My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 20: Mord ---------------- Es waren nun bereits 3 Tage vergangen, seitdem wir auf der Flucht vor Vincent waren. 3 qualvolle Tage für jeden von uns. Für den einen mehr als für den anderen, trotzdem schlugen wir uns durch. Nie hätte ich es für möglich gehalten, mich in einer solche Situation wieder zu finden, wo ich nicht nur um Essen bangen, sondern auch um mein Leben fürchten müsste. Und dass Jiro, mein bester, auch noch menschlicher, Freund, der so absolut nichts mit der Sache am Hut hatte, mit dabei wäre. Von Alexander will ich gar nicht erst anfangen. Wie das passieren konnte, war mir immer noch nicht klar. Nun saßen wir in einem fremden Auto von einem alten Sack, der nicht nur seine Augen, sondern auch seine Finger nicht von Kiyoshi lassen konnte. Was Jiro und Alexander auf der Transportfläche unter der Plane taten, wollte ich auch nicht wissen. Wahrscheinlich streiten. Oder rauchen. Oder beides. »Und ... wo kommt ihr so her?«, fragte der Mann und grinste Kiyoshi an. Kurz vorher wollte er wissen, ob die weißen Haare gefärbt oder echt waren; und nutzte die Gelegenheit, ihn schon wieder anzufassen. Ständig betatschten seine dreckigen Griffel meinen Bruder. Und der schien sich nicht daran zu stören. Ganz im Gegenteil: er saß freundlich grinsend neben ihm und beantwortete ihm jede Frage recht höflich. »Wir kommen aus der Stadt«, sagte er in seinem anmutigen Ton und sah aus der Windschutzscheibe. Nur seine linke Hand lag auf meinem Schoß, sodass ich ihn wenigstens auf diese Art für mich gewinnen konnte. Doch selbst bei meinen bösen Blicken ließ sich der alte Sack nichts nehmen und flirtete weiter mit Kiyoshi. »Stadtkinder also? Ich komme vom Land, da geht's ... sicherlich etwas härter zu, als ihr gewohnt seid«, spaßte der Mann und lachte laut auf. Seine Stimme war heiser und schien nicht nur Zigaretten und Whiskey aushalten zu müssen. Und diese beschissene Andeutung war unnötig und eklig gewesen! »Mag sein«, stimmte Kiyoshi dem Fahrer kurz und bündig zu, starrte dabei weiter auf die Straße. Was in seinem Kopf vorging, konnte ich nicht herausfiltern. Vielleicht erhoffte er sich so ein zahmes Verhalten von dem Menschen, den wir ausnutzten. Oder einfach nur Spaß, da er ihn am längeren Hebel hielt. Was auch immer es war: es nervte und machte mich unglaublich nervös. Nach zwei endlosen Stunden erreichten wir einen Passpunkt, wo der alte Mann Mautgebühren zahlen musste. Zu meiner Überraschung verlangte er kein Geld von uns, sondern schmiss brummend das Geld in den Automaten. Für nicht mal fünf Minuten stiegen wir aus und machten "Rast". Der letzte Rest der Blutpackung verschwand schnell in Kiyoshis und meinem Bauch, bevor der Fahrer wiederkommen würde. Nun standen wir ohne Nahrung da. Wie lange wir es wohl ohne Blut aushalten könnten? Auf einmal wünschte ich mir Chloes kleinen Laden. Sie hätte alles für eine abenteuerliche Flucht dabei gehabt. Doch selbst sie konnten wir nicht erreichen – ohne Telefon und ohne Kleingeld. Als sich mein Bruder an mich lehnte und sein Kopf auf meiner Schulter ruhte, konnte ich nicht anders, als ihn auf sein seltsames Verhalten gegenüber unseres Fahrers anzusprechen. »Kiyoshi, was machst du da eigentlich mit diesem Kerl? Wieso bist du so am flirten?«, fragte ich leicht empört und zischte meinen Bruder regelrecht an. Der zuckte nur mit den Schultern und sah müde in die Ferne. »Er bringt uns dahin, wohin wir wollen, ist doch gut, oder nicht? Ich will nicht, dass er uns mitten auf der Landstraße aussetzt!« »Du hast ja Recht, aber es gibt noch eine Grauzone zwischen flirten und unfreundlich daher reden!« Mein Bruder verdrehte nur genervt die Augen, sah dann zur Plane und ging langsam auf die Tragefläche zu; als sei das Thema beendet. »Lebt ihr noch?«, fragte er recht zögerlich und tapste auf die dunkelgrüne Plane. Vorsichtig hob sich ein Stück, aus dem Jiro herauslugte. »Sind wir schon da?«, fragte er mit erschöpfter Stimme und hochrotem Kopf. »Nein, noch nicht. Wir machen gerade Rast, weil wir Maut zahlen müssen.« Als ich Jiros Gesicht sah, näherte ich mich ebenfalls für einige Meter und lehnte an die Ladefläche. »Geht's euch gut da drunter?« »Voll warm!«, seufzte Jiro sofort und schmiss die Plane hinter sich weg. Er streckte sich und sah sich um, nahm dann das zweite Stück der Plane und hob es an. Hervor kam ein weiterer schwarzer Schopf. Helle Augen blickten verwundert hoch. »Hier ist Schatten. Du kannst kurz rauskommen«, erklärte Jiro und lächelte sogar ein wenig. Die Stimmung zwischen den beiden schien besser geworden zu sein. Vorsichtig kroch Alexander aus der Plane und holte tief Luft. Trotzdem er nicht atmen musste, war er froh wieder etwas frische Luft zu schnuppern. »Wie lang fahren wir noch?«, fragte er recht monoton und fuhr sich mit der Hand durch das wellige Haar. Selbst ungewaschen und auf der Flucht sah er wie gestriegelt aus. Aber auch Kiyoshi stand neben mir, als wäre er frisch aus dem Waschsalon entsprungen. »Vielleicht noch ... eine Stunde oder so?«, murmelte ich und sah den alten Mann bereits wieder auf uns zukommen. »Oh man«, brummte Jiro und sah sich um. »Wenigstens keine Spur vom Vogel.« »Ja, wenigstens etwas. Positiv denken ... bald haben wir es geschafft!«, versuchte ich Hoffnung zu machen. Was wir dann genau geschafft haben sollen, wusste ich nicht. Und die anderen, so wie ihre Gesichter aussahen, wohl auch nicht. »Weiter geht's!«, verkündete der Brummifahrer und hob beide Augenbrauen recht interessiert, als er Kiyoshi an meinem Arm hängen sah. Ja, dachte ich mir, der gehört mir! Langsam schlurften wir wieder in den Fahrerraum, Kiyoshi wie vorher in der Mitte, und schnallten uns an. Der bärtige Mann fuhr langsam weiter und summte kurz ein Lied vor sich hin und schaltete das Radio ein. Pop Songs strömten aus den Lautsprechern und erheiterten etwas die Stimmung. Es war nicht mehr gezwungen still. »Die zwei dahinten«, fing der Fahrer auf einmal an. »Sind die schwul?« »Nein«, gab ich knapp zurück und verdrehte leicht die Augen, während meine Arme verschränkt vor meiner Brust lagen. Das geht den ja wohl gar nichts an! »Dachte nur. So alleine unter einer Plane?« Sein dreckiges Lachen hallte durch die komplette Fahrerkabine. Was der sich im Kopf ausmalte, wollte niemand wissen. Sogar Kiyoshis Lächeln versiegte bei dem schmutzigen Kommentar. »Sie haben ja keine andere Wahl«, murmelte mein Bruder vor sich hin und starrte in den sich langsam rosé färbenden Himmel. Der späte Nachmittag brach ein und ließ eine vorabendliche Stimmung eintreten. »Wieso?«, hakte der Mann nach und kicherte weiterhin finster vor sich hin. »Niemand muss unter einer Plane hocken. Sie können doch auch die schöne Sonne genießen! Und den Fahrtwind!« »Die ... mögen die Sonne nicht so.« Mein Brummen sollte möglichst einschüchternd wirken, sodass er endlich die Fragerei lassen würde. Doch ich erreichte wohl nur das Gegenteil. »Die Sonne? Pah ... Wieso? Sind das Vampire?« Ein lautes und grimmiges Lachen folgte, fühlte sich in unseren Mägen vibrierend an. Ich hasste dieses Lachen bereits nach mehreren Minuten. »Ja«, antwortete Kiyoshi knapp wahrheitsgemäß und drückte meine Hand etwas stärker. Wahrscheinlich hatte er jetzt auch keine Lust mehr den lieben Jungen zu spielen und wollte einfach nur noch ankommen. Weg von dem Mann. »Ja? Seid ihr etwa auch solche Sektenkinder? Oh man, die Jugend von heute hat doch echt nen Schuss weg!«, brüllte der Mann, etwas gereizt. »Die meinen auch, dass es in der Innenstadt voller Vampire wimmeln soll! Ich komme zwar vom Land, aber daran glaube ich nun wirklich nicht! Was ein Bullshit! Die Jugendlichen machen sich doch nur einen Spaß draus!« Kiyoshi und ich schwiegen einfach nur und starrten aus der Windschutzscheibe, als hätten wir sein Fluchen nicht gehört. Was sollten wir schon darauf antworten? Wären wir drauf eingestiegen, hätte der Mann wohl nie aufgehört zu reden. Aber auch ohne verbales Feedback ließ sich der Mann seinen Redefluss nicht nehmen. »Habt ihr von diesem Amoklauf mitbekommen? Böse Zungen meinen, dass es ein Auftragsmörder war, der seine Opfer dort gesucht hat. Und diese Geschichte am See soll ebenfalls dazu beigetragen haben.« Da lachte er wieder auf. »Ihr kommt doch aus der Stadt! Stimmt das?« »Keine Ahnung«, murmelte Kiyoshi wie aus der Pistole geschossen und zog scharf die Luft ein. »Sie sollten sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Auf dem Land ist es sicherlich ruhiger.« »Ha!«, rief er durch seinen dichten Bart. »In der Tat! Mit solchen Schummermärchen muss ich mich nicht rumschlagen. Hätte nie gedacht, dass mehr dummes Zeug aus den Städten als vom Land kommt.« »Hm. Zeiten ändern sich«, war alles, was ich dazu zu sagen hatte und schielte noch einmal hinter uns. Die Plane bewegte sich im Wind und zeigte nur zwei still sitzende Häufchen. Wahrscheinlich schliefen sie.   »Ich halt's hier kaum aus«, brummte Jiro und lugte immer mal wieder ein Stück aus der Plane, um frische Luft zu erhaschen. »Es ist so warm!« Der letzte Schokoriegel, welcher halb flüssig zu sein schien, endete auch in weniger als einer Minute in seinem Magen. Auch das Wasser war nun leer und selbst der Mensch stand wie die Vampire mit Nichts da. »Dann setz dich doch raus«, erwiderte Alexander und lag still auf der Seite. Den Kopf auf einem Arm gelehnt, sodass er nicht ganz auf der harten Tragefläche liegen musste. Diese war dreckig und mit Sand bedeckt. Wahrscheinlich transportierte der Mann Pflanzen. Oder zumindest etwas, was mit Erde zu tun hatte. »Nein ... geht schon.« Mit diesen Worten zog Jiro seine Nietenlederjacke aus und legte sie unter seinen Kopf. Das Langarmshirt zeigte deutliche Spuren von leichtem Schweiß. Alexander hob die Augenbrauen und musterte den schimmernden Körper. »Was?«, giftete Jiro ihn an, als er seinen interessierten Blick vernahm. »Ich bin ein Mensch, ich schwitze!« »Ja ...«, säuselte er, erweichte im Nu seine Mimik und sah seufzend zur Seite. »Ich kenne so was nur nicht.« »Glotzt du mich deswegen so an?« »Vielleicht. Ich sehe selten so rare Tiere außerhalb des Zoos.« »Ach, fick dich«, prustete Jiro los und trat Alexander vorsichtig gegen das Bein. Der grinste nur vor sich hin und schloss für einen Moment die Augen. Die Sticheleien würden wohl nicht enden. Jiros Blick fuhr das erste Mal ungestört über das Antlitz des jungen Mannes, der behauptete ein Vampir zu sein. Alexanders Haare schimmerten selbst im düsteren Licht silbrig, sodass sein Schopf wie von Onyx geküsst aussah. Die blasse Haut dazu, aus der einzelne Adern deutlich durchschienen, erzeugte einen wahrhaftig schön anzusehenden Kontrast. Generell konnte man Alexander einen schönen Mann nennen. Markantes Gesicht, spitze Nase und hohe Wangenknochen. Vielleicht war sein Gesicht etwas zu eckig oder seine Lippen zu schmal. Doch der lange Hals, der in einem recht muskulösen Körper endete, ließ die Anmut, die in seinem reglosen Körper lag, noch deutlicher erscheinen. Jede Muskelfaser unterstrich die starke Aura, die von dem Mann ausging und ließ ihn gefährlich, zugleich anziehend wirken. Jiro konnte sich nicht entscheiden, ob er seinen Gegenüber attraktiv fand oder nicht. Auch nicht, ob er ihn mochte oder verabscheute. Dieser Mann stand für jeglichen Zwiespalt in ihm: Auf der einen Seite war er nett, höflich, zuvorkommend und hilfsbereit. Und auf der anderen Seite ungehobelt, taktlos und eingebildet. Die arrogante Art, die sehr wahrscheinlich vom Elternhaus weitergegeben wurde, konnte Alexander nie komplett abstreifen. Sie war einfach da und trieb Jiro regelmäßig zur Weißglut. Erst jetzt schlug der Vampir seine Augen auf und starrte seinen gegenüber mit eisblauen Augen an. Die Iris war fast weiß, so hellblau leuchtete sie. Und Jiro konnte nicht anders, als weiter in ihnen zu versinken. »Jetzt ... starrst aber du«, bemerkte Alexander leise und schmunzelte. »Suchst du etwas an mir? Glaubst du immer noch nicht, dass wir anders sind?« »Ja. Aber vielleicht ... werde ich ja irgendwann vom Gegenteil überzeugt.« Und Jiro war sich sicher, dass dieser Zeitpunkt kommen würde; ob er wollte oder nicht. Mit einem breiten Grinsen erwiderte er das Schmunzeln des Gegenüber und schloss entspannt die Augen. Die Anwesenheit des Schwarzhaarigen ließ ihn auf einmal ruhig und müde werden. »Schlafen wir was. Wer weiß, wann wir das nächste Mal dazu kommen werden.« »Ja, du hast Recht. Schlafen wir«, murmelte sein Gegenüber zustimmend und schloss ebenfalls die Augen. Hatte er Jiro gerade zugestimmt? Dass er Recht hatte? Seltsam, so dachte der bereits im Halbschlaf steckende Mann, normalerweise hätte er ihm doch die Leviten gelesen. Aber vielleicht war selbst dafür keine Kraft mehr vorhanden. Vielleicht hieß es jetzt einfach nur noch: Zusammenhalten und Überleben.   »[...] Die Polizei ist weiter auf der Suche nach den vier flüchtigen Männern, alle um die 20 bis 25 Jahre alt, welche zuletzt auf dem letzten großen Campingplatz vor dem Naturschutzgebiet gesichtet wurden. Wahrscheinlich befinden Sie sich auf der Weiterreise Richtung Küste. Zwei von ihnen besitzen weiße, die anderen beiden schwarze Haare. [...]«   Das Radio verkündete sehr unschöne Neuigkeiten. Mit einem Mal spannte ich mich an, drückte Kiyoshis Hand, die zittrig in meiner lag. Ein vorsichtiges Schielen zu unserem Fahrer zeigte uns, dass er dem Radio keine weitere Beachtung geschenkt hat, da er an seinem Handy spielte. Zwar kam mir ein mulmiges Gefühl auf, dass der Fahrer abgelenkt war und nicht auf die Straße blickte, auf der anderen Seite kam es mir genau gelegen. »Was machen wir jetzt? Wir werden öffentlich gesucht!«, flüsterte Kiyoshi mir zu und sah mich mit großen, verzweifelten Augen an. »Sie wissen sogar, welche Haarfarben wir haben, Hiro, sie werden uns finden!« »Weiße und schwarze Haare sind eben auffällig. Wir sind wie Dominosteine ...«, brummte ich und sah ebenfalls verzweifelt aus dem Fenster, als könne ich dort eine Antwort finden. »Wir müssen auf jeden Fall von diesem Mann weg. Dann ... ich weiß nicht, Haare färben? Andere Klamotten holen?« »Ich färb mir nicht die Haare!«, giftete mich mein Bruder direkt an und fasste an seine lange Mähne, die ihm bereits bis zum Schlüsselbein ging. »Willst du lieber in den Knast? Oder von Vincent ermordet werden?« Die Argumente saßen; Kiyoshi blickte nur verletzt weg und fand sich noch nicht ganz mit dem Gedanken ab, die Haare zu verändern. Jiro und Alexander saßen ruhig auf der Ladefläche, sodass sie noch im Unwissen schwebten, dass wir gesuchte Verbrecher waren. Verdammt, dachte ich ... ich wollte doch nur mal ein Auto klauen und cool sein! »Bis wohin wollt ihr Kinder eigentlich?«, brummte es von Nebenan. Der Mann hatte das Handy weggelegt und sah wieder auf die Straße. Im Radio liefen wieder Popsongs; so als wäre nie eine Fahndungsmeldung der Polizei gekommen. »Ich komme nämlich bald an meinem zu Hause an«, lachte der Mann dreckig auf, »und die Nacht bricht bald ein. Ihr wollt doch sicher bis zum Strand, oder?« »Ja, wollten wir«, antwortete Kiyoshi, während ich die Augen abermals verdrehte. Als hätten wir das nicht von vornherein klar gemacht, dass das Ziel "Strand" hieß und nicht "kurz vorm Strand". »Also wenn ihr wollt«, und damit blickte er recht deutlich zu Kiyoshi, »könnt ihr bei mir übernachten. Ich hab eine kleine Scheune, da ist es bequem. Und eure Freunde sind vor der Sonne geschützt! Haha!« Der Witz kam so tief, dass ich das Bedürfnis hatte, meine Beine zu heben. »Das ist sehr nett, aber ...«, begann ich und räusperte mich abermals. »... wir wollten schon noch heute den Strand erreichen. Wie weit ist es denn von Ihnen noch bis zum Strand?« »Na ja«, brummte er los, als würde ihm die Abfuhr gar nicht gefallen. »Wenn ihr zu Fuß geht, dauert es schon noch eine gute Stunde. Davor kommt das Naturschutzgebiet, da werdet ihr nicht reinkommen.« »Wieso?«, fragte Kiyoshi neugierig und wurde sofort hellhörig. Alles, was von Menschen fern war, klang gut. Gerade jetzt, wo die Polizei nach uns Fahndungen ausschrieb, konnten wir ein bisschen Ruhe vor Publicity gebrauchen. »Da is'n riesiger Zaun drum, haha«, brüllte der alte Mann los und kratzte sich am Bart. »Naturschutzgebiet halt! Wegen irgendwelchen Korallenriffs oder so. Keine Ahnung, jedenfalls kommt das Touristengebiet mit den Hotels erst weit hinter dem Gebiet.« »Und wie weit ist es bis zu diesem Naturschutzgebiet von Ihnen aus?«, erkundete sich Kiyoshi wieder recht höflich, als er merkte, dass seine Stimme weitaus mehr Anklang und Informationen aus dem Mann raus bekamen als meine. Wieder kratzte sich der Fahrer am Bart, dachte nach, schwank den Kopf hin und her, bis er wieder vor sich hin brummte. »Vielleicht auch so 'ne gute Stunde. Ich wohn so'n bisschen mittig, wisst ihr? Ich kann's euch nachher auf einer Karte zeigen.« »Das wäre nett, danke.« »Das Angebot steht noch«, zwinkerte er meinem Bruder zu, »du willst doch sicher nicht in der Wildnis übernachten.« Du?, dachte ich, war ich jetzt also schon Luft geworden? Die anderen beiden auch? Es ging einzig und allein um Kiyoshi, dass der alte Mann das bekam, was er wollte. Und ich wollte mir nicht ausmalen, was er genau wollte. »Danke, aber mein Bruder sorgt sehr gut für mich«, säuselte er, als er sich zu mir umdrehte, um mein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Selbstverständlich würde Kiyoshi nie auf eine solch blöde und auch noch eklige Anmache eingehen. Trotzdem gefiel mir die Art des Mannes nicht. Sich einfach so an einen jungen Mann ran zu machen ... Widerlich! Kiyoshi hätte sein Sohn sein können! »Zwillinge, hm?« Ein Schmunzeln tat sich auf die Lippen des Mannes, während er die Landstraße verließ und einen Feldweg entlang fuhr. »Schon interessant ihr beiden. Kuschelt gerne, so wie ich das sehe, hä?« Sein Kommentar klang spitz und ein wenig ärgerlich. Als wäre es ihm nicht Recht, dass ich neben meinem Bruder saß und auf ihn aufpasste. Als hätte er mich am liebsten an der nächsten Tanke rausgeschmissen, um endlich ungestört seine widerlichen Griffel an meinen Bruder zu legen. »Ich liebe ihn sehr«, antwortete Kiyoshi mit einem starken Unterton. Ausnahmsweise zauberte mir der Satz kein Lächeln auf die Lippen, sondern ließ mich angespannt zu unserem Fahrer blicken, der nur grinsend nickte. »Das sieht man.« Nach wenigen Minuten Fahrt durch die Pampa – und es war wirklich nichts um uns herum – erreichten wir einen kleinen Bauernhof mit einigen Scheunen drum herum. Er hielt auf dem Innenhof, wo er sofort ausstieg und gegen das Blech des Laderaums hämmerte. »Wir sind da!«, brüllte er unfreundlich und ging in eine der Scheunen, wo er die Tore öffnete und in das obere Stockwerk ging. Etwas verwirrt schauten Jiro und Alexander aus der Plane und sahen in den blutroten Himmel. Die Sonne war bereits untergegangen und hinterließ einen traumhaften Sonnenuntergang. »Wir sind da? Wo ist der Strand?«, erkundigte sich Jiro und sah sich eher verängstigt als erfreut um. »Der Mann hat uns zu seinem Anwesen gefahren. Von hier aus sind es noch einmal ein paar Kilometer bis zum Strand. Wahrscheinlich eine Stunde Fußmarsch«, antwortete ich und stieg aus dem Wagen. Kiyoshi folgte mir und sah sich ebenfalls unwohl um. »Wir bleiben nicht hier, oder?« Jiros aufgeregte Worte ließen mich ebenfalls Luft schnappen. Alexander sah sich nur still um, zog Jiro dann etwas an sich, als der Mann wieder aus der Scheune kam. Eine schützende, sowie liebevolle Geste. »Hier«, brüllte er uns zu, »ich zeig's dir auf der Karte.« Dabei winkte er uns rüber. Nein, er winkte eigentlich nur Kiyoshi zu sich rüber. Als ich mich in Bewegung setzen wollte, um den Mann zu enttäuschen, hielt mich Kiyoshi am Ärmel ab. »Ich geh schon«, flüsterte er. »Bist du kaputt? Du gehst bestimmt nicht alleine zu diesem alten Sack!«, zischte ich ihm zu und sah ihn eindringlich an. »Ich kann ihm vielleicht einige Infos abschwätzen. Und vielleicht kann ich ihm etwas klauen«, säuselte mein Bruder, ohne den Blick vom Mann abzuwenden, der noch immer am Eingang der Scheune stand. Vermutlich lagerte er dort etwas Heu und Geräte zum Ernten seiner Felder, welche rings um uns herum lagen. »Du willst klauen?«, fragte ich dann doch etwas erheitert. Doch meine Freude hielt sich in Grenzen, als Kiyoshi nur nickte, mir einen Kuss auf die Wange aufdrückte und sich in Bewegung setzte. »Vergiss nicht, was in mir schlummert. Es wird nichts passieren. Eher ihm«, schmunzelte Kiyoshi böse und ging, für meinen Geschmack etwas zu auffällig arschwackelnd auf den alten Mann zu. »Geht das echt klar? Dass er da alleine hingeht?«, murmelte Jiro noch immer nervös in Alexanders Nähe sitzend. Der sah ebenfalls missmutig zu Kiyoshi, wie er mit dem Mann aus unserem Blickwinkel verschwand. »Ich ... denke? Kiyoshi ist alt genug. Er wird das schon hinkriegen. Außerdem ist er nicht schwach.« »Na, hoffentlich geht das gut ...«, knurrte dann auch Alexander und erhob sich langsam von der Plane. Hier und da hatte seine Jeans unter dem Dreck der Lagefläche gelitten. Mit einem gekonnten Sprung aus dem Auto half er noch Jiro von der Ladefläche zu steigen. Eine abermals interessante Geste, die mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte. »Wenigstens versteht ihr beiden euch gut«, stellte ich fest und steckte meine Hände in die Hosentaschen. Jiro hingegen trat sofort einen Schritt von Alexander weg, der mich verwundert ansah, als wüsste er nicht, wovon ich redete. »Haben wir eine Wahl?«, giftete Jiro, scharrte Dreck auf und zog sich seine Lederjacke wieder an. Mit dem Verschwinden der Sonne kam auch die Kühle zurück. Bei immer noch angenehmen Temperaturen standen wir am Transporter des Mannes, inmitten eines Bauernhofs und warteten auf meinen Bruder, der hoffentlich irgendetwas Interessantes in Erfahrung bringen könnte. Als nach Minuten nichts geschah, sich Alexander und Jiro sogar wieder eine Zigarette ansteckten, wurde ich nervös. »Wieso dauert das so lange?«, raunte ich vor mich hin und lief den Platz auf und ab. »Ich geh gleich rein und ... hol ihn da raus!« »Kiyoshi schaukelt das schon«, meinte Alexander, der genüsslich an seiner Zigarette zog. Wahrscheinlich hatte er schon die ganze Fahrt geschmachtet. »Wir geben ihm noch 5 Minuten ... dann gehen wir zu ihm und fragen nach«, schlug Jiro vor und rauchte ebenfalls recht entspannt. Das Nikotin ließ ihn eine entspannte Haltung annehmen; gegenüber der Situation und der eigentlichen Angst, die er verspürte. Widerwillig wartete ich noch weitere Minuten mit Hummeln im Hintern. Immer wieder ging ich den Hof auf und ab, sah mich um und starrte auf die verschiedenen Felder um uns herum. Da waren Apfelbäume und anderes Obst, Gemüse und wahrscheinlich Korngewächse. Alles mögliche züchtete der Mann hier an und handelte wahrscheinlich auch damit. Tiere sah ich keine, nicht einmal Hunde oder Katzen. Generell versprühte der Hof eine unheimliche Atmosphäre. Wie in schlechten Horrorfilmen, wo der alte Bauer Jugendliche von der Straße auflas, um sie dann in seiner Scheune zu ermorden. Als ich diese Gedanken gefasst hatte, pustete ich aufgestaute Luft aus. Meine Nervosität schien kein Ende zu nehmen. Doch ehe ich mich von selber auf den Weg machen konnte, schrie der alte Mann auf, es krachte, es klapperte und einige Geräte landeten auf den Boden. Mehr sah ich nicht vom Hof aus, weswegen ich sofort auf die Scheune zurannte. Jiro und Alexander blieben noch wie versteinert am Wagen stehen, rauchten schnell auf und folgten ebenfalls, jedoch mit Abstand. »Kiyoshi!«, rief ich aufgebracht, suchte sofort den spärlich behellten Raum nach meinem Bruder ab. »Was ist passiert?!« Als ich über die gefallenen Gerätschaften trat, mich weiterhin umblickte, sah ich Kiyoshi apathisch neben einem Heuhaufen stehen; eigentlich halb auf ihm liegend, und den Mann am Boden liegen. Ich roch sofort Blut. Aufgebracht stürmte ich auf meinen Bruder zu, zog ihn an mich und rüttelte seine Schultern. »Bist du verletzt? Hat er was getan? Was hast du getan?« »Ich -«, begann Kiyoshi verängstigt wie eine kleine Maus, und starrte noch immer auf den leblosen Körper des Mannes. Da hörte ich bereits die Schritte von Alexander und Jiro, die ebenfalls entsetzt auf den am Boden liegenden Mann sahen. »Na herrlich!«, schrie Alexander los und zog wütend die Augenbrauen zusammen, »Machen wir aus einem Diebstahl doch gleich einen Mord! Klasse! Ist ja nicht so, als wären wir schon vorbestraft genug!« »Jetzt mal ruhig, ich glaube, der lebt noch!«, plärrte ich Alexander zu und beugte mich zu dem Mann runter. Er hatte tiefe Kratzer am Hals und im Gesicht. Er blutete, aber nicht stark; wahrscheinlich hatte er sich beim Fall den Kopf geschlagen, weswegen er ohnmächtig am Boden lag. »Er ist ... nicht tot?«, fragte Jiro ängstlich und stellte sich schutzsuchend hinter Alexander, der einen Arm ausstreckte, um seinem Schützling Halt zu geben. »Nein ...«, brummte ich und fühlte am Handgelenk des Mannes seinen Puls. Er war schwach, aber spürbar pulsierend. Sofort blickte ich wieder zu meinem Bruder, der noch kein Wort raus gebracht hatte. »Was ist denn passiert?«, fragte ich noch einmal und ging sorgsamer mit dem schmalen Körper meines Liebhabers um. Der sammelte auf einmal Tränen in seinen Augen und schien das Unschuldslamm in Persona zu sein. »Ich ... ich wollte nur mit ihm in die Karte gucken und ... er hatte sie nur gefaltet in der Hand! Als ich danach greifen wollte, kam er näher und -« »Hat er dich etwa angefasst?«, raunte ich wütend auf, was Kiyoshi sofort zusammenzucken ließ. »Er wollte! Er hat mich auf das Heu gedrückt und meinte, ich solle einfach mitspielen, dann wäre er auch weiterhin nett zu uns und würde der Polizei nichts sagen!« »Oh Fuck«, kam es von Jiro, der sich an Alexanders Arm geklammert hatte, jetzt aber wesentlich interessierter zu uns rüber sah. »Und als ich mich dumm gestellt habe, wurde er handgreiflich ... ich hab mich doch nur gewehrt!« Eine klassische Vergewaltigungsszene also. Ich seufzte ausgiebig, nahm Kiyoshi fest in den Arm und drückte ihn an mich. Beruhigend streichelte ich seinen Rücken. Weniger die Vergewaltigung schien ihn in die Tränen zu reißen, sondern vielmehr die Tatsache, dass er unkontrolliert einen Menschen verletzt hatte, der nun am Boden lag und wahrscheinlich, solange wir dort standen, verbluten würde. Ich erinnerte mich an die tadelnden Worte, die ich ihm entgegen schmiss, als ich noch bei ihm war. In was für Situationen er mich gezogen hätte, völlig unzumutbar, so unter Vampiren! Aber nach allem, was passiert war, waren die Vampire auf einmal das wohl geringste Übel. Jetzt mussten wir mit Vincent, der Polizei und noch einem halbtoten Mann Vorlieb nehmen. »Was machen wir jetzt?«, fragte Alexander etwas abgebrüht, als sei es nicht das erste Mal, dass er einen halbtoten Menschen auf dem Boden liegen sähe. »Ich weiß nicht«, murmelte ich, während ich meinen Bruder tröstete, der wimmernd in meinen Armen lag. Noch immer bewegte sich der Mann keinen Zentimeter. »Lassen wir ihn verbluten, dann kann er uns wenigstens nicht verpfeifen«, schlug der schwarzhaarige Vampir kaltblütig vor und sah abwertend in die Richtung des stämmigen Mannes. »Bist du verrückt? Ich dachte, du willst keinen Mord draus machen?«, kam es rügend von seiner Seite. Jiros Blick sagte eindeutig Nein zu seinem Vorschlag. »Wenn wir ihn am Leben lassen und er wieder bei Sinnen ist, wird er uns alle an die Polizei ausliefern!« »Besser, als wenn im Nachhinein raus kommt, dass wir ihn umgebracht haben!« Jiros Stimme bebte vor Aufregung. Sicherlich hatte er nie gedacht, dass er sich mal in einer solche Situation finden würde. Diskutieren, ob man einen Mord draus machen sollte oder nicht. »Wir rufen den Krankenwagen und -«, begann ich, stockte aber sofort.   Ich hörte sie wieder. Die Flügelschläge. Die Schritte. Sie näherten sich rapide. Vincent. Wieso musste auch alles in unsere Richtung führen? Polizei, Vögel, Vincent? Wieso legten wir ungewollte Brotkrümel, wo auch immer wie hingingen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)