24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 22. Türchen: Winteranfang ------------------------- Carlos schlenderte über den Weihnachtsmarkt am Hafen, vielleicht kam ein Kumpel auch noch. Das größte Gedränge herrschte vor den Glühweinständen. Carlos mochte Menschenmengen. Je mehr Menschen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine hübsche Frau darunter war. Oder sogar DIE Frau für ihn? Er stellte sich an, hinter einer Frau in einem kurzen weißen Mantel. Sie trug dazu eine Nylonstrumpfhose und Stiefel mit sehr hohen Absätzen. Pfennigabsätzen, oder wie man das nannte. Von denen der linke sich immer tiefer in seinen Zeh zu bohren drohte. Carlos biss die Zähne zusammen und wagte es nicht, sich darüber zu beschweren. Doch die Dame bewegte sich nicht vom Fleck. Fast so, als würde sie hier ein kleines Machtspielchen veranstalten. Vielleicht hatte sie seinen zischenden Atem in ihr Genick bemerkt. Sie trug ihre weißblonden Locken nämlich so kurz, dass man oberhalb ihres pelzigen Kragens ihren Halswirbel erkennen konnte. Dick und blau wie eine Aubergine stellte er sich seine Zehen vor, und da wagte er endlich sie anzusprechen: „Ähm, der untere ist meiner…“ Augenblicklich drehte sie sich zu ihm um. Den weißen Mantel trug sie offenherzig mit dem Revers auf die Schultern geschlagen, sodass ihm ihr tiefes Dekolleté ins Gesicht sprang, die Haut ganz hell. „Verzeihen Sie. Das war wirklich nicht meine Absicht“, sagte sie und klimperte mit den Wimpern. Ihr Gesicht sah aus wie einem Gemälde entsprungen. Eine Schönheit, vor der man sich verneigen wollte. Mit hohen Wangenknochen, einer Stupsnase und Augen wie die eines Huskeys. Rosa Lipgloss war auf ihrem kleinen Schmollmund aufgetragen. Carlos war sofort hin und weg. „Macht nichts. Tat gar nicht weh“, versicherte er ihr überzeugend. „So schick. Gibt’s was zu feiern?“ „Aber sicher doch. Heute ist Winteranfang.“ „Ah. Verstehe“, erwiderte er, obwohl er überhaupt nichts verstand. Wieso sollte sie man das feiern wollen? „Mein Name ist Sophie.“ „Carlos“, stellte sich Carlos vor und hielt ihr die Hand hin. Sie reagierte nicht darauf. „Wie kann ich mich denn bei Ihnen entschuldigen, Carlos? Möchten Sie mir auf dem Markt Gesellschaft leisten?“ „Was? J-ja natürlich, also liebend gerne!“, stotterte er angesichts des Schlafzimmerblicks, den sie aufgesetzt hatte. Sie hielt ihm ihren Arm hin, damit er sich unterhakte und er ließ sich nicht zweimal bitten. Normalerweise gingen die Frauen nicht so offensiv auf ihn zu… So schlenderten sie gemeinsam über den Weihnachtsmarkt. Neben ihr kam sich Carlos in seiner billigen Lederjacke, den durchgelatschten Chucks und der abgewetzten Jeans ziemlich schäbig vor. Dazu kam, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte. Trotzdem interessierte er sich brennend für die elegante Fremde an seiner Seite, und er überlegte krampfhaft, wie er ein Gespräch beginnen konnte. „Sophie, Sie kommen nicht von hier, oder?“ Und damit meinte er ihren merkwürdigen Akzent, weswegen er ihre Herkunft irgendwo in Nordeuropa ansiedelte, das würde zu ihrem hellen Typ passen. „Nein, ich bin auf der Durchreise“, antwortete sie ihm vage. Also bohrte er lieber nicht weiter nach. Oh – aber sie war doch wohl nicht etwa die Prinzessin von Schweden? Schweden hatte eine Königsfamilie, das wusste er von seiner Tante, deren Lieblingslektüre diese bunten Adelsblättchen waren. Wie katastrophal, wenn sie das wirklich die Prinzessin wäre, und er das nicht mal bemerkte! Seine Tante schnell per Whatsapp fragen konnte er auch nicht, denn welchen Eindruck würde das denn auf Sophie machen, wenn er am Handy tippte, während sie Arm in Arm liefen? „Gebrannte Mandeln“, raunte sie ihm zu. „Mit Bratapfelgeschmack. Kaufen Sie mir eine Tüte davon?“ „Natürlich!“ „Haben Sie Familie, Sophie?“, fragte er, während sie an den Mandeln knabberte. „Drei jüngere Geschwister“, antwortete sie knapp. An einem Stand, wo ein Ehepaar handgefertigte Glasfigürchen verkaufte, blieb sie stehen. „Diese Schneeflocke ist doch wirklich sehr hübsch, finden Sie nicht, Carlos?“ Sie zeigte mit ihrem behandschuhten Finger auf eine der Figuren, die an Haken hingen. „Recht haben Sie. Entschuldigung? Ich will diese Schneeflocke hier kaufen!“, wandte sich Carlos an den Verkäufer. Er bezahlte und nahm die Schneeflocke, die wie für Sophie gemacht war. „Darf ich?“ Er befestigte sie mit der kleinen Öse an ihrem obersten Mantelknopf. Wie er ihren Ausschnitt betrachtete, fröstelte er. Nicht, dass das kein sagenhafter Anblick war, aber war sie nicht ein wenig zu frisch angezogen bei diesen Temperaturen? Sogar er hatte sich heute warm anziehen müssen. „Ist Ihnen gar nicht kalt?“ Darauf lachte sie nur. „Ihnen etwa? Möchten Sie einen Glühwein, Carlos?“ Carlos willigte ein, und sie machten die Runde, bis sie wieder an dem Stand angekommen waren, wo er zuvor auf sie gestoßen war. Oder genauer gesagt, sie auf ihn getreten. „Da wären wir.“ Plötzlich hatte es zu schneien begonnen. Carlos schaute verträumt den Flocken beim Fallen zu, wie sie friedlich vom Himmel herab torkelten, ganz lautlos. Und sein Blick traf Sophies, die ebenfalls lächelte. Doch als Carlos bemerkte, dass die Flocken auf ihrer unbedeckten Haut keineswegs schmolzen, sondern liegenblieben wie Puderzucker, runzelte er die Stirn. Was stimmte nicht mit dieser Sophie? „Ich bin Ihnen dankbar für alles, Carlos! Sie haben mir sehr geholfen. Leben Sie wohl!“ Sie küsste ihn auf die Wange, dann sah er sie zwischen der Menschenmenge verschwinden. ~ „Zwei Glühwein mit Schuss“, bestellte Alex am Glühweinstand, den anderen für seinen Kumpel Carlos. „Und, was gibt’s Neues?“, fragte er ihn, als er an den Tisch zurück kehrte. „Puhh, ich hatte heute eine Begegnung! Sie heißt Sophie und kommt aus dem Norden. Nehm ich an. Denn sie… sie ist der personifizierte Winter! Sie mag gebrannte Mandeln und kann es schneien lassen, wenn sie glücklich ist. Und sie hat noch drei jüngere Geschwister: Frühling, Herbst und Sommer. Was für eine Hammerbraut! Aber so kalt! Schnee schmilzt auf ihrer Haut nicht“, murmelte Carlos. „Wohin sie wohl gegangen ist?“ „Carlos, ich glaube, hast du genug Glühwein für heute.“ Doch Carlos starrte ihn mit glasigen Augen an, so als starre er durch ihn hindurch, und als er wankte, und umzufallen drohte, konnte Alex ihn gerade noch rechtzeitig auffangen. Wieso nur war er so verdammt kalt und bleich? So als ob er schon seit Stunden tot wäre! Und auf seiner Wange erschien plötzlich wie von Zauberhand ein blauer Fleck, der die Form zweier Lippen annahm… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)