24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 2. Türchen: Chemie ------------------ Es ist fast sechs, und ich brüte immer noch am Schreibtisch über meinen Schulheften. Viel früher hätte ich anfangen sollen zu lernen, denn die Schulaufgabe ist nächste Woche. Aber Lernen, für Chemie?! Da gibt es tausend bessere Dinge, denen ich Vorrang gewährt habe, was ich jetzt bereue. Zum Beispiel Plätzchenbacken. Gierig nehme ich mir den letzten Zimtstern von dem Teller, den mir meine Mutter zur Motivation hingestellt hat. Mein Tee ist inzwischen kalt geworden. Ich komme nicht wirklich weiter, kann die Aufgaben nicht lösen, bei denen mir nicht mal mein Vater helfen kann. Nichts gegen Naturwissenschaften. Mathematik liebe ich. Zahlen, Rationalität, Logik, alles ergibt Sinn. Doch Chemie? Das ist Buch mit Sieben Siegeln für mich. Hier kommt es nur darauf an, wo man die Striche setzt – statt mit Zahlen hat man es mit Buchstaben zu tun. Die Lehrerin zeichnet Buchstabengebilde an die Tafel, faselt was von „Bindungen“ und schon wird eine Reihe von C zu Alkohol. Mit dem Stoff hinke ich so weit hinterher, man kann fast nicht glauben, dass ich in die zehnte Klasse gehe und nächstes Jahr meinen Realschulabschluss mache. Oh Mann! Ich könnte heulen! Draußen hat es zu schneien angefangen, bemerke ich durch einen Blick aus dem Fenster, wo die Straßen im Dunkeln weiß leuchten. Die Aldehyde sind nicht mein einziges Problem. Ich habe noch ein viel größeres: Maja. Oder genauer gesagt, das Fehlen von Maja. Weil sie jetzt einen Freund hat. Einer, der Pullis trägt, die ihm bis zu den Kniekehlen reichen. Er geht in unsere Parallelklasse und seinen Namen vergesse ich andauernd, weil mein Gehirn sich weigert, ihn ins Langzeitgedächtnis aufzunehmen. Nach den ganzen Prüfungen wollten wir beide eine Woche Urlaub machen bei ihrer Tante in Berlin. Wir waren seit der fünften Klasse die besten Freundinnen. Haben alles zusammen gemacht. Nebeneinander gesessen, zusammen gelernt, unser Pausenbrot geteilt. Viel miteinander genommen und oft in einem Bett geschlafen. Gegen die Zicken aus der Klasse zusammengehalten. Meine Pinnwand ist voll mit Fotos von uns. Sie wohnt im Nachbarort und ist oft bei mir, weil es hier so ruhig und mein Zimmer so groß ist. Maja kann ich alles sagen – nur nicht, dass ihr Freund scheiße ist. Seit einer Woche redet Maja nicht mehr mit mir, nur noch mit Nadine, neben die sie sich jetzt gesetzt, hat um mir eins auszuwischen! Weil ich ihm ins Gesicht gesagt habe, dass es mir egal ist, ob er Daniel oder Dirk oder Dorian heißt und ich ihn nicht kennenlernen will. Das hat sie mir nicht verziehen. Wir haben uns doch geschworen, dass es niemals ein Typ schaffen wird, uns auseinander zu reißen. Dass wir die besten Freundinnen für immer bleiben werden. Doch jetzt ist ironischerweise genau das geschehen! Maja… Ich brauche sie doch so sehr. Ich kämpfe gegen die Tränen an. Ich wollte unbedingt ihre Reaktion auf mein Weihnachtsgeschenk erleben! Und Silvester wollten wir zusammen feiern und gleichzeitig in ihren Geburtstag am ersten Januar hinein feiern. Was, wenn wir nächstes Jahr von der Schule abgehen und uns dann für immer aus den Augen verlieren? Schon der Gedanke tut so weh wie ein Tritt in den Magen. Die Türklingel. Wer kann das sein? Ich lege den Bleistift zur Seite und gehe nach unten. „Hey“, begrüßt mich Maja mit ihrem Maja-Lächeln. Auf ihren Wollmantel fallen ihre glatten blonden Haare, die ein paar Schneeflocken aufgefangen haben. Und ich sage gar nichts, umarme sie nur, spüre die Kälte an ihrem Gesicht. Meine Maja... „Sitzt du gerade an Chemie? Hab ich mir gedacht.“ Sie geht rein, zieht ihre Stiefel und ihren Mantel aus und folgt mir dann nach oben. „Was ist überhaupt der Unterschied zwischen einem Molekül und einem Atom?“, frage ich genervt eine halbe Stunde später, als wir zu zweit an meinem Schreibtisch sitzen, und sie prustet angesichts meiner Wissenslücken. „Ich kapier dieses blöde Fach nicht, und wenn ich ins Zeugnis eine Fünf kriege, reißt mir meine Mutter den Kopf ab! Hilf mir, Maja!“ „Also, ein Molekül… Hm, wie erkläre ich das am besten? Atome gehen Bindungen ein – wie Liebespaare.“ Ich erröte. „Ja. Wie du und-…“ Ich stocke, sein Name fällt mir natürlich nicht ein, doch Maja erspart mir die Blamage, indem sie mir ins Wort fällt: „Ich hab Dennis den Laufpass gegeben.“ „Wieso?“, frage ich nach. „Hat die Chemie doch nicht gestimmt?“ Sie zuckte die Achseln. „Von Anfang an nicht. Ich wollt eigentlich nur wissen wie ist, einen Freund zu haben, und jetzt weiß ich es.“ Und ihre Augen starren mich an, so tief und eindringlich, dass ich woanders hinschauen muss. „Magst du auch Früchtetee? Ich muss kurz nach unten, um neuen zu kochen.“ Als mit dem Tablett, der Kanne und den Tassen wieder ins Zimmer komme, liegt Maja auf meinem Bett. Sie reagiert zuerst nicht, als ich ihr etwas zurufe, denn sie hat ihre Kopfhörer eingestöpselt. Ich krieche zu ihr aufs Bett, bekomme einen Ohrstöpsel ab. Still lausche ich der Musik, die Augen geschlossen, neben ihr liegend, bis sie verklingt. „Maja. Bitte sei nicht böse, dass ich es nicht so schnell kapiere. Du bist eben ein Chemie-Genie. Eine beste Freundin mit Nachhilfelehrer-Bonus. Du solltest mit der Frau Schmidt die Plätze tauschen, du kannst das viel besser erklären. Aber hab Geduld mit mir…Ich glaube, drei- bis viermal müssen wir uns noch treffen. Bitte. Und es tut mir Leid, was ich über Dennis gesagt habe.“ Doch sie lächelt nicht, schaut mir nur streng an. Hab ich sie beleidigt? „Nur das, Lucy?!“ Sie macht Anstalten, das Bett zu verlassen, doch stattdessen rollt sie sich auf mich. Ich mustere ihr Gesicht inmitten ihrer weichen Haare, die mich am Hals kitzeln; schaue in ihre Augen, während sie heiße Luft ausatmet. Dann – mir kommt es vor wie in Zeitlupe – senkt sie ihre Lippen auf meine. Wir küssen uns, auf meinem Bett, während wir uns umarmen, und die Chemie-Schulaufgabe so weit weg ist wie ein fremder Kontinent. Alles was zählt, ist Maja, die mir ihre Liebe zeigt; mit ihr an meiner Seite fürchte ich mir vor nichts und niemanden. Alles ist wieder gut – sogar besser als vorher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)