Bruderliebe von randydavies ================================================================================ Kapitel 10: ------------   ~°~10~°~     Ich war jemandem begegnet, dem Ich nicht egal zu sein schien. Wenn das kein Zeichen war. „Herr Engel?“, fragte ich nach, so, als ob ich mich verhört hätte. Er hatte meine Hand kurz gedrückt, ließ sie aber zu meinem eigenen Bedauern los und nickte als Bestätigung. Die Wärme seiner Finger, die kurz eine Welle der Wohltat bei mir verursacht hatte, verschwand. „Ein passender Name für einen Retter“, fügte ich schnell hinzu, um etwas Nettes zu sagen. Meine Stimme zitterte. Sie kam kaum gegen den Wind an, doch hatte er es verstanden, denn er nickte abermals. Mir wurde anders zumute. Fremdartige Gefühle durchströmten meinen Körper. War ich rot geworden? Bei der Kälte konnte ich das nicht mit Sicherheit bestimmen, es war nur ein Gefühl. „Ja“, antwortete er nach einer kurzen Pause. „Auch wenn ich kein richtiger Engel bin, so habe ich vielleicht eine Art von Schutzengel in mir?“ Er hielt mich an beiden Armen fest, ließ nicht los und ich klammerte mich buchstäblich an ihn, auch aus Angst, einen Rückzieher zu machen, oder ihn von mir zu stoßen. Die Befürchtung, wenn ich losließ, würde es für mich keine Rettung mehr geben. „Danke, Herr Engel“, flüsterte ich an seine Brust gelehnt. „Ich bin mit dem Auto da“, sprach er einfühlsam, als er merkte, dass ich mich nicht rührte, sondern mich weiter an ihn klammerte, folgte aber seinem Blick. Mein Retter deutete auf den drei Meter vor uns stehenden, schief parkenden, schwarzen BMW – die Fahrertür stand noch offen. Ich sah zu dem Fahrzeug, dass eine eigene Sprache sprach, und konnte mir denken, wie ich auf ihn gewirkt haben musste – ein junger Mann, der in die Fluten springen wollte, um zu sterben. Er ließ meine Hand erst los, als er die Beifahrertür aufmachen musste. „Im Übrigen kannst du mich Carsten nennen und nicht Herr Engel.“ Carsten drehte sich zu mir und war automatisch zum ‚Du‘ übergegangen. Dann befühlte er meinen Puls, was mich noch mehr überraschte, vor allem so fachmännisch. Ich ließ ihn gewähren, entzog ihm nicht meine Hand. Dennoch sah ich ihn unsicher an, hüllte mich enger in meinen nassen Mantel, der absolut keinen Wärmeschutz gab. Meine Finger waren steif, meine Zehen spürte ich in meinen Stiefeln schon lange nicht mehr. „Dein Puls rast, das ist aber normal. Du bist noch durch den Wind“, fügte er hinzu. „Okay“, kam es leise von mir. „Schwindelig?“ Kurz wollte ich bejahen, doch dann schüttelte ich den Kopf. Klar fühlte ich mich nicht kräftig, aber schwindelig war mir nicht mehr. Eher würde ich erfrieren, wenn ich nicht bald aus den völlig durchnässten Klamotten kommen würde. Der Wind nahm zu. Die Wetterlage war alles andere als angenehm. Es erinnerte mich an einen Tag vor einem Jahr, mit Darian in den Bergen, damals hatten wir so ein ähnliches Wetter gehabt. Danach hatte sich alles geändert. Ein Zeichen, ein Omen etwa? Ich war nicht wirklich gläubig, aber so etwas stimmte mich nachdenklich. „Ich wohne außerhalb von Hamburg“, sprach Carsten weiter. Ich nickte stumm, als er mich auf der Beifahrerseite seines BMWs einsteigen ließ. Der lederne Sitz gab quietschende Geräusche von sich, als er Kontakt mit meinem nassen Ledermantel bekam. Ich zuckte erschrocken. Schnell warf ich Carsten einen entschuldigenden Blick zu, der mich daraufhin beruhigte. „Nicht schlimm, ich bin auch nass. Die Sitze halten einiges aus. Und jetzt fahren wir zu mir. Du musst dringend aus deinen durchnässten Sachen raus.“ Hätte er mich nicht einfach nach Hause fahren können?, stellte ich mir die Frage. Doch hielt mich etwas davon ab, ihn direkt danach zu fragen. Ich fühlte mich nicht stabil genug, mich meinen Mitbewohnern zu stellen, die berechtigterweise mit Tausenden an Fragen gekommen wären. Und eines wusste ich mit Sicherheit auch, ich hätte am nächsten Tag an der gleichen Stelle gestanden und die gleiche Todessehnsucht gehabt wie heute. Wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich sie immer noch, wenn auch nicht mehr ganz so stark. Carsten hatte die Heizung fürsorglich aufgedreht, als ich neben ihm schlotterte. Das warme Gebläse ließ die Innentemperatur schnell ansteigen. Nun fror ich nicht mehr ganz so heftig wie noch vor einigen Minuten, während im Gegenzug draußen der Sturm zunahm und Schnee und Regen abwechselnd gegen die Windschutzscheibe prasselten. Ich beobachtete meinen Retter von der Seite. Er selbst sah nicht zu mir, sondern konzentrierte sich auf die Straße. Carsten kam mir wirklich wie ein Engel vor, als ich ihn kurz von der Seite her betrachtete. Nicht nur, dass er den Namen trug, nein, es musste Schicksal sein, dass Er gerade da war, als ich mich in die Fluten stürzen wollte. Ich sehnte mich nach einer Zigarette, doch traute ich mich nicht, nach einer zu fragen, zumal es überhaupt nicht nach Rauch im Auto roch. Daher war ich mir ziemlich sicher, dass Carsten Nichtraucher war. Ich beschloss für mich, auch keine mehr anzurühren. Aber ob ich das schaffen würde? Mein Verlangen nach Nikotin war groß, daher versuchte ich mich abzulenken, um nicht ständig daran denken zu müssen und wendete meinen Blick von ihm ab. Ich starrte aus dem Fenster des Autos auf die fast menschenleeren Straßen. Ab und an lungerten Typen herum, die entweder gerade von ihrer Kneipentour kamen oder Obdachlose, die sich vor der Kälte einen sicheren Schutz in einem Hauseingang suchten, anstatt ein Obdachlosenheim aufzusuchen. Die Armut war hier in Hamburg besonders hoch, höher als in München. Doch von der Stadt selbst kannte ich nicht wirklich viel mehr als andere, die nicht dort wohnten, wie ich bitter feststellte, als wir durch die Stadt fuhren. Vieles war mir noch immer fremd – selbst die Reeperbahn, von der man hörte, dass sie gar nicht mehr ganz so verrufen war, seit einige Theater Einzug hielten. Ich kannte nur das Rathaus, und das zur Genüge, oder den Hafen der Elbe. Ein Jahr lebte ich bereits hier und wusste von der Speicherstadt so gut wie nichts. Noch nicht einmal in die Miniaturwelt war ich gegangen, als ich von meinen Mitbewohnern eine Eintrittskarte zu meinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ich hatte sie nie eingelöst. Das wussten sie aber nicht …   Wir fuhren nach Schenefeld, wie mir Carsten mitteilte, als ich danach gefragt hatte, da ich bemerkte, wie wir aus Hamburg heraus gefahren waren. Es war inzwischen stockfinster, die Straßenlaternen lange aus. Nur die Scheinwerfer von seinem Auto beleuchteten die Schilder und die Straßen vor uns. Irgendwann bogen wir in den Krähenhorst, wie ich zufällig auf dem Straßenschild lesen konnte. „Hier wohne ich“, unterbrach er die Stille. Die ganze Zeit über hatten wir geschwiegen. Wir hielten am Ende der Straße vor einem großen Haus an. Nachdem er dann per Fernbedienung das Garagentor geöffnet hatte, fuhren wir in seine Garage. Ich sah die vielen Bäume, die sich auf den Weg dorthin erstreckten. Mein Retter wohnt ziemlich im Grünen, dachte ich, als wir ausstiegen. Wie am Ende der Welt. Wir betraten sein Haus, in dem mich gleich ein großer kläffender Schäferhund begrüßte und ich erschrocken zusammenzuckte. „Hey, mein Kleiner, du erschreckst unseren Gast“, tadelte er sofort seinen Hund. Kleiner?  „Entschuldige, ich hätte erwähnen sollen, dass ich einen Hund habe“, entschuldigte er sich bei mir. Ich hatte noch nie einen Hund, also war ich erst einmal passiv dem Vierbeiner gegenüber, zumal er wirklich groß war und nickte nur, während ich beschnuppert wurde. Er bellte noch zweimal, dann ließ er mich in Ruhe. „Er beißt nicht, er beschützt mich nur. – Basta, begrüße Jaden.“ Basta gehorchte nun aufs Wort, stellte seinen Schwanz auf und wedelte freudig. Mein Herz jedoch klopfte wie verrückt. Bewundernd stellte ich aber schnell fest, wie liebevoll der Mann mit seinem Hund umging, als dieser ihn umarmte und streichelte. Die beiden in dieser harmonischen Zweisamkeit zu sehen, da wusste ich, ich hatte die richtige Entscheidung, mitzugehen, getroffen. Um meine Angst vor dem Tier wegzubekommen, streichelte ich ihn vorsichtig am Rücken. Sein Fell war dicht und weich. Basta hob seinen Kopf, sah mich an, gähnte und trottete schließlich ins Innere des Hauses, wo er verschwand. Es wurde ruhig. Keine weitere Begrüßung. Ich wurde stutzig, hätten doch vom Lärm her die restlichen Hausbewohner wach werden müssen und schaute mich nun verstohlen um. Vielleicht machte ich auch ein fragendes Gesicht, denn Carsten erriet meine Gedanken. „Mein Hund ist die einzige Begrüßung“, kam es fast schon entschuldigend von ihm. Er kratzte sich am Kopf. „Ich lebe seit meiner Scheidung alleine im Haus. Nur Basta ist geblieben.“ Ich sah ihn nur an, als er weiter erzählte, wunderte mich etwas, dass er ziemlich offen mir gegenüber war. „Ich hänge zu sehr daran, um auszuziehen, oder es gar zu verkaufen. Es ist nur ziemlich groß für einen Alleinstehenden.“ „Warum Basta?“, fragte ich nach, weil ich so eine Betitelung für einen Hund noch nie gehört hatte. „Ein seltener Name für einen Hund“, fügte ich rasch hinzu. Ich war neugierig, wie man auf so einen Namen kam. Mein Retter lächelte mich an, als ob er mir damit sagen wollte: ‚Du bist nicht der Einzige, der danach gefragt hatte.‘ „Ich hatte einen Film gesehen, wo ein Hund namens Basta mitspielte. Mir gefiel der Name so sehr, dass ich mir innerlich schwor, wenn ich einen Hund haben würde, würde ich ihn ebenso nennen.“ „Mhm“, mehr sagte ich nicht. Ich spürte seine Musterung. Wir standen uns immer noch im hell erleuchteten Flur gegenüber. Was die Dunkelheit verschluckte, kam hier zum Vorschein. Als ich ihn mir ebenso genauer betrachtete, fiel mir auf, dass Carsten wesentlich älter war – vielleicht 10 Jahre. Im Schätzen war ich noch nie gut, aber er war älter, soviel stand fest. Nun konnte ich die Farben seiner Augen richtig erkennen – sie waren blau. Und wie sie das waren - wie der Himmel. Als ich ihn mir weiter betrachtete, stellte ich noch andere Sachen fest, wie ein markantes Kinn und einen leicht zu breiten Mund mit schmalen Lippen, was keinesfalls hässlich wirkte. Nun kam auch die Haarfarbe zum Vorschein. Er war blond. Die Haare waren fast trocken und wellten sich leicht um sein Haupt. Den freundlichen Gesichtsausdruck unterstrich seine sympathische Erscheinung. Als er ebenfalls meine Begutachtung registrierte, wurde ich verlegen, weswegen ich schnell den Blick von ihm abwendete und auf seine Einrichtung schaute. Ich war überwältigt von der Sauberkeit und vor allem von den edlen Gegenständen, die meine Augen nun erfassten. Obwohl ich bis jetzt nur den Flur kannte, konnte ich mir ausmalen, dass der Rest der Wohnung geschmackvoll eingerichtet war. Eine peinliche Stille war zwischen uns entstanden. Carsten räusperte sich: „Du wirst bestimmt duschen wollen und ich bereite uns inzwischen einen Tee zu. Außerdem sollten wir dringend aus unseren nassen Sachen heraus, wenn wir nicht krank werden wollen.“ Er hatte sich aus den Schuhen befreit und wies mich an, dasselbe zu tun. Ich schlüpfte etwas schwierig aus meinen vollgesaugten Stiefeln und die schwarzen Socken hinterließen sofort auf den hellen Fliesen eine Pfütze. Da aber der Boden angenehm warm war, zog ich die Strümpfe ebenfalls aus. Zum Schluss nahm mir Carsten meinen Mantel ab, als ich mich aus diesem etwas umständlich herausgeschält hatte, und hängte ihn über einen Bügel. Die restlichen nassen Sachen behielt ich vorerst an. Ich war von seiner Fürsorge fasziniert. Barfuß folgte ich ihm in ein großes Zimmer. Sofort erkannte ich den Wohn-Essbereich. Beeindruckt sah ich mich um. Hinten links in der Ecke stand ein großer schwarzer Flügel. Ich blieb vor dem Instrument stehen, bewunderte das Teil, während Carsten in einem Nebenraum verschwand. Wow! Meine Augen blieben förmlich daran kleben – er war riesig. Ich hatte nicht gleich bemerkt, wie Carsten an mich herangetreten war und mir einen grauen Bademantel reichte, als ich mich zu ihm umdrehte und meinen Namen sprechen hörte. Dankbar nahm ich ihn an. Ein Satz nagelneuer Unterwäsche hatte er mir ebenfalls in die Hand gedrückt, doch passten sie mir? „Morgen sind deine Sachen wieder trocken.“ „Danke.“ Zwischen uns entstand wieder eine peinliche Stille, bis er sie durchschnitt. „Du siehst dir gerade mein Herzstück an?“ Er deutete auf den Flügel und ich nickte. „Kannst du spielen?“, fragte er sichtlich daran interessiert. „Nein, nicht wirklich, vielleicht den Flohwalzer.“ Ich erinnerte mich, wie ich in der ersten Klasse auf dem Klavier von meiner Lehrerin spielte, dabei hatte sie mir dann das Lied beigebracht, als mein Interesse wuchs, ein Lied auf die Schnelle lernen zu wollen. Ich blendete meine Erinnerung daran aus. „Danke für die Unterwäsche.“ „Komm, ich zeig dir das Bad.“ Carsten wies mich an, ihm zu folgen. Eine breite Wendeltreppe, deren Geländer aus massivem Messing bestand, führte in den ersten Stock. Er zeigte mir das Badezimmer und ließ mich dann alleine. Ich blendete auch hier die tolle Einrichtung aus meinem Kopf, während ich mich aus den restlichen Sachen befreite. Als ich in die Dusche stieg, wo ich mich über das warme Wasser freute, das meinen Körper freudig begrüßte, kehrte kurz das Leben zurück, wie auch meine Niedergeschlagenheit. Ich duschte lange und ausgiebig, während ich meinen Gedanken hinterher hing. Wie würde meine Zukunft jetzt wohl aussehen? Ich fühlte mich eigenartigerweise in seinem Haus geborgen, als ich nach dem Duschen und einer Tasse heißen Lindenblütentee, den wir in der Küche zu uns nahmen, Kräfte hatte sammeln können. In der ganzen Zeit fiel kein Wort. Ich war dankbar um dieses Schweigen. Carsten zeigte mir, als wir den Tee ausgetrunken hatten, das Gästezimmer. Sofort fiel mein Blick auf ein großes Bett im japanischen Stil. Die passenden Möbel dazu schmückten den Raum. Ich fand es schön hier und wunderte mich in meiner doch depressiven Stimmung, dass ich mich daran erfreuen konnte. Auf dem Bett lag ein grüner Schlafanzug aus Satin. Gewöhnlicherweise schlief ich in Unterwäsche. Doch hatte ich unter meinem Bademantel nichts darunter an, weil mir Carstens Unterwäsche zu groß gewesen war. Ich hatte sie im Bad zurückgelassen. Mir wurde bewusst, wie wenig ich anhatte, fühlte mich nackt und schloss daher den Mantel enger um mich. Als Carsten mich betrachtete, errötete ich, dann sah ich erstaunt auf seine Hände. Carsten hatte ein Glas Wasser und eine Tablette und ich sah fragend auf die beiden Sachen. „Nimm sie bitte, es ist Donormyl, sie soll dir helfen, besser einschlafen zu können. Dein Körper braucht Erholung.“ Ich spürte, dass er mir wirklich nur helfen wollte und nickte. Dankbar nahm ich die Pille entgegen, schluckte sie mit etwas Wasser, welches Carsten mir reichte, herunter. „Gute Nacht, bis morgen!“ Seine Worte waren einfühlsam, als ich ihm das leere Glas zurückgab. „Bis Morgen“, sagte ich, schon leicht benommen, aber nicht zu schläfrig. Zudem war ich dankbar, dass er mich bezüglich meines Selbstmordversuchs heute Nacht nicht mehr ausgefragt hatte. Die Tür schloss sich. Nun war ich alleine in dem Zimmer. Ich nahm die Sachen, die auf dem Bett lagen, und zog mich um. Erwartungsgemäß war mir das Oberteil wie auch die Hose zu groß und ich musste sie an ihren Enden umkrempeln, als ich in sie hineingeschlüpft war. Dann gähnte ich, hielt mir aber die Hand vor den Mund, merkte, wie das Schlafmittel seine volle Wirkung entfaltete. Ich schlüpfte unter die Bettdecke, streckte meine Beine aus und gähnte ein weiteres Mal herzhaft, dabei fiel mein letzter Blick auf die Uhr, die auf der Kommode stand. Es war bereits fünf Uhr. Bevor mich der Schlaf völlig übermannte, meinte ich, im Hintergrund leise Pianoklänge zu hören, konnte mich aber auch irren. Ein schwarzer Vorhang brach über mich herein.         ©Randy D. Avies 2012  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)