24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 5. Türchen: Nikolaus -------------------- Um neun Uhr saß ich am Küchentisch und nahm mein Abendessen ein, die Dosensuppe, die ich fix aufgewärmt hatte. Um mich für die Nachtschicht zu stärken, die von zehn bis sechs Uhr morgen früh ging. Jule schlich um meinen Stuhl herum. Mittlerweile hielt sie sich daran, nur mit Kopfhörern Musik zu hören, wenn ich am Nachmittag nach der Arbeit und Hausarbeit in unruhigen Schlaf gefallen war. „Na? Hast du alle Hausaufgaben fertig?“, fragte ich sie. „Leg deinen Deutschaufsatz auf den Küchentisch, wenn ich heimkomme, lese ich ihn mal durch.“ „Jaaaa“, antwortete meine pubertierende Schwester genervt. „Wir haben übrigens Samstagabend. Der fünfte Dezember.“ „Stimmt…“ Die Nachtschicht brachte mich mit den Tagen derart durcheinander, dass ich oft nicht spontan sagen konnte, welchen Wochentag wir hatten. Dazu kam, dass ich sechs Tage die Woche arbeitete, und das dauerhaft in der Nachtschicht. Den Sonntagszuschlag nutzte ich immer aus; da verdiente man ein bisschen mehr und ich schaffte es, jeden Monat etwas zurückzulegen. „Dann lern noch ein bisschen was für die Schule. Hast du nächste Woche nicht eine Matheklausur? Setz dich hin und lerne dafür. Das ist im Moment das einzige, mit dem du mir helfen kannst.“ „Ich weiß. Trotzdem habe ich vorhin dein Auto abgekehrt, es hat nämlich geschneit. Fahr bloß vorsichtig, Jutta.“ Scheiße, dachte ich, scheiße. Ich hatte einen Anfahrtsweg von zwanzig Minuten zur Arbeit. In einem rostigen Kleinwagen mit – Gott sein Dank! – Winterreifen, außerdem TÜV bis Februar. Extra für diese Arbeit gekauft. Sein Baujahr lag länger zurück als mein Geburtsjahr, und beim Starten klang er wie ein alter Mann mit Bronchitis. Wenn er überhaupt ansprang heute… „Danke, Jule.“ Die Sorge in ihrer Stimme war mir nicht entgangen, und der Kummer darüber, dass wir nur noch uns beide hatten. Seit dem Sommer, wo unsere Mutter verunglückt war. Seitdem lebten wir in dieser engen Zweizimmerwohnung zusammen und ich sorgte für sie. Mein Studium hatte ich für ein Semester auf Eis gelegt, um als Hilfsarbeiterin zum Mindestlohn im Zentrallogistiklager einer Spielwarenkette zu arbeiten. Froh darüber, dass sie mich ohne jegliche Berufserfahrung genommen hatten, mich und andere kunterbunt zusammen gewürfelte Externe, die den Überbedarf in der Weihnachtszeit in zwei zusätzlichen Schichten deckten. Ich stand auf, um mein Pausebrot zu packen: Ein Apfel, dessen Schale schon leicht schrumpelig war, einen preisreduzierten Fruchtjoghurt und zwei Scheiben Brot vom Vortag aus dem Discounter, die ich mit Wurst belegte und in die Brotdose legte. „Immer Wurst“, beschwerte sich Jule. „Wie kann man bloß Tiere essen!“ Ich rollte mit den Augen, weil ich es leid war, diese Diskussion mit ihr zu führen. „Dann iss eben Käse, und nicht immer diesen teuren Tofu-Fraß.“ Immer ihre Sonderwünsche nach veganem Aufstrich oder veganem Dies und Das, die gingen unnötig ins Geld. „Mama war auch Vegetarierin“, erinnerte sie mich und es traf mich wie ein Stich. Schnell ging ich ins Bad, wo durch Jules Duschaktion immer noch alles dampfig und feuchtwarm war. Jule schielte zur Tür herein, als ich am Zähneputzen war. „Du… Jutta, wann heizen wir eigentlich?“ Ich spuckte den Schaum ins Waschbecken und spülte meinen Mund, während ich in Gedanken antworte: Am liebsten überhaupt nicht. Mir grauste vor einer explodierenden Gasrechnung. „Neulich habe ich doch Wolldecken und Wärmflaschen gekauft.“ „Aber meine Füße sind eiskalt! Ich habe drei Paar Socken plus Hausschuhe an, und trotzdem friere ich! Du kriegst die Kälte ja nicht mit, wenn du abends im Bett liegst und schläfst.“ „Ich heize nächste Woche“, vertröstete ich sie. „Das sagst du schon seit vier Wochen und es wird immer kälter!“ Ich legte die Wimperntusche beiseite und schaute sie an. Ihr kritischer Blick genügte, sie brauchte es nicht zu sagen. Ich sah so scheiße aus, dass nicht mal mehr Schminke viel kaschierte, ich könnte sie mir gleich sparen. Vampire gab es tatsächlich: Es waren Leute wie ich, die sich mit fahlem Teint, Augenringen und geröteten Augen durch den Tag schleppten, mit schmerzenden Rücken oder Füßen von den ungesunden Sicherheitsschuhen. Immerzu durstig von der Dehydrierung, die der Schlafmangel und die körperliche Belastung außerhalb der menschlichen Leistungszeiten mit sich brachte; gierig nach Arbeit und dem Geld, das sie einbrachte. Mit ungesunden Neid auf jene, die es besser hatten als man selbst. Und der wachsenden Sorge, was geschah, wenn man krank wurde, das Auto versagte oder wenn im Januar alles vorbei war. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch auf Erden, der nicht wollte, dass Weihnachten kam. Nicht nur, weil sich damit meine Arbeit und meine Geldquelle dem Ende neigte. Ich wollte auch kein Weihnachten ohne Mama. „Tschüssi, schau nicht zu lange fern und schlaf gut! Bis morgen früh! Und mach niemandem die Tür auf.“ Mein schlechtes Gewissen, sie Nacht für Nacht sich selbst zu überlassen, grinste ich wie immer weg. Wenn man sich einredete, dass alles gut wurde, wurde auch alles gut, hatte ich festgestellt. ~ Um halb eins war die Fünfzehn-Minuten-Pause, wo wir uns an unserem Lieblingstisch im Pauseraum trafen, die vier Kollegen, mit denen ich mich am besten verstand. Seit kurzen fehlte aber eine davon. „Was ist eigentlich mit Pauline?“, fragte ich. „Wahrscheinlich gefeuert. Schließlich war sie ´ne ganze Woche krank. Meinst du, die machen das lange mit?“, antwortete Renate, die nie ein Blatt vor den Mund nahm. „Nee. Krank werden darf man nicht“, meinte Olga, die ihren Kaffee geholt hatte und sich ebenfalls setzte. „Ohh, aber die Pickliste, die ich heute gekriegt habe, die macht mich krank! Habt ihr auch solche Stückzahlen? Wie ätzend!“, beschwerte sich Renate. „War ja klar, dass wieder ich die kriege.“ Ich stutzte, als ich meine Tasche aufmachte. Ein grinsender Schokoladen-Nikolaus schaute heraus, an dem ein Notizzettel befestigt war. Ich las die Handschrift meiner Schwester: Lass ihn dir schmecken, du hast ihn dir verdient! Du bist die beste Schwester, die man sich wünschen kann. Ich liebe dich. Deine Jule! PS: Hab dein Weihnachtsgeschenk schon =) Meine Augen wurden feucht und ich blinzelte die Tränen weg. Sie war wirklich eine Liebe, meine kleine Schwester, und sie sollte es gut haben. Scheiß drauf, ich würde heizen, sobald ich nach Hause kam. Sie konnte schließlich am allerwenigsten etwas für unsere Lage, und ihre Gesundheit ging vor! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)