Brotherhood von KiraNear ================================================================================ Kapitel 1: Brotherhood ---------------------- „Also, wenn ich das jetzt verstanden habe, ist es ein Stein mit Gesicht. Aber was, wenn sie sich irren und es in Wirklichkeit ein versteinertes Gesicht ist? Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“ Frustriert rieb sich Stan die Schläfe. Auch wenn das Steingesicht zu einer der beliebtesten  Attraktionen der Mystery Shack gehörte, wurden die Leute nicht müde, ihn bei so gut wie jeder Tour die Ohren mit Fragen darüber zu füllen. Anfangs führte er noch eine Strichliste, doch das wurde ihm dann doch recht schnell zu aufwendig. Auch hatte er sich für eine kurze Zeit entschieden, den Stein einfach aus der Tour zu streichen, doch dann wurde so oft danach gefragt, dass er ihn wieder dazustellte. Da ertrug er lieber die gleichen, dämlichen Fragen, als Umsatzbußen zu riskieren. Zumal ihm sein Bruder angekündigt hatte, dass die Mystery Shack nach dem Ende des Sommers Geschichte sein wird. So genoss er noch die wenige Zeit, die ihm damit noch blieb, damit, weiterhin Touristen und Stadtbewohnern durch billige Tricks das Geld aus den Taschen zu ziehen. So lange, bis die Kinder Gravity Falls wieder hinter sich lassen und nach Hause fahren. Dann würde auch er wieder die Koffer packen und gehen müssen. Doch wohin? War er doch bereits in 32 Staaten nicht mehr willkommen. Daran wollte er nicht denken, noch nicht. So fokussierte er sich auf die aktuelle Situation und schüttelte, wie schon so oft an diesem Tag, den Kopf. „Nein, Sie können mich das so oft fragen, wie Sie lustig sind. Es ist und bleibt ein Stein, der wie ein Gesicht aussieht! So, und wenn ich Sie alle nun bitten darf, die nächste Attraktion: Die Biberente! Ist es ein Biber mit Entenkopf? Oder ist es eine Ente mit Biberkörper? Denken Sie mal darüber nach!“   Eine Stunde später, als die letzten Kunden ihr hart erarbeitetes Geld im Souvenirladen ausgegeben und die Mystery Shack wieder verlassen hatten, ließ sich Stan erschöpft in seinen Sessel fallen. Müde massierte er sich den Nacken, dann schnappte er sich die Fernbedienung und zappte durch die Kanäle. Bis er an einem hängen blieb, der eine Dokumentation über die Sportart Kickboxen zeigte. Zufrieden lehnte er sich zurück und wollte sich gerade einen Schluck Bier gönnen, als ihm seine Großnichte dabei störte. Erschrocken spuckte er das Bier auf den Fernsehbildschirm. „Gronkel Stan, mir ist so langweilig!“ Aufgeregt kam das kleine Mädchen angelaufen, schüttelte an ihrem Großonkel herum, um sich anschließend auf den Boden zu werfen. „Kindchen, Kindchen, beruhig dich doch erstmal! Ich glaube nicht, dass ich genau jetzt die richtige Person dafür bin. Ich verbringe gerne meine Zeit mit euch Kindern, aber dein Gronkel Stan ist gerade etwas zu müde dafür. Was ist mit deinem Bruder, warum unternimmst du nichts mit ihm? Sonst klebt ihr doch sonst auch aneinander wie die Wespen an meiner Zitronenlimonade … Oder einer deiner Freundinnen, diese kleine Asiatin oder das Mädchen mit dieser seltsamen, männlichen Stimme? Haben die keine Zeit für dich? Überhaupt jemand anderes, wie dein Hausschwein?“ Mabel wand sich noch ein wenig auf dem Boden hin und her. Dann richtete sie sich auf und schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Dipper macht irgendwas mit Gronkel Ford, Schwabbel schläft und lässt sich auch so gut wie gar nicht wecken. Soos hat irgendwas von einer Reparatur in der Minigolfanlage erzählt, Wendy ist mit ihren Freunden unterwegs; und Grenda und Candy haben leider keine Zeit für mich! Bitte, Gronkel Stan, du kannst mich doch jetzt nicht hier an dieser Stelle an Langeweile sterben lassen! Ich hab doch nicht einmal meine besondere Sommerromanze gefunden; außerdem kann ich Schwabbel und Dipper nicht alleine lassen. Denn ganz unter uns“, flüsterte sie Stan zu. „Die beiden sind ohne mich total verloren und aufgeschmissen. Sag ihnen das aber ja nicht! Das muss zwischen uns beiden bleiben, verstanden, Gronkel Stan?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er seine Großnichte an, dann begann er zu seufzen und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Die Sendung konnte er nun vergessen, nur widerwillig schaltete er den Fernseher wieder aus und rückte sich auf dem Sofa zurecht. „Also gut, Mabel, was möchtest du denn mit deinem alten Gronkel Stan tun? Doch hoffentlich kein nerdiges oder allzu mädchenhaftes Zeugs!“ „Nein, nein, Gronkel Stan, ich habe etwas viel besseres mit dir vor!“ Wie aus dem Nichts zauberte Mabel ihr heißgeliebtes Fotoalbum hervor und begann ihn mit leuchtenden Augen anzusehen. Stan seufzte ein weiteres Mal. „Na gut, Kleine, dann lass uns das hinter uns bringen.“ Mit einem Freudeschrei kletterte Mabel auf seinen Schoß. „Ach, Gronkel Stand, sieh das doch nicht so eng! Es ist doch superklasse, gemeinsam super-duper-tolle Erinnerungen zu schaffen! Aber es ist genauso super-megatoll, wenn man mit anderen die Erinnerungen durchgeht und sich darüber amüsiert!“ Stan hatte trotzdem weiterhin seine Zweifel darüber, ob Mabel nicht die Einzige wäre, die bei der ganzen Sache auf ihre Kosten kommen würde, lässt es aber mit sich machen. Er mochte seine Großnichte, und bedingt durch die Ereignisse der letzten Tage, ist ihm die Wichtigkeit seiner Familie noch bewusster geworden. Seiner kleinen Familie, die ihm noch geblieben war. Doch so sehr es versuchte, er kam nicht aus seiner Haut heraus; um ihnen zeigen zu können, wie wichtig sie ihnen waren. Abgesehen davon gehörte das simple Durchblättern von Fotoalben so oder so nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.   So konnte er sich nicht so recht auf Mabels Worte konzentrieren, immer wieder driftete er mit seinen Gedanken zu anderen Dingen. Mabels aufgeregtes Gebrabbel hatte eine merkwürdige, hypnotische Wirkung auf ihn, wie das Schnurren einer Katze oder das Geräusch einer Bürste. Mabel bemerkte es kaum, dass ihr Gronkel nicht so recht zuhörte, sie war viel zu sehr in ihre Worte und Erinnerungen vertieft. Erst nach über einer Stunde fiel es ihr auf, als sie ihn etwas fragte und Stan lediglich aufschreckte. „Gronkel Stan, gib es zu, du hast mir überhaupt nicht zugehört!“, schmollte Mabel und verschränkte die Arme. „Doch, doch, Kleine, das habe ich“, versuchte Stan sich zu verteidigen. „Ich habe nur über deine Worte und die Bilder nachgedacht, da bin ich wohl zu tief in meine Gedanken gerutscht. Tut mir Leid, da habe ich wohl nicht ganz verstanden, was du gesagt hast. Was war noch mal deine Frage?“ Misstrauisch sah Mabel ihren Gronkel an, beide waren sich unsicher darüber, ob Mabel seinen Worten Glauben schenken wollte oder konnte. Dann zierte ein finsteres Lächeln ihr Gesicht.   „So so, Gronkel Stan, wenn du also wirklich über unsere gemeinsamen Erinnerungen nachgedacht hast, dann kannst du mir auch sicherlich sagen, welche davon deine aller-allerliebste Erinnerung ist!“ Augenblicklich kam Stan bei dieser Aufforderung ins Schwitzen, er kam sich fast wie bei einem polizeilichen Verhör. Als müsste er erklären, wo er sich die letzte Nacht aufgehalten habe und müsste dabei auf seine Worte achten, ohne seine eigene illegale Aktivität mit einer Silbe zu erwähnen. Wie bei einem Lauf übers Mienenfeld. Nur, dass die Mienen einen sofort umbrachten. „Ach, Kind“, fing er an sich herauszureden. „Ich habe so viele Erinnerungen und so viele tolle Dinge mit euch erlebt, dass ich mich gar nicht entscheiden kann, welche davon die beste für mich ist. Sie waren einfach alle so toll und für mich schön … deswegen kann ich dir diese Frage unmöglich beantworten, hehe … das verstehst du doch, oder, Mabel?“ Für einen Moment zweifelte Stan daran, ob seine Großnichte ihm das abkaufen würde. Er rechnete schon damit, zu fest auf die Gefühlsdrüse gedrückt zu haben und rechnete mit einem enttäuschten Konter ihrerseits. Du bist ein Lügner! Wie kannst du nur? Du bist ein ganz gemeiner und schlechter Mensch! Worte, die er sich bereits das eine oder andere Mal in der Vergangenheit anhören durfte. Doch dann begannen ihre Augen wieder zu glänzen. Sie umarmte ihn herzlich, und da es Mabel war, ließ er es auch zu. Größtenteils auch deswegen, weil er damit am wenigsten gerechnet hatte und sie ihn sozusagen damit überrumpelt hatte. Wenn auch nur für eine kurze Zeit, und er wollte schon was sagen, bevor es ihm doch zu unangenehm wurde. Wozu er jedoch nicht kam. „Oh, Gronkel Stan, das ist eines der schönsten Dinge, die du je gesagt hast …“ „Jaja, Kleine, ist ja auch mal wieder gut …“, versuchte Stan seine Worte herunterzuspielen, doch Mabel ließ nicht von ihm ab. Sachte, aber bestimmt versuchte er, sie wieder von sich zu schieben, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Im Gegenteil, ihr Griff um seinen Hals wurde etwas stärker. Nun saß er da, während Mabel ihn umarmte, wie bestellt und nicht abgeholt. So kam er sich ein wenig verloren vor, da Mabel eine Abbrechung der Umarmung von ihrer oder seiner Seite aus nicht zuließ. Unsicher sah er sich, soweit es ihm möglich war, in seinem Wohnzimmer um. Mabel dagegen genoss das Ganze. „Ich hab dich lieb, Gronkel Stan!“, flüsterte sie in sein Ohr. „Und ich wünsche mir, dass wir noch ganz viele weitere super-duper-grandiose Erinnerungen teilen werden!“ Hatte er sich eben noch merkwürdig gefühlt, so hatte ihm das nun den Rest gegeben. Damit hatte er nun bei weitem nicht gerechnet. Ein wohlig warmes und fremdes Gefühl breitete sich in seiner Brustgegend aus. Eines, das er schon eine sehr lange Zeit nicht mehr gespürt und längst wieder vergessen hatte. Doch obwohl es sich für ihn ungewohnt anfühlte, war das Gefühl für ihn auch sehr schön. Seine weit aufgerissenen Augen zogen sich wieder zusammen, seine Gesichtszüge wurden weicher und man konnte sogar ein schwaches Lächeln in seinem Gesicht sehen. Er klopfte ihr leicht auf den Rücken, dabei nickte er unmerklich.   Sie blieben für eine Weile, wie sie waren, dann kletterte Mabel von ihm herunter und sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an. „Damit das uns beiden klar ist, diese Art Peinliche-Gronkel-Nichte-Umarmung bleibt unter uns, ja? Ich will mir deswegen nicht gleich eine neue Fake-ID holen müssen.“ Mabel winkte ab. „Gronkel Stan, für wen hältst du mich? Ich stecke das einfach in die Tür für geheime und seltsame Erinnerungen, die keinen etwas angehen.“ Dabei tippte sie sich auf die Stirn. „Wobei ich das Ganze noch tiefer in meinem Kopf vertiefen könnte, würde man mir einen Riesenbecher mit leckerem Schokoladeneis gönnen …“ „Das grenzt ja fast schon an Erpressung … gefällt mir! Offenbar habe ich euch Kindern doch noch etwas beibringen können. Wenn ihr schon Benjamin Franklin wie eine Frau aussehen lasst …“ Er lachte ein wenig, dann zückte er seine Geldbörse und reichte Mabel nur sehr ungern den Geldschein. „Dass du mir aber ja darauf achtest, genug Eis für dein Geld zu bekommen! Die Preise werden auch immer höher und die Kugeln immer kleiner. An sich liebe ich diese Geschäftsidee ja, aber nur, wenn ich sie hier in der Mystery Shack benutze. Und denk daran, deinem Bruder eine Kugel mitzubringen, sonst heult der mir noch die Ohren mit seiner piepsigen Stimme zu. Darauf habe ich jetzt nun wirklich keine Lust. Macht das lieber unter euch aus und haltet mich da raus!“   Wie als hätte man ihn gerufen, kam Dipper um die Ecke gelaufen, die Hände hinter seinem Rücken versteckt. „Mabel, da bist du ja! Gerade wollte ich dich schon suchen gehen … ich habe hier nämlich eine kleine Überraschung für dich! Du hast dich doch immer darüber beschwert, dass du Schwabbel nie in das öffentliche Freibad mitnehmen kannst? Obwohl du mit deinem Schwein nur zu gerne mal zum Schwimmen gehen möchtest?“ Beleidigt verschränkte sie ihre Arme, die letzte Abweisung saß noch zu tief in ihr drin. „Von wegen, Schwabbel soll ein dreckiges und schmutziges Tier sein. Dabei haben die absolut keine Ahnung, wie sauber Schweine eigentlich sind, und ganz besonders mein geliebter Schwabbel … das ist einfach nur unfair! Außerdem ist er stubenrein und weiß, wie man sich ordentlich benimmt! … Jedenfalls, wie sich ein braves Schwein eben zu benehmen hat.“, fügte sie noch hinzu. Dipper stimmte zu, hatte ihn die Sache ebenfalls geärgert, wenn auch hauptsächlich wegen Mabels verletzten Gefühlen. „Es ist ja nicht so, als wäre Schwabbel nicht reinlicher als so manche unserer Mitmenschen.“ Allein beim Gedanken schüttelte es ihn, dann konzentrierte er sich wieder zurück das, was er ihr sagen wollte. „Wie auch immer, diese Probleme gehören von nun an der Vergangenheit an! Und zwar genau deswegen!“ Er zog eine leicht ausgeblichene Karte hinter seinem Rücken hervor. Mabel sah ihn fragend an. „Und wie soll uns dieses Blatt Papier dabei helfen?“ „Mabel, das ist nicht nur ein einfaches Stück Papier“, sagte er und breitete es vor ihrer Nase aus. „Das hier ist eine alte, selbstgezeichnete Karte von Gronkel Ford, die uns zu einem streng geheimen Badeort im Wald führen wird. Er hat sich früher gerne mal dort aufgehalten, wenn er in Ruhe baden und schwimmen wollte. Der kleine See liegt so tief und abgelegen im Wald, dass ihn sonst niemand in Gravity Falls kennt. Höchstens Alterchen McGucket, und der hat sich ja die meisten seiner Erinnerungen gelöscht. Sprich, die einzige Gesellschaft, die wir dort haben werden, sind wir selbst, Schwabbel und vielleicht das eine oder andere Wildtier, wenn es nicht zu scheu ist. Nicht mal diese nervigen Zwerge hatten sich laut Gronkel Ford dort auf.“ Mabels Augen leuchteten auf, und sie begann, von einem Ohr zum andere zu grinsen. „Soll das heißen, wir haben dort einen eigenen Badesee ganz für uns alleine? Einen, an dem ich Schwabbel mitnehmen kann? Das ist ja sowas von mega-cool!“ Kaum sprach Dipper die Frage aus, ob Mabel zusammen mit ihm und Schwabbel dorthin gehen wollen würde, war seine Schwester in einem Affenzahn aus dem Wohnzimmer gerannt. Nur um dann wenige Minuten später mit einer vollgepackten Badetasche und einem gähnenden Schwabbel zurückzukommen. „Bruder, wir sind sowas von bereit für ganz viel Badespaß und noch mehr davon!“ Amüsiert schüttelte Dipper den Kopf; dann nahm er seine Schwester an der Hand und rannte mir ihr zusammen hinaus. Schwabbel folgte den beiden problemlos.   Stan dagegen lehnte sich zurück und schaltete den Fernseher wieder an. Mittlerweile lief auf dem Sender eine andere Sendung, eine, in der offensichtliche Betrüger versuchten, ihre nutzlosen Dinge an ahnungslose Menschen mit zu viel Geld in der Tasche zu verkaufen. Amateure, nichts weiter als blutige Amateure. Während er seine Dose leer trank und diese anschließend quer durch den Raum warf, versuchte er, sich auf das Fernsehprogramm zu konzentrieren. Doch je stärker er es versuchte, desto schwerer fiel es ihm. Nach einiger Zeit bekam er immer weniger mit, bis er nur noch wie bei Mabel vorhin Worte hörte, sein Hirn sie aber nicht richtig verarbeitete. Ständig rutschten seine Gedanken zum Fotoalbum, das nun vergessen auf dem Teppich lag. Es ist doch superklasse, gemeinsam super-duper-tolle Erinnerungen zu schaffen … Immer wieder verfolgten ihn diese Worte, ließen ihn nicht los, besetzten seine Gedanken. Er versuchte, gegen den Drang anzukämpfen. Den Drang, darüber nachzudenken. Den Drang, den Fernseher gegen das Album einzutauschen, und darin herumzublättern. So sehr er dagegen ankämpfte, es fiel ihm immer schwerer und schwerer. Schließlich gab er auf. Seufzend schaltete er ein weiteres Mal den Fernseher aus, sich selbst ein wenig verfluchend, dass er sich darauf überhaupt eingelassen hat. Wenigstens sieht mich keiner dabei. Mit einem Griff schnappte er sich das mit Stickern und Glitter verzierte Buch, und wollte gerade anfangen darin zu blättern, als ihn das Geräusch von schnellen Schritten hochfahren ließ. Er sah, wie Mabel an der offenen Tür vorbeilief, und befürchtete schon, sie wäre wegen dem Buch zurückgekommen. Doch dann lief Mabel erneut an der Tür vorbei, mit einem Strandtuch unterm Arm, wie Stan gerade noch erkennen konnte. Sie selbst bemerkte ihn nicht und war wieder genauso schnell aus der Tür verschwunden, wie sie gekommen war. Stan atmete auf. Da hast du nochmal Glück gehabt, alter Junge! Er wartete einen Augenblick, in denen er nichts weiter hörte als seinen eigenen Atem, dann hob er das Buch und öffnete es. Sie hatte zu so gut wie jedem ihrer Erlebnisse Fotos geschossen, mal ganz gut, mal weniger ansehnliche. Die meisten Fotos, oder zumindest die Hälfte davon, sagten ihm gar nichts. Doch selbst ohne Mabels ausufernden Erklärungen wurde das Album nur geringfügig spannender für ihn. Was habe ich eigentlich erwartet? Am liebsten würde er das Buch wieder schließen und es dort hinlegen, wo er es aufgehoben hatte, und doch konnte er nicht damit aufhören, darin zu blättern. Schließlich kam er bei den vordersten Seiten des Buches an, sein Blick blieb auf ein paar bestimmten Bildern hängen. Wieder drifteten seine Gedanken weg. Hatte er vorhin noch über unbestimmte und unbedeutende Dinge nachgedacht, so dachte er nun an seine eigene Vergangenheit. Als er und Ford selbst noch sehr jung waren. Als sie noch ein Herz und eine Seele mit einem gemeinsamen Traum waren. Er sah sich selbst und Ford oft in den Zwillingen, und auch jetzt konnte er nicht anders, als die Ähnlichkeiten zu sehen. Sich an seine Vergangenheit zu erinnern.   Für eine Weile sah er die Bilder an, und gleichzeitig sah er durch sie hindurch. Langsam bildete sich eine Gedankenkette aus Erinnerungen und aktuellen Ereignissen. Er dachte so lange, und so intensiv nach, dass er für ein paar Augenblicke nicht sagen konnte, ob Dippers Stimme nun aus seinem Kopf oder der Realität stammte. „Gronkel Stan? Hallo, kannst du mich hören?“ Irritiert sah er in die Richtung, aus der er die vermeintliche Stimme hörte und sah Dipper ins Gesicht. Augenblicklich fuhr er zusammen, dann versteckte er das Buch hinter sich in der Hoffnung, der Kleine hätte es nicht gesehen. „Sorry, Gronkel Stan! Hab ich dich gerade bei irgendwas gestört?“ Ein kurzes Räuspern, wieder lief ihm ein wenig Schweiß über die Stirn. „Kann ich was für dich tun, Kleiner? Wolltest du nicht mit deiner Schwester zum Schwimmen gehen?“ „Ja, das hatten wir auch vor. Aber dann war meine Schwester so schlau und hat alles Mögliche eingepackt, nur das wichtigste nicht: Die Sonnencreme. Oder zumindest die richtige. Die, die sie mitgenommen hat, hat einen viel zu niedrigen Lichtschutzfaktor. Kannst du mir sagen, wo ich sie hier finden kann? Mabel  meinte, sie liegt in unserem Badezimmer, aber da war sie nicht.“ Stan dache nach, immer noch seine umgeworfenen Gedanken sortierend, dann fiel es ihm wieder ein. „Die ist im Bad hier unten, im kleinen Schrank. Entweder bei den Türen in der Mitte oder in der dritten Schublade links. Und dass ihr euch ja gründlich eincremt, ich hab keine Lust, mir eine Woche oder länger euer Sonnenbrandgeweine anzuhören. Vor allem du mit deiner Hühnerbrust solltest gut auf dich achtgeben. Bis du die Haardichte wie dein Gronkel auf der Brust hast, vergeht noch ein Weilchen!“ Die letzten Worte rief er ihm nach, doch Dipper war längst in die Richtung des Bads gelaufen. „Danke, Gronkel Stan!“, rief dieser auf seinem Rückweg, dann hatte er auch wieder das Haus verlassen. Stumm nahm Stan das Buch hervor und betrachtete das kunterbunte Cover. Welches wie der Rest des Umschlages zu stark beklebt und verziert war, als dass man den ursprünglichen Untergrund überhaupt erkennen konnte. Er sah es eine Weile lang an, dann legte er es dort ab, wo es vorhin gelegen war. Er hatte nun eine Idee, eine Mission; und der musste er nun nachgehen.   Unsicher stand er vor dem Snackautomaten. Ach komm schon, Stan, es ist doch nur dein Bruder, da ist doch nichts dabei. Trotzdem musste er erst schlucken, bevor er den Geheimcode in die Zahlenfelder des Automaten eingab. Als er die Untergrundbasis erreichte, sah war seinen Bruder, wie er an der Maschine werkelte und sich immer wieder Notizen machte. Blätter mit kompliziert aussehenden Berechnungen und noch komplizierten Blaupausen lagen überall verstreut. Doch Stan interessierte sich in dem Moment nur sein Bruder, der nach wie vor seinen Forschungen nachging. Als hätte es die letzten 30 Jahre dazwischen nicht gegeben. „Hey, Ford, wie läuft’s? Was machst du so? Kommst du gut voran, was auch immer du gerade da tust?“ Ford ignorierte ihn für eine kurze Zeit, dann sah er von seinen Notizen hoch und schüttelte den Kopf. „Vergiss es, Stan. Glaub ja nicht, dass du jetzt auf heitere Familie machen kannst, nur weil du letztens mein Leben gerettet hast.“ „Und dich aus dem Portal geholt habe!“ „Wie auch immer!“, fuhr Ford fort und schraubte wieder etwas am Portal herum. „Außerdem wusste ich nicht, dass du dich neuerdings mit Roboter-Nerdkram beschäftigen möchtest, wie du meine Forschungen immer genannt hast.“ „Hey, ich habe mich 30 Jahre lang mit diesen ganzen Sachen hier beschäftigt. Und ja, du bist ja schließlich immer noch mein Zwillingsbruder, warum sollte es mich nicht interessieren, was du tust? Menschen verändern sich, Ford, und ich wollte wirklich nur wissen, was du hier unten gerade so machst. Das ist alles …“ Skeptisch sah Ford seinen Bruder an, dann ließ er für eine kurze Zeit vom Portal ab. „Wenn du unbedingt wissen möchtest, ich kontrolliere, ob und was du in meiner langen Abwesenheit daran geändert hast. Aber wie ich bisher gesehen habe, hast du kaum etwas daran getan, außer sie in Stand gehalten und repariert. Momentan habe ich keine neuen Wesen oder Aktivitäten zum Beobachten. Trotzdem muss ich mich ranhalten. Mir fehlen 30 Jahre, wie du weißt. Und ich habe mit Sicherheit nicht alle Mysterien, die Gravity Falls zu bieten hat, entdeckt.“ Unangenehm berührt sah Stan zur Seite, er konnte seinem Bruder nicht mehr in die Augen sehen. „Es tut mir Leid, was damals passiert ist. Aber ich kann wohl tun, was ich will, du wirst mir wohl nie richtig vergeben können… wenn du so beschäftigt bis, dann hast du jetzt wohl auch keine Zeit für einen lieben Bruder, oder?“ Leicht verwirrt sah Ford ihn an, dann wieder auf die Maschine vor ihm. „Nein, das hast du richtig erkannt, ich habe wirklich keine Zeit für meinen lieben Bruder. Wenn du mich also entschuldigst, ich möchte hier gern noch etwas weiterarbeiten. Du kannst mich ja später wieder fragen.“ Stan kannte seinen Bruder trotz der Trennung lange genug, um zu wissen, dass „später“ bei Ford später, aber auch in zwei Wochen oder drei Monaten bedeuten konnte. Doch Stan hatte keine Lust, so lange zu warten. Er wollte seinen Bruder jetzt, und wenn er alles dafür tun müsste. Ob dieser wollte oder nicht. „Ok, dann lasse ich das große Genie mal wieder alleine“, doch Ford hörte ihn bereits nicht mehr. Langsam stieg er die Treppen hinauf, und schob den Automaten wieder zurück an seinen alten Platz. Nachdenklich sah er sich um, dann hatte er eine Idee.   Hm, sieht ganz ok aus. Sieht so aus, als könnte Stanley ja doch mal etwas anderes, als alles zu ruinieren und zu zerstören … Erschöpft rieb er sich die Augen, dann betrachtete er sein Resultat. Auch dachte er über sich und Stan nach, wenn auch aus einem anderem Grund als sein Bruder. Ich würde dir gerne verzeihen, aber es ist so viel passiert. Sein Blick streifte einen glaslosen Bilderrahmen, welche über der Hauptsteuerkonsole stand. Er zeigte Dipper und Mabel, wie sie in die Kamera lächelten. Da zwischen dem Foto und ihrem jetzigen Aussehen kein Unterschied lag, ging Ford davon aus, dass Stan das Foto geschossen haben musste. Wenigstens hast du dich gut um die Kinder gekümmert. Sie mögen dich und vertrauen dir …. aber ich, ich schaffe das nicht. Noch nicht. Gerade, als er sich ein weiteres Mal auf seine Notizen stürzen und sie überarbeiten wollte, hörte er die Stimme eines Bruders. „Hey, Ford, ich muss dir unbedingt hier oben etwas zeigen! Beeil dich, sonst ist es gleich wieder weg!“ Doch Ford war nicht gerade begeistert davon, seinen Bruder zu hören. „Was auch immer es ist, so wichtig kann es nicht sein. Das kann sicherlich auch bis später warten!“ „Ok, dann eben nicht“, meinte Stan laut zurück. „Ich dachte nur, dass es für dich interessant sein könnte, dass ich gerade so ein komisches Glibbermonster auf unserem Grund und Boden gefangen habe. Aber gut, wenn du kein Interesse daran hast, dann lasse ich es eben wieder frei …“ Nun wurde Ford hellhörig. Ein Glibbermonster? Es klang nicht gerade nach etwas, was ihm bekannt war, nicht einmal aus der anderen Dimension. Neugierig, aber auch misstrauisch, stieg Ford die Treppen hoch. Dort traf er seinen Bruder, der ihn grinsend erwartete. „Zeig mir, was auch immer du mir zu zeigen hast. Aber wehe, es ist nichts wichtiges, Zeit ist Wissenschaft!“ Mit zugekniffenen Augen trat er an die Fensterscheibe, in die Richtung, in die sein Bruder deutete und versuchte zu erkennen, was sich unter dem Mülleimer-Käfigprovisorium befand. Enttäuscht senkte er die Schultern. „Stan, ich weiß nicht, warum du unbedingt meine wertvolle Zeit verschwenden möchtest. Aber das da draußen ist kein unbekanntes Glibbermonster, sondern eins deiner Ziegenhasen in einem Block aus Wackelpudding. Danke, dass du mir nur noch mehr Zeit geraubt hast, ich geh dann mal wieder …“ Wie aus dem Nichts spürte er, wie ihm von hinten jemand einen Lappen ins Gesicht drückte. Angst stieg in ihm hoch. Er konnte gerade noch einen seltsamen Geruch wahrnehmen, bevor er das Bewusstsein verlor.   Sein Kopf drehte sich ein wenig, als er wieder zu sich kam. Er hatte das Gefühl, immer noch den merkwürdigen Geruch in der Nase zu tragen. Sein gesamter Körper schaukelte hin- und her. Stan, was hast du nur mit mir getan? Vorsichtig öffnete er die Augen, doch als er sah, wo er sich befand, merkte er, dass er mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit. Sein Blick fiel auf Lake Gravity Falls, und er stellte fest, dass das Schwanken nicht von ihm selbst, sondern vom Boot kam, auf dem er sich befand. Auch stellte er fest, dass er an den Händen und Beinen gefesselt war, und dass ihm jemand eine Angel in die Hand gelegt hatte. „Stan, was soll das? Warum hast du mich betäubt? Warum sind wir hier? Du erwartest doch nicht, dass ich mich in Ruhe hier mit dir in ein Boot setze und gemütlich meine Zeit beim Angeln verbummle? Während ich noch so viel zu tun habe? Was hast du dir nur dabei gedacht, Stan?“ „Nichts Besonderes, Bruder, nichts Besonderes. Ich dachte nur, nachdem du selbst gesagt hast, dass du nicht wirklich viel Aufregendes zu tun hast, dass du ein wenig Ablenkung gebrauchen könntest. Und gefesselt habe ich dich, damit mir nicht gleich eine überbrätst.“ „Wozu ich jetzt auch nicht gerade wenige Lust habe, Stan! Jetzt bitte ich dich nur einmal: Bring mich zurück ans Land, bind mich los und lass mich gehen! Es ist nicht nötig, dass du mich begleitest. Von mir aus kannst du den Rest des Tages hier verbringen, aber ich, ich habe wichtigeres zu tun!“ Stan seufzte, war sein Bruder nach wie vor der gleiche Dickkopf wie er selbst. Mit ein paar geschickten Griffen fuhr er das Boot zurück ans Ufer, durchtrennte die Schnüre und ließ Ford widerstandslos von Bord gehen. „Ich will gar nicht erst wissen, wie viel Zeit ich hier bereits verschwendet habe. Viel Spaß noch beim Angeln, Stan!“, raunte er, ging ein Stück und drehte sich wieder um. „Denk ja nicht darüber nach, das wieder zu tun. Mich zu betäuben und auf deine Nussschale zu entführen. Deine kleine, billige Nussschale mit dem billigen Namen … Stanowar?!“   Fords gesamte Gesichtszüge entgleisten, er spürte, wie sein Hals anschwoll und er sich deutlich mehr Mühe geben musste, um seine aufkommenden Gefühle zu kontrollieren. „Du … du hast dieses Boot, diese kleine Nussschale Stanowar genannt? Aber … so hieß doch unser Schiff damals!“ „Natürlich habe ich es so genannt, wie hätte ich es nicht tun können?“, sagte Stan und klopfte auf den Motor des Bootes. „Erinnerst du dich noch, als wir selbst so kleine Knirpse waren? Als wir die vielen endlosen Nachmittage am Strand und in dieser Höhle gespielt haben. Als wir uns ausmalten, den alten Kahn aus der Höhle zu reparieren und hinaus in die Welt zu segeln. Ich habe immer wieder daran gedacht, Jahr für Jahr. Es nicht vergessen …“ Tränen stiegen in Fords Augen, doch wischte sie sofort weg und drehte sich wieder um. „Natürlich habe ich es nicht vergessen, ich konnte es genauso wenig wie du! Aber verrate mir eins, Stan! Ist das der einzige Grund, weshalb du mich zurückgeholt hast? Nur, um mit mir um die Welt zu shippern?“ Stan schwieg eine Weile, und hätte Ford ihn in dem Moment in die Augen gesehen, hätte er erkannt, wie sehr sein Bruder gerade mit sich kämpfte. „Verstehe …“, meinte Ford lediglich, doch dann legte sich eine Hand auf seine Schulter. „Nein, nicht nur … ich habe dich zurückgeholt, weil ich dich brauche! Weil du mein Bruder bist! Und … weil ich dich vermisst habe!“ Ungläubig drehte Ford sich ein weiteres Mal zu seinem Bruder um, doch als er den ehrlichen Ausdruck in dessen Gesicht sah, wurde ihm selbst warm und schwer zugleich ums Herz. „Peinliche Geschwisterumarmung?“ „Peinliche Geschwisterumarmung!“ Beide lagen sich in den Armen, nur um wenige Sekunden später wieder eine kleine Distanz zwischen sich zu bringen. „Weißt du, Stan, du hattest Recht, als du meintest, dass ich dir nicht verzeihen könnte. Das stimmt. Vermutlich werde ich es nie ganz tun können, aber ich kann es versuchen. Dir zu liebe. Aber schau uns an, wir sind zu alt für eine Weltreise, wir sind alte Männer geworden…“ Enttäuscht blickte Stan zu Boden. „Dennoch, ich bin mir sicher, dass eine gemütliche Angelrunde unter Brüdern jederzeit drin sein sollte, egal, wie alt man ist. Was meinst du, Angelpartner?“ Stan lächelte, dann gab er Ford seine Angel zurück. Dann fing er an zu rennen. „Wer zuletzt beim Boot ist, ist eine lahme Ente!“ Lachend liefen sie zum Boot, und wenn auch noch so manche Differenz zwischen ihnen lag, so konnten sie den Rest des Tages genießen. Wie sie es vor über 40 Jahren getan haben. Wie zwei Brüder. Wie ein Herz und eine Seele. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)