Erwachen von BloodyRubin (Nichts ist, wie es scheint) ================================================================================ Kapitel 1: Wundervolles Leben ----------------------------- Aufmerksam hörte Kenjiro zu, während Sayuri ihm von ihren Sorgen erzählte. Er wunderte sich immer darüber, wie ein so schlagfertiges Mädchen ständig an die falschen Jungen geraten konnte. „...sagt er mir doch tatsächlich, er hätte die Liebesmail versehentlich an seine Ex geschickt. Ist das zu fassen? Wenn er sie doch so sehr verachtet, warum hat er sie dann nicht aus seinem Leben gestrichen? Und schwupps, keine drei Tage später erwische ich die beiden beim Rumknutschen. Was für ein Idiot.“ Wütend schüttelte Sayuri ihre goldblonden Locken. Kenjiro wusste, dass sie zur Hälfte Europäerin war. Sie hatte dieselben Haare wie ihre Mutter. Seufzend erhob sie sich und begann, an ihren Fingernägeln zu kauen. „Du tust es schon wieder, Sayuri.“ ermahnte der junge Mann sie. „Ich weiß, ich weiß. Aber ich kann einfach nicht anders.“ „Du wolltest damit aufhören.“ „Ich werde es versuchen. Danke, dass du mir zugehört hast.“ „Immer wieder gerne.“ „Sehen wir uns demnächst?“ „Klar.“ Lange blickte Kenjiro dem Mädchen hinterher, ehe er sich streckte und ebenfalls aufstand. Er hatte wirklich das beste Leben, das er sich vorstellen konnte. Liebende Eltern, viele Freunde und immer gute Noten, obwohl er so gut wie nie für seine Arbeiten lernte. „Kenjiro, das Essen ist fertig.“ „Bin unterwegs.“ Hastig lief er in das große Haus und blieb nur kurz stehen, um sich im Spiegel anzusehen. Verwuschelte, dunkelbraune Haare, grüne Augen und ein schmales Gesicht. Eine lange, silberne Kette, an der ein verziertes Kreuz hing. Sein Körper war schlank und muskulös, in ein schwarzes Band-Shirt und eine helle Jeans gekleidet. An seinem Handgelenk war ein Nietenarmband befestigt und seine Fingernägel hatte er schwarz lackiert. Er mochte sein Aussehen. Seiner Meinung nach gab es ihm etwas Geheimnisvolles. „Kenjiro, dein Essen wird kalt.“ riss ihn nun die Stimme seines Vaters aus seinen Gedanken und er beeilte sich, zum Wohnzimmer zu kommen. Seine Eltern hatten bereits mit dem Essen angefangen. „Da bist du ja. Komm, sonst sind wir vor dir fertig.“ „Tut mir leid.“ Kenjiro setzte sich zu den beiden und begann zu essen. „Trägst du immer noch diese seltsamen Klamotten?“ erkundigte sich sein Vater und runzelte gespielt mürrisch die Stirn. „Der Junge ist achtzehn Jahre alt. Das ist eine ganz normale Phase. Weißt du, Kenjiro, dein Vater hat sich, als wir uns kennenlernten, wie ein Punker angezogen.“ „Das sollte doch unter uns bleiben.“ Kenjiros Mutter begann zu lachen und kurz darauf fielen auch sein Vater und Kenjiro selber ein. „Übrigens, vorhin hat Izuya angerufen. Er wollte dich daran erinnern, dass ihr morgen zusammen zum Videospielen verabredet seid.“ „Typisch. Ich werde mich heute Abend noch mal bei ihm melden.“ Kenjiro legte die Essstäbchen weg. „Wie immer köstlich. Du bist wirklich eine Meisterköchin.“ „Charmeur. Ab mit dir und Hausaufgaben machen.“ „Jawohl.“ seufzte der Braunhaarige. Er küsste seine Mutter auf die Wange und klopfte seinem Vater auf die Schulter, ehe er die Treppe hoch rannte und die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Während er sich um seine Hausaufgaben kümmerte, wurde es allmählich dunkel. Als er den Sonnenuntergang bemerkte, verkrampfte sich etwas in ihm. Normalerweise schlief er wie ein Stein, aber seit kurzer Zeit litt er unter Schlafproblemen und Alpträumen. Das Seltsamste daran war der Junge, der in diesen Träumen auftauchte und ihn vor irgendetwas warnen wollte. Obwohl seine Eltern von seinen Schlafproblemen wussten, hatte Kenjiro ihnen nichts von den Warnungen erzählt. Er wollte ihnen nicht unnötig Sorgen bereiten. Außerdem hatte er selber keine Ahnung, was sein >Besucher< ihm eigentlich sagen wollte. Unwillig schüttelte Kenjiro den Kopf. Weiter über die ganze Sache nachzudenken, würde ihm nichts bringen Und er hatte sich doch vorgenommen, Izuya anzurufen. Er fischte sein Handy aus der Tasche und schon kurz darauf hörte er die vertraute, fröhliche Stimme seines besten Freundes. „Nervenheilanstalt, was kann ich für Sie tun?“ „Hallo, Izuya. Ich bin es.“ „Ach, Herr Ashiba. Ich fürchte, bei Ihnen ist nichts mehr zu retten. Tut mir echt leid.“ „Lass den Unsinn. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich morgen um etwa halb drei bei dir bin. Das heißt, du hast genug Zeit, deine Höhle wenigstens so weit aufzuräumen, dass man darin stehen kann.“ „So schlimm sieht mein Zimmer nun auch wieder nicht aus.“ „Denk an das letzte Mal, als du das gesagt hast und ich dich danach besuchen wollte. Ich bin kaum durch die Tür gekommen.“ „Ist gut, ich mach ja schon. Wir sehen uns dann morgen, Streber.“ „Alles klar, Pummelchen.“ Lächelnd legte Kenjiro auf und machte sich dann bettfertig. Doch kaum lag er auf der Matratze, schlich sich die vertraute Angst wieder bei ihm ein. Angst vor dem, was er im Schlaf vielleicht sehen könnte. Angespannt warf er sich von einer Seite zur anderen. Immer wieder nickte er ein, nur um sofort wieder hochzufahren. Sobald er die Augen schloss, sah er den unbekannten Jungen vor sich. Er war etwa in seinem Alter, hatte türkise Augen und schwarze Haare, die ihm bis zur Hüfte gingen. Von der Statur her war er ungefähr einen halben Kopf kleiner als der Braunhaarige und bei weitem nicht so muskulös. Er trug ein graues Hemd und eine dunkle Hose. Verzweifelt blickte er Kenjiro in die Augen und bewegte stumm die Lippen. Aber obwohl Kenjiro spürte, dass es um etwas ungeheuer Wichtiges ging, erreichten ihn die Worte des Fremden nicht. Es war, als wäre er unter Wasser. Alles, was er hörte, war ein unangenehmes Piepen, das immer lauter wurde. Er hielt sich die Ohren zu, als das Geräusch unerträglich wurde, sah, wie der Junge vor ihm die Hand ausstreckte, als wollte er ihn berühren und zuckte instinktiv zurück. Ein letztes Mal versuchte der Unbekannte, etwas zu sagen. Dann wurde es schlagartig dunkel um Kenjiro und er erwachte keuchend. Blinzelnd sah er sich in seinem Zimmer um. Alles war dunkel und ruhig. Sein Blick wanderte zur Uhr und er stöhnte auf. Gerade einmal zwei Uhr morgens und seither hatte er nur wenige Minuten geschlafen. Er setzte sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihm war völlig unklar, warum er momentan überhaupt unter diesen unheimlichen Träumen litt. Normalerweise spiegelten Alpträume doch verborgene Ängste wieder. Aber er hatte keine solchen Ängste. Genauso wenig konnte er sich erklären, wer der seltsame Fremde war. Er hatte ihn zuvor noch nie gesehen und da er keine Kontrolle über seine Träume hatte, konnte er auch keinen Kontakt mit dem Jungen aufnehmen. Und was wollte er Kenjiro sagen? Völlig übermüdet und erschöpft blieb der Braunhaarige sitzen. Ihm war klar, dass er auch heute keinen Schlaf finden würde. Bis zum Sonnenaufgang blieb er im Bett und starrte an die Decke. Irgendwann hörte er die Stimme seiner Mutter, die ihn zum Frühstück herunterrief. Er tappte die Stufen hinunter und nahm neben seinen Eltern Platz. „Du bist ja leichenblass. Hattest du wieder Alpträume?“ Kenjiro nickte nur, immer noch zu müde, um zu reden. „Soll ich Izuya absagen?“ Diesmal schüttelte er den Kopf. „Gut, wie du möchtest. Aber wenn irgendetwas ist, rufst du an, ja?“ Wieder ein Nicken. Nach dem Essen ging es Kenjiro etwas besser und er fragte nach, ob er bei Izuya übernachten durfte. Seine Eltern hatten nichts dagegen und bald darauf machte der Braunhaarige sich auf den Weg. Izuya erwartete ihn bereits und präsentierte ihm mit unverhohlenem Stolz sein sauberes Zimmer. Zusammen setzten sie sich vor den Fernseher und spielten mehrere Videospiele. Sie unterbrachen nur, um zu Mittag zu essen. Gleich danach machten sie weiter, wobei sie lachten, scherzten und ab und an auch in eine hitzige Diskussion verfielen. Kenjiro vergaß seine Müdigkeit und schaffte es, sich zu entspannen. Erst als bereits tiefe Dunkelheit über sie hereingebrochen war, hörten sie auf und Izuya bereitete ihm einen Schlafplatz vor. Die beiden redeten noch lange, bis Izuya gähnte, dem Braunhaarigen eine gute Nacht wünschte und zu schnarchen begann. Kenjiro hingegen kämpfte mit aller Macht darum, nicht einzuschlafen. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Kein Wunder, schließlich hatte er seit mehr als zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Ohne, dass er es wollte, fielen seine Augen zu und die Müdigkeit übermannte ihn. Kapitel 2: Wenn die Nacht hereinbricht -------------------------------------- Kenjiro öffnete die Augen. Sofort wurde ihm klar, dass etwas überhaupt nicht stimmte. Er befand sich in einem fensterlosen Raum auf einer einfachen Liege. Neben ihm saß der seltsame Junge und blickte auf ihn herunter. „Ashiba-kun...wie geht es dir?“ Es war das erste Mal, dass der Braunhaarige den anderen sprechen hörte. „Wo...wo bin ich? Und wer bist du?“ „Du erinnerst dich wohl wirklich nicht. Mein Name ist Shin.“ „Shin...“ wiederholte Kenjiro langsam. Er war so überrascht, dass er sich nun mit dem Schwarzhaarigen unterhalten konnte, dass ihm gar nicht auffiel, dass dieser seine erste Frage nicht beantwortet hatte.“Hör mir zu, Ashiba-kun. Du musst dich von deinen Wahnvorstellungen lösen, ehe es zu spät ist.“ „Was? Was für Wahnvorstellungen? Wovon redest du?“ „Ich spreche von...“ Weiter kam Shin nicht, denn Kenjiro hatte in der Ecke einen vertrauten Umriss gesehen und war aufgesprungen. „Izuya. Bin ich froh, dich zu sehen.“ Ohne zu zögern, ging er auf seinen besten Freund zu, der mit dem Rücken an der Wand hockte und seine Arme um die Beine geschlungen hatte. Sein Gesicht hatte er auf den Armen abgelegt, wodurch es aussah, als würde er lautlos weinen. „Izuya?“ begann Kenjiro erneut, diesmal etwas unsicher. „Was ist passiert?“ Besorgt streckte er die Hand aus, um Izuya an der Schulter zu packen. „Nein! Das darfst du nicht tun!“ Doch die Warnung kam zu spät. Kaum hatten die Fingerspitzen des Braunhaarigen den anderen erreicht, flog dessen Kopf nach oben. Was Kenjiro sah, ließ ihn zusammenfahren. Izuyas Augen fehlten. Wo sie gewesen waren, klafften zwei hässliche Löcher. Des Weiteren begann der Junge, wie verrückt um sich zu schlagen und schrie laut los. „Nicht meine Augen, bitte nicht meine Augen...Ich flehe euch an...ich tue alles...Alles..." Wie erstarrt stand der Braunhaarige da. Sein Herz raste und in seinem Kopf herrschte wildes Chaos. Wie hypnotisiert hing sein Blick an den dunklen Löchern in Izuyas Gesicht. Immer mehr schien er in diese Finsternis hineingezogen zu werden, während Shin hinter ihm seinen Namen rief. Kenjiro konnte sich nicht zu dem Schwarzhaarigen umdrehen. Ihm war, als würde er fallen, immer und immer tiefer. Panisch kniff er die Augen zusammen und erwartete, entweder im nächsten Moment irgendwo aufzuschlagen oder einfach immer weiter zu fallen. Stattdessen passierte etwas anderes. Kenjiros Fall stoppte so plötzlich, wie er begonnen hatte und er blieb mitten in der Luft hängen. Bevor er sich an die neue Situation gewöhnen konnte, tauchte wenige Meter von ihm entfernt ein einzelner Stuhl auf. Darauf saß Izuya, an Händen und Füßen gefesselt und blickte mit einer Mischung aus Trotz und Angst in die Gegend. Er sah völlig anders aus, als der Braunhaarige ihn kannte. Er war jünger, vielleicht dreizehn oder vierzehn. Außerdem war er schlanker, fast schon ausgemergelt. Kenjiro erkannte ihn nur an der Brille, die sein bester Freund normalerweise trug und die jetzt auf einem Rolltisch neben dem Stuhl lag. Auch ein Koffer aus Aluminium befand sich auf dem Tisch. „Macht mich los, ihr elenden Dreckssäcke.“ rief Izuya plötzlich und zerrte an seinen Fesseln. Ein hämisches, leises Lachen antwortete. „Aber, aber. Wir haben doch noch gar nicht angefangen.“ Zwei Männer traten aus den Schatten. Vom Aussehen her waren sie vollkommen gleich. Weiße, lange Kittel, grüne Haarnetze und Mundschutze sowie Handschuhe, die bis über die Handgelenke gingen. „Was habt ihr vor?“ Izuyas Stimme war immer noch wütend. Nur ein winziges Zittern schwang darin. „Nun, wir werden ein wenig Spaß mit dir haben. Nicht wahr, Bruder?“ „Richtig.“ bestätigte der größere der beiden Männer. „Und weil es dein Geburtstag ist, darfst du dir aussuchen, was wir machen wollen.“ „Mal sehen...“ Der kleinere Mann trat an Izuya heran, packte ihn an den Haaren und bog seinen Kopf hin und her. „Nimm deine Finger weg, verdammt.“ „Mir gefällt sein Blick nicht.“ Das Gesicht des Mannes hellte sich auf, als er sich bittend an seinen Bruder wandte. „Darf ich seine Augen haben?“ „Natürlich. Alles, was du möchtest. Gut, dann halte seinen Kopf fest. Wir wollen anfangen.“ Der Mann tat wie geheißen und sein Bruder schritt an den Rolltisch, wo er seine Finger über den silbrigen Aluminiumkoffer gleiten ließ. Dann öffnete er ihn und Kenjiros Blut wurde zu Eis, als er das Skalpell in der Hand des Mannes bemerkte. Izuya wurde unruhig und versuchte, seinen Kopf zu befreien. Ohne Erfolg. Der Griff, der ihn gepackt hielt, war wie ein Schraubstock. Als der größere der beiden nahe genug an Izuya herangetreten war, strich er sanft über sein Gesicht, ehe er die Klinge hob. Mit einem Ruck stieß er zu. Mit einem widerlichen Schmatzen drang die Spitze in die Pupille und Izuya begann, grauenhaft zu schreien. Eine geleeartige Flüssigkeit floss aus seinem Auge, ehe Blut spritzte und sich auf dem Kittel des Mannes verteilte. Kenjiro wurde schlecht, aber er konnte nicht weg. Sein bester Freund brüllte immer noch, während der Mann vor ihm ihm mit der Klinge brutal den Augapfel heraus hebelte und Blut auf den Boden tropfte. Das, was von Izuyas Auge übrig war, hing an blutigen Nervensträngen, die der Mann mit einem geübten Schnitt durchtrennte. Das Schreien hatte aufgehört. Izuya war ohnmächtig geworden. „Bring das Wasser.“ befahl der größere der beiden und sein Bruder ließ Izuyas Kopf los und holte einen kleinen Eimer mit Wasser, den er über diesem ausleerte. Izuya fuhr hoch, als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht und blickte sich um. „Wir sind noch nicht fertig.“ sagte der Mann vor ihm mit tadelnder Stimme. Wieder blitzte das Skalpell auf und erneut drangen Schreie durch die Dunkelheit. Noch mehr Blut, das über Izuyas Gesicht rann, an seinem Kinn heruntertropfte und sich am Boden zu einer Pfütze verdichtete. Der ehemals weiße Kittel des Mannes war blutverschmiert, als er sich dem zweiten Auge widmete und auch dieses entfernte. Nachdem das erledigt war, legte er die Augen auf ein kleines Tablett und schien sie einen Moment zu bewundern. „Eine hübsche Farbe. Sie sehen aus wie Saphire. Gut ausgewählt.“ Sein Bruder nahm seine Hände vom immer noch schreienden Izuya und ging um den Stuhl herum, damit auch er sich die blutigen, starrenden Augäpfel ansehen konnte. Keiner der beiden kümmerte sich mehr um Izuya, der vollkommen still geworden war und auf seinem Stuhl vor und zurück wippte. Kenjiro war wie betäubt. Sein Magen rebellierte heftig angesichts des ganzen Blutes, das immer noch aus den Augen seines besten Freundes sprudelte, sein Shirt durchnässte und es dunkel färbte. Die blutigen Löcher in Izuyas Gesicht schienen ihn anzustarren. Die beiden Männer redeten immer noch, doch ihre Stimmen wurden leiser, während Kenjiro erneut wie hypnotisiert in die ehemaligen Augen seines besten Freundes sah. Und wieder fiel er, fiel, bis er sich auf dem Boden des fensterlosen Raumes wiederfand. Shin erwiderte seinen Blick, während er ihn an den Schultern schüttelte. „Ashiba-kun. Ashiba-kun!“ „Was...“ „Ich dachte schon, du würdest heute gar nicht mehr zu dir kommen.“ „Izuya...ich habe von ihm geträumt...wo ist er? Was geht hier vor?“ „Beruhige dich. Izuya ist weg. Was hast du geträumt?“ „Da waren diese Männer...und all das Blut...“ Ihm wurde von Neuem übel, als er sich an alles erinnerte. Mit aller Kraft schaffte er es, sich nicht zu erbrechen. „Du bist leichenblass. Versuch, dich zu beruhigen. Ich bleibe solange hier.“ Es dauerte sehr lange, bis es Kenjiro besser ging und er sich soweit erholt hatte, dass er wieder normal atmen konnte. „Ashiba-kun?“ Kenjiro sah zu dem Schwarzhaarigen auf. „Ich muss jetzt los. Aber ich komme bald zurück, versprochen.“ Behutsam strich er Kenjiro eine Haarsträhne aus dem Gesicht, lächelte ihm zu und war im nächsten Moment verschwunden. Eine Weile blieb er noch auf dem Boden sitzen, ehe er aufstand. Noch etwas wackelig auf den Beinen, ging er zu einem Waschbecken an der Wand und drehte den Hahn auf. Eine dicke, tiefrote Flüssigkeit spritze hervor und nun schrie der Braunhaarige, während weiterhin Blut aus dem Hahn schoss wie aus einer frischen, tiefen Wunde...wie aus Izuyas durchbohrten Augen... Kapitel 3: Alles wie immer -------------------------- „Kenjiro? Kenjiro, wach auf, bitte. Kenjiro!“ Der Braunhaarige riss die Augen auf. Saphirblaue Augen erwiderten seinen Blick besorgt und ängstlich. Izuya... Unfähig, ein Wort zu sagen, sprang Kenjiro hoch und stürzte zum Badezimmer, wo er über der Toilette zusammenbrach. Während sich das Abendessen von ihm verabschiedete, registrierte er nur am Rande, wie sich Izuya neben ihn hockte und ihm mit einer Hand über den Rücken fuhr. „Was ist denn los? Hast du etwas Falsches gegessen?“ Immer noch wackelig auf den Beinen, erhob sich Kenjiro und taumelte zum Waschbecken. Diesmal kam glücklicherweise nur Wasser aus dem Hahn und er wusch sich das Gesicht, ehe er sich seinem besten Freund zuwandte. „En...entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Ist okay. Aber sag mal...woran hat es gelegen? Du hast urplötzlich angefangen, wie wild zu schreien.“ „Ich habe nur schlecht geträumt.“ „Muss ja der Horror gewesen sein, bei der Reaktion.“ „Das kannst du laut sagen.“ Dazu sagte Izuya nichts. Aber Kenjiro bemerkte erleichtert, dass sein bester Freund wieder aussah wie immer. Das freundliche, runde Gesicht, die rotbraunen Haare, die mollige Figur und die blitzenden, tiefblauen Augen. „Du siehst echt fertig aus. Soll ich dir einen Tee machen?“ „Ja, bitte. Ich werde mir mal die Zähne putzen. Danach komme ich zu dir.“ Nachdem der Braunhaarige seinen Traum einigermaßen verdaut hatte, ging er ins Wohnzimmer, wo Izuya mit seiner Mutter am Tisch saß. „Geht es dir besser?“ „Ja.“ „Was ist los?“ erkundigte sich nun Izuyas Mutter. „Du wirst doch nicht etwa krank werden?“ „Er hatte nur einen Alptraum.“ wehrte ihr Sohn ab. Kenjiro schmunzelte. Izuyas Mutter war Ärztin und nahm ihren Beruf sehr ernst. Sobald sie jemanden in ihrer Nähe sah, der auch nur leise Anzeichen einer Krankheit zeigte, musste sie sich davon abhalten, die Person nicht zu untersuchen. Sie selbst nahm das Ganze mit Humor, während Izuya dafür zuständig war, sie zurückzuhalten, wenn es mal wieder zu sehr mit ihr durchging. „Alpträume? Geht das schon länger?“ „Seit etwa drei Wochen.“ gab Kenjiro zu. Izuyas Mutter stand auf und näherte sich dem Braunhaarigen. Vorsichtig griff sie ihm unter das Kinn und musterte sein Gesicht. „Vielleicht wäre es besser, wenn du dich mal ordentlich untersuchen lassen würdest. Wenn du willst, gebe ich dir einen Termin.“ „Würde es denn etwas bringen?“ „Bestimmt.“ sagte Izuyas Mutter und nickte lebhaft. „Es gibt viele Möglichkeiten, Alpträume und Schlafstörungen zu behandeln.“ „Ich denke nicht, dass Tabletten mir groß helfen würden. Aber sollte sich das noch länger hinziehen, melde ich mich, okay?“ „Versprochen?“ „Ja, versprochen.“ „Na schön.“ seufzte die Frau und ließ Kenjiro los. „Dann trink erst einmal deinen Tee, bevor er kalt wird.“ Er gehorchte und nippte an seiner Tasse. Der Tee war stark und süß, genau richtig für jemanden, der eine harte Nacht hinter sich hatte. Als Kenjiro ausgetrunken hatte, unterhielt er sich noch etwas mit Izuya, ehe er sich verabschiedete. Zur Sicherheit war er vor dem Mittagessen gegangen. Auch wenn sich seine Übelkeit gelegt hatte, traute er es sich noch nicht zu, wieder feste Nahrung zu sich zu nehmen. Während er langsam zurück nach Hause ging, genoss er die kühle Luft auf seiner Haut. Als er an seiner Wohnung ankam, stutzte er kurz. Vor der Tür stand Sayuri und hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. „Kenjiro, du Schnarchnase. Los, lass mich rein, ich habe große Neuigkeiten.“ „Ob ich wohl noch dazu komme, meine Ferien zu genießen?“ Überrascht drehte sie sich um, ehe sie lächelte und ihm die Zunge herausstreckte. „Wo hast du gesteckt? Warst du die ganze Nacht auf Achse?“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Naja, um es nett auszudrücken...du siehst aus wie ein Zombie.“ „Das nennst du nett?“ „Zumindest habe ich nicht gesagt, was ich zuerst gedacht habe.“ „Wie freundlich von dir. Möchtest du mit reinkommen?“ „Das wäre prima.“Gemeinsam betraten die beiden die leere Wohnung und Sayuri ließ sich auf die Couch fallen. Kenjiro brachte seinem Gast etwas zu trinken und setzte sich dann neben das Mädchen. „Also, was sind das für große Neuigkeiten?“ „Ich habe einen neuen Freund.“ „Schon? Wen hast du dir denn jetzt geschnappt?“ „Da kommst du nie drauf.“ „Nun erzähl schon.“ „Taku.“ Der Braunhaarige starrte sie perplex an. „Du meinst aber doch nicht den Taku, oder?“ erkundigte er sich, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. „Doch, genau den.“ antwortete Sayuri strahlend. Kenjiro sagte vorerst nichts. Taku war einer seiner Freunde. Ein ruhiger, ernster Junge, der durch seine gewählte Sprache und seine ungewöhnlichen grauen Augen auffiel. Der Braunhaarige hatte nie erlebt, dass Taku jemals ausfallend oder wütend geworden war. Ihm war klar, dass er und Sayuri auf dieselbe Schule gingen wie er und Izuya. Trotzdem war ihm nie aufgefallen, dass die beiden mehr als ein paar höfliche Worte gewechselt hatten. „Ach, Sayuri. Bist du dir sicher mit Taku? Du weißt doch, wie er ist. Ich dachte immer, du stehst mehr auf Jungs mit Durchsetzungsvermögen. Und mal ehrlich: Davon hatte Taku nie sehr viel.“ „Ich dachte, du würdest dich für mich freuen.“ Traurig blickte sie zu Boden. „Ja, das tue ich auch. Wirklich.“ beeilte sich Kenjiro, ihr seine Worte zu erklären. „Es ist nur so, dass ich nicht möchte, dass einem von euch wehgetan wird. Schließlich mag ich euch beide sehr und es wäre schade, falls ihr euch trennen solltet und dann nicht mehr miteinander auskommt.“ Die Trauer in Sayuris Gesicht verschwand und sie lächelte ihn an. „Du musst dir keine Sorgen machen. Taku ist der Richtige, das spüre ich. Und falls wir uns wirklich trennen sollten, werden wir uns nicht gleich jedes Mal an die Gurgel gehen, wenn wir uns begegnen.“ „Dann herzlichen Glückwunsch. Und pass mir ja gut auf Taku auf, ja?“ „Das werde ich tun.“ Wieder lächelte das Mädchen und drückte kurz seine Hand. Dann beugte sie sich etwas vor und Besorgnis trat in ihre Augen. „Du siehst wirklich schrecklich aus. Geht es dir gut?“ „Ja, es geht schon. Ich hatte nur in letzter Zeit etwas wenig Schlaf. Außerdem habe ich einen Riesenhunger.“ Sayuri sprang auf und Kenjiro zuckte leicht zusammen. „Warum kochen wir uns dann nicht etwas? Ich bin sicher, deine Eltern haben nichts dagegen. Vorausgesetzt, wir lassen ihnen etwas übrig.“ „Und was wollen wir machen?“ „Na, was wohl. Mein berühmtes Feuercurry natürlich.“ Nun war es der Braunhaarige, der lächelte. Sayuris Feuercurry war tatsächlich etwas Besonderes. Sie hatte ihm nie verraten, wie genau das Rezept ging, aber das Curry war eine scharf-süße Köstlichkeit, die selbst aufgewärmt wunderbar schmeckte. „Heißt das, ich bin endlich würdig, das wohl gehütete Geheimnis deines Feuercurrys zu erfahren?“ fragte er in gespielt ehrfürchtigem Ton. „Oh nein, Lehrling. Das Rezept des Feuercurrys wird nur an die Besten weitergegeben. Und du bist noch lange nicht bereit.“ erwiderte das Mädchen mit strenger, unnachgiebiger Stimme. Beide fingen an zu lachen. „Du hast wohl wirklich nur die eine Antwort, was?“ Sayuri zwinkerte ihm zu. „Lass mir doch wenigstens das eine, kleine Geheimnis.“ Während sie gemeinsam kochten, beobachtete Kenjiro seinen Gast interessiert. Sayuri wirkte fröhlich und gelassen. Im Stillen hoffte er, dass sie mit Taku die richtige Wahl getroffen hatte. Nachdem sie mit dem Kochen fertig waren, setzten sie sich gemeinsam an den Tisch und begannen zu essen. Danach verbrachten sie den restlichen Tag damit, sich über alle möglichen Dinge zu unterhalten, ehe es dunkel wurde und das Mädchen sich verabschiedete. Kenjiro blieb noch eine Weile wach und sah fern, ehe er sich allmählich zum Schlafen fertigmachte. Seine Eltern waren ausgegangen und würden wohl erst sehr spät nach Hause kommen, weshalb er ihnen das Essen für den nächsten Tag in den Kühlschrank gestellt hatte. Er hoffte, dass er diesmal von Alpträumen verschont blieb. Noch so eine Nacht wie gestern würde er wohl nicht so gut verkraften. Immer noch waren die Bilder seines letzten Traumes in seinem Kopf verankert wie eine bösartige Krankheit. Lange blieb er hellwach im Bett liegen, ehe er es endlich schaffte, sich etwas zu entspannen. Sekunden später war er tief und fest eingeschlafen. Kapitel 4: Blutschrift ---------------------- Er fand sich im selben, fensterlosen Raum wie zuvor wieder. Verwirrt richtete er sich auf. Gleichzeitig öffnete sich die Tür und Shin betrat den Raum.“Ashiba-kun. Schön, dich wieder zu sehen.“ „Shin...“ Behutsam schloss der Schwarzhaarige die Tür, ehe er sich mit einem seltsamen Blick wieder zu Kenjiro umdrehte. „Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich weiß, Izuya ist ein Freund von dir, aber...“ „Woher weißt du das?“ Darauf sagte Shin nichts, was Kenjiros Misstrauen gegen den anderen nur verstärkte. „Was geht hier vor sich? Warum tauchst du ständig in meinen Träumen auf?“ „Ich will dir nur helfen. Wirklich. Aber die Begegnung mit Izuya hätte ich verhindern müssen. Du warst einfach noch nicht bereit.“ „Wofür bereit? Was...?“ Noch während der Braunhaarige sprach, wurde seine Sicht verschwommener, dunkler, bis er wieder in scheinbar bodenlose Finsternis fiel. Er kam zum Stehen und neben ihm tauchte eine große, silberne Liege auf, die mit Hand - und Fußschellen versehen war. Darauf lag, nackt und geknebelt, Sayuri. Auch sie wirkte jünger und eindeutig ungepflegter. Ihre goldblonden Haare waren völlig verknotet und strähnig. Ihr Körper war an den Armen und Beinen schmutzverkrustet. Leise wimmernd drehte sie ihren Kopf umher, ehe einer der als Arzt verkleideten Männer an die Liege trat. Kenjiro erkannte in ihm den älteren der beiden Brüder. „Sieh einer an, welch ein hübscher, kleiner Vogel uns hier in den Käfig geflattert ist.“ In der tiefen und sanften Stimme des Mannes lag ein Unterton, der Kenjiro einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sayuri wimmerte noch lauter, was den älteren der Brüder zum Kichern brachte. „Du kannst so viel Lärm machen, wie du willst. Keiner wird dir zu Hilfe kommen.“ Er trat noch weiter vor und strich mit seinem Zeigefinger über die Wange des Mädchens. „Was stelle ich nun mit dir an? Es muss etwas Besonderes sein, da mein Bruder ja leider nicht dabei sein kann. Er wird wollen, dass ich ihm alles erzähle.“ Kurz tat der Mann so, als würde er überlegen. Dann lächelte er auf eine Weise, die eindeutig nichts Gutes bedeuten konnte. „Ich weiß etwas. Was hältst du davon, wenn ich dir etwas schenke?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und das Lächeln des falschen Arztes wurde zu einer Fratze. „Oh, es ist nicht wirklich so, als ob du eine Wahl hättest. Ich kann dir Dinge antun, die du dir selbst in deinen schlimmsten Alpträumen nicht ausmalen könntest, weißt du?“ Er griff in seine Tasche und Sayuris Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie das Skalpell bemerkte. „Kein Grund zur Panik. Ich werde nur den Knebel entfernen.“ Tatsächlich hielt der Mann Wort. Sofort begann das Mädchen zu flehen. „Bitte, tun sie mir nichts. Bitte...“ Der Rest ihrer Worte ging in einem Schmerzenslaut unter, als der ältere der Brüder ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. „Sei still. Glaubst du, ich hätte dir den Knebel abgenommen, um mir dein Gejammer anzuhören? Du solltest mir lieber dankbar sein, dass ich so gnädig bin, dir ein Geschenk zukommen zu lassen.“ Er legte seinen Mantel ab und verstaute das Skalpell in der Tasche. „Nun, du wirst dich sicher fragen, was für ein Geschenk ich für dich habe, oder?“ Zu verängstigt, um etwas zu sagen, schüttelte Sayuri erneut den Kopf. „Ich werde es dir trotzdem verraten.“ Hier hielt der Mann inne und begann, den Gürtel seiner Hose zu lösen. Kenjiro, der inzwischen begriffen hatte, was der falsche Arzt vorhatte, versuchte, an die Liege heranzukommen. Vergebens. Sein Körper gehorchte ihm nicht. Er stieß einen frustrierten und verzweifelten Schrei aus, den aber niemand außer ihm selbst zu hören schien. Nein, das durfte nicht passieren. Er konnte doch nicht einfach still danebenstehen und zuschauen, wie Sayuri von diesem widerlichen Kerl vergewaltigt wurde. Nun, wo der Mann auch seine Hose ausgezogen hatte, schien das Mädchen endlich zu begreifen. Mit aller Kraft versuchte sie, sich zu befreien. „Nein...nein, bitte nicht...bitte...“ „Was hast du denn? Die meisten würden sich freuen, wenn ich ihnen meinen Samen schenke. Oder...“ Die Stimme veränderte sich erneut, wurde kalt und schneidend. „...hältst du dich für zu besonders, um mein Geschenk anzunehmen?“ Tränen flossen ungehindert über Sayuris Wangen. Inzwischen trug der ältere der Brüder nur noch sein Shirt, die Handschuhe, den Mundschutz und das Haarnetz. Kenjiro spürte, wie ihm die Galle hochkam, als er den erigierten Penis des Mannes bemerkte. „Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich werde nicht wie ein wildes Tier über dich herfallen. Solange du dich benimmst, bin ich vorsichtig. Wenn nicht...nun, das wirst du dann erfahren.“ Damit betätigte der falsche Arzt einen Schalter neben der Liege, die daraufhin nach unten gefahren wurde, bis sie auf dem Boden zum Halten kam. „Wir werden mit etwas Einfachem anfangen. Solltest du dich wehren, wirst du es bedauern.“ Ohne weitere Erklärungen hielt der Mann Sayuri die Nase zu, bis sie den Mund öffnete, um Luft zu holen. Dann drängte er sein Glied in ihren Mund, was ein ersticktes Keuchen zur Folge hatte. Immer wieder stieß er zwar sacht, aber tief zu. Das Mädchen würgte und versuchte, ihn von sich zu stoßen, doch die Fesseln gaben nicht nach. Nach einer Weile schien der ältere der Brüder sich nicht mehr beherrschen zu können, denn er verkrallte seine Hände in Sayuris Haaren und seine Bewegungen wurde heftiger und wilder, bis er laut aufstöhnte. Er zog sich zurück und das Mädchen erbrach sich auf den Boden. Schlagartig veränderte sich der Mann. „Ich habe dir nicht erlaubt, mein Geschenk auszuspucken.“ sagte er und sein Körper zitterte vor Wut. „Gut, dann wirst du es eben auf die harte Tour lernen müssen.“ Er griff sich zwischen die Beine und massierte seinen Penis, bis er wieder aufrecht stand. Dann zwang er Sayuris Beine auseinander und drang so brutal in sie ein, dass sie aufschrie. Im Gegensatz zu vorher schien er jetzt darauf aus, Sayuri so viel Schmerz wie möglich zuzufügen. Und dieses Vorhaben gelang. Die Schreie des Mädchens waren so herzzerreißend, dass Kenjiro nun selbst die Tränen in die Augen traten. Als es endlich vorbei war, lag Sayuri völlig still da. „Nun, wie sieht es aus? Hast du deine Lektion gelernt?“ erkundigte sich der Mann, nun wieder mit ruhiger und sanfter Stimme. Das Mädchen antwortete nicht. Sie hatte aufgehört zu weinen, wirkte mehr tot als lebendig. „Was hältst du davon, wenn wir es nochmal versuchen?“ Die Frage zeigte enorme Wirkung. Sayuri warf sich wild umher, schüttelte wild den Kopf und rief laut um Hilfe. „Offenbar hast du nichts dazugelernt. Gut, wie du willst.“ Wieder machte der falsche Arzt sich bereit, ehe er sich weitere Male an ihr verging. Irgendwann ließ er dann von ihr ab. Er hatte seine furchtbare Aufgabe erfüllt. Das Mädchen war gebrochen, körperlich wie geistig. Der Mann zog sich wieder an, ehe er ein zweites Mal sein Skalpell aus seiner Tasche nahm. „Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Schließlich müssen die Leute doch wissen, was du bist, nicht wahr?“ Er setzte das Messer an ihrem Bauch an und begann, etwas in die blasse Haut zu ritzen. Mit unendlicher Geduld setzte er einen Buchstaben nach dem anderen, bis er zufrieden lächelte. „Das sollte reichen. Ich hole dich später ab und bringe dich wieder in dein Zimmer.“ Der ältere der Brüder verschwand und nun konnte Kenjiro sich bewegen. Er hastete zu dem Mädchen und versuchte, ihre Fesseln zu lösen. Doch er konnte es nicht. Seine Hände konnten die Liege nicht berühren. „Sayuri...“ flüsterte er, zitternd und machtlos. Sie hörte ihn nicht. Mit leeren Augen starrte sie an die Wand, während Blut an ihrem Bauch und zwischen ihren Beinen hinunterlief. Der Blick des Braunhaarigen wanderte zu den Schnitten und er keuchte auf. In großer, blutiger Schrift stand dort ein einziges Wort: >Hure<. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und begann, ungehemmt zu schluchzen. Langsam verblasste Sayuri, wurde undeutlicher und schon wieder fiel er, fiel in die Dunkelheit, bis er, alleine und immer noch von Schluchzern geschüttelt, in dem fensterlosen Raum aufwachte. Er kauerte sich auf der Liege zusammen und weinte, bis er selbst dazu nicht mehr fähig war und völlig erschöpft zusammenbrach. Kapitel 5: Besuch beim Arzt (Part 1) ------------------------------------ Als er wieder zu sich kam, befand er sich seinem Bett. Seine Sicht war verschwommen, trotzdem erkannte er die vertrauten Umrisse seines Zimmers sofort wieder. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Erst jetzt fielen ihm die getrockneten Tränen auf seinen Wangen auf. Hatte er im Schlaf geweint? Dann erinnerte er sich an seinen Traum. Sofort schüttelte er den Kopf, als könnte er dadurch die Bilder der letzten Nacht loswerden. „Kenjiro, das Frühstück ist fertig.“ hörte er seine Mutter rufen. „Ich bin gleich unten.“ erwiderte er und ging ins Badezimmer. Sein Spiegelbild gab einen erbärmlichen Anblick ab. Unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkle Schatten gebildet und er war bleich wie ein Toter. Bestimmt würde er sich gleich einiges dazu anhören dürfen. Seufzend duschte er kurz, zog sich um und ging dann nach unten. „Was ist denn mit dir passiert?“ fragte sein Vater, der von seiner Zeitung aufgeblickt hatte, um ihn zu begrüßen. „Es ist nichts.“ sagte der Braunhaarige ausweichend und setzte sich. „Hast du dir eine Grippe eingefangen?“ mischte sich nun seine Mutter ein und trat an ihn heran, bevor sie ihm eine Hand auf die Stirn legte. Der Braunhaarige erschauerte, als ihn ihre kühlen Finger berührten. „Fieber scheinst du jedenfalls nicht zu haben.“ „Ich habe nur...schlecht geschlafen.“ „Schon wieder? Langsam mache ich mir Sorgen deswegen. Willst du nicht doch mal damit zum Arzt gehen?“ Nachdenklich starrte Kenjiro in seine Teetasse. Vielleicht war es wirklich besser, sich untersuchen zu lassen. Izuyas Mutter hatte doch gesagt, sie würde ihm jederzeit helfen. Dennoch bezweifelte er, dass sie etwas gegen seine Alpträume tun konnte. „Also gut, ich gehe gleich los. Hoffentlich bringt es was.“ „Bestimmt. Nimm einen Schirm mit, es soll nachher noch regnen.“ Einige Zeit später betrat Kenjiro durch zwei gläserne Türen die schlichte Eingangshalle der Praxis. Es überraschte ihn wenig, Izuya am Empfangstresen sitzen zu sehen. „Kenjiro. Was bringt dich hierher?“ „Ich möchte zu deiner Mutter. Hilfst du etwa schon wieder aus? Die Ferien sind zum Entspannen da. Übermorgen geht es wieder in die Schule.“ „Nur zu deiner Information: Ich mache das sehr gerne. Außerdem hat Akemi sich krank gemeldet. Heißt, uns fehlt eine Arbeitskraft. Entspannen kann ich morgen immer noch.“ „Na ja, sind deine Ferien. Hauptsache, du kommst dann nicht wieder zu spät zur Schule.“ „Das ist mir erst zweimal passiert. Kann ja nicht jeder so in die Schule verliebt sein wie du.“ Beide Jungen lachten, dann wurde Izuya ernst. „Du siehst wirklich eklig aus. Setz dich noch ins Wartezimmer, ich sage meiner Mutter, dass du da bist.“ „Ich liebe dich auch.“ erwiderte der Braunhaarige sarkastisch und streckte seinem besten Freund die Zunge heraus, bevor er das halbvolle Wartezimmer betrat. Als er endlich aufgerufen wurde, folgte er einem weiß gestrichenen Flur und setzte sich in das Behandlungszimmer. Schon kam Izuyas Mutter in den Raum. „Hallo, Kenjiro. Du bist sicher wegen deiner Schlafprobleme hier.“ „Richtig. Vielleicht haben Sie ja doch eine Lösung für mich.“ „Du wirkst auch ziemlich erschöpft. Gut, dann reich mir bitte deinen Arm. Ich werde dich mal gründlich durchchecken.“ Geduldig ließ der Braunhaarige die Untersuchungen über sich ergehen. „Äußerlich bist du kerngesund. Eventuell finde ich mehr heraus, wenn ich mir deine Gehirnaktivität genauer ansehe. Bist du einverstanden, wenn ich ein EEG vornehme?“ „Wird das irgendwie schmerzhaft?“ „Nein, keine Sorge. Das ist völlig harmlos. Ich werde ein paar Elektroden an deinem Kopf anbringen und die Maschine macht den Rest.“ „Gut, einverstanden.“ Die Ärztin lächelte. „Wunderbar. Also, wenn du mir bitte folgen würdest. Das Gerät steht gleich nebenan.“ Misstrauisch ließ sich Kenjiro auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder und hielt still, während Izuyas Mutter ihm die Elektroden anheftete. „Versuch, dich zu entspannen. Du musst ganz ruhig bleiben, damit die Messung korrekt wird. Das ganze wird eine Weile dauern. Bitte bleib einfach hier sitzen, bis ich zurück bin.“ Kenjiro nickte und sie verließ das Zimmer. Eine geschlagene halbe Stunde verging, bis sich die Tür wieder öffnete. „So, das wäre geschafft. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Mit allergrößter Vorsicht nahm die Ärztin die Elektroden ab und der Braunhaarige seufzte erleichtert und streckte sich ausgiebig. „Dann wollen wir mal sehen...“ murmelte Izuyas Mutter und überflog die Daten auf dem Computer, der neben dem Gerät stand. „Keinerlei Unstimmigkeiten. Mit deinem Gehirn scheint alles in Ordnung zu sein.“ Kenjiro war enttäuscht. „Heißt das, Sie können nichts tun?“ „Nur nichts überstürzen. Fürs Erste werde ich dir ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben. Und ich möchte dich bitten, das, was du träumst, aufzuschreiben. Am besten alles, woran du dich erinnerst. Falls wir dadurch keine Ergebnisse erzielen, werden wir andere Dinge ausprobieren.“ „Zum Beispiel?“ „Sollten deine Alpträume nicht besser werden, zeige ich dir, wie du das luzide Träumen erlernen kannst.“ „Das was?“ fragte der Braunhaarige verwirrt. „Das luzide Träumen, auch Klartraum genannt. Damit wirst du in der Lage sein, den Träumen ihren Schrecken zu nehmen.“ „Können wir das nicht schon jetzt machen?“ „Wir versuchen es erst mal mit dem Beruhigungsmittel. Ich möchte es ungern gleich am Anfang zu kompliziert machen.“ „Na gut.“ „Eine Frage muss ich dir noch stellen.“ sagte Izuyas Mutter dann sehr ernst. „Was ist in deinen letzten Träumen passiert?“ Alles in Kenjiro verkrampfte sich und er merkte, wie er zu zittern begann. „Ich...ich habe geträumt...“ stotterte er und musste sich zwingen, nicht in Panik zu verfallen. Genau in diesem Moment klopfte es und Izuya selbst betrat das Zimmer. „Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass ihr eine Besprechung habt. Ich wollte nur...Kenjiro? Was ist passiert?“ Er trat an den Braunhaarigen heran und hockte sich vor ihn, so dass sie sich in die Augen sahen. „Er ist ja vollkommen verängstigt. Was hast du ihm denn gesagt?“ „Ich habe ihn nur gebeten, mir zu sagen, was er in letzter Zeit geträumt hat. Mit so einer Reaktion habe ich auch nicht gerechnet.“ Izuya erhob sich wieder und packte Kenjiro an der Schulter. Der erwachte aus seiner Starre und atmete tief durch. „Als ich bei euch zu Besuch war, habe ich von zwei Männern geträumt, die Izuya die...die Augen mit einem Skalpell entfernt haben.“ „Was?“ kam es gleichzeitig von der Ärztin und ihrem Sohn. „Es war schrecklich...überall war Blut...und diese grauenhaften Schreie...“ „Was noch?“ erkundigte sich Izuyas Mutter, der der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand. „Sayuri...ich habe geträumt, wie sie von einem der Kerle ver...vergewaltigt wurde. Und als er mit ihr fertig war, hat er... ihr das Wort >Hure< in den Bauch geschnitten.“ „Kennst du diese Männer? Hast du sie schon einmal gesehen?“ „Nein...ich kenne sie nicht...Alles, was ich weiß, ist, dass sie sich als Ärzte verkleiden...“ Der Braunhaarige blickte Izuyas Mutter an. „Aber...aber das war schließlich nur ein Traum. Nichts davon ist wahr.“ „Nun, das ist zwar richtig, aber ich denke, bei solchen Träumen ist es besser, wenn ich dir ein etwas stärkeres Beruhigungsmittel verschreibe.“ „Warum hast du mir nichts gesagt?“ wollte Izuya wissen und vergrub seine Finger in Kenjiros Schulter. „Weil ich wusste, wie du reagieren würdest. Ich wollte dich nicht mit Sachen beunruhigen, die nur in meinem Kopf passieren.“ Darauf erwiderte sein bester Freund nichts, trotzdem wirkte er besorgt und verwirrt. „Izuya, du drückst mir den Arm ab.“ „Oh, entschuldige.“ Izuya ließ Kenjiro los. Währenddessen hatte die Ärztin ein Rezept ausgedruckt. „Ich möchte, dass du das Rezept noch heute abholst. Jeden Abend vor dem Einschlafen nimmst du eine Tablette.“ „Mache ich.“ Er verabschiedete sich und besuchte die nächste Apotheke. Nachdem er wieder zu Hause war, überlegte er, warum er Shin mit keinem Wort erwähnt hatte. Er wusste es nicht. Wohl, damit sie ihn nicht für völlig verrückt hielten. Als es schließlich auf den Abend zuging, nahm er wie versprochen eine Tablette und legte sich mit dem Gefühl hin, dass ihm nun bestimmt nichts mehr den Schlaf rauben würde. Beruhigt schloss er die Augen und schon driftete er weg, bis er in der tiefen Dunkelheit versank. Kapitel 6: Bestien ------------------ „Ashiba-kun. Ashiba-kun,bist du wach?“ Wach? Wie seltsam...Er müsste doch in seinem Bett liegen und schlafen...Und wer rief ihn da? Leicht verwirrt öffnete er die Augen. Sofort war ihm klar, wo er war und wer seinen Namen gerufen hatte. „Warum?“ murmelte der Braunhaarige. „Das Beruhigungsmittel müsste doch schon lange wirken.“ Türkise Augen musterten ihn eindeutig fragend und Shin, der neben der Liege auf einem Stuhl saß, lehnte sich leicht nach vorne. „Was für ein Beruhigungsmittel? Du scheinst heute etwas durcheinander zu sein.“ „Das bin ich nicht.“ fuhr Kenjiro auf. „Ich war heute beim Arzt und habe mir etwas geben lassen, damit diese Träume aufhören.“ „Ich verstehe...“ erwiderte der Schwarzhaarige mit einem seltsamen Unterton. „Aber wie ich sehe, hat es nichts geholfen“ Der Schwarzhaarige lehnte sich zurück und schien nachzudenken. „Es ist sehr bedauerlich, dass du so denkst. Ich hatte gehofft, du hättest meine Warnungen beherzigt.“ Kenjiro wollte gerade etwas sagen, als das Zimmer begann, immer dunkler zu werden, bis er wieder in der ihm so bekannten Finsternis versunken war. Als die endlose Schwärze sich langsam lichtete, erkannte der Braunhaarige verblüfft, dass er sich in seinem Zimmer befand. Auf seinem Bett sah er sich selbst liegen, etwa ein bis zwei Jahre jünger als sein jetziges Selbst. Er blinzelte einige Male, um sich zu überzeugen, dass das wirklich er sein sollte, als sich leise die Tür öffnete und seine Mutter in den Raum trat. In einer Hand hielt sie eine Tasse, mit der anderen strich sie dem jüngeren Kenjiro über den Kopf, als sie an seinem Bett angekommen war. „Mein armer Schatz. Hier, ich habe dir einen Tee gemacht. Wie schade, dass du ausgerechnet heute wieder krank geworden bist. Dabei wollten wir nachher die Beförderung deines Vaters feiern. Aber ich werde dir etwas von dem Kuchen übriglassen, den ich geholt habe.“ „Danke.“ sagte sein jüngeres Ich, was seiner Mutter ein Lächeln entlockte. Dann machte sie ein erschrockenes Gesicht, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen. „Ich muss noch mal zum Einkaufen. Aber keine Sorge, mein Liebling. Ich bin bald wieder da. Und falls etwas ist, dein Vater ist im Wohnzimmer.“ Damit verließ sie den Raum und Kenjiro beobachtete, wie sein Abbild an dem Tee nippte. Erneut ging die Tür auf und nun kam sein Vater hinein. Dem Braunhaarigen, der da im Bett lag, wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht und Furcht trat in seine Augen. „Nun?“ sagte Kenjiros Vater in einem drohenden Tonfall. „Sieht so aus, als wärst du schon wieder zu faul, um aus dem Bett zu kommen.“ „Ich bin krank.“ verteidigte sich der jüngere Kenjiro schwach. „Gestern war noch alles in Ordnung, aber heute morgen bin ich mit furchtbaren Magenschmerzen aufgewacht und...“ Zu mehr kam der Junge nicht, denn sein Vater war an das Bett getreten, hatte die Decke mit einem Ruck hinunter gerissen und den Inhalt der Tasse, die der jüngere Kenjiro auf seinem Nachttisch abgestellt hatte, auf dessen Oberkörper gekippt. Der richtige Kenjiro beobachtete fassungslos, wie sein jüngeres Ich aufschrie, als der immer noch kochend heiße Tee ihm über Brust und Bauch lief und seine Haut rot färbte. Kenjiro konnte es nicht glauben. Was ging hier vor? Warum träumte er so etwas? Seine Eltern würden ihm doch nie so etwas antun. Aber hier stand er, unfähig, sich zu rühren und beobachtete, wie sein Vater die Tasse gegen die Wand warf und begann, den jüngeren Braunhaarigen, der wimmernd am Boden lag, anzuschreien. Er war so laut, dass Kenjiro nicht alles verstand, doch einige Wortfetzen drangen dennoch zu ihm durch. „...nichtsnutziger Abschaum...Weichei...Schande der Familie...“ Dann fing der Vater des Braunhaarigen an, auf sein Abbild einzutreten. Es dauerte nicht lange, bis ein hässliches Knacken ertönte und Blut aus der Nase des anderen Kenjiro sprudelte. Als der Mann ihn im Bauch traf, schrie der jüngere Braunhaarige so schmerzerfüllt auf, dass sich dem richtigen Kenjiro der Magen umdrehte. Der nächste Tritt traf wieder das Gesicht des am Boden liegenden, was ein Keuchen zur Folge hatte. Inzwischen blutete auch seine Lippe und sein Bauch hatte sich tiefrot verfärbt, wo der Tee und die Tritte ihn getroffen hatten. Immer noch schrie sein Vater den jüngeren Kenjiro an und trat weiterhin auf ihn ein. Dieser hatte aufgehört zu schreien und lag halb bewusstlos da. Auf seinem Körper hatten sich hässliche, blaue Flecken gebildet und sein Gesicht war blutig und angeschwollen. Endlich hatte sein Vater genug und rauschte aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Der andere Braunhaarige lag leise schluchzend da, während Blut auf den Boden tropfte. Neben ihm lagen immer noch die Scherben der Tasse. Der richtige Kenjiro stand völlig unbeweglich da, bis sein zweites Ich allmählich leiser schluchzte, aber sich dennoch weiterhin den Bauch hielt, während stumme Tränen über seine Wangen liefen. Der ältere Braunhaarige war wie vor den Kopf gestoßen. Das alles hier ging sehr viel tiefer als alles, was er bisher in seinen Träumen erlebt hatte. Vielleicht, was dieser Alptraum ihn selbst betraf. Nachdem sich sein jüngeres Ich wieder beruhigt hatte, zog er sich die Decke über den Kopf und lag still da. Kenjiro beobachtete das Bild, das sich ihm bot, kurz. Dann veränderte sich das Bild vor ihm und er sah seine Mutter, die gerade zurückgekommen war und in die Küche verschwand, wo sie die Einkäufe in den Kühlschrank legte. Dann wandte sie sich dem Tisch zu, auf dem ein selbstgemachter Apfelkuchen lag. Mit einem Messer schnitt sie ein Stück ab und öffnete einen Schrank unter dem Waschbecken. Von dort nahm sie eine Flasche hervor, dessen Aufschrift deutlich das Wort >Rattengift< zeigte. Sie schüttete etwas davon auf das Stück, das auf dem Teller lag und stellte die Flasche wieder zurück. Danach schüttete sie Zuckerstreusel auf den Kuchen und ging aus der Küche. Ein zweites Mal änderte sich das Bild und Kenjiro erkannte mit Schrecken, dass seine Mutter den Teller auf den Nachtschrank in seinem Zimmer stellte, ehe sie sich hinunterbeugte und die Scherben der zerbrochenen Teetasse aufsammelte. Ehe sie ging, nahm sie die Decke vom Kopf seines mittlerweile schlafenden jüngeren Selbst und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Seine Verletzungen schien sie überhaupt nicht zu bemerken. „Keine Sorge, mein Liebling. Ich werde mich immer um dich kümmern...für immer und ewig...“ Leise verließ sie den Raum. Der Braunhaarige war nun völlig entsetzt angesichts dessen, was er sah. Sein Vater prügelte auf ihn ein, weil er krank war und seine Mutter vergiftete ihn, damit er erst krank wurde. Das war doch völlig unlogisch. Dann wurden seine Gedanken von seinem jüngeren Ich unterbrochen, das die Augen öffnete, den Kuchen erblickte und kaum merklich lächelte. „Nein! Nein, nicht!“ rief der richtige Kenjiro, doch natürlich völlig umsonst. Hilflos sah er zu, wie der jüngere Braunhaarige sich über den Kuchen hermachte. Sein Verstand weigerte sich, zu glauben, was er beobachtete. Das waren doch nicht seine Eltern. Das waren Dämonen, die nur die Gestalt seiner Eltern angenommen hatten. Ehe er sich sammeln konnte, wurde es dunkel um ihn und ein weiteres Mal versank er in der Finsternis. Als er wieder klar sehen konnte, befand er sich in dem gewohnten Raum, wo Shin ihn leicht besorgt musterte. „Ashiba-kun. Alles in Ordnung?“ „Nicht wirklich...“ brachte Kenjiro heraus. Das kleine Zimmer schien noch kleiner geworden zu sein und er verbarg das Gesicht in den Kissen, die auf der Liege verstreut waren. Er hatte keine Kraft mehr. Seine Träume schienen immer schlimmer zu werden und selbst das Beruhigungsmittel hatte anscheinend überhaupt keine Wirkung. Im Gegenteil: Seine ganze Welt zersplitterte vor ihm und es gab nichts, was er tun konnte, um das Ganze aufzuhalten. Warum nur hatte er diese furchtbaren Träume? Er konnte nicht mehr klar denken. Das Einzige, dass ihm noch einfiel, war, es tatsächlich mit den luziden Träumen zu versuchen. Völlig ausgelaugt verfiel er in einen unruhigen Dämmerschlaf und hörte nur am Rande, wie sich die Tür zu dem Raum öffnete und wieder schloss. Shin war gegangen und er wieder alleine. Alleine mit seiner Hoffnungslosigkeit und der leisen, nagenden Befürchtung, dass es noch nicht vorbei war. Kapitel 7: Rückkehr zur Schule ------------------------------ Kenjiro verbrachte die meiste Zeit des nächsten Tages damit, sich draußen aufzuhalten. Ihm war überhaupt nicht danach, zu Hause zu sein. Nach dem, was er im Traum gesehen hatte, schien eine seltsame, unerklärliche Furcht vor seinen Eltern ihn fest umklammert zu haben. Es war lächerlich, dumm und völlig unerklärlich, das wusste er selber. Aber er konnte den beiden Menschen, die er am meisten liebte und denen er blind vertraute, momentan nicht in die Augen sehen. Rastlos lief er durch das plappernde Gedränge der Stadt und kam nur gegen Mittag kurz zur Ruhe, um etwas zu essen. Danach lief er durch die belebten Einkaufsstraßen und blickte ab und an in eines der Schaufenster. Irgendwann hatte er auch davon genug und beschloss, ein wenig in den Park zu gehen. Kaum war er im Park angelangt, verebbte der Lärm der Stadt und des Verkehrs. Der Braunhaarige genoss die Stille, dennoch beschloss er, sich nicht zu lange hier aufzuhalten. Mit der Ruhe kehrte auch die tiefsitzende Müdigkeit in ihm zurück und er konnte es sich nicht erlauben, einzuschlafen. Viel zu sehr lagen ihm die Träume der vergangenen Nächte im Magen. Es schien, als wäre mit dem Traum über Kenjiros Eltern eine unsichtbare Grenze überschritten worden. Die Panik, die er momentan hatte, wenn er nur ans Einschlafen dachte, ließ ihn selbst gegen Abend, als er endlich in seinem Zimmer saß, nicht zur Ruhe kommen. Daher verbrachte er die Nacht damit, vor seinem Computer zu sitzen, um sich abzulenken. Erst als sich das dunkle Blau der Nacht langsam erhellte, schaltete er das Gerät ab und machte sich für die Schule fertig. Vor der Schule wartete Izuya auf ihn, der angesichts von Kenjiros Anblick zusammenzuckte. „Jetzt machst du mir langsam Angst.“ sagte er, sobald der Braunhaarige an ihn herangetreten war. „ Du siehst schlimmer aus als je zuvor. Haben die Beruhigungsmittel nicht geholfen?“ „Nein, haben sie nicht. Hätte mir auch gewünscht, dass es funktioniert.“ „Meinst du nicht, du solltest noch einmal bei meiner Mutter vorbeischauen?“ „Das werde ich noch machen. Aber wenn das auch nichts bringt, habe ich wieder das Nachsehen.“ Izuya machte ein ernstes Gesicht, sagte aber nichts, da in diesem Moment Sayuri und Taku dazukamen. „Hallo, ihr beiden.“ begrüßte Sayuri sie fröhlich, wurde aber blass, als sie den Braunhaarigen genauer musterte. „Was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja echt krank aus.“ „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ gab Kenjiro mit einem leicht bissigen Unterton zurück. „Mal ehrlich: Wann hast du das letzte Mal ordentlich geschlafen?“ „Du meinst, ohne Unterbrechungen? Schon viel zu lange nicht mehr.“ „Ja, das dachte ich mir schon.“ „Das genügt, Sayuri.“ mischte sich Taku mit seiner ruhigen Stimme ein. „Es freut mich, dich wiederzusehen, Kenjiro.“ „Mich auch.“ erwiderte dieser und die beiden gaben sich die Hand. Kurz herrschte Schweigen, ehe Izuya sich an Sayuri wandte. „Hast du schon...“ „...einmal daran gedacht, mal mit mir auszugehen?“ unterbrach das Mädchen und zwinkerte ihm zu. „Vielleicht.“ Darüber lachten alle, selbst Taku und Kenjiro. „Nein.“ fing Izuya von neuem an. „Würdest du...“ „...Taku verlassen und mit mir eine Beziehung anfangen? Ja, aber warte mit solchen Fragen, bis wir alleine sind. Er hat auch Gefühle, weißt du?“ Wieder lachten sie los. „Ich wollte nur wissen, ob du dir die Aufgaben für den Test morgen schon angesehen hast und mir bei Nummer zwölf helfen könntest.“ sagte Izuya, als er sich beruhigt hatte. „Sicher doch. Machen wir nach dem Unterricht einen Termin aus?“ „Super, vielen Dank. Ich warte dann vor dem Tor auf dich.“ Das Klingeln der Schulglocke unterbrach ihr Gespräch und Sayuri hastete in Richtung Schuleingang. „Wir sehen uns später. Wir haben in der ersten Stunde Chemie und Herr Hasaka grillt uns, wenn wir zu spät sind.“ Sie rannte davon, hinter ihr Taku, der ihr mit langsameren Schritten folgte. Auch Kenjiro und sein bester Freund machten sich auf den Weg zu ihrem Klassenzimmer. Dort wurden sie von den dort Anwesenden begrüßt und setzten sich an ihre Plätze. Als ihr Klassenlehrer hereinkam, wurde dem Braunhaarigen schwer ums Herz. Er hatte nicht daran gedacht, dass zuerst Geschichte dran war. Er war sowieso schon so müde...Hoffentlich hielt ihr Lehrer ihnen nicht wieder einen ellenlangen Sermon. „Guten Morgen.“ sagte der Lehrer und die Klasse antwortete wie aus einem Mund. „Guten Morgen.“ tönte es durch den Raum. „Ich werde zunächst überprüfen, ob alle anwesend sind.“ Nachdem das erledigt war, trat der Lehrer an die Klasse und stellte sich vor seinen Schülern auf. „Wir werden heute ein neues Thema beginnen. Kennt jemand von euch den wahren Namen des sogenannten >Sonnenkönigs?<“ Ein Mädchen in der vorderen Reihe meldete sich schüchtern. „Ich...ich glaube, das war Ludwig der 14., oder?“ „Sehr gut. Also, das wird unser neues Thema. Fangen wir an: Ludwig der 14. war der Sohn von Ludwig dem 13. und Anna von Österreich...“ Wie auf Kommando schweifte Kenjiro ab und sah aus dem Fenster. Leichter Regen fiel wie in Schleiern und Nebel verbarg den größten Teil des Schulhofes. Erschöpfung stieg in ihm auf und fiel wieder ab wie Wellen von Wasser. Er würde so gerne schlafen...Sein ganzer Körper flehte nach Erholung. Bestimmt drängte er die Müdigkeit zurück und versuchte dem Thema zu folgen. Das war allerdings schwerer als gedacht, denn der Lehrer war in einen scheinbar endlosen Redefluss geraten und leierte seine Geschichte hinunter, wobei er teilweise wichtige Daten an die Tafel schrieb. Kenjiro bemühte sich, mitzuschreiben, doch die Tafel verschwamm ständig vor seinen Augen. Er fragte sich, ob er Izuya bitten könnte, ihm seine Notizen zu geben. Wieder schweifte er ab und musste unwillkürlich an Shin denken. Er hatte noch immer keine Ahnung, warum der seltsame Junge ständig in seinen Träumen auftauchte oder was er wollte. Genauso unerklärlich war der dunkle, fensterlose Raum, in dem er sich immer wiederfand. Weder das Zimmer noch Shin hatte er irgendwo schon gesehen. Und nach allem, was er wusste, waren Träume nichts anderes als die Art des Gehirns, Erlebtes zu verarbeiten. Aber sowohl Sayuri wie Izuya wirkten völlig gesund und glücklich. Auch konnte er sich nicht erklären, wovor Shin ihn genau warnen wollte. Aber das, dachte der Braunhaarige wütend, lag wahrscheinlich eher an Shins Art und seiner undeutbaren Ausdrucksweise. Wenn der Schwarzhaarige nur einmal ordentlich erklären würde, was er für Probleme hatte, wäre bestimmt einiges leichter. Momentan kam er Kenjiro eher wie ein Unglücksbote vor. Vielleicht war er auch schuld an dem, was passierte. Bei diesem Gedanken fühlte sich der Braunhaarige seltsamerweise verraten. Aber hatte Shin nicht gesagt, er wollte ihm helfen? Erschrocken fuhr Kenjiro hoch. Fast wäre er eingeschlafen, umhüllt von der sonoren Stimme seines Lehrers und dem Geräusch von Stiften, die über Papier kritzelten. Mit aller Kraft riss er sich zusammen und hörte zu. „Seit Ludwigs Kindheit führte Kardinal Mazarin die Geschäfte für den König...“ Die Müdigkeit kehrte zurück, stärker als zuvor. Erneut verschwamm die Tafel vor seinen Augen und er stütze eine Hand an seiner Wange ab. Immer wieder nickte er ein und erwachte wieder. Er fühlte sich schwach und krank. Das tagelange Wachbleiben forderte nun seinen Preis. Kenjiro versuchte, sich gegen den Schlaf zu wehren, doch ohne Erfolg. Wenn er sich nur fünf Minuten ausruhte...Nur fünf Minuten...das würde schon nicht schaden...Und wenn er bemerkte, dass er schlief, würde er sich einfach zwingen, wieder aufzuwachen... Er tat so, als würde er halb zur Tafel und halb aus dem Fenster sehen, legte den Kopf auf seinen Arm und schon trieb er durch die bekannte Dunkelheit, weiter und immer weiter... Kapitel 8: Angriff ------------------ „Ashiba Kenjiro!“ Die Stimme knallte wie eine Peitsche und der Braunhaarige schreckte hoch. Direkt vor ihm stand der Lehrer und blickte auf ihn hinab. „Na, gut geschlafen?“ fragte er kühl, während die anderen Schüler lachten. „Ich habe nicht...ich meine...“ begann Kenjiro unsicher, doch sein Lehrer schien ihm nicht zu glauben. „Dann kannst du mir sicher sagen, in welchem Jahr Ludwigs Onkel und Schwiegervater, Phillipp der 4., gestorben ist, oder?“ sagte er mit böse glitzernden Augen. „Ähm...1654?“ Die Klasse lachte noch lauter – bis auf den Lehrer, der wütend aussah. „Nein. 1665. 1654 war das Jahr von Ludwigs Krönung.“ „Oh...tut mir leid.“ kam es kleinlaut von dem Braunhaarigen. Das Gelächter brachte ihn dazu, verlegen auf sein Pult zu blicken. „Ich muss sagen, dass ich ein solches Betragen nicht von dir erwartet hätte.“ Kenjiro schwieg und der Lehrer fuhr fort. „Ich will nachher mit dir sprechen. Warte nach dem Unterricht vor der Klasse, verstanden?“ „Verstanden.“ fügte sich Kenjiro niedergeschlagen. „Schön. Wir machen weiter. Und ich erwarte, dass alle zuhören.“ Sofort wurde es still und der Lehrer machte mit seinem Vortrag weiter. Der Braunhaarige merkte, wie ihn jemand anstarrte und drehte sich zu Izuya um, der neben ihm saß. Moment...der neben ihm saß? Normalerweise war Izuyas Platz in der ersten Reihe, da die Lehrer schnell gemerkt hatten, was passierte, wenn man Kenjiro und seinen besten Freund zusammensteckte. Izuya grinste ihn an. Kenjiro mochte das Grinsen nicht. Es war irgendwie...falsch. „Hast du etwa gepennt? Du scheinst ja völlig übermüdet zu sein.“ Er beugte sich leicht vor. „Hättest du nicht geschnarcht, wäre es bestimmt niemandem aufgefallen.“ „Was tust du hier?“ erwiderte der Braunhaarige und runzelte die Stirn. „Wir gehen in dieselbe Klasse, hast du das schon vergessen?“ „Ich meinte: Warum sitzt du neben mir?“ Das Grinsen wurde noch breiter und ein leichter Anflug von Unruhe überkam Kenjiro. Was war bloß mit Izuya los? Er wirkte so anders. Dann wurde es ihm klar und er zuckte zusammen. Das Grinsen seines besten Freundes war zu breit. Niemand konnte seinen Mund so verziehen. Izuyas Gesicht wirkte wie eine hässliche, gierige Fratze, die sich immer mehr in die Länge zu zerren schien. Mehr und mehr nahm er das Gesicht eines Monsters an. Selbst seine Augen waren anders. Statt der hübschen, saphirblauen Augen schienen nun rotglühende Kohlen ihn hungrig zu mustern. „Wenn du willst, sorge ich dafür, dass du nie wieder einschläfst.“ sagte Izuya mit einer heiseren Stimme, die überhaupt nicht zu ihm passte und beugte sich noch weiter vor, sodass sich ihre Gesichter fast berührten. Nun erkannte Kenjiro, dass die Zähne seines besten Freundes zu messerscharfen Fängen geworden waren. „Ich kann dich auch für immer schlafen lassen, wenn dir das lieber ist.“ hauchte Izuya und kicherte bösartig. „Komm mir nicht zu nahe.“ erwiderte Kenjiro und rückte von ihm weg. Ihm war vollkommen klar, dass er wieder träumte, aber wie sehr er es auch versuchte, er konnte nicht aufwachen. Panisch sah er sich in der Klasse um. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Sämtliche Köpfe hatten sich zu ihm umgedreht und alle Gesichter hatten sich verändert. Wie Izuya waren sie langgezogen und grinsten ihn unheimlich an. „Ashiba...“ krächzte es von vorne und der Braunhaarige sah zu dem Wesen, das normalerweise sein Klassenlehrer war. „Es ist Essenszeit. Willst du nicht bei uns bleiben? Wir sind alle so hungrig...“ Kenjiro schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Dann fiel ihm etwas an seinen Arm auf. Er wirbelte herum und bemerkte, dass Izuya sich hinabgebeugt hatte. Seine Haare waren es gewesen, die Kenjiro bemerkt hatte. Einen verwirrten Moment lang dachte der Braunhaarige, sein bester Freund würde seinen Arm küssen. Doch als dieser sich zurückzog, lief Kenjiro Blut über die Stelle. Izuya hatte ihn nicht geküsst. Er hatte ihn gebissen. „Weg mit dir!“ rief Kenjiro und sprang auf. Wie auf ein geheimes Zeichen taten es ihm die anderen Schüler nach und bildeten eine undurchdringliche Mauer vor der Tür. Der Braunhaarige überlegte fieberhaft, wie er den Wesen, die ihn allesamt mit glühenden Augen beobachteten und anfingen, ihn langsam in eine Ecke des Klassenraumes zu drängen, entkommen konnte. „So hungrig...so hungrig...“ echoten sie und zogen einen Kreis um Kenjiro, drängten ihn weg von den Fenstern und kamen immer näher. „Lass uns essen...lass uns zerreißen...gib uns dein Fleisch...“ Izuya, der dem Braunhaarigen am nächsten war, schnappte nach ihm und dieser konnte nur knapp ausweichen. Das brachte Izuya dazu, wieder zu kichern. „So zart...und das Blut...so köstlich und warm...“ Die restlichen Schüler zogen den Kreis enger. „Nein...lasst mich in Ruhe...“ keuchte Kenjiro und versuchte, sich weiter zurückzuziehen. Doch nun war er so weit in die Ecke gezwungen worden, dass er nicht mehr weiter konnte. „Nur noch einmal...nur einen Bissen...“ kicherte Izuya. Er trat direkt vor den Braunhaarigen. Dieser schlug nach seinem besten Freund und dieser packte sein Handgelenk. Verzweifelt zog Kenjiro, um sich zu befreien, doch das Monster vor ihm hielt ihn wie in einer Schraubzwinge. Er biss wieder zu und ein neues Rinnsal von Blut lief nun über Kenjiros Handgelenk. Trotzdem spürte er keinerlei Schmerz. „Lass uns auch etwas übrig...“ sagten die anderen und Izuya trat widerwillig zurück. Nun drangen die restlichen Klassenkameraden auf den Braunhaarigen ein, der nun keinerlei Chance mehr hatte, zu fliehen. Zwei Mädchen bissen ihm in die Schultern und Izuya, der ihn immer noch gepackt hielt, zerrte ihn in den Kreis der Umstehenden. Wo Kenjiro auch hinsah, grinsten ihn die langen Fangzähne an. Gleich sechs Schüler fielen nun über Kenjiro her, schlugen ihre Zähne in seinen Körper und zogen sich dann kichernd zurück. Der Braunhaarige hatte nun an mehreren Stellen gut sichtbare Bissspuren und das Blut tropfte träge vor seinen Augen auf den hellgrauen Linoleumboden. Schwach versuchte er immer noch, sich irgendwie zu verteidigen. Aber er war alleine und um ihn herum standen etwa fünfzehn von diesen...Dingern sowie der Lehrer. Was konnte er schon tun? Wieder griffen sie an und noch mehr Wunden blieben auf Kenjiros Körper zurück. Hatte er sich vorher gewünscht, nur ganz kurz schlafen zu können, so wollte er nun nichts sehnlicher, als aufzuwachen, wo er zwar müde, aber in Sicherheit sein würde. Und während seine Klassenkameraden ihn mit gierigem Blick zerfleischten, wurde es schon wieder finster um ihn und er stürzte ins Nichts, bis er sich auf der Liege in dem fensterlosen Raum wiederfand. „Bitte, bleib ganz ruhig, Ashiba-kun.“ hörte er Shins Stimme neben sich. „Du bist ganz plötzlich zusammengebrochen.“ „Aber...ich war doch eben noch in der Klasse...und die anderen haben mich attackiert... Wie...?“ „Es tut mir so leid, Ashiba-kun. Ich würde gerne mehr tun, aber ich habe versprochen, dass ich...nicht so wichtig.“ brach der Schwarzhaarige hastig ab. Misstrauisch begutachtete Kenjiro Shin. Es gab keinen Zweifel. Shins türkise Augen waren unverwandt auf den Boden gerichtet, als ob er es nicht über sich brachte, den Braunhaarigen anzusehen. „Weißt du was? Ich glaube, dass du für diese Alpträume verantwortlich bist.“ Kenjiro richtete sich auf und lehnte sich nach vorne. Shin war bei seinen Worten zusammengezuckt und blickte ihn nun doch an. Seine Augen zeigten eine Mischung aus Sorge und Trauer. „Das bin ich nicht, ich schwöre es.“ sagte er hastig. „Ach nein? Und warum bist du dann ständig hier? Ich kenne weder diesen Ort noch dich und ich würde gerne wissen, was das alles zu bedeuten hat. Also?“ „Ich kann nicht...Ich habe es versprochen. Du musst es selber herausfinden. Es tut mir unendlich leid, aber...es ist so besser für dich.“ „Besser?“ fauchte der Braunhaarige zurück. „Inwiefern?“ Doch Shin schüttelte nur den Kopf und allmählich wurde es immer schwärzer um Kenjiro. „Bitte verzeih mir...“ hörte er den anderen noch sagen, dann umschlang die Schwärze ihn und er fiel ein weiteres Mal, aufgelöst, wütend und vollkommen ratlos. Kapitel 9: Besuch beim Arzt (Part 2) ------------------------------------ Jemand schüttelte ihn heftig. „Kenjiro!“ rief Izuyas Stimme fast panisch. Schlagartig öffnete er die Augen und fand sich am Boden liegend wieder. Die gesamte Klasse stand um ihn herum und Izuya sowie der Lehrer knieten neben ihm. „Wa-was?“ stotterte er verwirrt. „Warum bist du nicht daheim geblieben?“ fragte Izuya und umarmte ihn heftig. „Was ist überhaupt passiert?“ wollte der Braunhaarige wissen, richtete sich auf und löste sich von seinem besten Freund. „Nun...du bist eingeschlafen.“ sagte der Lehrer, der ungewöhnlich bleich wirkte. „Und gerade, als ich zu dir gegangen bin, um dich zu wecken, hast du angefangen, um dich zu schlagen und zu schreien. Dann bist du zu Boden gefallen.“ „Wir dachten, du hättest eine Art Anfall oder so was.“ kam es von einem Mädchen. Von Izuya gestützt, stand Kenjiro auf. „Ich bringe ihn zur Schulkrankenschwester.“ Der Lehrer nickte. „Ich werde bei deinen Eltern anrufen, Ashiba und ihnen sagen, dass du für heute entschuldigt bist.“ „Und ich werde meiner Mutter sagen, dass Kenjiro so bald wie möglich bei ihr sein wird.“ Ohne etwas zu sagen, verließen sie das Klassenzimmer und liefen durch einige Gänge, bis sie vor der Krankenstation standen. Dort klopften sie, doch niemand öffnete. „Scheint nicht da zu sein.“ sagte Izuya. „Ich werde mal meine Mutter anrufen. Soll ich dich zu ihr begleiten?“ „Nein, das ist nicht nötig. Geh du zurück in die Klasse. Nimmst du nach der Schule meine Tasche mit?“ „Klar.“ Immer noch etwas blass, verschwand Izuya. Auch Kenjiro machte sich auf den Weg und stand nach kurzer Zeit vor dem Tor zu der Praxis. Die Arzthelferin blickte auf, als er an ihren Schreibtisch trat. „Du wirst bereits erwartet. Behandlungszimmer 3, bitte.“ sagte sie und warf ihm einen sorgenvollen Blick hinterher, als er an ihr vorbeiging. Der Braunhaarige bemerkte es gar nicht. Viel zu sehr war er in Gedanken über seinen Traum versunken. Vor dem Raum angekommen, klopfte er und wurde hereingebeten. „Hallo, Kenjiro.“ sagte die Ärztin, als er eintrat. „Wie ich höre, sind deine Probleme schlimmer geworden. Setz dich doch bitte und erzähle mir, was im Unterricht passiert ist.“ Er gehorchte und sie hörte ihm aufmerksam zu. „...und dann bin ich aufgewacht.“ schloss er. „Verstehe. Nun, hast du daran gedacht, deine Träume aufzuschreiben?“ „Ja, aber ich habe das Notizheft nicht mitgenommen. Es liegt bei mir zu Hause.“ Izuyas Mutter seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Ist schon in Ordnung. Vielleicht kannst du mir ja auch so sagen, ob du noch mehr Alpträume hattest.“ Der Braunhaarige dachte an den Traum über seine Eltern und berichtete ihr auch davon. „Nun, das ist sehr interessant.“ sagte die Ärztin, als er fertig war. „Was genau ist interessant?“ erkundigte er sich. „Nun, bisher hast du immer nur davon geträumt, wie andere verletzt wurden. Aber seit du die Beruhigungsmittel nimmst, scheinst du selber im Zentrum deiner Träume zu stehen.“ „Könnte das eine Nebenwirkung sein?“ „Unwahrscheinlich. Jedenfalls hat keiner der Patienten, denen ich diese Tabletten verschrieben habe, Symptome dieser Art geäußert.“ „Und was passiert jetzt?“ fragte Kenjiro, obwohl er sich nicht sicher war, ob er die Antwort hören wollte. „Nun, jetzt werde ich versuchen, dir das luzide Träumen beizubringen. Dabei wirst du lernen, deine Träume zu lenken. Dir dürfte es eigentlich nicht schwer fallen. Alles, was du tun musst, ist, dir eine bestimmte Sache vorzustellen, die dir anzeigt, dass du träumst. Dann kannst du besser damit umgehen.“ „Was für eine Sache wäre das?“ „Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es sollte auf jeden Fall etwas Ungewöhnliches sein. Leicht zu erkennen, falls du verstehst.“ Interessiert beugte Kenjiro sich vor. „Das klingt wirklich sehr einfach. Was muss ich tun?“ „Zuerst musst du dich für das Objekt entscheiden, dass dir anzeigt, dass du träumst.“ Stille trat ein, in der der Braunhaarige fieberhaft nachdachte. „Wie wäre es mit einer silbernen Feder?“ „Gar keine schlechte Idee. Gut, der Rest ist eigentlich unkompliziert. Sobald du im Bett liegst, konzentrierst du dich auf diese Feder. Den Rest macht dein Unterbewusstsein. Wenn alles klappt, wirst du die Feder irgendwo sehen und dann kannst du dir sicher sein, dass nichts von dem, was gerade passiert, real ist.“ „Und das war alles?“ „Nun, ich bin nicht sicher, ob es sofort klappt. Viele brauchen Jahre, bis sie das Klarträumen beherrschen. Aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht, da Beruhigungsmittel bei dir offenbar nicht wirken.“ Wieder blieb es eine Weile still. „Nun, ich kann es zumindest versuchen.“ meinte Kenjiro schließlich zögernd. „Wunderbar. Eines noch. Ich möchte, dass du mich bis spätestens Ende der Woche noch einmal anrufst und mir sagst, ob es geklappt hat.“ „In Ordnung.“ Die Ärztin lächelte ihn an. „Dann sind wir fürs Erste durch. Ich werde dich nochmal untersuchen und dann darfst du nach Hause.“ Als die Untersuchung vorbei war, ging er allerdings nicht gleich nach Hause, sondern beschloss, noch etwas in der Stadt zu bleiben. Er rief seine ziemlich aufgelöste Mutter an, die schon von dem Vorfall in der Schule gehört hatte und beruhigte sie so weit, dass sie ihm erlaubte, bis zum Nachmittag in der Stadt zu bleiben. Dann trieb er sich etwas in den Geschäften herum und holte sich bei der Gelegenheit ein neues Oberteil und einige vielversprechende Spiele für seinen Computer. Als er wieder auf den Fußweg trat, regnete es. Dicke, schwere Tropfen fielen vom Himmel. „Ach, Mist.“ fluchte Kenjiro wütend. Dann, wie aus dem Nichts tauchte über ihm ein Regenschirm auf und er drehte sich überrascht um. „Taku. Was machst du denn hier?“ „Ich hatte heute nicht so lange Unterricht. Wie geht es dir, Kenjiro? Wie ich höre, hattest du eine Art Unfall.“ „Izuya, oder? Er übertreibt. Ich bin nur eingeschlafen und habe schlecht geträumt. Wo ist denn Ryo?“ „Ach, er ist schon vorausgegangen. Offenbar bin ich seinen Worten zufolge >viel zu spießig<, um mit ihm gesehen zu werden.“ Ryo war Takus Bruder. Er war zehn Jahre alt und das einzige, was die beiden gemeinsam hatten, waren die grauen Augen. Ryo war ein aufgeweckter Wildfang, der sich so oft wie möglich im Garten der Familie aufhielt. Für ihn war es unmöglich, länger als eine halbe Stunde herumzusitzen. Bücher hielt er für doof und er konnte nicht verstehen, wie sein Bruder ständig darin lesen konnte. Trotzdem verstanden sich die beiden gut, was in Anbetracht ihrer verschiedenen Persönlichkeiten recht beeindruckend war. „Machst du dir denn keine Sorgen?“ wollte der Braunhaarige wissen. „Dazu besteht kein Anlass. Er hat mir versprochen, beim Bäcker auf mich zu warten.“ „Hofft wahrscheinlich, etwas geschenkt zu bekommen.“ Taku lächelte und gemeinsam gingen sie weiter. „Das würde ihm ähnlich sehen. Er weiß genau, wie er vorgehen muss, um das zu bekommen, was er möchte.“ „Anscheinend habt ihr ja doch mehr gemeinsam, als ich dachte. Hübsche Mädchen zu verzaubern, scheint bei euch in der Familie zu liegen.“ Diesmal errötete Taku leicht. „Falls du von meiner Mutter sprichst: Sie arbeitet zwar als Model, aber dafür kann mein Vater ja nichts. Und Sayuri...“ Verlegen brach er ab und suchte nach den richtigen Worten. „Sayuri ist wirklich ein wundervolles Mädchen. Seit wir zusammen sind, ist es um mich herum noch lebhafter geworden.“ „Versucht sie schon, dich dazu zu bringen, mehr aus dir herauszukommen?“ „Ein wenig. Aber sie weiß, wie ich bin und respektiert das.“ „Dann bin ich ja beruhigt. Einer muss unserer Gruppe doch Benehmen beibringen.“ Darüber mussten beide lachen. Schon waren sie beim Bäcker angekommen, vor dem Ryo bereits wartete, eine Honigschnecke kauend und höchst zufrieden mit sich. „Hast du es wieder geschafft?“ tadelte sein Bruder sanft. „Du bist ja nur neidisch.“ kam es sofort zurück. Taku seufzte leicht, ehe er sich zu Kenjiro umdrehte. „Also dann, bis morgen. Und gute Besserung.“ „Danke.“ Kenjiro sah den beiden kurz nach und kehrte dann auch nach Hause zurück. Wie versprochen, hatte Izuya seine Tasche bei ihm vorbei gebracht. Er erzählte er seinen Eltern, was passiert war und versprach ihnen, heute früher schlafen zu gehen. Sobald er in seinem Zimmer war, machte er seine Hausaufgaben und legte sich dann in sein Bett, wo er nach einer Weile fest eingeschlafen war. Kapitel 10: Familie ------------------- Diesmal war er nicht voller Angst, als er in dem fensterlosen Raum erwachte. Im Gegenteil, kaum hatte er erkannt, wo er war, begann er, das Zimmer nach der silbernen Feder abzusuchen. Ihn störte es nicht einmal, dass Shin anwesend war und ihn ziemlich verwirrt beobachtete. Erst als er sich sicher war, dass die Feder nirgendwo zu sehen war, bemerkte Kenjiro den Schwarzhaarigen. „Darf ich fragen, was du da tust?“ meinte dieser, als Kenjiro sich entmutigt auf die Liege setzte. „Ich habe nur etwas nachgesehen.“ erwiderte der Braunhaarige knapp. Dann seufzte er auf. „Schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich habe den Rat erhalten, das luzide Träumen auszuprobieren, damit das alles hier nicht mehr so schlimm für mich ist. Und eigentlich hatte ich gehofft, dass wenigstens das klappt, aber...“ Er sprach nicht weiter, sondern ließ sich nach hinten fallen und starrte an die Decke und überlegte. Warum hatte es nicht funktioniert? Er hatte sich so sehr gewünscht, diese blöde Feder zu sehen, aber anscheinend fehlte ihm die Übung, seine Träume bewusst zu kontrollieren. Ihm wurde eiskalt, als er sich der Bedeutung dieser fehlgeschlagenen Aufgabe bewusst wurde. „Was mache ich denn jetzt?“ murmelte er halblaut. „Ich will diese furchtbaren Dinge nicht mehr sehen. Ich schaffe es einfach nicht mehr. Warum musste ausgerechnet mir das passieren?“ „Fragt sich das nicht jeder, der schlimme Zeiten durchmacht?“ kam es leise von Shin. „Du verstehst das nicht.“ Ohne es zu wollen, war Kenjiros Stimme lauter und wütender geworden. Er richtete sich auf und blickte den anderen an. „Wenn das so weitergeht, verliere ich noch den Verstand. Wie würdest du es finden, wenn du siehst, wie deine Freunde verstümmelt und vergewaltigt werden? Wenn du nichts tun kannst, während du beobachten musst, wie deine Mutter dich immer wieder vergiftet und dein Vater auf dich einprügelt? Wenn sich deine Klassenkameraden in reißende Monster verwandeln und dich bei lebendigem Leib auffressen? Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie das ist. Also komm mir nicht mit irgendwelchen Ratschlägen.“ Shin hatte keinen Versuch unternommen, Kenjiros wütenden Redeschwall zu unterbrechen. Doch gerade als der Braunhaarige wieder loslegen wollte, bemerkte er etwas, dass ihn dazu brachte, leicht zusammenzuzucken. Shin weinte. Tränen rannen ihm über die Wangen und tropften von seinem Kinn auf den Boden. Etwas in Kenjiros Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als er dieses Bild sah. „Es tut mir leid.“ sagte er hastig. „Ich wollte nicht, dass du auch unter meiner Situation leidest. Shin, nicht...“ Er wollte noch mehr sagen, doch bevor er dazu kam, schloss sich die Dunkelheit wieder um ihn und er stürzte in die Leere, bis er sich genau dort wiederfand, wo er es befürchtet hatte. Dieses Mal waren sowohl der Stuhl wie auch die Liege zu erkennen. Auf der Liege lag, gefesselt, bewusstlos und nur in Unterwäsche, Ryo. Er war an eine Maschine angeschlossen, die ein leises Summen von sich gab. Ihm gegenüber saß Taku, ebenfalls gefesselt und versuchte, sich irgendwie zu befreien. Ohne Erfolg. Ryo regte sich schwach und öffnete die Augen. „W-was...? Taku, wo sind wir?“ „Ich weiß es nicht. Geht es dir gut?“ „Nein. Ich will nach Hause. Warum sind wir hier?“ „Damit wir uns ein wenig mit euch beiden amüsieren können.“ drang eine Stimme aus der Schwärze, bei der Kenjiro spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Die beiden Brüder traten in das Licht und grinsten diabolisch. „Was? Wer seid ihr? Was habt ihr mit uns vor?“ „Wenn wir das verraten würden, wäre es ja langweilig.“ antwortete der ältere der beiden und trat an Taku heran, während sein Bruder neben der Maschine stehenblieb, an die Ryo angeschlossen war. „Also, ich erkläre euch, wie unser Spiel funktioniert. Du, Taku, musst versuchen, ruhig zu bleiben, während ich mit dir spiele. Sollte dir das nicht gelingen, passiert deinem Bruder das hier.“ Er nickte dem jüngeren Mann zu, der an einem Knopf der Maschine drehte. Sofort begann Ryo, unkontrolliert zu zucken, was den beiden falschen Ärzten ein Kichern entlockte. „Aufhören!“ rief Taku und riss so heftig an seinen Fesseln, dass die Seile Scheuermarken hinterließen. Kenjiro hatte ihn noch nie so aufgelöst erlebt. Wieder nickte der ältere der Brüder und der andere drehte den Knopf zurück. „Gefällt euch unsere Maschine? Sie gibt Elektrostöße ab, die wir nach Belieben höher oder niedriger einstellen können.“ Ryo wimmerte leise, während Taku sich an seinen Peiniger wandte. „Lasst ihn gehen. Er hat euch doch nichts getan. Tut mit mir, was ihr wollt. Aber bitte, lasst meinen Bruder in Ruhe.“ „Dann würde uns unser Druckmittel fehlen. Und das wollen wir doch nicht.“ Der ältere der Männer beugte sich etwas vor. „Weißt du, Taku, jeder Mensch hat einen Preis. Ich bin wirklich gespannt, wie hoch deiner ist.“ Er richtete sich wieder auf und griff nach dem silbernem Koffer. Kenjiro spürte, wie er langsam in Panik verfiel. Warum konnte er die silberne Feder nicht sehen? Er wollte nicht wissen, was mit Taku passierte, wollte nur noch, dass alles aufhörte. Doch die Bilder vor ihm liefen unerbittlich weiter. Ein Schrei wie von einem verwundeten Tier zerriss die Luft und der Braunhaarige sah, wie Blut aus Takus Mund lief und Ryo erneut zu zucken anfing. Der ältere der falschen Ärzte hatte eine Zange aus dem Koffer genommen und Taku damit einen Zahn herausgerissen. Gleichzeitig hatte der andere wieder den Knopf gedreht. Kenjiro wurde schwindelig vor Übelkeit und Entsetzen. „Du solltest aufhören zu brüllen. Denk immer daran, dass dein Bruder nur deinetwegen die Stromstöße bekommt. Und je lauter du schreist, desto höher wird die Intensität.“ Taku schien das auch bemerkt zu haben, denn sein Schrei wurde leiser und ebbte schließlich ab. Keuchend saß er auf dem Stuhl und blickte zu seinem Bruder, der nicht mehr zuckte, aber begonnen hatte, zu weinen. „Na also, du hast die Regeln verstanden. Wollen wir dann weitermachen?“ Ein zweiter Schrei, noch mehr Blut und Ryo, dessen Körper sich aufbäumte, als die Elektrizität durch seinen Körper fuhr. Mit einem leisen Klackern ließ der ältere der Männer den Zahn in eine kleine Schale fallen, die genau die gleiche silberne Farbe hatte wie der Koffer. Taku war wieder ruhig geworden, doch nun drang Ryos Stimme durch die Schwärze. „Taku...“ Obwohl ihm anzusehen war, dass auch er große Schmerzen hatte, wirkte er entschlossen. „Es ist mir egal, was mit mir passiert. Wenn es die Möglichkeit gibt, dass einer von uns hier rauskommt, dann...“ Ryo stockte kurz. „Dann sollst du derjenige sein, der...“ „NEIN!“ Auch Taku liefen die Tränen über das Gesicht. „Sag so etwas nicht. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.“ „Du aber auch.“ „Was für eine rührende Szene.“ spottete der jüngere der Brüder. „Nicht wahr, Bruder?“ „Herzerweichend. Aber umsonst. Unser Spiel ist noch nicht vorbei und so lange uns der Spaß nicht ausgeht, wird es auch nicht enden.“ Kenjiro, der sich weder bewegen noch etwas sagen konnte, spürte, wie sich sein Hass auf die beiden falschen Ärzte mit dem Mitleid gegenüber Taku und Ryo vermischte. Den beiden nicht helfen zu können, war schlimmer als alles andere. Doch eigentlich, dachte er dumpf, während die Schreie der beiden Opfer durch das Dunkel hallten, hätte er es besser wissen müssen. Schließlich hatte Izuyas Mutter selber gesagt, dass es normalerweise Jahre brauchte, bis das luzide Träumen Wirkung zeigte. Wie hatte er nur glauben können, dass er es schon in der ersten Nacht funktionierte? Nun, spätestens jetzt rächte sich dieser Glaube. Und so musste er zusehen, wie Taku langsam, aber sicher immer mehr Zähne verlor und wie sein Bruder irgendwann völlig bewegungslos dalag. Ob er ohnmächtig war oder tot, konnte er nicht erkennen, denn die Finsternis kehrte zurück und verschluckte die Szene vor ihm. Und noch während er fiel, fasste er einen Entschluss. Er würde versuchen, seine Träume zu beeinflussen. Egal, wie lange er brauchte, um das Klarträumen zu lernen, er würde erst ruhen, wenn es klappte und er nicht mehr dabei zusehen musste, wie seine Freunde durch die Hölle gingen. Denn sonst, das ahnte er, würde es wohl nie mehr aufhören. Kapitel 11: Der große Fehler ---------------------------- Als Kenjiro erwachte, war ihm immer noch etwas schwindelig. Nachdenklich lag er auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er war enttäuscht. Dass es ihm nicht gelungen war, das luzide Träumen einzusetzen, lastete schwerer auf ihm als das, was er während des Schlafes gesehen hatte. Es war, als hätte sich auch seine letzte Hoffnung zerstört. Trotzdem hatte er seinen Entschluss nicht aufgegeben. Langsam stand er auf und ging in das Badezimmer. Aus dem Spiegel blickte ihm ein völlig übermüdeter Kenjiro entgegen. Wenn es so weiterging, konnte er sich bald nicht mehr draußen blicken lassen. Der Braunhaarige schüttelte den Gedanken ab und trat unter die Dusche. Das heiße Wasser weckte seine Lebensgeister zumindest so weit, dass er sich entschied, heute wieder zur Schule zu gehen. Er trat aus der Dusche und griff nach seiner Zahnbürste. Und dann sah er etwas, was ihn dazu brachte, überrascht aufzuschreien. Neben dem Zahnputzbecher lag eine einzelne, silbern leuchtende Feder. „Kenjiro? Geht es dir gut?“ hörte er seine Mutter rufen. Offenbar hatte sie seinen Schrei gehört. „Ja...entschuldige.“ erwiderte er, ohne seine Augen von dem Ding vor ihm abzuwenden. Wieder wurde ihm schwindelig und er stütze sich an das Waschbecken. Das war doch überhaupt nicht möglich. Hatte er jetzt schon Halluzinationen? Warum sah er die Feder, obwohl er wach war? Behutsam streckte er die Hand danach aus, doch seine Finger glitten durch die Feder hindurch. Anscheinend konnte er sie nur sehen, aber nicht berühren. Langsam zog er sich in sein Zimmer zurück und nahm sich frische Kleidung aus seinem Schrank. Dann ging er nach unten, wo er von seiner Mutter erwartet wurde, die ihn sorgenvoll anblickte. „Warum hast du eben denn so geschrien?“ „Ich...habe mich gestoßen.“ log Kenjiro hastig. „Tatsächlich? Mir kam es eher so vor, als hätte dich etwas erschreckt.“ „Wirklich, es geht schon wieder. Musst du nicht zur Arbeit?“ „Doch, ich bin auch gleich weg. Ich wollte dir nur sagen, dass ich einen Anruf von der Schule bekommen habe. Es gab einen Wasserrohrbruch und deshalb bleibt die Schule erst einmal geschlossen.“ „Oh...danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.“ „Gerne doch. Du, ich muss dich noch etwas fragen. Würdest du nachher kurz zum Supermarkt gehen und dort ein paar Sachen einkaufen? Ich muss heute länger arbeiten. Die Einkaufsliste und das Geld liegen auf dem Tisch in der Küche. Das Restgeld darfst du behalten..“ „Ja, natürlich.“ sagte der Braunhaarige und seine Mutter umarmte ihn fest, ehe sie ihn kurz auf die Stirn küsste. „Danke, mein Schatz. Bis nachher dann.“ „Ja, bis später.“ Als seine Mutter gegangen war, machte er sich in den Weg in die Küche. Tatsächlich lagen dort eine Einkaufliste und Geld. Kenjiro überflog die Liste und stutzte. Wenn seine Rechnung nicht falsch war, hatte seine Mutter ihm viel zu viel Geld hingelegt. Falls er alles besorgte, was sie aufgeschrieben hatte, würde er 5.946,84 Yen zurückbekommen. Dann fiel ihm noch etwas ins Auge. Am Kühlschrank hingen ein Flyer und eine Notiz. Der Flyer zeigte ein erleuchtetes Riesenrad, unter dem von einem Stadtfest berichtet wurde. Auf der Notiz stand mit leicht geschwungener Schrift: `Viel Spaß, mein Liebling. Bitte sei spätestens um halb zwölf zurück.´ „Danke, Mama.“ flüsterte er in den leeren Raum und lächelte. Dann packte er seine Sachen zusammen und ging nach draußen. Draußen war es sonnig und warm, was seine Laune noch weiter steigerte. Nachdem er die Einkäufe erledigt hatte, verbrachte er noch etwas Zeit damit, ein PC-Spiel zu Ende zu spielen, ehe er in die Stadt fuhr, wo bereits reger Betrieb herrschte. Plötzlich legten sich zwei Arme um ihn und er spürte warmen Atem an seiner Wange. „Hallo, Streber.“ Der Braunhaarige grinste und lehnte den Kopf zurück, so dass seine Wange über die des anderen strich. „Hallo, Pummelchen. Hast du mich so sehr vermisst?“ „Konnte an nichts anderes denken.“ antwortete Izuya und löste sich von Kenjiro. „Seid ihr bald fertig mit Rumturteln?“ erkundigte sich Sayuri und trat an sie heran, Taku und Ryo im Schlepptau. „Mensch, Sayuri. Du hast echt ein Talent dafür, den Moment zu ruinieren.“ meinte Izuya und tat so, als ob er schmollte. Hätte er dabei nicht so stark das Lachen unterdrückt, wäre seine Vorstellung sicher glaubwürdiger ausgefallen. „Wollt ihr auch zum Fest?“ „Ja.“ sagte Taku und schüttelte Kenjiro die Hand. „Ryo liebt diese Feste. Ich soll ein wenig auf ihn aufpassen.“ „Ich brauche keinen Babysitter. Ich bin schließlich schon zehn.“ „Das stimmt zwar, aber noch bist du für so ein Fest zu jung. Mutter würde es mir nie verzeihen, wenn ich dich aus den Augen verliere und dir dann etwas zustößt.“ Unwillkürlich musste Kenjiro an seinen letzten Traum denken. Sofort schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu verdrängen. Glücklicherweise bemerkte niemand etwas. „Also, wollen wir irgendwo was trinken? Ich gebe einen aus.“ drang Izuyas Stimme zu ihm durch. Die anderen stimmten zu und sie traten an einen der Verkaufsstände. Nachdem alle ihre Getränke hatten, hob Izuya seine Flasche. „Auf die schadhaften Rohre der Schule, die uns weitere Zeit für vergnüglichere Dinge geschenkt haben.“ „Hört, hört.“ erwiderten der Braunhaarige und Sayuri. Taku lächelte nur leicht, doch auch er hob seine Flasche und sie prosteten sich zu, ehe sie tranken. „Also, was habt ihr vor?“ wollte Sayuri wissen. „Ich will ins Riesenrad.“ kam es sofort von Ryo. „Na schön. Aber mach keinen Blödsinn, Zwerg.“ „Nenn´ mich nicht immer Zwerg!“ rief Ryo und trommelte mit seinen Fäusten gegen Izuyas Bauch, der anfing zu lachen. Zusammen reihten sie sich in die Schlange vor dem Riesenrad ein und bekamen eine Kabine für sich. Als alle sich hingesetzt hatten, sah Kenjiro sie wieder. Auf dem freien Platz zwischen ihnen lag die silberne Feder. Der Braunhaarige hielt überrascht die Luft an. Was war denn nur los mit ihm? Er war inzwischen davon ausgegangen, dass er sich die Feder am Morgen nur eingebildet hatte. Aber da war sie und schimmerte ihm entgegen. „Alles in Ordnung?“ fragte Sayuri und sah ihn besorgt an. „Was? Ja, es geht mir gut.“ Für den Rest den Tages tat Kenjiro so, als ob er die silberne Feder gar nicht bemerken würde. Das erwies sich als schwierig, da er sie ständig vor Augen hatte. Bei dem Maskenverkäufer im Regal, beim Koikarpfen angeln am Grund des Beckens... Immer wieder tauchte dieses elende Ding vor ihm auf, schien ihn regelrecht zu jagen. „Was für schöne Kimonos.“ riss ihn Sayuris Stimme aus seinen Gedanken und er konzentrierte sich wieder auf das Geschehen. Das Mädchen hatte einen tiefgrünen Kimono mit rotem Blumenmuster in der Hand und musterte ihn bewundernd. „Ich nehme ihn.“ sagte sie entschlossen und drückte dem Verkäufer das Geld in die Hand. Auch die anderen holten sich Kimonos und gingen dann zu den Toiletten, wo sie sich umzogen. Izuyas Kimono war schwarz mit goldenem Drachenmuster. Taku hatte ein graues Festgewand mit blauen Koikarpfen. Sein Bruder hatte sich für blau mit grauen Karpfen entschieden. Kenjiro selber trug einen blutroten Kimono, auf dem – wie nicht anders zu erwarten – eine große, silberne Feder zu sehen war. Den restlichen Tag verbrachte er damit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Für das herrliche Feuerwerk, das am Abend gezündet wurde, hatte er nur wenig Aufmerksamkeit übrig. Ihm war, als hätte er etwas übersehen. Etwas sehr Wichtiges. Zum Beispiel hatte er es immer noch nicht über sich gebracht, jemandem von Shin zu erzählen. Shin, der so seltsam und geheimnisvoll war und bei dem er nicht wusste, ob er ihm vertrauen konnte. Er konnte sich noch gut an sein erstes Gespräch mit dem Schwarzhaarigen erinnern. Als er von Izuya geträumt hatte und Shin... Die Erkenntnis traf ihn völlig unerwartet. Natürlich...wie hatte er nur so dumm sein können? Warum war ihm dieses Detail nicht aufgefallen? Sich einen Volldeppen schimpfend, drehte sich Kenjiro um und rannte los. „Kenjiro? Wo willst du hin? Kenjiro!“ hörte er Sayuri rufen, doch er achtete nicht darauf. Er lief einfach weiter. Selbst als seine Lungen brannten und sein ganzer Körper schmerzte, gönnte er sich keine Pause. Erst als er vor seiner Haustür stand, stoppte er mit wummerndem Herzen und heftig keuchend. Er betrat die Wohnung und ging leise in sein Zimmer, um seine Eltern nicht aufzuwecken. Dann warf er sich vollständig angezogen auf sein Bett und wartete, bis seine Atmung sich normalisiert und die Erschöpfung ihn in den Schlaf getrieben hatte. Kapitel 12: Shins Geheimnis --------------------------- Als er dieses Mal in dem fensterlosen Raum erwachte, war Kenjiro wütend wie selten zuvor. „Hallo, Ashiba-kun. Wie geht es dir heute?“ „Besser als dir, wenn ich erst mit dir fertig bin.“ „Was redest du da? Was ist passiert?“ „Was passiert ist? Nun, mir ist gerade etwas aufgefallen, was eigentlich unmöglich ist.“ „I-ich verstehe nicht ganz, was du...“ „Du weißt sehr wohl, was ich meine.“ unterbrach der Braunhaarige ihn kalt und stand auf. Ihn erfasste ein hämisches Vergnügen, als Shin sich ebenfalls erhob und begann, vor ihm zurückzuweichen. In seinen Augen standen Besorgnis, Angst und...Schuldbewusstsein. „Also, Shin. Was ist hier los?“ „Ich...“ Inzwischen hatte Kenjiro den Schwarzhaarigen an die Wand gedrängt. „Antworte mir!“ Rasend vor Wut packte Kenjiro den anderen am Kragen seines Hemds, das diesmal vom gleichen Türkis war wie Shins Augen. „Du existierst nur in meinem Kopf. Wie kann es dann sein, dass ich dich anfassen kann?“ Darauf antwortete Shin nicht. Doch für eine Sekunde huschte ein Ausdruck völligen Entsetzens über sein Gesicht, ehe er den Blick abwandte. „Was ist denn los? Gar keine klugen Worte diesmal?“ Wieder blieb es still. „Seit wann weißt du es?“ fragte der Schwarzhaarige schließlich leise. Kenjiro konnte es nicht glauben. Shin versuchte nicht einmal, sich aus der Sache herauszureden. „Es ist mir erst heute klar geworden. Das war dumm von mir. Mir hätte schon zu Anfang etwas auffallen müssen. Nach meinem Traum über Izuya warst du es, der mich geweckt hat, oder nicht? Indem du mich an den Schultern gepackt und geschüttelt hast! Und später hast du mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen! Sag bloß, du hättest das vergessen!“ „Richtig...ich erinnere mich...“ „Nun, Shin. Falls das überhaupt dein richtiger Name ist. Was wird hier gespielt? Was ist das hier für ein Ort? Und die wichtigste Frage von allen: Wer bist du wirklich?“ „Ich...ich kann nicht..bitte, versuch, mich zu verstehen...Es wäre furchtbar, wenn du es wüsstest...Bitte, zwing mich nicht...“ „Es ist mir egal, wie furchtbar es wäre!“ schrie der Braunhaarige und schüttelte Shin heftig. „Ich habe keine Lust mehr! Ich will die Wahrheit! Ich habe diese Träume satt, verstehst du? Ich habe sie satt!!“ „Nein...ich werde nicht dafür verantwortlich sein, dass deine Seele auseinander bricht...das...das kannst du nicht von mir verlangen...“ „WARUM NICHT?“ brüllte Kenjiro und zerrte so stark am Oberteil des Schwarzhaarigen, dass die Knöpfe abrissen und prasselnd zu Boden fielen. „Das...kann ich dir nicht sagen...“ erwiderte Shin zögernd. Er war nur kurz zusammengezuckt, als Kenjiro ihn angeschrien hatte und schaffte es immer noch nicht, den Braunhaarigen anzusehen. „Nun rede schon!!“ „Nein...“ Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Kenjiros Wut verpuffte schlagartig und wurde durch Unglauben und Enttäuschung ersetzt. Wie betäubt ließ er den Schwarzhaarigen los und trat einen Schritt zurück. „Ich verstehe es nicht...was habe ich getan, dass du mich so sehr hasst? Was muss ich machen, damit ich wieder normal leben kann?“ Endlich blickte Shin auf. Er wirkte verzweifelt. „Ich hasse dich nicht...Ashiba-kun...“ „Was ist es dann? Warum willst du mich unbedingt leiden sehen?“ Shin antwortete nicht. Stattdessen trat er rasch vor und ehe der Braunhaarige reagieren konnte, spürte er eine Hand, die sich auf seinen Hinterkopf legte und warme Lippen auf seinen... Überrascht weiteten sich seine Augen, während sein Kopf versuchte, das, was geschah, zu begreifen. Was passierte hier gerade? Warum küsste Shin ihn? Ohne sich zu regen, ließ Kenjiro den anderen gewähren. Nicht, dass er sich großartig hätte wehren können. Sein Körper schien nicht mehr zu ihm zu gehören und in seinem Kopf waren seine Gefühle gerade auf Achterbahnfahrt. Endlos schien der Kuss zu dauern, ehe Shin sich von ihm löste. „Das ist das einzige, was ich nie wollte...dich leiden sehen...“ wisperte der Schwarzhaarige. „Dafür bedeutest du mir zu viel...“ Er blickte Kenjiro direkt in die Augen, ehe er weitersprach. „Ashiba-kun...ich habe mich in dich verliebt.“ „Du hast was?“ Kenjiro war sich sicher, sich verhört zu haben. „Aber... aber warum ausgerechnet in mich? Ich meine...“ Immer noch komplett verwirrt, brach der Braunhaarige ab. Shin lächelte nur. „Das ist gerade etwas zu viel für mich.“ brachte Kenjiro endlich heraus.“Das kann ich gut nachvollziehen.“ erwiderte Shin und ließ ihn los. Kurz sahen sie sich an, ehe der Schwarzhaarige seufzte. „Also gut...willst du wirklich wissen, was los ist?“ Kenjiro nickte, immer noch etwas durcheinander. „Egal, wie schwer es wird?“ Wieder ein Nicken. „Mein Name ist wirklich Shin. Shin Namiyoka, um genau zu sein. Und dieser Ort...ist eine Nervenheilanstalt für psychisch gestörte Menschen.“ „Psychisch gestört? Soll das heißen, ich bin...?“ „Ja, leider. Du hast ein schweres geistiges Trauma erlitten.“ „Aber... das ist unmöglich...mein Leben läuft doch perfekt...“ „Dieses Leben, von dem du sprichst...es existiert nicht. Dein Kopf hat versucht, dich zu beschützen, indem er diese Illusion erschaffen hat.“ „Und... meine Träume?“ „Erinnerungen. Du hast von den Misshandlungen deiner Freunde gewusst und dein Unterbewusstsein hat dich so manipuliert, dass du gedacht hast, du würdest nur schlafen.“ „Dann ist alles wirklich passiert? Das mit Izuya und Sayuri und den anderen?“ Nun sah Shin wieder zu Boden und als er antwortete, klang seine Stimme seltsam belegt. „Ja, es ist passiert. Es hat alles angefangen, als du mit fünfzehn Jahren in ein Waisenhaus gekommen bist. Dort hatten zwei Brüder, die Mashi-Zwillinge, die Leitung. Was niemand wusste, war, dass sie eine kranke Persönlichkeit hatten. Für sie wart ihr nichts weiter als Spielzeuge, die sie nach Lust und Laune benutzen konnten. Da sie einige Kinder nicht anmeldeten, vermisste diese auch keiner. So konnten sie in aller Stille ihre Fantasien ausleben. Das Ganze flog erst auf, als die beiden einmal nicht aufpassten und eine Gruppe von Kindern fliehen konnte. Du warst auch darunter.“ „Bedeutet das, meine Eltern sind...tot?“ krächzte Kenjiro heiser. „Nein. Allerdings waren sie es, die dich vor dem Waisenhaus ausgesetzt haben.“ Der Braunhaarige konnte es nicht begreifen. Sein ganzes Leben sollte nichts weiter als Einbildung gewesen sein? Er weigerte sich, das zu glauben. Ein verzweifelter Gedanke nahm in seinem Inneren Gestalt an und er klammerte sich daran wie an einen rettenden Strohalm. „Und was sagt mir, dass du Recht hast? Es gibt tausende Menschen, die aus Liebe lügen.“ „Zum einen wäre da die silberne Feder, die du gesehen hast. Und wenn du dir die Menschen, die in deiner Fantasie existieren, genau ansiehst, wird dir auffallen, dass ihre Hände kalt, ihre Augen leer und ihre Herzen tot sind. Ich will dir nichts mehr verheimlichen. Aber ich musste es tun, um dich sehen zu können.“ „Wenn ich in diesem...Heim war...“ begann Kenjiro langsam und mit einem Gefühl,als würde ihm ein schwerer Stein im Magen liegen. „...was haben diese...Kerle dann mit mir gemacht?“ Doch der Schwarzhaarige schüttelte heftig den Kopf. „Das genügt vorerst. Wenn ich dir alles erzählen würde, könnte dein Geist irreparablen Schaden nehmen.“ „Aber...“ „Nein. Ich habe dir schon zu viel gesagt. Mehr will ich dir nicht zumuten. Schließlich bist du gerade dabei, dich zu erholen.“ „Tatsächlich?“ fragte Kenjiro überrascht. „Ja, tatsächlich.“ Nun lächelte Shin wieder. „Wenn du dich weiter so gut entwickelst, kannst du bald entlassen werden und ein neues Leben beginnen.“ Dem Braunhaarigen schwirrte der Kopf. Er hatte so viel Neues erfahren, dass er völlig durcheinander war. „Ich sollte gehen. Morgen kehre ich zurück.“ Sacht berührte Shin mit seinen Lippen Kenjiros Wange, ehe er sich eine Jacke anzog, um das zerstörte Oberteil zu verbergen. Dann verließ er das Zimmer und Kenjiro blieb alleine zurück. Er legte sich auf die Liege und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als ihm klar wurde, dass das unmöglich war, schloss er einfach die Augen und wartete auf den Schlaf, in der Hoffnung, dass am nächsten Morgen alles wieder ganz normal sein würde. Doch nach allem, was er heute gehört hatte, schien rein gar nichts mehr normal zu sein. Kapitel 13: Scherbenhaufen -------------------------- Mit einem Gefühl, als hätte jemand seinen Kopf mehrfach gegen die Wand geschlagen, öffnete Kenjiro die Augen. Er war wieder in seinem Zimmer und durch das offene Fenster drangen bereits die ersten Sonnenstrahlen. Während er unter der Dusche stand, beschloss er, Izuya zu besuchen. Selbst wenn alles, was Shin gesagt hatte, aus Lügen bestand, er musste einfach auf Nummer sicher gehen. Also zog er sich um, frühstückte kurz und machte sich dann auf den Weg. Izuyas Mutter öffnete ihm die Tür, als er klingelte. Sie wirkte überrascht, ihn bereits so früh zu sehen. „Na so was. Hallo, Kenjiro. Was machst du so früh hier?“ „Tut mir leid, wenn ich störe. Ist Izuya da?“ „Ja, sicher. Es könnte aber sein, dass er noch schläft. Komm rein. Du weißt ja, wo sein Zimmer ist. Ich muss jetzt auch los. Viel Spaß euch beiden.“ „Danke.“ Er ließ die Ärztin durch und ging dann die Treppe hoch zu seinem besten Freund. Tatsächlich lag der noch im Bett und schnarchte friedlich. Leise setzte der Braunhaarige sich zu dem anderen und beobachtete, wie sich seine Brust langsam hob und senkte. Behutsam zog Kenjiro die Decke etwas hinunter, bis Izuyas halber Oberkörper frei lag. Das wurde mit einem leisen Murren belohnt und Izuya drehte sich, so dass er nun auf dem Rücken lag. Genau darauf hatte Kenjiro gewartet. Was hatte Shin noch gesagt? `Kalte Hände...leere Augen...tote Herzen...´ Der Braunhaarige atmete tief durch und legte dann eine Hand auf die Brust seines besten Freundes. Angespannt wartete er. Nichts. Kenjiro stutzte. Sicher hatte er nur einen Fehler gemacht. Er versuchte es wieder, diesmal an Izuyas Hals. Immer noch nichts. „Nein...“ flüsterte er verzweifelt. „da muss doch ein Puls sein...bitte...“ Er beugte sich hinab und legte sein Ohr an Izuyas Brust. Es war kein Herzschlag zu hören. Kühle Hände, die sich auf seine Wangen legten, ließen ihn zusammenzucken. „Guten Morgen, Streber. Du weißt wirklich, wie ich am liebsten geweckt werde.“ Kenjiro versuchte, ruhig zu bleiben. Da war es...das zweite Zeichen... „Ich muss mit dir reden.“ sagte er nur. „So ernst heute? Gefällt dir unser morgendliches Kuscheln etwa nicht?“ Izuya löste die Umarmung und setzte sich auf. Dann schwang er die Beine aus dem Bett und sah den Braunhaarigen belustigt an. „Also, was kann ich für dich tun?“ „Ich will, dass du mir ein paar Fragen beantwortest.“ „Das schien Izuya zu verwundern, aber er nickte. „Wie ist dein Name?“ „Das ist ein Witz, oder? Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Wir sind zusammen in den Kindergarten gegangen.“ „Wie ist dein Name?“ wiederholte Kenjiro ernst. „Izuya Harabashi. Was soll das denn?“ „Wann hast du Geburtstag?“ „Am 13. Juni.“ „Welche Beziehung hast du zu deinem Vater?“ Izuya verkrampfte sich. „Kenjiro...wir hatten uns darauf geeinigt, meinen Vater nie wieder zu erwähnen...“ „Beantworte meine Frage!“ „Mein Vater ist gegangen, als ich vier war. Er ist wieder verheiratet und hat eine Tochter, die ich nicht kenne. Manchmal schreibt er mir. Ich habe jeden Brief zerrissen und in den Müll geworfen. Meine Mutter weint immer noch, wenn sie an ihn erinnert wird. Sie hat nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen. Reicht das?“ „Noch nicht ganz. Eine Sache fehlt noch.“ Wieder beugte sich der Braunhaarige vor und blickte seinem besten Freund tief in die Augen. Es war kein Glanz darin. Izuyas Augen waren leer, ohne Emotion. „Erklärst du mir endlich, was in dich gefahren ist?“ Kenjiro sagte nichts. Als ihm klar geworden war, dass Shin nicht gelogen hatte, war etwas in seinem Inneren zerbrochen. „Du...du bist nicht der richtige Izuya, oder?“ „Was?“ „Du bist nur eine Einbildung, habe ich Recht?“ „Hast du getrunken? Du wirst doch wohl noch deinen besten Freund erkennen.“ „Genau das ist das Problem. Du bist nicht mein bester Freund. Du bist ein Abbild von ihm. Deswegen hast du auch keinen Herzschlag, nicht wahr?“ Izuya erstarrte. „Deswegen habe ich meinen Kopf auf deine Brust gelegt. Um mir sicher zu sein. Also hat Shin Recht gehabt.“ „Wer ist Shin?“ „Jemand, der mir gesagt hat, dass mein Leben nur eine Illusion ist.“ „Das ist doch Wahnsinn. Warum sollte irgendwer so etwas tun?“ Kenjiro dachte an den Kuss und merkte, wie er rot wurde. „Weil er mich liebt und mich beschützen will.“ „Warte, er tut was?“ Izuya spannte sich an und ein Gemisch aus Unglauben und Neugierde trat in seine Züge. „Wie hast du es geschafft, dass sich ein Kerl in dich verguckt?“ „Woher soll ich das wissen? Es ist nun einmal passiert.“ „Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Und, was ist mit dir? Fühlst du dasselbe für diesen...Shin?“ Kenjiro überlegte. Obwohl er wusste, dass vor ihm nicht der richtige Izuya saß, schien es ihm ein Bedürfnis zu sein, sich seine Gedanken von der Seele zu reden. „Ich weiß es nicht. Er hat mich mit seinem Liebesgeständnis ziemlich überrumpelt. Er ist hübsch, auf seine Art. Aber gleich zu sagen, ich würde ihn lieben...das ist schon etwas viel.“ „Hast du gerade echt einen Jungen hübsch genannt? Scheint so, als hätte es dich offenbar auch erwischt.“ „Das ist doch Blödsinn. Mich hat gar nichts erwischt.“ Sein bester Freund grinste. „Klar doch. Wenn du das sagst.“ „Ich wünschte, du wärst wirklich Izuya. Es fühlt sich seltsam an, mit einem Trugbild über mein Gefühlsleben zu reden.“ „Willst du meine Meinung hören? Ich glaube, du wolltest dich unbedingt mit jemandem unterhalten. Da ich dein bester Freund bin, ist es wohl natürlich, dass du mich ausgesucht hast. Du wolltest vor dir selbst rechtfertigen, dass du anfängst, dich in Shin zu verlieben.“ „Ich verliebe mich nicht in ihn.“ „Doch, tust du.“ Kenjiro war kurz sprachlos. Hatte Izuya Recht? Er konnte es nicht sagen. Alles in seinem Kopf wirbelte durcheinander. „Das ist bescheuert. Ich meine, ich sitze hier und rede mit einer Halluzination. Jetzt ist es amtlich: ich verliere den Verstand. Erst meine Träume, dann die Sache mit Shin und nun das.“ „Ja, du verlierst wirklich den Verstand. Eigentlich hatte ich gehofft, dass du damit aufhörst, mich als Halluzination zu bezeichnen.“ Izuya wirkte ernster, als Kenjiro ihn je erlebt hatte. „Warum bist du hier?“ „Keine Ahnung. Vielleicht, um mir sicher zu sein, dass wirklich etwas mit mir nicht stimmt. Vielleicht, weil ich gehofft habe, dass Shin doch lügt.“ Während er das sagte, wurde dem Braunhaarigen klar, dass es keinen Sinn machte, länger zu bleiben. Sein bester Freund würde an seiner Geschichte festhalten, weil Kenjiro selbst es so wollte. Was immer ihm passiert war, sein Unterbewusstsein weigerte sich, daran erinnert zu werden. Vielleicht konnte er Shin dazu bringen, ihm mehr zu erzählen. Kenjiro stand auf und ein seltsames Gefühl von Schwermut überkam ihn, als ihm klar wurde, dass es wohl das letzte Mal sein würde, dass er Izuya als richtige Person anerkannte. „Ich muss gehen. Wir werden uns wohl nicht mehr wiedersehen. Ich danke dir, Izuya.“ Dieser senkte den Kopf und als er antwortete, klang seine Stimme merkwürdig hohl. „Wofür?“ „Du und die anderen haben mich davor bewahrt, dass mein Geist vernichtet wird.“ Langsam trat Kenjiro an seinen besten Freund heran, kniete sich vor ihm hin und griff nach Izuyas Händen. „Ich werde dich immer in Erinnerung behalten. Nicht dein verzweifeltes, gebrochenes Ich, sondern dieses Ich. Den großherzigen, unbekümmerten und wunderbaren Izuya, der immer für mich da war und der jeden Blödsinn sofort mitgemacht hat. Mach´s gut, Pummelchen.“ Endlich sah Izuya wieder auf. Obwohl dicke Tränen aus seinen Augen quollen, lächelte er. „Mach´s gut, Streber. Und sag Shin, dass ich ihm viel Glück wünsche, was euch beide angeht. Ich werde die anderen von dir grüßen.“ Leicht beugte Kenjiro sich vor und küsste seinen besten Freund erst auf beide Wangen und dann auf die Stirn. „Ich werde dich vermissen.“ Izuya lächelte noch stärker, während er gleichzeitig in einen heftigen Weinkrampf verfiel. „Ich...ich werde dich...auch vermissen...Alles Gute...“ Der Braunhaarige erhob sich und ging in Richtung Tür. Kurz warf er einen Blick zurück. Izuya schluchzte ungehemmt vor sich hin. Wie er da auf dem Bett saß, nur mit einer Decke bekleidet, machte er einen herzerweichenden Eindruck. Leise ging Kenjiro auf den Flur, schloss die Tür und trat aus der Wohnungstür, hinter der ihn die altbekannte Finsternis bereits erwartete. Es wurde Zeit, zur Wirklichkeit zurückzukehren. Kapitel 14: Der schlimmste Traum -------------------------------- Jemand streichelte seine Wange...was für ein schönes Gefühl...Er fühlte sich so sicher und geborgen...War das Izuya? Nein...Izuya roch anders...Hastig öffnete Kenjiro die Augen. „Ashiba-kun...du bist wach…tut mir leid…du hast so friedlich ausgesehen...ich...“ Unsicher und mit roten Wangen brach Shin ab. Dann machte er ein erschrockenes Gesicht. „Du weinst ja. Was ist passiert?“ „Ich...ich habe so gehofft...dass es nicht wahr ist...das, was du gesagt hast...aber...es stimmt...mein ganzes Leben wurde gerade völlig verdreht...und ich...ich kann einfach nicht aufhören...“ Ohne etwas zu sagen, setzte Shin sich zu dem Braunhaarigen und nahm ihn in die Arme. Kenjiro ließ die Umarmung zu. Er war momentan so durcheinander, dass er sowieso nichts dagegen hätte tun können. „Ich wollte nicht, dass du die Wahrheit so erfährst. Es tut mir leid.“ Sacht löste Shin die Umarmung wieder und legte seine Stirn gegen die von Kenjiro. „Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt.“ Allmählich beruhigte sich der Braunhaarige wieder. Erst jetzt fiel ihm etwas auf. Er hatte sich nicht aufgesetzt. Und das bedeutete, dass Shin nun halb auf ihm lag. Kenjiros Herz begann, heftiger zu schlagen. Shin war ihm so nahe...er konnte den Atem des Schwarzhaarigen auf seinem Gesicht spüren. Kurz überlegte er, etwas zu sagen. Andererseits… so schlimm war es gar nicht. Kenjiro hob die Hand und zog den anderen näher an sich. „Ashiba-kun...“ Weiter kam Shin nicht. Diesmal war Kenjiro es, der seine Lippen über die des Schwarzhaarigen gelegt hatte. Es war schon ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass er gerade einen anderen Jungen küsste, aber das interessierte den Braunhaarigen momentan nicht. Behutsam stupste er mit der Zunge gegen Shins Lippen und verstärkte den Kuss. Kurz erstarrte Shin, ehe er den Kuss erwiderte. Kenjiro konnte den Herzschlag des anderen fühlen, der sich ebenfalls verschnellert hatte, spürte die langen Haare an seinem Hals, nahm den Geruch des Schwarzhaarigen auf und ihm wurde klar, dass er mehr wollte. Mit seiner freien Hand schob er Shins Oberteil etwas hoch und berührte die warme Haut darunter. Ein erschrockener, halb erstickter Laut drang an Kenjiros Ohren. Unbeirrt machte er weiter, strich dem anderen über den Bauch und weiter hoch zur Brust. Schwer atmend löste Shin den Kuss. „Ashiba-kun...warte...“ Kenjiro sah hoch in die leicht verhangenen Augen des Schwarzhaarigen. „Warum tust du das? Ich dachte, du bräuchtest Zeit, um dir über deine Gefühle klar zu werden.“ Der Braunhaarige antwortete nicht. Stirnrunzelnd richtete Shin sich auf. „Oder glaubst du etwa, du könntest mich auf diese Weise zum Reden bringen?“ Mit einem Ruck stand der Schwarzhaarige auf. Er wirkte tief verletzt. „Nur zu deiner Information: Mit mir zu schlafen wird nichts ändern. Ich werde dir nicht mehr erzählen, als ich dir zutraue. Niemand weiß, wie du darauf reagieren würdest.“ Immer noch sagte Kenjiro nichts. Kälte schien sich um seine Brust zu legen und sein Kopf war auf einmal völlig leer. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so in dir täuschen würde. Ich war der Meinung, dass du ein aufrichtiger Mensch bist.“ Shins Stimme zitterte leicht, als er das sagte. „Ich wollte nicht...“ begann Kenjiro, doch der andere schnitt ihm das Wort ab. „Lüg´ mich nicht an. Ich habe die Wahrheit in deinem Blick gesehen. Du wolltest dich doch nur mit mir trösten, weil du erkannt hast, dass dein Leben nicht so ist, wie du geglaubt hast. Aber ich will eine ernsthafte Beziehung mit dir. Ich habe keine Lust, dein Trostpflaster zu sein.“ Wieder schwieg der Braunhaarige. Er hatte nicht geplant, Shin so zu hintergehen, aber er war völlig verzweifelt gewesen. Und die Nähe des Schwarzhaarigen hatte ihm wirklich gut getan. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, nicht völlig auf sich alleine gestellt zu sein. „Ich...es tut mir leid.“ sagte er kleinlaut. „Ich sollte gehen.“ erwiderte Shin kühl und ehe Kenjiro ihn aufhalten konnte, war er aus der Tür gegangen und hatte den Braunhaarigen alleine zurückgelassen. Dieser vergrub seufzend das Gesicht in den Kissen. Das hatte er nicht gewollt. Blieb nur zu hoffen, dass Shin sich bald wieder beruhigen würde. Kenjiro wollte nicht, dass der andere ihm von jetzt an fernblieb. Zum einen, weil er noch Fragen hatte, zum anderen, weil...warum eigentlich? Hatte er sich tatsächlich in Shin verliebt, ohne es zu merken? Vielleicht. Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Allmählich wurde er müde und nickte immer wieder ein. Irgendwann schaffte er es nicht mehr, den Schlaf zurückzuhalten. Er fand sich in dem Zimmer wieder, das er bereits aus seinen früheren Träumen kannte. Nur war diesmal er es, der gefesselt, geknebelt und halbnackt auf dem Stuhl saß. Vor ihm standen die Mashi-Brüder und grinsten auf ihn hinab. Kenjiro zitterte. Nicht nur, dass es kalt und zugig in dem Raum war, er hatte auch keine Ahnung, was mit ihm passieren würde. „Das ist er.“ sagte der jüngere der beiden kichernd. „Unser Neuzugang. Und, was wollen wir mit ihm anstellen?“ „Ich habe da schon eine Idee.“ antwortete sein Bruder und lächelte auf seine unheimliche Art. Er griff nach dem Koffer und zog einige kleine Phiolen hervor, die allesamt mit einer glasklaren Flüssigkeit gefüllt waren. „Was ist das?“ fragte der kleinere der falschen Ärzte. „Das ist mein Geheimnis. Keine Sorge, es wird dir gefallen.“ Der Blick des Braunhaarigen hing wie gebannt an den Phiolen. Als sich die beiden Männer jeweils eines der Glasröhrchen nahmen und an ihn herantraten, schienen sich seine Eingeweide zu verknoten. Vorsichtig öffneten sie die Phiolen und der ältere der Mashi-Zwillinge kippte das Glasröhrchen über Kenjiros Arm aus. Sofort schoss ein so heftiger Schmerz durch die getroffene Stelle, das der Braunhaarige anfing zu schreien. Durch den Knebel wurde das Geräusch zwar gedämpft, aber den beiden schien es zu genügen. Gemeinsam mit Kenjiro beobachteten sie, wie die Haut begann, sich regelrecht aufzulösen, bis das Fleisch darunter sichtbar wurde. Der jüngere Bruder kicherte. „Das sieht lustig aus. Was war da drin?“ „Verdünnte Salzsäure. Genug, um Spuren zu hinterlassen, nicht genug, um zu töten.“ „Genial, Bruder.“ „Möchtest du auch mal?“ „Oh, ja!“ Auch der zweite der Männer leere seine Phiole, allerdings über Kenjiros Brust. Dieser begann, wie wahnsinnig an seinen Fesseln zu zerren. Er wollte nur noch weg. Diesen Schmerz konnte er nicht länger aushalten. Die Fesseln blieben, wo sie waren. Alles, was der Braunhaarige für seine Anstrengungen bekam, waren blutige Handgelenke. Inzwischen waren weitere Glasröhrchen über seinen Körper verteilt worden. Seine Arme, sein Bauch, seine Brust,sein Rücken, sogar seine Hände, überall befanden sich verätzte Stellen. Immer wieder hatte er wegen der Schmerzen das Bewusstsein verloren, war jedoch von den beiden falschen Ärzten sofort unsanft wieder geweckt worden. Nun wehrte er sich nicht mehr. Selbst zum Schreien fehlte ihm die Kraft. „Ich glaube nicht, dass er noch lange durchhält.“ meinte der ältere Bruder grinsend. „Schade.“ erwiderte der andere. „Ist schon in Ordnung. Schließlich können wir uns noch einmal mit unserem Gast beschäftigen.“ Immer noch mit diesem schrecklichen Grinsen, beugte sich der Mann zu Kenjiro hinunter. „Das wird dann bestimmt noch lustiger. Nun, Ashiba: Willkommen im Waisenhaus.“ Komplett am Ende, blickte der Braunhaarige zu dem älteren der falschen Ärzte hoch. Das erwies sich als schwierig, da seine Sicht ständig verschwamm. Ohne sich um ihn zu kümmern, gingen seine Peiniger aus dem Raum und löschten das Licht. Kenjiro blieb gefesselt und geknebelt sitzen, bis sein Körper vor Schmerz und Erschöpfung zur Seite kippte. Der Fall war nicht tief, aber er landete mit seinem ganzen Gewicht auf seinem Arm. Sofort flammte der Schmerz wieder auf, noch stärker als zuvor. Dann umfing den Braunhaarigen gnädige Dunkelheit. Kapitel 15: Wiedersehen ----------------------- Hastig fuhr Kenjiro hoch und richtete sich keuchend auf. Während er den Kopf schüttelte, um den Rest an Müdigkeit zu vertreiben, wurde ihm klar, dass er nicht in seinem Zimmer war. Stattdessen lag er auf dem Bett in dem fensterlosen Raum, der von Neonleuchten erhellt war. Nun sah er auch, dass der Raum überhaupt nicht fensterlos war. Allerdings waren die Fenster direkt unter der Decke angebracht, so dass er sie nicht erreichen konnte. Bevor er sich sammeln konnte, ging die Tür auf und ein Mann kam herein. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte braun-graue Haare und einen Vollbart. Eine große, runde Brille saß auf seiner Nase und er hielt ein Klemmbrett in der Hand. Was den Braunhaarigen wirklich erschreckte, war der Arztkittel, den der Unbekannte trug. „Hallo, Kenjiro.“ begrüßte der Mann ihn. „W-wer sind Sie?“ erkundigte Kenjiro sich und wich etwas zurück. „Ich bin der Leiter dieser Klinik, Herr Tanaka. Keine Sorge, ich werde dir nichts tun.“ Der Braunhaarige glaubte ihm das nicht richtig, besonders nicht nach dem Traum, aus dem er gerade erwacht war. „Also, wie geht es dir?“ fragte der Klinikleiter behutsam. „Ich...ich hatte einen Alptraum...vielleicht war es auch eine Erinnerung...ich bin völlig durcheinander...“ „Ganz ruhig, Kenjiro. Worum ging es in diesem Alptraum?“ „Um diese seltsamen Kerle...die Mashi-Brüder...“ Kenjiro brach ab und sah Herrn Tanaka direkt in die Augen. „Ich glaube, ich weiß, was mit mir passiert ist.“ Nun wirkte der Mann verunsichert. „Ach, wirklich?“ „Ja. Könnte ich einen Spiegel haben?“ „Das ist leider unmöglich.“ „Warum?“ „Weil heute unser erstes richtiges Gespräch stattfindet. Vorher hast du nur schweigend auf deinem Bett gelegen und Löcher in die Luft gestarrt.“ „Und?“ rief der Braunhaarige aufgebracht. „Und ich möchte nicht, dass du wieder in dieses Muster verfällst.“ Der Ton des Klinikleiters ließ keinen Widerspruch zu, weshalb Kenjiro beschloss, vorerst nicht weiter auf seiner Forderung zu beharren. „Wo ist Shin?“ wollte er stattdessen wissen. „Ich fürchte, Herr Namiyoka ist heute nicht erschienen. Er wirkte sehr bedrückt, als er das letzte Mal hier war. Schien ganz so, als hättet ihr beiden euch gestritten.“ Kenjiro schwieg. Ihm war völlig klar, warum der Schwarzhaarige nicht da war, aber er hatte keine große Lust, das Herrn Tanaka zu erklären. Dieser furchte die Stirn, schien aber ebenfalls kein weiteres Interesse an der ganzen Sache zu haben. Er ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder. „Nun, kommen wir gleich zur Sache. Zuerst möchte ich dich untersuchen. Deine Fortschritte sind sehr beachtlich, trotzdem könnte es sein, dass du geistigen Schaden davongetragen hast.“ „Von mir aus.“ brummte der Braunhaarige und wartete ab, bis die Behandlung vorbei war. „Es scheint soweit alles in Ordnung zu sein.“ meinte der Klinikleiter dann und machte sich einige Notizen auf seinem Klemmbrett. „Darf ich wenigstens die anderen sehen?“ platzte es aus Kenjiro heraus. Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Herrn Tanakas Gesicht. „Ich weiß nicht...“ sagte er dann. „Bitte.“ flehte Kenjiro. „Es ist nicht so, als würde ich es dir verbieten wollen, aber leider haben deine Freunde die Torturen im Waisenhaus weniger gut verkraftet als du. Bist du dir sicher, dass du sie sehen willst?“ „Ganz sicher.“ Der Mann seufzte und erhob sich. „Nun gut. Aber ich werde dich begleiten. Sobald ich merke, dass es zu viel für dich oder die anderen wird, bringe ich dich zurück in dein Zimmer, einverstanden?“ „Der Braunhaarige nickte und folgte Herrn Tanaka auf einen schlichten, weiß gestrichenen Flur, an dessen Seiten in regelmäßigen Abständen Türen zu sehen waren. Unwillkürlich fragte sich Kenjiro, wie viele Menschen hier wohl untergebracht waren. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er fast in den Klinikleiter hineingelaufen wäre, der urplötzlich vor einer Tür stehengeblieben war und nun eine Zugangskarte aus der Tasche des Arztkittels holte. Kurz las Kenjiro das Namensschild neben der Tür. >Izuya Harabashi<. Sofort stieg seine Nervosität an, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Langsam öffnete sich die Tür. „Izuya?“ sagte Herr Tanaka sanft. „Ich bin es, Herr Tanaka. Ich habe dir einen Besucher mitgebracht. Darf ich reinkommen?“ „Ja...“ erklang es aus dem Inneren und die beiden Besucher traten ein. Izuya saß auf seinem Bett. Seine Augen waren verbunden worden und er wippte leicht vor und zurück. „Izuya...“ sagte der Braunhaarige mit krächzender Stimme und setzte sich zu seinem besten Freund. „Kenjiro...bist du es?“ „Ja. Ja, ich bin es.“ „Wie schön…deine Stimme mal wieder zu hören...“ „Wie geht es dir?“ erkundigte Kenjiro sich. „Sie haben mir meine Augen genommen...alles ist dunkel...warum nur...haben sie das getan?“ „Ich weiß es nicht.“ Der Braunhaarige wollte den anderen berühren, doch der Klinikleiter hielt ihn auf und schüttelte den Kopf. „Du darfst ihn nicht anfassen. Tut mir leid.“ Zuerst verstand Kenjiro nicht, doch dann erinnerte er sich an das letzte Mal, als er seinen besten Freund angefasst hatte und er nickte. „Freust du dich schon auf das Mittagessen?“ fragte Herr Tanaka ruhig. „Ja...es gibt Tamagoyaki...das esse ich am liebsten...“ „Sehr schön. Dann wollen wir dich auch nicht länger stören. Bis bald.“ „Tschüss.“ erwiderte Izuya und Kenjiro stand auf. „Tschüss.“ brachte er heraus und folgte dem Mann aus dem Zimmer. Wieder ging es durch den Flur zu einer zweiten Tür. „Hier kannst du nicht rein. Warte, ich öffne das Sichtfenster.“ Der Braunhaarige blickte durch das kleine Viereck und sah diesmal Sayuri. Sie lag völlig regungslos auf ihrem Bett und starrte ins Leere. Hätte sie nicht geblinzelt, hätte Kenjiro sie für tot gehalten. „Leider hat Sayuri die Zeit bei den Mashi-Brüdern nicht verkraftet. Sie ist in einem Schockzustand, der niemals verschwinden wird. Sobald sich ihr ein Mann nähert, fängt sie an, um sich zu schlagen und zu schreien. Deswegen wird sie von meiner Frau und einigen Schwestern betreut.“ „Sayuri...“ Der Braunhaarige fühlte sich elend. Schnell trat er von der Tür zurück und schloss das Sichtfenster. Ohne etwas zu sagen, lief er weiter hinter Herrn Tanaka her, bis dieser erneut stehen blieb. >Taku und Ryo Masame< verkündete das Namensschild neben der Tür. Genauso behutsam wie bei Izuya schloss der Klinikleiter auf. „Hallo, ihr beiden. Wie geht es euch heute? Ich habe jemanden mitgebracht.“ Kenjiro betrat das Zimmer und sah die beiden Brüder. Ryo und Taku saßen nebeneinander in einer Ecke auf dem Boden. Sie hielten sich fest umarmt und sahen aus leeren Augen zu den beiden hoch. „Taku...Ryo...Ich freue mich sehr, euch zu sehen.“ Er bekam keine Antwort. „Die beiden haben seit der Flucht aus dem Waisenhaus kein Wort gesagt.“ erklärte Herr Tanaka. „Und als wir versucht haben, die beiden einzeln zu befragen, haben sie sich mit Zähnen und Klauen dagegen gewehrt. Deswegen haben sie auch ein gemeinsames Zimmer.“ Kenjiro ging vor den Brüdern in die Hocke und musterte sie genauer. „Erkennt ihr mich wieder?“ Ryo nickte, zeigte aber sonst keine Reaktion. „Wir sollten zurück in dein Zimmer.“ drängte der Klinikleiter sanft, aber bestimmt. „Schließlich sollen sich deine Freunde nicht unnötig aufregen.“ „In Ordnung...“ Sehr nachdenklich und still kehrte der Braunhaarige gemeinsam mit Herrn Tanaka in seinen eigenen Raum zurück. Es hatte zwar gut getan, die anderen zu sehen. Aber ihr Zustand war etwas, was ihn bedrückte. Wortlos setzte er sich auf sein Bett und wartete, bis Herr Tanaka die Tür geschlossen hatte. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja...ja, es geht schon. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen stellen, wenn das in Ordnung ist.“ „Was möchtest du wissen?“ „Können sie mir etwas über das Waisenhaus erzählen?“ „Nun, ich kann nicht sagen, ich hätte diese Frage nicht erwartet. Ich werde dir antworten, aber ich werde dir nicht alles erzählen. Auch wenn du dich gut von allem erholt hast, muss ich darauf achten, dass du nicht überfordert wirst.“ Kenjiro nickte verstehend und der Klinikleiter begann mit seiner Geschichte. Kapitel 16: Das Haus der Hoffnung --------------------------------- „Alles hat angefangen, als du zehn Jahre alt warst. Bis zu diesem Zeitpunkt hattest du ein völlig normales Leben. Dein Vater hat gearbeitet und deine Mutter hat sich um dich gekümmert. Mit vier Jahren bist du in den Kindergarten gekommen, mit sieben in die Schule. Und dann kam der Tag, der alles verändert hat. Kurz nach deinem zehnten Geburtstag wurdest du krank. Keine Sache wie Schnupfen oder Halsschmerzen. Du bist einfach mitten im Unterricht zusammengebrochen. Im Krankenhaus wurde dann eine akute Blinddarmentzündung festgestellt. Glücklicherweise konntest du schnell behandelt werden und warst nach einigen Tagen wieder zurück in deiner Wohnung. Der Arzt riet deinen Eltern noch, dich für den Rest der Woche zu Hause zu lassen. Diese haben den Rat natürlich beherzigt, doch etwas hatte sich verändert. Deine Mutter hatte sich wirklich sehr rührend um dich gekümmert und dafür viel Bewunderung von allen Seiten erhalten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte deine Mutter wieder das Gefühl, dass ihre Hingabe wirklich gewürdigt wurde. Jedenfalls wollte sie nicht, dass diese Bewunderung aufhörte. Kurz bevor du wieder völlig gesund warst, hat sie daher angefangen, dich krank zu halten. Sie hat etwas entwickelt, was als Helfersyndrom bekannt ist.“ „Was bedeutet das? Und warum hat sie mich dann vergiftet?“ unterbrach Kenjiro den Klinikleiter. „Unter dem Helfersyndrom versteht man den krankhaften Wunsch einer Person, für jemand anderen da sein zu können. Dabei ist es unwichtig, ob die andere Person das will oder nicht. Da du noch so jung warst und deiner Mutter blind vertraut hast, ist es dir natürlich nie in den Sinn gekommen, dass sie dazu fähig wäre, dir etwas anzutun. Und da haben wir den Knackpunkt. Das bedeutet nämlich, sie hat dich vergiftet, um dich weiterhin ans Bett zu fesseln und sich weiter um dich kümmern zu können. Daraus ergab sich, dass alle Mitleid mit ihr hatten, was ihre Krankheit nur noch schlimmer gemacht hat. Dein Vater hat nicht gewusst, was los war. Mit der Zeit wurde er immer mürrischer, da seine Frau ihre ganze Aufmerksamkeit dir geschenkt hat. Irgendwann...hat er begonnen, dich zu hassen. Er dachte, du würdest dich absichtlich krank stellen.“ „Und deswegen hat er damit angefangen, mich zu schlagen.“ sagte der Braunhaarige tonlos. „Ja.“ „Aber warum hat meine Mutter ihn nicht aufgehalten?“ „Weil es ihr den Vorwand geliefert hat, sich noch mehr um dich zu kümmern. Verstehst du, indem dein Vater dich schlug, hat er deine Mutter immer tiefer in ihr Helfersyndrom getrieben. Das Ganze hat sich dann fünf Jahre lang hingezogen. In der Zeit hatte dein Vater seinen Job verloren und deine Mutter war nur noch ein Wrack. Sie hat sich so sehr in ihre Krankheit hineingesteigert, dass sie mehr einem abgezehrtem Gerippe als einer Frau glich. Schließlich beschloss dein Vater, dich loszuwerden. Als es dir wieder einmal besser ging, bestand er darauf, mit dir zum Angeln zu fahren. Das war natürlich gelogen. Trotzdem war deine Mutter eine zu gehorsame Frau, um ihrem Mann zu widersprechen. Also hat sie zugelassen, dass er mit dir in seinem Wagen losgefahren ist. Nachdem ihr eine Weile in der Stadt herumgefahren seid, hat er dich gezwungen, vor dem Waisenhaus auszusteigen. Natürlich hast du es getan. Obwohl du bereits fünfzehn Jahre alt warst, hattest du furchtbare Angst davor, was ansonsten passiert wäre. Schließlich wurde es dunkel und du hattest keine andere Wahl, als das Heim zu betreten. Dort wurdest du von den Mashi-Brüdern empfangen und in ein freies Zimmer gebracht. Anfangs war alles noch in Ordnung. Nach einer Weile hattest du dich eingelebt und deine Freunde kennengelernt. Und dann kam der Zeitpunkt, an dem sich alles verändert hat. Als der frühere Leiter des Waisenhauses verstarb, wurden die Brüder, die bisher nur Stellvertreter gewesen waren, zu den neuen Leitern. Nun konnten sie endlich tun, was sie wollten. Keiner der anderen Mitarbeiter hatte eine Ahnung davon, dass sie die Keller des Gemäuers nach und nach zu ihrer persönlichen Folterkammer umfunktionierten. Durch schallgeschützte Räume konnte niemand etwas hören und alle hatten gedacht, dass der Keller schon vor Jahren durch ein Erdbeben völlig eingestürzt war. Keiner wäre freiwillig dort hinunter gegangen.“ „Also haben die beiden den Keller wieder freigeräumt?“ „Ja. Dafür haben sie Jahre gebraucht. Kaum waren sie fertig damit, bauten sie noch mehrere Zellen. Dich und deine Freunde haben sie nachts heimlich hinunter geschafft. Da sie die Kinder, die sie aufgenommen haben, nicht dem früheren Leiter gemeldet haben, wusste niemand, dass ihr überhaupt da wart. Natürlich wart ihr völlig verängstigt, als ihr wieder wach geworden seid. Ihr habt versucht, euch irgendwie bemerkbar zu machen, aber umsonst. Kurz darauf haben die beiden angefangen, euch zu misshandeln. Und...sie haben zwei deiner Freunde getötet.“ „Welche Freunde? Getötet?“ „Ja. Matsuko Fujika war der Erste, der gestorben ist. Die Brüder haben ihm Zimmermannsnägel durch den Rücken getrieben und ihn damit gelähmt. Noch in derselben Nacht hat er sich mit einer herumliegenden Scherbe die Pulsadern aufgeschnitten. Die zweite war Narika Kamaka. Ihr wurde bei lebendigem Leib der Brustkorb aufgeschnitten. Sie ist noch während der Tortur gestorben. Beide Leichen wurden in aller Stille verbrannt.“ „Wie haben wir es geschafft, von dort wegzukommen?“ Kenjiro überraschte es, wie ruhig seine Stimme klang. Von diesen beiden anderen Personen, die ebenfalls gefoltert worden waren, hatte er nicht geträumt. Warum, konnte er nicht sagen. Vielleicht, weil sie gestorben waren und das zu einem Schock bei ihm geführt hatte. Vielleicht auch, weil er sich überhaupt nicht an sie erinnern konnte. Die Stimme des Klinikleiters unterbrach seine Gedanken. „Nun, die Mashi-Zwillinge haben mit der Zeit in ihrer Vorsicht nachgelassen. Eines Tages kam es zu einem Feuer, das fast das gesamte Waisenhaus vernichtet hat. Glücklicherweise sind durch das Feuer nur die Brüder selbst umgekommen. Der Rest konnte gerettet werden. Zu der Zeit wart ihr schon weg und seid durch den Wald geflohen, der neben dem Heim lag. Nach ein oder zwei Tagen habt ihr dann wieder die Straße erreicht und wurdet dort von einem Spaziergänger gefunden, der euch dann hierher gebracht hat. Und das war es dann. Als ihr hier angekommen seid, wart ihr völlig verdreckt, abgemagert und eigentlich kaum noch als menschliche Wesen erkennbar. Ich werde niemals den Blick in euren Augen vergessen. Es war furchtbar.“ „Und was ist passiert, während ich hier war? Ich meine, ich weiß immer noch nicht, was die beiden mit mir gemacht haben oder warum mich Shin immer wieder besuchen kommt oder wie ich mich anfangs verhalten habe...“ „Das ist auch gut so. Vorerst werden dich einigen Tests unterziehen müssen, um zu prüfen, ob und wie gut es dir wirklich geht. Erst dann werde ich erlauben, dass man dir mehr erzählt.“ „Aber…“ „Kein Aber. Es ist spät, Kenjiro. Du musst dich erst einmal ausruhen.“ Der Braunhaarige verstand, dass es keinen Sinn machte, weiter zu diskutieren. „Okay. Aber wenn ich diese >Tests< bestehe, werden Sie meine Fragen beantworten, abgemacht?“ „Abgemacht. Schlaf gut.“ Damit wollte Herr Tanaka gehen. Er war bereits an der Tür, als Kenjiro noch etwas einfiel. „Eine Frage habe ich noch.“ Der Klinikleiter drehte sich um. „Ja?“ „Wie hieß das Waisenhaus?“ Der Mann lachte bitter auf. „Das Haus der Hoffnung.“ Kenjiro blieb noch lange wach. Wieder einmal drehten sich seine Gedanken. Alles kam ihm so surreal vor. So gerne hätte er alles einfach verdrängt, aber das war unmöglich. Die beiden Freunde, die er nicht kannte und die nun tot waren...die traurigen Schatten, zu denen seine verbliebenen Freunde geworden waren...und Shin, der ihn immer so traurig ansah und der wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würde. Bei diesem Gedanken fühlte sich der Braunhaarige noch elender. Irgendwann übermannte ihn die Dunkelheit und er schlief doch ein. Als er aufwachte, saß Shin neben ihm auf dem Stuhl. Er lächelte Kenjiro sanft zu und dieser umarmte den Schwarzhaarigen, ohne lange darüber nachzudenken. „Ich bin so froh, dass du da bist.“ brachte er schließlich heraus und löste die Umarmung. „Hallo, Ashiba-kun. Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.“ Kapitel 17: Feuer in der Nacht ------------------------------ Kenjiro erwiderte Shins Blick zögernd. „Worum geht es?“ „Ich habe gehört, dass du mit Herrn Tanaka gesprochen hast.“ „Ja. Er hat mir einiges über meine Vergangenheit erzählt.“ Das schien den Schwarzhaarigen zu verwundern. „Ach, tatsächlich?“ Kenjiro nickte nur, während er in diese türkisfarbenen Augen sah, die wie weiche Seen wirkten und fragte sich, warum er so fasziniert davon war. „Ashiba-kun? Ist alles in Ordnung?“ Der Braunhaarige zuckte zusammen und als ihm klar wurde, dass er Shin wohl längere Zeit angestarrt hatte, spürte er, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „J-ja, sicher.“ Auch Shin wirkte verlegen und sah hastig zu Boden. „Wegen dem, was bei unserem letzten Gespräch passiert ist...“ begann Kenjiro, nur um dann abzubrechen. „Ist schon gut. Ich hatte Zeit, um nachzudenken und...naja...“ Diesmal war es an dem Schwarzhaarigen, rot zu werden. „Ich habe wohl auch überreagiert. Trotzdem muss ich dich etwas fragen.“ „Worum geht es?“ „Als du mich geküsst hast...was hast du da empfunden?“ Kenjiro antwortete nicht gleich. Bei Shins Frage hatte sein Herz begonnen, schneller zu schlagen und eine flammende Hitze schien seinen ganzen Körper zu ergreifen. Er dachte an das, was geschehen war und wie er sich dabei gefühlt hatte. Richtig...er hatte mehr gewollt...hatte sich nach dieser sanften Haut und den weichen, langen Haaren gesehnt...anscheinend liebte er Shin wirklich, begehrte ihn sogar… „Ich...habe es genossen...“ erwiderte er stockend und ohne den anderen anzusehen. Dann lachte er zittrig auf. „Ich weiß, das ist verrückt. Ich meine, ich kenne dich kaum.“ „Soll das bedeuten, du liebst mich ebenfalls?“ fragte Shins Stimme, da der Braunhaarige es immer noch nicht schaffte, Shin anzusehen. „Ja...ich liebe dich...“ flüsterte er dann krächzend. Dann spürte er Wärme. Der Schwarzhaarige war aufgestanden, hatte sich vor Kenjiro gestellt und ihn in die Arme genommen. Langsam hob der Braunhaarige den Blick. Vorsichtig legte er seine Arme um Shins Rücken und spürte dessen Wärme sowie dessen Herzschlag. Als sich der andere von ihm löste, sahen die beiden sich an, nur Zentimeter voneinander entfernt. Wie von selbst kam Kenjiro Shin näher. Dieser wich nicht zurück. Als sich ihre Lippen berührten, schloss Kenjiro die Augen und legte eine Hand vorsichtig in Shins Nacken, um ihn näher an sich zu ziehen. Dieser leistete keinerlei Widerstand und zusammen ließen sie sich auf das Bett sinken. Schüchtern strich der Braunhaarige über Shins Hals, ohne den Kuss zu unterbrechen. Seine freie Hand glitt unter das Oberteil des Schwarzhaarigen und berührte die Haut darunter. In diesem Moment löste Shin den Kuss und blickte Kenjiro, erneut mit verhangenen Augen, an. „Bist du dir sicher, dass du das willst?“ flüsterte er. Statt zu antworten, küsste der Braunhaarige ihn erneut. Shin schien das als Antwort zu genügen, denn er legte sich zu Kenjiro und erwiderte den Kuss, der schnell fordernd und intensiv wurde. Kenjiro streichelte weiter über die warme Haut und Shin unterbrach erneut ihren Kuss und keuchte leise auf. Was für ein wundervoller Klang… Nun spürte auch der Braunhaarige, wie sanfte Finger ihm über die Brust fuhren. Schauer liefen ihm über den Rücken und er öffnete das Oberteil des Schwarzhaarigen, um mehr von dieser warmen Haut zu erkunden. Shin keuchte erneut auf und verwickelte Kenjiro in einen langen, tiefen Kuss, ehe er selbst Kenjiros Shirt hochschob und es ihm auszog. Hitze brodelte in dem Braunhaarigen. Verlangend fuhr er Shin über den Rücken, bis er durch den Bund von dessen Hose aufgehalten wurde. Er strich weiter hinab und berührte die Körpermitte des Schwarzhaarigen. Dieser bäumte sich leicht auf und dieses Mal stöhnte er. Auch Kenjiro war inzwischen so erhitzt, dass er kaum noch klar denken konnte. Immer wieder küsste er Shin, während er sich an dessen Hose zu schaffen machte. Endlos schien es zu dauern, bis er es schaffte, sie herunterzuziehen. Kurz sah er zu dem Schwarzhaarigen auf, dessen Mund leicht offen stand und dessen Wangen gerötet waren. Auch er hatte Kenjiro nun von seiner restlichen Kleidung befreit und hauchte Küsse auf dessen Körper. Als Shins Lippen das Glied des Braunhaarigen streiften, war es an diesem, aufzustöhnen. Er fühlte sich, als würde er schweben, weit weg von allem. Der andere machte weiter und umschloss Kenjiros Penis vollständig mit seinem Mund. Hastig schlug Kenjiro eine Hand über den Mund, damit er nicht das ganze Gebäude zusammenschrie. Nach einer Weile richtete Shin sich auf und ihre Augen trafen sich. Kenjiro, urplötzlich des herrlichen Gefühls beraubt, grummelte leise und unwillig durch seine Finger. „Ashiba-kun...“ wisperte der Schwarzhaarige mit rauer Stimme. „Ich liebe dich...“ Er hob seinen Körper an und ließ sich dann auf Kenjiro sinken. Dieser keuchte auf, als er so urplötzlich in Shin eindrang. Der Schwarzhaarige verzog leicht das Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. „Shin...ist alles in Ordnung?“ brachte Kenjiro hervor und strich dem anderen über die Wange. „Es geht schon...“ keuchte Shin und küsste den Braunhaarigen auf die Stirn. Eine Weile blieb er still sitzen, ehe er langsam begann, sich zu bewegen. In Kenjiro brach ein Durcheinander an Gefühlen aus. Er umfasste Shins Seiten und spürte die gleichmäßigen Bewegungen. Der Körper des Schwarzhaarigen war von einer dünnen Schweißschicht bedeckt. Er sah so schön und verletzlich aus...Kenjiro konnte es nur schwer beschreiben. Sein Blut schien sich in Lava verwandelt zu haben und er atmete heftig. Langsam erhöhte Shin das Tempo, was den Braunhaarigen noch mehr erhitzte. In ihm drehte sich alles und er merkte, wie er sich allmählich seinem Höhepunkt näherte. Shin schien es nicht anders zu ergehen. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und obwohl er seine Stimme besser unter Kontrolle hatte als Kenjiro, bebte sein Körper. Seine langen, schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und klebten an seinen Schultern. Der Braunhaarige strich Shin eine Strähne fort, die ihm ins Auge gefallen war. Dieser beugte sich hinab und wieder fanden sich die Lippen der beiden. Als sie den Kuss lösten, stöhnte Kenjiro unterdrückt auf. Shin bewegte sich wieder schneller und Kenjiro schrie leise, als vor seinen Augen alles weiß wurde und er zum Höhepunkt kam. Der Schwarzhaarige folgte nur kurz darauf, ehe er sich erschöpft zurückzog und neben Kenjiro legte. Ohne zu zögern, nahm der Braunhaarige Shin in die Arme und dieser kuschelte sich an ihn. „Das war wirklich atemberaubend.“ sagte er und Kenjiro wurde rot. „D-danke...“ stotterte er verlegen und streichelte den Schwarzhaarigen unbeholfen über den Kopf. Dieser küsste ihn auf den Hals und hüllte sich etwas in die Decke. „Was… wird jetzt aus uns?“ fragte der Braunhaarige. „Ich meine, schließlich bin ich doch psychisch gestört. Wer weiß, ob ich jemals hier herauskomme.“ „Weißt du es nicht?“ erwiderte Shin ehrlich verwundert. „Wenn die Tests gut verlaufen, wirst du bald entlassen. Natürlich musst du dich in regelmäßigen Abständen hier melden, aber ansonsten darfst du tun, was du möchtest.“ „Nein, das wusste ich nicht.“ sagte Kenjiro überrascht. „Ich hoffe, das sollte keine Überraschung werden.“ meinte der Schwarzhaarige. Dann lächelte er. „Wenn du hier herauskommst, würde ich dich gerne einladen, bei mir zu leben. Meine Wohnung ist groß genug. Falls du bereit bist, einige Aufgaben im Haus zu erledigen, bist du mir herzlich willkommen.“ Kurz war Kenjiro sprachlos. „Ist...ist das dein Ernst?“ fragte er dann. „Na ja, also, wenn du nicht möchtest, kann ich das verstehen. Aber es schien mir eine gute Idee zu sein und...“ Unsicher brach Shin ab. „Das würde ich gerne.“ antwortete der Braunhaarige sofort begeistert. Shin lächelte. „Dann ist es abgemacht. Ich werde mit Herrn Tanaka sprechen und ihm Bescheid geben. Er wird dann alles weitere in die Wege leiten.“ Wieder kuschelte sich Shin an Kenjiro, ehe er bedauernd seufzte, aufstand und begann, sich anzuziehen. „Du solltest dir auch etwas überwerfen. Ich glaube, wenn jemand dich hier nackt und mich halbnackt vorfindet, wäre derjenige nicht sehr erfreut.“ „Stimmt.“ entgegnete Kenjiro, dem nun wieder einfiel, wo er hier war. „Das Zimmer wird doch nicht überwacht, oder?“ „Nein, nein, keine Sorge. Wäre es so, wäre Herr Tanaka schon lange hier gewesen.“ Nachdem er Kenjiro noch einmal geküsst hatte, wandte sich Shin zur Tür. „Ich sollte gehen. Ich wünsche dir viel Glück bei den Tests.“ Damit verschwand er und Kenjiro, der sich ebenfalls halbwegs wieder angezogen hatte, blickte hoch zur Decke und dachte über das nach, was gerade geschehen war. Mit einem leisen Lächeln vergrub er das Gesicht in den Kissen und schlief kurz danach tief und fest. Kapitel 18: Die Gestalt im Spiegel ---------------------------------- Am nächsten Morgen wurde er früh geweckt. Noch etwas verschlafen, schlüpfte er in seine Kleidung und folgte der jungen Pflegerin, die ihn durch mehrere Flure zu einem Zimmer, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Auf einem schlichten Tisch stand ein Computer und an der Wand hing etwas, das von einem großen Tuch verhüllt war. Interessiert trat Kenjiro näher und streckte die Hand nach dem Tuch aus. „Nicht anfassen.“ erklang die Stimme des Klinikleiters hinter ihm und der Braunhaarige zuckte zusammen. Herr Tanaka betrat hinter ihm den Raum und musterte Kenjiro mit einem Blick, den dieser nicht richtig deuten konnte. „Was ist hinter dem Tuch?“ fragte der Braunhaarige, obwohl er die Antwort bereits erahnen konnte. „Ein Spiegel.“ bestätigte der Klinikleiter seine Befürchtung. „Den brauchen aber erst am Ende und selbst dann nur, wenn ich der Meinung bin, dass es angebracht ist.“ Irgendetwas an Herrn Tanakas Stimme störte Kenjiro. Wusste er etwa, was zwischen dem Braunhaarigen und Shin vorgefallen war? Bei diesem Gedanken wurde Kenjiro abwechselnd heiß und kalt. „Kenjiro? Hörst du mir zu?“ unterbrach der Mann seine Gedanken. „W-wie?“ Herr Tanaka seufzte. „Ich habe gesagt, dass Herr Namiyoka gestern bei mir war. Er hat darum gebeten, dass du bei ihm wohnen darfst, wenn du entlassen werden solltest. Entspricht das auch deinem Wunsch?“ „Ja.“ „Gut. Ich habe die entsprechenden Formulare bereits ausgefüllt und werde sie losschicken, falls deine Tests heute positiv ausfallen.“ „Was sind das überhaupt für Tests?“ „Nichts Schlimmes. Zunächst werden wir Dinge wie logisches Denken, Allgemeinwissen, Merkfähigkeit und Schnelligkeit überprüfen. Dann werden wir dich mehr und mehr unter Stress setzen, um zu sehen, wie du darauf reagierst. Schließlich werden wir dir einige Bilder zeigen. Alle werden von dem handeln, was du früher erlebt hast. Falls du abbrechen willst, kannst du jederzeit den roten Knopf neben dem Computer benutzen. Hast du alles verstanden?“ Kenjiro nickte. „Wenn du alle Tests bestanden hast, werde ich dir gestatten, das Tuch vom Spiegel zu entfernen.“ Der Klinikleiter drehte sich um und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. „Und versuch, nicht zu schummeln. Dieser Raum wird videoüberwacht.“ Er lächelte und ging dann aus dem Zimmer. Kenjiro ließ sich vor dem Computer nieder und blickte auf den Bildschirm. Das Programm war sehr einfach gestaltet. In schwarzen Buchstaben stand dort der Text: > Zum Beginnen bitte Start drücken. < Als der Braunhaarige der Aufforderung nachkam, erschien die erste Frage. > Wie heißt die Hauptstadt von Frankreich? < Daneben war ein Feld, in das die Antwort eingegeben werden sollte und oben in der Ecke war eine Uhr abgebildet, die begann, von dreißig hinunter zu zählen. Kurz war Kenjiro verwirrt. Warum hatte er so viel Zeit, um so eine einfache Frage zu beantworten? Dann aber zuckte er die Achseln und tippte die Antwort ein. Nach einiger Zeit wurden die Aufgaben allerdings immer schwieriger und schon waren ihm die dreißig Sekunden zu wenig. „Der Test geht noch zwei Minuten.“ erklang da Herrn Tanakas Stimme aus einem Mikrofon an der Wand. Kenjiro bemühte sich, die letzten Aufgaben so gut wie möglich zu beantworten, bis wieder ein schwarzer Text auftauchte. >Test vorbei. Für den nächsten Test bitte auf Weiter klicken. < Mindestens zwei Stunden lang gingen die Tests weiter. Immer waren die Aufgaben zunächst einfach, wurden aber immer schwerer. Als der Klinikleiter verkündete, dass der Braunhaarige noch Zeit für eine Aufgabe hatte, tippte dieser einfach irgendetwas in das Textfeld ein und wartete. Diesmal lauteten die Buchstaben, die auf dem Bildschirm auftauchten, wie folgt: > Test beendet. Bitte warten Sie, bis Ihre Antworten ausgewertet sind. < Nur kurz danach betrat Herr Tanaka den Raum, ein Klemmbrett mit Notizen in der Hand haltend. „Sehr gut, Kenjiro.“ sagte er, während er leicht lächelte. „Du hast bei den Tests ganz gut abgeschnitten. Nun, jetzt kommen die Bilder. Denkst du, dass du das schaffst?“ „Ich werde es versuchen.“ Diese Antwort brachte den Klinikleiter dazu, Kenjiro ernst anzusehen. „Eine Sache noch, ehe es losgeht. Ich möchte nicht, dass du dich unnötig unter Druck setzt, verstanden? Wenn du merkst, dass es nicht mehr geht, dann sag Bescheid, in Ordnung?“ Der Braunhaarige nickte nur und Herr Tanaka verließ das Zimmer wieder. Dann tauchte ein neuer Text auf. >Bildergalerie. Zum Öffnen bitte Weiter drücken. < Die Bilder waren, wie der Klinikleiter gesagt hatte, allesamt mit seiner Vergangenheit verknüpft. Ein Bild aus einer alten Zeitung, dass das Waisenhaus zeigte. Eines, das zwei Jugendliche zeigte. Das mussten die beiden sein, die durch ihre Misshandlungen gestorben waren. Kenjiro schaffte es, das Meiste einigermaßen gut zu überstehen. Nur einmal war er kurz davor, den roten Knopf zu drücken und damit das Ganze abzubrechen. Wieder war ein Zeitungsartikel zu sehen, auf dem Kenjiro zwei Männer entgegenblickten. Auch ohne die Arztverkleidung erkannte er sie sofort. Das waren die Mashi-Brüder. Kenjiros Hände begannen zu zittern, als er dieses Bild sah. Seine Atmung wandelte sich ins Chaotische und kurz dachte er, er würde im nächsten Moment ohnmächtig werden. Einer der beiden hätte als gutaussehend gelten können, wäre da nicht der hochmütige Ausdruck in den kalten Augen gewesen. Der zweite Mann war jünger, hatte schmierige Haare, die ihm wirr ins Gesicht hingen und furchtbar fettige Haut. Darunter stand die Schlagzeile: >Leiter eines Waisenhauses bei Feuer umgekommen. < Der Braunhaarige fühlte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach. Einige Sekunden war er wie paralysiert, ehe er sich langsam wieder beruhigte. Die beiden waren tot. Sie konnten ihm nichts mehr tun. Erst als er wieder normal atmen konnte, klickte er, um das nächste Bild zu sehen. Schließlich endete der Test und Herr Tanaka kam wieder rein. Er war nicht alleine. Shin begleitete ihn. „Ashiba-kun. Geht es dir gut? Wir haben gesehen, dass du für einige Sekunden kalkweiß geworden bist.“ „Shin. Warst du die ganze Zeit hier?“ Ja. Ich habe Herrn Tanaka darum gebeten.“ „Es war nur...Dieses Bild von den beiden...ich...“ „Du hast dich wirklich gut geschlagen.“ mischte sich der Klinikleiter ein. „Also werde ich mein Wort halten.“ Wie auf ein geheimes Zeichen drehten sich die drei zu dem verhangenen Spiegel. Herr Tanaka trat an die Seite des Tuches und wirkte nun sehr ernst. „Bist du bereit?“ fragte er. Ohne zu überlegen, nahm Kenjiro die Hand des Schwarzhaarigen und verschränkte seine Finger mit denen des anderen. Dann nickte er. Ganz kurz wanderte Herr Tanakas Blick zu den verschränkten Händen, dann packte er das Tuch und zog es schwungvoll hinunter. Der Braunhaarige erstarrte. Aus dem Spiegel sah ihn ein abgemagertes Schreckgespenst an. Der Kenjiro in dem Spiegel hatte tiefe Ringe unter den Augen, hohle Wangen und trug ein schlichtes Leinengewand. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Verätzungen, die überall auf seinem Körper verteilt waren. Auf seinem Hals, seinen Armen und auf dem Teil seiner Beine, die nicht von Stoff verdeckt waren. Völlig entgeistert streifte Kenjiro sein Oberteil ab und dort erwartete ihn das selbe Bild. Seine Brust war voller verheilter, aber gut sichtbarer Narben. Überfordert mit dem, was er sah, sackte der Braunhaarige auf die Knie, wobei er Shin wieder losließ. Von Schrecken überwältigt, begann er zu schluchzen. Shin hockte sich neben ihn und umarmte ihn sacht. „Das soll ich sein?“ brachte Kenjiro mühsam heraus. „Ich...ich sehe aus wie ein Monster.“ Shin hielt ihn nur noch fester. „Darum waren die Fenster in deinem Raum so weit oben angebracht. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie du auf deine Spiegelung im Fenster reagiert hättest.“ kam es von dem Klinikleiter. Seine Stimme schwankte zwischen Ernst und Bedauern. „Ich glaube, für heute sollte er zurück in sein Zimmer.“ „Richtig. Werden Sie noch eine Weile bei ihm bleiben?“ „Selbstverständlich.“ Kenjiro hörte das alles nur halbwegs. Immer noch herrschte die Panik in seinem Körper. Er bekam kaum mit, wie er von Shin und Herrn Tanaka zu seinem Zimmer gebracht wurde. Im Moment wünschte er sich nichts mehr, als das sich alles doch noch als böser Traum herausstellen würde. Gleichzeitig war er aber auch seltsamerweise froh, dass er nun wenigstens die Wahrheit über sich wusste. Kapitel 19: Abschied -------------------- Shin blieb die ganze Nacht bei Kenjiro. Selbst als Kenjiro langsam in den Schlaf abdriftete, saß er weiterhin neben ihm und streichelte sanft seine Wange. Es hatte lange gedauert, bis der Braunhaarige sich wieder beruhigt hatte. Aber nun lag er vollkommen ruhig da. Vorsichtig lehnte Shin sich nach vorne und küsste den anderen auf die Wange. Dieser murmelte etwas und drehte sich um. Erst als die Uhr des Schwarzhaarigen anzeigte, dass es bereits früher Morgen war, stand er leise auf, um sich in der Kantine einen Kaffee zu holen. Wie er erwartet hatte, war die Köchin bereits fleißig bei der Arbeit, um das Frühstück für die Patienten vorzubereiten. Zusammen mit ihren Mitarbeitern wuselte sie von einer Ecke zur anderen und wieder zurück. Als sie Shin sah, lächelte sie und kam zu ihm. „Guten Morgen, Shin. Du bist aber früh dran.“ „Guten Morgen, Saika. Kann ich einen Kaffe haben? Ich war die ganze Nacht auf.“ „Wenig Milch, viel Zucker. Kommt sofort.“ „Vielen Dank.“ Nur kurz darauf stellte Saika ein Tablett vor den Schwarzhaarigen. Darauf war nicht nur der Kaffee, sondern auch einige selbstgemachte Brötchen, die noch dampften und einen herrlichen Duft verbreiteten. „Ach, Saika.“ tadelte Shin, wobei er ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. „Du sollst mich doch nicht immer so verwöhnen.“ „Keine Widerworte. Du bist schon dünn genug.“ Auch die Köchin strahlte. „Und schön aufessen, verstanden?“ „Sehr wohl.“ erwiderte der der Schwarzhaarige und verbeugte sich tief, ehe er mit dem Tablett zu einem Tisch am Fenster ging. Er hatte gerade begonnen zu essen, als neben ihm eine Stimme erklang. „Hallo, Shin. Darf ich mich zu dir setzen?“ Shin sah auf und erkannte Herrn Tanaka. „Natürlich.“ „Wie geht es Kenjiro?“ wollte der Klinikleiter wissen, kaum dass er Platz genommen hatte. „Besser. Er war ziemlich verstört, aber ist irgendwann doch eingeschlafen.“ „Das ist schön. Um ehrlich zu sein, hatte ich mit einer stärkeren Reaktion gerechnet. Umso besser, dass es nicht so gekommen ist.“ Er nahm einen Schluck von seinem Tee und blickte den Schwarzhaarigen dann ernst an. „Was ist mit dir? Wie kommst du mit allem zurecht?“ „Eigentlich ganz gut. Vielleicht liegt es an meinen Gefühlen für Ashiba-kun, aber ich glaube, dass ich von allem nicht so stark beeinflusst werde, wie ich befürchtet hatte. Was Ashiba-kun momentan am meisten braucht, ist jemand, der ihm hilft, auf seinem zukünftigem Weg die ersten Schritte zu machen.“ „Wirst du ihm sagen, dass du es warst, der ihn und seine Freunde damals gefunden hat?“ Darauf antwortete Shin nicht sofort. Zuerst nippte er an seinem Kaffee, ehe er leicht seufzte. „Ich weiß es nicht. Vielleicht irgendwann. Zunächst muss ich sehen, wie er mit seiner neuen Situation umgeht. Er war schließlich sein ganzes Leben lang alleine und weit weg von der Außenwelt. Es wird so schon schwer genug für ihn.“ „Und was ist mit der Tatsache, dass ich weiß, was zwischen dir und Kenjiro vorgefallen ist?“ „Hätte es etwas gebracht, das Ganze zu verschweigen? Er ist immer noch Ihr Patient und es ist sehr wichtig, dass Sie wissen, was vor sich geht. Außerdem sind Sie sehr klug. Es hätte nicht lange gedauert, dann hätten Sie auch ohne mich gewusst, dass wir miteinander geschlafen haben.“ „Herr Tanaka grinste nach Shins Worten. „Nun, spätestens nach gestern hätte ich dich gefragt, ob zwischen euch mehr ist. Schließlich habt ihr euch auch keine große Mühe gegeben, eure Beziehung zu verschleiern.“ „Wie gesagt, es hätte nichts gebracht, das Ganze zu verschweigen. So ist es besser, ebenso für Sie wie für mich.“ Shin stand auf und verneigte sich erneut. „Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich muss zurück. Ashiba-kun wird sonst denken, ich hätte ihn alleine gelassen.“ „Es fällt mir immer schwerer zu glauben, dass du erst siebzehn bist. Nun, ich will dich nicht aufhalten. Wir sehen uns später.“ „Also stimmt es, dass Ashiba-kun morgen entlassen wird?“ „Ja. Solange er sich regelmäßig bei mir meldet, wird er uns morgen verlassen können. Aber warte bitte, bis ich es ihm selber gesagt habe.“ „Verstanden.“ Der Schwarzhaarige drehte sich um, brachte das Tablett zurück, wobei er Saika überschwänglich dankte, was ihr ein Lachen entlockte und kehrte dann zu Kenjiros Zimmer zurück. *** Als er endlich wach wurde, spürte Kenjiro als Erstes, wie ihm eine warme Hand durch die Haare fuhr. Unbewusst kuschelte er sich an diese Hand und hörte ein leises Lachen. „Guten Morgen, Ashiba-kun.“ „Wie spät ist es?“ murmelte er verschlafen. „Fast zehn Uhr.“ Der Braunhaarige richtete sich auf und blickte zu Shin. „Warst du etwa die ganze Nacht hier?“ „Du glaubst doch nicht etwa, dass ich einfach nach Hause gegangen wäre?“ „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen...“ begann Kenjiro und merkte, wie er rot wurde. „Ich hätte sowieso nicht schlafen können.“ unterbrach der andere ihn. Lächelnd fuhr er fort. „Mach dir keine Sorgen. Eine Nacht ohne Schlaf werde ich schon überstehen.“ Er beugte sich vor und legte seine Lippen auf die von Kenjiro. Eine Weile erwiderte der Braunhaarige den Kuss, ehe er sich zurückzog. „Danke.“ sagte er leise. „Gern geschehen. Wie fühlst du dich?“ Kenjiro zuckte nur mit den Achseln. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, klopfte es an die Tür und Herr Tanaka kam in den Raum. „Hallo, Kenjiro. Ich habe gute Nachrichten für dich. Deine Tests sind allesamt recht gut ausgefallen und offenbar hast du dich auch von dem Rest erholt. Das bedeutet, dass du uns morgen verlassen darfst.“ „Ich...ich werde entlassen?“ „Ja. Die Behörden wissen auch schon Bescheid, dass du dann bei Herrn Namiyoka wohnen wirst.“ „Aber… was ist mit den anderen?“ „Sie werden bei uns bleiben müssen.“ erwiderte der Klinikleiter sehr ernst. „Du hast sie gesehen und wirst sicher verstehen, dass es unverantwortlich von mir wäre, sie ebenfalls zu entlassen.“ Dann lächelte er. „Aber du darfst sie natürlich jederzeit besuchen.“ „Ich verstehe...“ „Und falls etwas sein sollte, melde dich bitte bei mir. Ansonsten schicke ich dir die Termine für unsere Treffen zu.“ „Vielen Dank für alles.“ „Keine Ursache. Ich bin wirklich froh, dass wenigstens du wieder geheilt bist. Es kommt selten genug vor, dass wir jemanden entlassen können.“ Er streckte Kenjiro die Hand hin, der sie etwas verwundert ergriff und schüttelte. „Auf Wiedersehen, Kenjiro. Und alles Gute.“ Herr Tanaka ließ den Braunhaarigen los und wandte sich an Shin. „Ihnen ebenfalls alles Gute. Und dass Sie mir ja gut auf Kenjiro aufpassen.“ Shin verbeugte sich tief. „Sie können Sich auf mich verlassen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.“ Kaum hatte Herr Tanaka das Zimmer verlassen, drehte sich Kenjiro zu dem Schwarzhaarigen. „Kommt Herr Tanaka nicht aus Japan?“ „Nein, aus Italien. Warum?“ „Ich hatte mich nur gewundert, weil er mir die Hand gegeben hat.“ Zu Kenjiros Überraschung begann Shin zu lachen. „Ach, das.“ sagte er schließlich, wobei er immer noch kicherte. „Ja, er hat mir mal gesagt, dass er zwar schon seit Jahren hier lebt, aber trotzdem manchmal einige alte Gewohnheiten bei ihm durchkommen. Er war es damals auch, der nach seiner Hochzeit den Nachnamen seiner Frau angenommen hat.“ „Das wusste ich gar nicht.“ murmelte Kenjiro. Dann lächelte er. „Das war das erste Mal, dass ich dich lachen gehört habe.“ Der Schwarzhaarige erwiderte das Lächeln sanft. „Tatsächlich. Ich bin einfach froh, dass du morgen entlassen wirst.“ „Geht mir genauso.“ Shin setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Kenjiro setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und legte seinen Kopf auf Shins Schulter. „Danke, dass du für mich da bist.“ „Immer wieder gerne.“ Den restlichen Tag saßen sie so da, bis sich der Schwarzhaarige am Nachmittag verabschiedete, um sich noch ein wenig hinzulegen. Auch der Braunhaarige ging früh schlafen, um für den nächsten Tag ausgeruht zu sein. Als er am Morgen geweckt wurde, erhob er sich mit einem seltsam schwermütigem Gefühl. Shin und Herr Tanaka erwarteten ihn vor der Tür. „Nun, jetzt heißt es wohl Abschied nehmen.“ begrüßte der Klinikleiter ihn. „Ja, sieht so aus.“ sagte Kenjiro bedrückt. „Nun mach nicht so ein Gesicht. Schließlich sehen wir uns ja wieder.“ Trotzdem wurde der Braunhaarige das seltsame Gefühl nicht los, während er durch die Flure bis zu einer gläsernen Doppeltür geführt wurde. Dahinter lag ein steinerner Weg, der zu einer Straße führte. „Und, bist du bereit?“ fragte Shin leise. „Ich denke schon.“ Wieder nahm Kenjiro die Hand des Schwarzhaarigen und die beiden drehten sich noch einmal Herrn Tanaka zu. „Bis bald.“ „Bis bald.“ Zusammen mit Shin trat Kenjiro aus dem Gebäude, hörte die Vögel zwitschern und spürte die Sonne auf seiner Haut. Sofort verbesserte sich seine Laune und er warf nur noch einen kurzen Blick zurück. Auch wenn er nicht wusste, was ihn in der Zukunft erwartete, er würde es schon irgendwie schaffen. Ganz sicher. Kapitel 20: Notizen ------------------- 4. Januar, 2:36 Uhr: Ein lautes Klopfen hat mich geweckt. An der Tür stand der Portier und stammelte etwas über eine Gruppe Jugendlicher und dass ich unbedingt mitkommen müsse. Vor dem Haus standen tatsächlich mehrere Personen. Mir wurde sofort klar, dass es richtig vom Portier gewesen war, mir Bescheid zu sagen. Alle Jugendlichen gaben ein elendes Bild ab. Nur ein junger Mann, der sich als Shin Namiyoka vorstellte, schien in der Lage, mit mir zu reden. Er sagte, er hätte die Gruppe bei einem Spaziergang entdeckt. Leider war er sehr durcheinander und seine Erklärungen unzusammenhängend. Ich muss mich später unbedingt noch intensiver mit ihm unterhalten. 6. Januar, 14:03 Uhr: Die Jugendlichen sind nun seit zwei Tagen hier. Zum Glück wurden sie hierher gebracht. Sie haben schwere seelische Schäden erlitten, doch nicht einmal Herr Namiyoka wusste, woher diese stammten. Er konnte mir nur sagen, dass die Kinder wohl aus dem >Haus der Hoffnung< stammen, das vorgestern durch ein Feuer teilweise zerstört wurde. Sobald das schlimmste Chaos beseitigt ist, werde ich mich bei den Leitern des Heimes erkundigen, was es mit diesen Jugendlichen auf sich hat. 13. Februar, 17:52 Uhr: Es ist doch nicht zu glauben! Ich habe mich nach den Kindern erkundigt und niemand scheint sie zu kennen. Wie kann das sein? Ich muss zum Waisenhaus. Hoffentlich finde ich dort einige Antworten. Schließlich kenne ich noch nicht einmal die Namen der Jugendlichen. Und das, was ich gesehen und gehört habe...war schrecklich. Was ist nur im >Haus der Hoffnung< geschehen? 15. Februar, 12:00 Uhr: Nun weiß ich ungefähr, was passiert ist. Nach einem wenig zufriedenstellendem Gespräch mit der Leiterin habe ich darauf bestanden, mir den Keller anzusehen. Dort war so gut wie alles zerstört. Nur ein feuerfester Safe hat das Inferno überlebt. Darin lagen Unterlagen mit Informationen, in denen die Vergangenheit der Kinder genau geschildert war. Woher die beiden diese Informationen haben, ist mir aber selber ein Rätsel. Auch zwei Dokumente, bei denen nur das Wort >verstorben und hinter dem Haus begraben< gekritzelt wurde, habe ich dort gefunden. Außerdem befanden sich in dem Safe mehrere Schalen. Darin waren Augen, Zähne, ein Skalpell und Phiolen mit Säure. Mir wird bereits übel, wenn ich nur daran denke, was diesen armen Seelen, die nun in meiner Anstalt leben, widerfahren ist. Und ich kann es kaum glauben, dass niemand etwas von allem wusste. 9. März, Kurzzusammenfassung der Patienten: Sayuri Mizuki hat sehr heftig reagiert, als ich mit ihr sprechen wollte. Also habe ich meine Frau gebeten, sich um sie zu kümmern. Später erzählte Aimi mir, was ich schon halb geahnt habe. Ich fürchte, dass Sayuri sich nicht von den Folgen ihres traumatischen Erlebnisses erholen wird. Izuya Harabashi ist etwas umgänglicher. Solange man ihn nicht berührt, ist er sehr ruhig und wirkt fast friedlich. Jedoch ändert das nichts an der Tatsache, dass er panisch wird, sobald man ihn anfasst. Vielleicht kann man ihn mit sehr viel Geduld doch noch wieder in die Gesellschaft integrieren. Ryo und Taku Masame haben ebenfalls zu schwere Traumata erlitten, als das man sie entlassen könnte. Sie haben kein Wort gesagt, seit sie hier sind und weigern sich standhaft, getrennt zu werden. Wenn man sie trennt, beginnen sie, solange zu schreien, bis sie wieder zusammen sind. Besonders bei Taku, dem sämtliche Zähne fehlen, ein furchtbares Geräusch. Und dann noch Kenjiro Ashiba. Die meiste Zeit liegt er nur da. Ab und an hat er grundlos minutenlange Panikanfälle. Auch er spricht nicht und hat offenbar Angst davor, zu schlafen. Ich muss versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht hat er eine Chance, irgendwann entlassen zu werden. 13. März, 9:00 Uhr: Heute ist Herr Namiyoka vorbeigekommen, um die Patienten zu sehen. Nachdem er kurz mit Izuya gesprochen hat, habe ich ihn zu Kenjiro gebracht. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass es wahrscheinlich sinnlos ist, mit den Patienten zu reden, aber er scheint sich für sie verantwortlich zu fühlen. Als er begann, mit Herrn Ashiba zu sprechen, passierte jedoch etwas Seltsames. Nicht nur, dass Kenjiro deutlich ruhiger wurde, er antwortete Herrn Namiyoka! Und er hat endlich richtig geschlafen. Kaum war Herr Namiyoka aus dem Zimmer getreten, bat ich ihn, Kenjiro öfter zu besuchen. Er stimmte zu und versprach mir, mir alles zu erzählen, was passierte. Das Ganze ist mehr als seltsam, aber ich glaube, dass Kenjiro sich nur jemandem in seinem Alter anvertrauen kann. Warum, kann ich allerdings nicht sagen. 24. März, 20:30 Uhr: Herr Namiyoka berichtete mir heute, dass Kenjiro sich offenbar in eine Fantasiewelt geflüchtet hat, in der sein Leben in Ordnung ist. Zudem hat er auch ein gestörtes Zeitgefühl. Das ist wirklich faszinierend, allerdings geschieht so etwas öfter, als die meisten annehmen. Auch Herr Namiyoka scheint recherchiert zu haben. Er sagte mir, dass die ehemaligen Leiter des Waisenhauses, die Mashi-Brüder, offenbar bei dem Brand umgekommen sind. Sie waren es auch, die den Kindern diese fürchterlichen Dinge angetan haben. Und niemand hat irgendetwas geahnt. 30. April, 16:46 Uhr: Kenjiro macht weiterhin Fortschritte. Jedenfalls, wenn Herr Namiyoka bei ihm ist. Sobald er fort ist, hat Kenjiro teilweise stundenlange Panikattacken. Eine Tatsache, die ich Herrn Namiyoka nicht berichtet habe. Vorerst muss ich selber herausfinden, warum dies so ist. Und ich muss versuchen, etwas über die Vergangenheit der Mashi-Brüder sowie zu finden. 2. Mai, 11:12 Uhr: Heute hat Herr Namiyoka mir gebeichtet, dass er sich in Herrn Ashiba verliebt hätte. Das ist in der Tat etwas Neues. Auch wenn ich ihn nicht verurteile, habe ich dennoch versucht, ihm klarzumachen, dass es keinesfalls sicher ist, dass Kenjiro diese Gefühle erwidert oder diese überhaupt erfassen kann. Bei meinen Nachforschungen über die früheren Leiter des Waisenhauses bin ich kaum weitergekommen. Alle, die die beiden kannten, haben sie als höflich und erfahren bezeichnet. Ob sie ihre wahren Persönlichen nur gezeigt haben, wenn sie alleine waren? 5. Mai, 13:33 Uhr: Kenjiro weiß, was los ist. Offenbar beginnt er, sich wieder an alles zu erinnern. Ich habe beobachtet, wie er im Schlaf geweint hat. Doch auch Herr Namiyoka scheint bedrückter zu sein, als ich ihn je zuvor erlebt habe. Anscheinend hatte er einen Streit mit Herrn Ashiba. Worum es ging, wollte er mir nicht sagen. So wie es aussieht, werde ich mal mit Kenjiro reden müssen. 9. Mai, 16:00 Uhr: Erstaunlich, wie gut Kenjiro sich erholt hat. Natürlich habe ich mich über ihn und die anderen Jugendlichen so gut informiert, wie es ging. Mit diesen Informationen und dem, was ich mir über die früheren Leiter vom >Haus der Hoffnung< zusammengereimt habe, konnte ich ihm einen sehr detaillierten Eindruck davon geben, was damals mit ihm geschehen ist. Er schien es recht gut aufgenommen zu haben. Jedenfalls hatte er keine Panikanfälle oder ähnliches. Und ich habe ihm erlaubt, die anderen zu sehen. Er wirkte zwar traurig, aber auch gefasst. Ich werde bald versuchen, einige Tests mit ihm zu machen. Herr Namiyoka ist wieder zurück. Anscheinend hat er beschlossen, den Streit mit Herrn Ashiba ruhen zu lassen. Das freut mich, wirklich. 10. Mai, 8:55 Uhr: Herr Namiyoka hat mir gesagt, dass er mit Kenjiro geschlafen hat. Nun, das hatte ich bereits halb erwartet. Allerdings hat er beteuert, dass er Kenjiro zu nichts gezwungen hat. Da er mich noch nie angelogen hat, glaube ich ihm. Dass er mir so etwas Persönliches berichtet, zeigt mir, wie sehr er mir vertraut. 7. Juni, 12:19 Uhr: Heute beginnen die Tests. Kenjiro scheint sich wieder bester geistiger Gesundheit zu erfreuen. Dennoch muss ich mir sicher sein, dass er wirklich dabei ist, sich zu erholen. Ich habe Herrn Namiyoka erlaubt, bei den Tests dabei zu sein. Alles ist gut verlaufen. Nur das Bild der Mashi-Brüder hat eine Reaktion in ihm ausgelöst. Allerdings hielt diese nur wenige Sekunden an. Nach den Tests habe ich eine Art Schocktherapie ausprobiert und ihm gezeigt, was die damaligen Leiter des Waisenhauses mit ihm gemacht haben. Anscheinend war das zu früh. Herr Ashiba ist, nachdem er sein Spiegelbild gesehen hat, zusammengebrochen. 22. Juni, 8:04 Uhr: Kenjiro scheint sich wieder erholt zu haben. Zumindest hat Herr Namiyoka mir das gesagt. Und ich habe herausgefunden, wie es damals zu dem Feuer kommen und die gefangenen Jugendlichen fliehen konnten. Es sieht so aus, als hätten sie eine Zentralverriegelung für die Zellen benutzt. Dadurch waren sie in der Lage, sämtliche Türen mit nur einem Knopfdruck zu öffnen. Das war es auch, was ihnen zum Verhängnis wurde. Sie hatten gedacht, dass die Kinder es niemals wagen würden zu fliehen und deshalb die Zellen offen gelassen. Als sie gerade dabei waren, ein neues `Experiment´ an Taku Masame auszuprobieren (anscheinend wollten sie ihn mit Ethin foltern), griff dieser sie an und bekam dabei ein Feuerzeug in die Hand. Ethin ist hoch entzündlich und kaum hatte Taku das Feuerzeug angemacht und den beiden vor die Füße geworfen, standen diese sofort in Flammen. Der Rest der Gruppe wurde von den Schreien der beiden Männer angelockt und gemeinsam flohen sie aus dem Gebäude. Der Rest ist bekannt. 01.Juli, 10:39 Uhr: Es ist alles bereit. Heute wird Kenjiro Ashiba, seit einem halben Jahr Patient in unserer Anstalt, entlassen. Herr Namiyoka hat darum gebeten, dass Herr Ashiba bei ihm wohnen darf. Ich habe dieser Bitte entsprochen. So wie es aussieht, erwidert Kenjiro Herrn Namiyokas Gefühle und hat den Vorschlag bereitwillig angenommen. Herr Ashiba ist dazu verpflichtet, sich zu weiteren Kontrolluntersuchungen wieder hier einzufinden. Das einzige Problem ist sein immer noch gestörtes Zeitempfinden. Die Besuche hier werden mir ein gutes Bild davon vermitteln, ob es sich von selber wieder gelegt hat oder weitere Behandlungen notwendig sind. Ich wünsche Herrn Ashiba viel Glück auf seinem weiteren Lebensweg. 24. Oktober, Nachtrag: Herr Ashiba hat sich sehr gut entwickelt. Sein Zeitempfinden hat sich wieder normalisiert und er hat keinerlei Panikanfälle mehr. Sein letzter Besuch vor zwei Tagen hat mir gezeigt, dass er dabei ist, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Herr Namiyoka unterstützt ihn dabei, so gut er kann. Des Weiteren hat Kenjiro eine Aushilfsstelle in einem Supermarkt bekommen und scheint sehr glücklich darüber zu sein, wieder mit anderen Menschen Umgang zu pflegen. Bei den anderen Patienten ist es momentan Izuya Harabashi, der langsam beginnt, sich von allem zu erholen. Vielleicht kann auch er von seinem schweren geistigen Trauma befreit werden. Aber ich werde nichts überstürzen. Zu wünschen wäre es Herrn Harabashi auf jeden Fall. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)