe ich einen Anruf erhalten. Sie haben heute Abend das Kartell hochgehen lassen. Vielen wird der Prozess gemacht werden. Das bedeutet...“ Er schluckte, kämpfte mit den Tränen. Also antworte ich für ihn, streichelte dabei seinen Rücken. „Du bist frei – und auch wieder nicht. Du stehst zwischen zwei Welten, weißt nicht, zu welcher du gehörst. Ist es so?“ Er schniefte und sagte nichts dazu. Tränen liefen über seine Wange und ich zweifelte keine Sekunde an seinen Worten. Jahrelang musste er Theater spielen, dabei in Todesangst leben. Meine Hand, die ihn liebkoste, drückte er ganz fest. „Du hast mit mir geschlafen…“ „Ja.“ Endlich schaute er mich an. „Wie konntest du das bloß vortäuschen?“ Magnus seufzte. „Gar nicht. Ich weiß nicht, warum ich so für dich empfinde! In meinem vorigen Leben war ich mit Sicherheit nicht schwul. Daher bot es sich als Tarnung an, nichts eignet sich besser für Geheimniskrämerei. Ja – ich weiß“, sagte er auf meinen Blick hin. „Aber ich hab die Welt nun mal nicht so gemacht, wie sie ist, Sebastian, und ich habe mich wirklich in dich verliebt!“, beteuerte er. Ich legte den Kopf auf seiner Schulter ab und fühlte mich unter der hauchdünnen Schneedecke auf den Scheiben des Autos wohl und geborgen, dachte schon an nachher, wenn ich ihn in meine Wohnung mitnehmen würde um dort bis Montagmorgen mit ihm zu kuscheln. Dann würde ich ihm sagen, dass ich ihn ganz neu kennen lernen wollte, neugierig darauf war, wer er wirklich war… 21. Türchen: Gold ----------------- Kräftig kicke ich den Kieselstein, der auf dem Pflaster liegt, weg. Obwohl er nichts dafür kann, dass mein Leben so hoffnungslos geworden ist. So hoffnungslos, dass es nicht mal mehr lohnt, darüber zu sprechen. Gleich werde ich etwas tun, woran mich keiner hindern wird, weil keiner weiß, was ich vorhabe. Von den wenigen Menschen, die ich noch nicht aus meinem Leben vertreiben konnte. Sie wissen nicht einmal, wie ich mich fühle. Denn niemand spielt so gut Theater wie ich. Regelmäßig ist meine Atmung und sind meine Schritte, auch wenn mein Herz sich fast überschlägt. Hundert Male in Gedanken, doch jetzt in real gehe ich den Weg, der mir Erlösung von meinen Qualen verschaffen wird. Außer der Arbeit bringt mich sonst nichts aus meiner versifften Wohnung. Leute mit Einkaufstüten kreuzen meinen Weg. Die meisten sind damit beschäftigt, die letzten Besorgungen für Weihnachten zu erledigen – drei Tage vorher prügeln sie sich um die letzten Waren und stehen Stunden an den Warteschlangen der Kassen an. Solche Probleme habe ich nicht. Weihnachten wird dieses Jahr ohne mich stattfinden müssen. Kalt und grau ist es heute, und wolkenverhangen. Genau das Wetter, das meiner Gefühlslage entspricht. In mir drin ist immer Winter, egal ob es Herbst oder Sommer ist. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Die Jahreszeit ist meiner inneren Uhr gleichgültig. Dann bin ich auch schon an meinem Ziel angelangt: Der Bahnhof, der zu dieser Zeit ganz verlassen ist. Hier ist es noch kühler und trister als in der restlichen Stadt. Die Uhr am Bahnsteig ist stehengeblieben. Zeit hat sowieso keine Bedeutung mehr für mich. Weit und breit niemand zu sehen. Gut – das bedeutet, keine Augenzeugen. Sicher bin ich nicht der Erste, der sich hier vor einen fahrenden Zug wirft. Den Regional-Express, der hier nie anhält, sondern zur nächstgrößeren Stadt weiter fährt. Weil dieses kleine Kaff zu bedeutungslos dafür ist. Entfernt höre ich ein Geräusch, das lauter wird. Der Zug. Mein kostenloser Erlöser. Ohne Fahrschein ins Jenseits. Schnell und schmerzlos. Ich muss lachen. Ein letztes Mal lachen in diesem Leben; das Lachen kommt von tief drinnen aus mir heraus, ohne dass ich lachen will. Meine Situation ist ja auch nur noch zum Lachen. Zwei Stricke sind gerissen. Höhenangst hindert mich vor einem Sturz von einem Gebäude. Das Kabel meines Föhns ist zu kurz, als dass er bis zur Badewanne reichen würde. Und für Schlaftabletten fehlt mir das Geld – deswegen muss ich mich eben vor einen Zug werfen. Tränen gesellen sich zu meinem Lachen hinzu. Während ich vor Kälte in meiner dünnen Jacke zittere. Der Zug kommt näher. Seine dreieckig angeordneten Lichter glimmen mich böse an. „Versuche es“, teilt er mir mit. „Traust dich eh nicht.“ Denkste. Verzweifelt mag ich sein, doch ich habe keine Furcht. Und was danach kommt, ist mir im Moment ziemlich egal. Es ist besser als das, was ich jetzt habe. Ich will mich nicht fallen lassen, sondern aktiv hinein rennen und von ihm erfasst und mitten entzwei gerissen werden, sodass es keine Chance auf Rettung gibt. Sondern das Ende kommt. Jetzt… Energisch werde ich an der Taille gepackt. Zu Boden geworfen. Nicht auf die Schienen – sondern auf den kalten Asphalt. Ich reiße die Augen auf, verfolge ich in der Horizontalen mit, wie der Zug ohrenbetäubend und zentimeterknapp an mir vorbei rauscht. Mir wird schwindlig dabei, und vom Fahrtwind tränen mir die Augen. Ich lebe, wird mir bewusst. Erst als er vorbei ist, wage ich, nachzuschauen, wer auf mir liegt. Ein schmächtiger Kerl mit dunklen Haaren, blauen Augen und Lippen-Piercing rappelt sich langsam hoch. Ein halbes Kiddie! „Du blöder W…“, schreie ich ihn an, komme auf die Beine und schmeiße ihm ein vulgäres Schimpfwort nach dem anderen entgegen, während ich auf ihn einschlage. Ich bin so wütend wie noch nie. Lasse jahrelang aufgestaute Wut an ihm aus, indem ich meine Fäuste in seinem Fleisch versenke. Und Wut darüber, dass er meinen Plan vereitelt hat. Jetzt, wo ich mich doch endlich getraut habe! Wer weiß, wann ich je wieder den Mut dazu aufbringe! Dieser Idiot! Irgendwann bin ich erschöpft und meine Knöchel schmerzen, bluten sogar. „Hast du das gebraucht?“, fragt er. Seine Stimme ist angenehm, kühl und klar wie ein Bergsee. Noch immer den Kopf gesenkt, fixiere ich mit tränenverschleierten Blick die Spitzen meiner Turnschuhe. „Ich brauche noch viel mehr“, murmele ich. „Aber nicht heute.“ „Das glaube ich aber auch. Aber überlege dir eines. Wenn du es tust, dann gewinnen doch sie. Sie werden dann bemitleidet um ihren Verlust. Und der Böse bist du, wie kannst du ihnen das antun…“ „So habe ich das noch nie gesehen“, sage ich beschämt und wende mich ab, um nach Hause zu gehen. Ich weiß, was ich tue, wenn ich zuhause bin: Seit vielen Jahren wieder die Acrylfarben hervor kramen, die bereits Staub angesetzt hatten, und eine Leinwand in die Staffelei spannen. Malen. Fast dachte ich, es verlernt zu haben. Doch dem ist nicht so. Regelrecht kann ich spüren, wie sich in mir ein dickes Knotengewirr löst; Faden um Faden, für jeden Strich, den ich male. Nicht mehr ich führe den Pinsel, sondern er mich. Ein Bild, das gemalt werden will, um jeden Preis. Mitternacht ist es, als ich fertig bin. Mich verblüfft selbst, was ich gemalt habe: Einen wolkenbedeckten Himmel an einem Wintertag, durch dessen kleine Risse sich hier und da ein goldener Sonnenstrahl zwängt und in unterschiedlichen Winkeln auf die Erde herab scheint. Und diese Wolken betrachtet ein junger Mann, der mir den Rücken zudreht. Vielleicht hat er blaue Augen und ein Lippen-Piercing. Vielleicht gibt es ihn gar nicht wirklich, sondern er ist ein Engel, ein Weihnachtsengel, der Lebensmüde wie mich vor dem Suizid bewahrt. Vielleicht aber auch nicht? Wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Was ich jedoch ganz sicher weiß, ist, dass ich ab heute öfter einen Spaziergang unternehmen werde. In der Hoffnung, meinem Schutzengel wieder zu begegnen und ihm dafür zu danken, dass er mich inspiriert hat. 22. Türchen: Winteranfang ------------------------- Carlos schlenderte über den Weihnachtsmarkt am Hafen, vielleicht kam ein Kumpel auch noch. Das größte Gedränge herrschte vor den Glühweinständen. Carlos mochte Menschenmengen. Je mehr Menschen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine hübsche Frau darunter war. Oder sogar DIE Frau für ihn? Er stellte sich an, hinter einer Frau in einem kurzen weißen Mantel. Sie trug dazu eine Nylonstrumpfhose und Stiefel mit sehr hohen Absätzen. Pfennigabsätzen, oder wie man das nannte. Von denen der linke sich immer tiefer in seinen Zeh zu bohren drohte. Carlos biss die Zähne zusammen und wagte es nicht, sich darüber zu beschweren. Doch die Dame bewegte sich nicht vom Fleck. Fast so, als würde sie hier ein kleines Machtspielchen veranstalten. Vielleicht hatte sie seinen zischenden Atem in ihr Genick bemerkt. Sie trug ihre weißblonden Locken nämlich so kurz, dass man oberhalb ihres pelzigen Kragens ihren Halswirbel erkennen konnte. Dick und blau wie eine Aubergine stellte er sich seine Zehen vor, und da wagte er endlich sie anzusprechen: „Ähm, der untere ist meiner…“ Augenblicklich drehte sie sich zu ihm um. Den weißen Mantel trug sie offenherzig mit dem Revers auf die Schultern geschlagen, sodass ihm ihr tiefes Dekolleté ins Gesicht sprang, die Haut ganz hell. „Verzeihen Sie. Das war wirklich nicht meine Absicht“, sagte sie und klimperte mit den Wimpern. Ihr Gesicht sah aus wie einem Gemälde entsprungen. Eine Schönheit, vor der man sich verneigen wollte. Mit hohen Wangenknochen, einer Stupsnase und Augen wie die eines Huskeys. Rosa Lipgloss war auf ihrem kleinen Schmollmund aufgetragen. Carlos war sofort hin und weg. „Macht nichts. Tat gar nicht weh“, versicherte er ihr überzeugend. „So schick. Gibt’s was zu feiern?“ „Aber sicher doch. Heute ist Winteranfang.“ „Ah. Verstehe“, erwiderte er, obwohl er überhaupt nichts verstand. Wieso sollte sie man das feiern wollen? „Mein Name ist Sophie.“ „Carlos“, stellte sich Carlos vor und hielt ihr die Hand hin. Sie reagierte nicht darauf. „Wie kann ich mich denn bei Ihnen entschuldigen, Carlos? Möchten Sie mir auf dem Markt Gesellschaft leisten?“ „Was? J-ja natürlich, also liebend gerne!“, stotterte er angesichts des Schlafzimmerblicks, den sie aufgesetzt hatte. Sie hielt ihm ihren Arm hin, damit er sich unterhakte und er ließ sich nicht zweimal bitten. Normalerweise gingen die Frauen nicht so offensiv auf ihn zu… So schlenderten sie gemeinsam über den Weihnachtsmarkt. Neben ihr kam sich Carlos in seiner billigen Lederjacke, den durchgelatschten Chucks und der abgewetzten Jeans ziemlich schäbig vor. Dazu kam, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte. Trotzdem interessierte er sich brennend für die elegante Fremde an seiner Seite, und er überlegte krampfhaft, wie er ein Gespräch beginnen konnte. „Sophie, Sie kommen nicht von hier, oder?“ Und damit meinte er ihren merkwürdigen Akzent, weswegen er ihre Herkunft irgendwo in Nordeuropa ansiedelte, das würde zu ihrem hellen Typ passen. „Nein, ich bin auf der Durchreise“, antwortete sie ihm vage. Also bohrte er lieber nicht weiter nach. Oh – aber sie war doch wohl nicht etwa die Prinzessin von Schweden? Schweden hatte eine Königsfamilie, das wusste er von seiner Tante, deren Lieblingslektüre diese bunten Adelsblättchen waren. Wie katastrophal, wenn sie das wirklich die Prinzessin wäre, und er das nicht mal bemerkte! Seine Tante schnell per Whatsapp fragen konnte er auch nicht, denn welchen Eindruck würde das denn auf Sophie machen, wenn er am Handy tippte, während sie Arm in Arm liefen? „Gebrannte Mandeln“, raunte sie ihm zu. „Mit Bratapfelgeschmack. Kaufen Sie mir eine Tüte davon?“ „Natürlich!“ „Haben Sie Familie, Sophie?“, fragte er, während sie an den Mandeln knabberte. „Drei jüngere Geschwister“, antwortete sie knapp. An einem Stand, wo ein Ehepaar handgefertigte Glasfigürchen verkaufte, blieb sie stehen. „Diese Schneeflocke ist doch wirklich sehr hübsch, finden Sie nicht, Carlos?“ Sie zeigte mit ihrem behandschuhten Finger auf eine der Figuren, die an Haken hingen. „Recht haben Sie. Entschuldigung? Ich will diese Schneeflocke hier kaufen!“, wandte sich Carlos an den Verkäufer. Er bezahlte und nahm die Schneeflocke, die wie für Sophie gemacht war. „Darf ich?“ Er befestigte sie mit der kleinen Öse an ihrem obersten Mantelknopf. Wie er ihren Ausschnitt betrachtete, fröstelte er. Nicht, dass das kein sagenhafter Anblick war, aber war sie nicht ein wenig zu frisch angezogen bei diesen Temperaturen? Sogar er hatte sich heute warm anziehen müssen. „Ist Ihnen gar nicht kalt?“ Darauf lachte sie nur. „Ihnen etwa? Möchten Sie einen Glühwein, Carlos?“ Carlos willigte ein, und sie machten die Runde, bis sie wieder an dem Stand angekommen waren, wo er zuvor auf sie gestoßen war. Oder genauer gesagt, sie auf ihn getreten. „Da wären wir.“ Plötzlich hatte es zu schneien begonnen. Carlos schaute verträumt den Flocken beim Fallen zu, wie sie friedlich vom Himmel herab torkelten, ganz lautlos. Und sein Blick traf Sophies, die ebenfalls lächelte. Doch als Carlos bemerkte, dass die Flocken auf ihrer unbedeckten Haut keineswegs schmolzen, sondern liegenblieben wie Puderzucker, runzelte er die Stirn. Was stimmte nicht mit dieser Sophie? „Ich bin Ihnen dankbar für alles, Carlos! Sie haben mir sehr geholfen. Leben Sie wohl!“ Sie küsste ihn auf die Wange, dann sah er sie zwischen der Menschenmenge verschwinden. ~ „Zwei Glühwein mit Schuss“, bestellte Alex am Glühweinstand, den anderen für seinen Kumpel Carlos. „Und, was gibt’s Neues?“, fragte er ihn, als er an den Tisch zurück kehrte. „Puhh, ich hatte heute eine Begegnung! Sie heißt Sophie und kommt aus dem Norden. Nehm ich an. Denn sie… sie ist der personifizierte Winter! Sie mag gebrannte Mandeln und kann es schneien lassen, wenn sie glücklich ist. Und sie hat noch drei jüngere Geschwister: Frühling, Herbst und Sommer. Was für eine Hammerbraut! Aber so kalt! Schnee schmilzt auf ihrer Haut nicht“, murmelte Carlos. „Wohin sie wohl gegangen ist?“ „Carlos, ich glaube, hast du genug Glühwein für heute.“ Doch Carlos starrte ihn mit glasigen Augen an, so als starre er durch ihn hindurch, und als er wankte, und umzufallen drohte, konnte Alex ihn gerade noch rechtzeitig auffangen. Wieso nur war er so verdammt kalt und bleich? So als ob er schon seit Stunden tot wäre! Und auf seiner Wange erschien plötzlich wie von Zauberhand ein blauer Fleck, der die Form zweier Lippen annahm… 23. Türchen: Herz ----------------- Der Tag vor Heiligabend. Die Zeit des Jahres, auf die sich Theresa schon das ganze Jahr gefreut hatte. Das erste Weihnachtsfest, das sie mit Gabriel zusammen verbringen würde. Alles musste perfekt sein. Immer wieder lief sie durch das Haus, kontrollierte die Sauberkeit, rückte hier und dort eine Kerze gerade. Heute Abend würden Gabriels Eltern kommen, und sie war schon mächtig aufgeregt, denn sie kannte sie noch gar nicht. Daher hatte sie auch zwei Tage lang aufgeräumt, gesaugt und geputzt und das Haus dekoriert wie eine Wilde. Gabriel, eigentlich ein Weihnachtsmuffel, hatte sich am Ende doch überreden lassen, mit ihr den Baum zu schmücken, mit Lametta, Strohsternen und einer Lichterkette. Bis sie die endlich drauf gehabt hatten! Ach, wie schön der Baum dastand und wie herrlich er roch! Vorfreude, wie damals als Kind machte sich in ihr breit. Fehlte nur noch Gabriel. Sie hatte ihn noch mal schnell zum Einkaufen zum Supermarkt um die Ecke geschickt, denn sie hatte nicht an Servietten gedacht. Was sollte ihre Schwiegermutter in spe von ihr denken, wenn keine Servietten da waren! Es waren immer die kleinen Dinge, die man vergaß… Und Kleinigkeiten, die den Gesamteindruck zunichte machten. Für den ersten Eindruck gab es nun mal keine zweite Chance. Sie hatte ein Drei-Gänge-Menü vorbereitet, rührte noch mal die Gemüsesuppe um – vorsichtig, damit sie ihre Klamotten nicht bekleckerte. Als Nachtisch würde es Gabriels berühmt-berüchtigte Mousse au Chocolat geben. Aber wann kam er denn endlich zurück? Nun war schon eine halbe Stunde vergangen! Ob sie im ganzen Supermarkt keine Servietten mehr hatten und er woanders danach suchen musste? Nicht mal sein Handy hatte er mitgenommen. Um sich abzulenken, und weil es ihr einen Ticken zu still war, legte sie die Weihnachts-CD in den Player. Die Töne von Last Christmas erklangen und sie sang fröhlich mit: „Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day…“ Dieses Lied war ihre Hymne; das Lied von Gabriel und ihr. Heute vor einem Jahr hatten sie sich kennengelernt. Ausgerechnet durch Lucius, ihren Ex, auf jenem Benefiz-Ballabend. Sie, ihr Haar zu Locken gedreht und ein rückenfreies Kleid an, schüttelte Gabriels Hand. Ein Bekannter von Lucius. Noch vor Mitternacht tanzten sie zusammen. Und küssten sich. Es hatte gefunkt; war Liebe auf den ersten Blick. Lucius war ab diesem Moment vergessen. Sie hatten eh nicht wirklich zusammengepasst, außerdem kam manchmal eine Seite in ihm zum Vorschein, die ihr Angst machte. Gabriel jedoch, der hatte ihr verkümmertes Feuer wieder zum Lodern gebracht… Theresa lächelte vor sich hin. Mit Gabriel hatte sie wirklich jemanden fürs Leben gefunden. Einen der wirklich zu ihr passte. Ihre zweite Hälfte. Jetzt läutete es an der Tür. Oh Gott! Die Eltern standen vor der Tür, und Gabriel war noch nicht da! Theresa zupfte sich im Flurspiegel die Klamotten zurecht, dann ging sie zur Tür. Vor dem Eingang war das Licht angegangen, doch es war niemand zu sehen. Keine Menschenseele weit und breit. „Gabriel?“, fragte sie laut. Keine Antwort. Fast wollte sie die Tür schon wieder schließen, fest davon überzeugt, dass es ein Klingelstreich von Kindern gewesen war. Dann bemerkte sie diesen einsamen, silbernen Metallkoffer auf dem Teppich vor der Tür. Eine breite rote Schleife war auf diesem befestigt. „Was ist das denn? Ein Geschenk?“ Neugierig bückte sich Theresa und hob ihn auf. Schwer war er nicht. Sie trug ihn ins Haus und machte die Tür hinter sich zu. Auf den Esszimmertisch abgelegt, zog sie die Schleife ab und öffnete die Schnallen. Auf einer braunen Pappschachtel lag ein Kuvert, ein Brief, der unverschlossen war und auf dem nichts geschrieben stand. War das ein Scherz von Gabriel? Theresa fingerte das Blatt heraus, faltete es auseinander und las die feinsäuberliche, regelmäßige Handschrift, die in schwarzer Tinte geschrieben war und ihr vage bekannt vorkam: Letzte Weihnachten schenkte ich dir mein Herz Doch du hast es nicht wirklich verdient Dieses Jahr, meine Liebste, um mich zu trösten, für dich ein Herz von jemand ganz Besonderem! Was hatte das zu bedeuten? War es tatsächlich Lucius, der ihr geschrieben hatte? Diese Handschrift konnte nur von ihm stammen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit, und fast schon widerwillig hob sie den Deckel des Stülpkartons an. Ein markerschütternder, nicht enden wollender Schrei gellte durch die friedliche Nachbarschaft. Theresas Atem ging flach. Sie war gelernte Krankenschwester, doch das hier war zu viel des Guten. Sie musste sich auf den Teppich übergeben. Trotzdem musste sie wieder hinschauen, auf das morbide Grauen, das sich ihr bot. Es zog ihren Blick wie magnetisch an und würde sie noch jahrelang verfolgen, bis in ihre Träume. Auf Eiswürfel gebettet wie Versandhändler ihre Waren in Füllmaterial betteten, lag ein dunkelrotes, faustgroßes Organ. Ganz frisch. Feine blaue Äderchen durchzogen die Oberfläche und die Aorta war säuberlich mit einem scharfen Messer durchtrennt. Vor Minuten hatte es sicher noch geschlagen, diese kerngesunde, junge, menschliche Herz… „Du gottverdammter Mistkerl“, flüsterte Theresa. Nein, sie wollte nicht raten, von wem dieses Herz stammte! Sie wollte nicht mal in Erwägung ziehen, dass in ein paar Minuten Gabriels Eltern auf der Matte standen, und sie ihnen erklären müsste, dass ihr Sohn jetzt irgendwo mit einem klaffenden Loch in der Brust im Dreck lag, weil sie ihn zum Einkaufen geschickt hatte. Von Servietten. Und er unterwegs seinem alten Kumpel, ihrem teuflischen, sadistischen Ex, in die Hände geraten war. Lucius, wer denn sonst. Der hatte immer schon alles wörtlich genommen, und vor allem persönlich. Und geilte sich nun an dem Gedanken auf, dass er ihr das Weihnachtsfest und ihr Lieblingslied für immer versaut hatte. 24. Türchen: Christkind ----------------------- Schon um sieben Uhr morgens herrscht hektisches Treiben vor der Uni-Klinik. Ich traue mich fast nicht, aus dem Taxi auszusteigen. Der Fahrer wundert sich schon, was da los ist. Ich zahle ihm ein großzügiges Trinkgeld, weil er sich wirklich beeilt hat, trotz des Schnees. Ich kämpfe meinen Weg durch das Blitzlichtgewitter frei vom Taxi bis zur Eingang der Klinik, doch sie machen sich über mich her wie ein Rudel Hyänen und wollen mich nicht passieren lassen, ehe ich den Mund aufmache, aber da können sie lange warten. „Dr. Maier, hätten Sie…“ – „Exklusiv-Foto!!! Wir zahlen das Dreifache!!!“ – „…den Nobelpreis bekommen?“ „… wie ist die Geburt verlaufen? Gab es Komplikationen?“ „Werden Männer ab dem heutigen Tag überflüssig, Dr. Maier?“ Alle quasseln durcheinander und halten mir ihre Mikrofone ins Gesicht. Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung an vorderster Front, war ja klar… Ich sehe schon die Schlagzeilen bildlich vor mir, in denen ich als Radikalemanze betitelt werde und sich über meine Arbeit das Maul zerrissen wird. Ob wir das Land verlassen müssen? „Lassen Sie mich durch!“, brülle ich. Ich werde kein Wort mit ihnen wechseln. Nicht, ehe ich nicht meine Tochter zu allerersten Mal in den Armen gehalten habe, mein eigen Fleisch und Blut. Die schon ein Star war, bevor sie überhaupt zur Welt gekommen ist. Mir wäre lieber, wenn diese monatelange mediale Schlammschlacht mit diesem Tag ihr Ende findet, damit sie in Ruhe aufwachsen kann. Das ist alles was ich mir wünsche. Natürlich muss sie wohl noch ihr Leben lang Untersuchungen über sich entgehen lassen, aber das ist eine andere Geschichte… Durch die Security kann ich sie abschütteln. Und laufe atemlos ich durch die Gänge, suche die richtige Station. Mein Herz droht zu zerspringen, als ich besagte Tür erreiche. Meine Finger berühren die Klinke, und ich hole tief Luft, bereite mich mental auf ein Gefühlschaos vor. Denn wenn ich durch diese Tür getreten bin, werde ich nicht mehr dieselbe sein, das weiß ich. Als ich das Zimmer betrete, drehen zwei Frauen die Köpfe zu mir um. Meine Schwiegermutter und meine Schwägerin. Ihnen gegenüber am Bett sitzen mein Schwiegervater und mein Schwager. Und zwischen ihnen allen, aufrecht im Bett sitzend, erblicke ich das wunderschönste Geschöpf auf Erden: Linda, meine Frau und Gefährtin. Sie hebt den Kopf und strahlt mich an. In ihren Armen ein weißes Bündel, wo man gar nichts erkennt. „Ute!“, ruft meine Schwiegermutter und heute ist mal gar kein Tadel in ihrer Stimme. Sie strahlt bis über beide Ohren, weil sie jetzt Oma ist. Keine Spur davon, dass sie mich noch vor einem Jahr ignoriert und verleugnet hat, und ihre Tochter dreist nach einem Freund fragte, obwohl ich mit ihr verheiratet bin! Noch auf der Türschwelle kommen mir die Tränen. Fast stolpere ich über den kleinen Plastiktannenbaum, den irgendjemand in der Ecke aufgestellt hat. „Endlich.“ Linda umarmt mich, küsst mich. Ihre Wangen glühen. Ihr Gesicht wirkt so jungendlich und so zerbrechlich wie das einer Porzellanpuppe. Kaum zu glauben, dass sie die Strapazen der Geburt erst wenige Stunden hinter sich hat. Ich schließe endlich, endlich meine schlafende Tochter in die Arme. Atme ihren Duft. Fühle den Flaum auf ihrem winzigen Kopf und ihre keinen Tag alte Haut. Von dem, was ich da gerade wirklich und tatsächlich in der Hand halte, bin ich nahezu erschüttert. Denn mehr als zwanzig Jahre lang lebte ich in der Gewissheit, nie und nimmer Mutter zu werden, während ich anderen Frauen ihren Kinderwunsch erfüllte. Und hier und heute halte ich dieses Leben wahrhaftig in der Hand… Habe ich nun also doch noch die mir von Geburt an zugewiesene Rolle erfüllt, und zwar ganz auf meine Art… Es werden Belanglosigkeiten ausgetauscht. Darüber, wie kräftig und gesund das Kind ist, geredet. Darüber gescherzt, wem sie mehr ähnelt. Ich höre kaum zu. Ich staune bloß über dieses neue Leben. Und darüber, dass es mich ebenso ergreift wie alle anderen im Raum. Sie ist nicht nur ein Mädchen, sondern ein Meilenstein der Forschung. Gleichzeitig ein Bruch des heiligsten aller Tabus, das tief verborgen in den Köpfen der Menschen schlummert. Das Baby ohne Vater. Doch ohne Vaterschaftsstreitereien. Ohne Gequengel, wenn sie größer ist, dass sie ihren Samenspender kennen lernen will. Denn es gibt keinen. Ich bin ihr Vater und gleichzeitig ihre Mutter. Ebenso wie ich die Leiterin dieses Forschungsprojekts in der Reproduktionsmedizin bin. Eigentlich waren ursprünglich andere Frauen dafür eingeplant gewesen. Da das Projekt jedoch mehrmals fehlschlug, hatte Linda sich selbst vorgeschlagen – niemals hätte ich sie darum gebeten; ihr diese Last aufgebürdet. In einem komplizierten, kostspieligen Verfahren war es gelungen, unsere beiden Eizellen zu verschmelzen. Die Zellteilung fand statt, das Glück war auf unserer Seite gewesen und die Zellen konnten Linda eingepflanzt werden. Nur Mädchen können so entstehen. Doch Mädchen hin oder her, sie ist ein Kind der Liebe. „Wir lassen euch dann mal alleine.“ Der Vater verlässt als Erster den Raum, und die übrigen folgen, während sie mich nochmal beglückwünschen. Bis wir ganz alleine sind. Linda macht mir auf dem Bett Platz und ich lege mich neben sie. „Und? Hat sich irgendeiner deiner Alpträume bewahrheitet?“ In den letzten Wochen war sie oft schweißgebadet aufgewacht. Manchmal erzählte sie mir die Träume, die sie hatte, manchmal nicht. „Kein einziger.“ „Es tut mir so leid, dass ich nicht bei dir war, Herzchen.“ Sie lächelt gütig. „Am Ende war´s doch ein Kaiserschnitt. Ich habe nicht viel mitbekommen.“ „Trotzdem, es geht ums Prinzip. Ach, ich hätte erst gar nicht nach London fliegen sollen!“ Ich rege mich lieber nicht darüber auf, dass ich schon gestern Abend hätte zu Hause sein können. Wenn mein Flug aus London, wo ich auf einer Konferenz gewesen war, nicht wegen des Schneegestöbers abgesagt und ich notgedrungen den Fernbus hatte nehmen müssen. In dem ich eine unbequeme Nacht verbracht hatte, von der jetzt mein Nacken schmerzte. Diese Dinge passierten, so war eben das Leben. Aber nun war ich da, und ich war bei Linda und bei unserem Baby, einzig das zählte. „Sie ist ein Christkind geworden“, sagt Linda und ich muss schmunzeln. „Armes Ding. Geburtstag und Weihnachten an einem Tag.“ „Stimmt. Sie hat es ziemlich eilig gehabt. Weißt du denn schon einen Namen?“ „Eva soll sie heißen. Es bedeutet: Das Leben. Und wenn ich sie so anschaue, dann kommt einfach kein anderer Name in Frage.“ „Ein schöner Name. Ich liebe dich, Schatz.“ „Ich liebe dich auch.“ ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)