Tokyo Bay von Ruka_S_Orion (Neustart) ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- An ihrem zweiten Schultag war Haruka nicht so früh auf den Beinen. Sie hatte am Vorabend noch lange trainiert und hatte sich anschließend in der Hotelbar niedergelassen. Sie bekam die schöne Violinistin einfach nicht aus dem Kopf. Diese unglaubliche Anziehung hatte sie noch nie gespürt. In Nagoya war sie ein regelrechter Frauenschwarm. Und irgendwann konnte sie nicht mehr widerstehen. Sie hatte oft mit hübschen Mädchen geflirtet, die, als Haruka älter wurde, immer mehr von ihr wollten. Sie war wie ein Magnet; zunächst ungewollt… Aber später machte es ihr sichtlich Spaß. Bis sie durch ihre Kariere immer häufiger mit den Medien zutun hatte und sie wegen ihrer Affären als Frauenheldin und Draufgängerin abgestempelt wurde. Ihr Onkel war über diesen Ruf alles andere als erfreut. Daher kam es immer häufiger zu Auseinandersetzungen. Auch ihr Team wandte sich mehr und mehr gegen sie. Dabei wollte sie das alles nicht mal. Sie war noch zu jung, um den Umfang ihrer Spielchen zu verstehen und als sie älter und vernünftiger wurde, schaffte sie es nicht, diesen Ruf wieder abzulegen und die Frauen warfen sich ihr nur noch mehr an den Hals. In Tokio sollte nun alles anders werden. Ein Glas Rotwein nach dem anderen sollte sie die Erinnerungen vergessen lassen. Doch je nebliger ihre Gedanken wurden, desto deutlicher sah sie das Bild einer jungen Künstlerin vor Augen. Irgendetwas war anders. Auch wenn sie sich mit diesen Idioten abgab und so hart mit Narumi umsprang, hatten ihre Augen etwas Magisches. Sie waren unglaublich tief und warm. Auch wie sie sich Haruka gegenüber verhielt… So schüchtern und doch irgendwie herausfordernd… Nun konnte die Blondine das schrille Piepen ihres Handyweckers kaum noch ertragen. Sie drückte sich ein Kissen ins Gesicht und tastete mit ihrer freien Hand nach der Quelle des Nerv tötenden Signals. Das letzte Glas Wein hätte sie sich lieber sparen sollen. Sie schleppte sich ins Bad, machte sich fertig für die Schule und verließ, ihren Rucksack mit dem daran befestigten Helm geschultert, ihr Hotelzimmer. Michiru hatte an diesem Tag weniger Probleme, aus dem Bett zu kommen. Da ihre kleine Schwester erst ihren neunten Geburtstag hatte, musste diese trotz Ehrentags frühzeitig schlafen gehen. Und nachdem die Violinistin noch eine Zeit lang mit ihrem Bruder und ihren Eltern erzählt hatte, war auch sie in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Allerdings konnte sie nicht wirklich schnell einschlafen. Ihre Gedanken drehten sich um ihren Mitschüler. Was war das für ein Junge? Oder Mädchen? Und was war so faszinierend an ihm? War es nur sein androgynes Auftreten? Das konnte sich Michiru nicht vorstellen. Sie war in keinster Weise oberflächlich, auch wenn das einige ihrer Klassenkameraden von ihr dachten. Sie machte sich nichts daraus, wie sich ein Mensch gab. Ihr kam es nur auf den Charakter und die Einstellung an. Aussehen, Vorurteile und Gerüchte fielen für sie nie ins Gewicht. Darum war es ihr auch eigentlich nicht recht, wie Narumi, Hiro und die anderen mit ihren Mitschülern umsprangen. Umso mehr hatte sie sich über die Schlagfertigkeit Harukas gefreut. Egal, wer dieser Mensch ist, er ist anders. Und Michiru nahm sich fest vor, mehr über den Unbekannten mit den fesselnden, tiefen und irgendwie vertrauten grünen Augen herauszufinden. Kurz vor dem Klingeln erreichte Haruka das Klassenzimmer. Fast automatisch sah sie sich um. Natürlich war von Michiru keine Spur. Obwohl Kikyo und Junko ihr erzählt hatten, dass die Geigerin, ebenso wie die neuen Freundinnen der Sportlerin, nicht am Ethikunterricht teilnehmen würde, war die Blondine enttäuscht. Sie setzte sich in die zweite Reihe und bemerkte weiter hinten im Raum Hiro, der sie nachdenklich anfunkelte. >Ach nein. Na hoffentlich hat er sich nicht wieder eine tolle Rede für mich einfallen lassen.< Aber der Draufgänger beließ es bei herablassenden Blicken und widmete sich lieber dem blonden Mädchen, welches gestern schon nicht von seiner Seite gewichen war. Nach dem Ethikunterricht schmiss Haruka ihre Unterlagen nur so in die Tasche. Wie durch Magie wurde sie zum Biounterricht gezogen. Der fand nicht nur beim selben Lehrer, Herrn Katsuki, wie Chemie statt, sondern auch noch im selben Raum. Gerade nach dem kleinen Rausch am Vorabend sehnte sich die Blondine nach der jungen Künstlerin, und so war sie eiligen Schritts bald an ihrem Platz. Nur kurze Zeit später traf auch Michiru ein. Ihr Blick wanderte direkt zu der Sportlerin und irgendwie war sie darüber erleichtert, dass der Platz neben ihr noch frei war. Mit einem warmen „Guten Morgen!“ setzte sie sich und holte ihre Unterlagen aus der Tasche. „Guten Morgen,“, antwortete Haruka, „gut geschlafen?“ „Danke, ich kann mich nicht beschweren. Und selbst? Du siehst müde aus.“, stellte die Violinistin bei einem kurzen Blick in das Gesicht ihres Gegenübers fest. „Bin ich auch. Ich war wohl zu lange wach und habe… trainiert.“, zwinkerte die Blondine. „Trainiert?“, entgegnete die Musikerin, erhielt jedoch keine weitere Auskunft mehr, da Herr Katsuki seinen Unterricht begann. Nach dem Läuten der Schulglocke packten die Schüler zusammen und Michiru wandte sich wieder ihrer Sitznachbarin zu. „Hast du schon Pläne für die Pause?“, fragte sie grade heraus. Harukas Lächeln wurde breiter. „Naja, nicht wirklich. Wieso? Was hast du denn jetzt vor?“ „Sie geht mit uns in die Cafeteria. Aber du kannst gerne mitkommen, Tenoh-kun. Bei der Gelegenheit könntest du mir endlich erzählen, was dich hierher verschlagen hat.“, ertönte plötzlich Narumis Stimme, was das Grinsen im Gesicht der Blondine etwas verblassen ließ. „Nein, kann er nicht. Wieso sollte er?“, mischte sich nun auch Hiro ein. Michiru wurde bei seiner Stimmlage ganz anders. Sie würde die Pause lieber mit dem Neuen verbringen und mehr über ihn heraus finden. Aber mit Narumi im Schlepptau wollte sie das auch nicht. Und dass Hiro Haruka schon wieder so herablassend behandelte, passte ihr ebenfalls nicht. Diese stand nur ruhig auf, sah dem Unruhestifter direkt in die Augen und sprach bestimmt: „Keine Sorge, ich sagte bereits, ich hätte keinerlei Interesse an deinem Anhang.“, dabei sah sie kurz zu Narumi und dem blonden Mädchen, das wie immer an Hiros Rockzipfel hing, herüber. Dann sah sie wieder zu ihm. „Und deinen Thron will ich dir auch nicht streitig machen. Obwohl ich das sicherlich könnte, wenn ich wollte.“ Ein arrogantes Lächeln trat auf Harukas Gesicht und nachdem sie ihre Sachen genommen hatte, bewegte sie sich auf Kikyo und Junko zu, die wenige Meter weiter aufmerksam alles verfolgt hatten. Michiru sah ihr ungläubig nach und wurde dann wieder von Narumi umklammert. „Komm schon, wir gehen lieber, bevor das noch ausartet. Na los, Hiro! Oder willst du, dass sich diese Knirpse wieder unseren Tisch krallen?“ , fragte die Brünette den mittlerweile finster funkelnden Schwarzhaarigen. Langsam verließ die Gruppe den Raum und Kikyo klopfte Haruka auf die Schulter. „Alle Achtung. Ich bin überrascht, dass er gar nicht ausgerastet ist. Aber vermutlich war er von deiner Schlagfertigkeit geplättet.“ „Trotzdem würde ich aufpassen, Haruka-san. Wir sagten doch schon, dass er keiner Schlägerei aus dem Weg geht. Erst recht nicht, wenn er seine Jungs dabei hat.“, stellte Junko noch einmal klar. In der Cafeteria angekommen, musste Hiro feststellen, dass wie üblich alle Tische besetzt waren. Routiniert machten sich zwei von seinen Bodyguards daran, ein paar jüngere Schüler von ihren Plätzen zu vertreiben, was Michiru wie immer Unwohlsein bereitete. Sie verabscheute Gewalt. Und dieser respektlose Umgang mit Schwächeren versetzte ihr immer einen kleinen Stich ins Herz. Schließlich wollte sie auch nicht, dass Hotaru von irgendwem herum geschubst wurde, aber was konnte sie schon ausrichten? Nach der Pause stand eine Doppelstunde Mathematik auf dem Plan und die Violinistin setzte sich zu Haruka, die sie kurz zuvor wieder bei der Klassensprecherin hatte stehen sehen. „Du bist oft bei Junko-san und Kikyo-san.“, stellte die Türkishaarige fest. Verblüfft sah Haruka sie an. „Naja, sie sind mir eben sympathisch. Auf jeden Fall um einiges sympathischer als Kawashima. Und von Narumi-san habe ich bisher auch keinen unbedingt sehr positiven Eindruck erhalten. Versteh mich bitte nicht falsch, sie kann bestimmt ganz nett sein, aber irgendwie kommt sie mir eitel und eingebildet vor. Aber vielleicht irre ich mich ja.“ >Wenn du dich mit ihr abgibst, muss sie ja auch eine gute Seite haben<, dachte die Sportlerin lächelnd. „Vielleicht irrst du dich auch nicht.“, gab die Streicherin leise zurück. Dann sah sie plötzlich wieder auf. „Hältst du mich für eingebildet oder eitel?“ „Nein.“, antwortete die Blondine kurz. Dass sie den Eindruck hatte, Michiru wäre ein warmherziger aber verletzlicher Mensch, behielt sie lieber noch für sich. Gerade als die Künstlerin nachhaken wollte, betrat die Lehrerin den Raum und eröffnete ihren Unterricht. Mittlerweile fiel es auch Haruka wieder leichter, sich auf die Lehrkraft zu konzentrieren. Sie sah zwar immer noch häufig zu ihrer schönen Mitschülerin, aber die Gewissheit, sie bis zum Schuljahresende neben sich zu haben, beruhigte sie und ließ sie klarer denken. Michiru hingegen war wieder unkonzentrierter. Warum hatte Haruka nur so kurz geantwortet? Wollte er sie neugierig machen? Oder hatte er gelogen? Was dachte der Neue wirklich von ihr? Und wieso machte sich Michiru überhaupt solche Gedanken über ihn? Bisher hatte es sie nicht sonderlich interessiert, welche Meinungen sich ihre Mitschüler über sie gebildet hatten… Auf dem Weg zum Englischunterricht wurde Michiru abermals von Hiros Gruppe geradezu umzingelt, sodass Haruka kaum eine Chance hatte, sich ihr zu nähern. Auch nachdem die Mittagspause eingeläutet wurde, fand sich kaum eine Gelegenheit für ein Gespräch. Enttäuscht wanderte die Leichtathletin mit Junko und Kikyo in die Cafeteria. Eine Doppelstunde Astronomie stand noch an und da Michiru stattdessen Psychologie belegt hatte, konnte sich Haruka von der Schönheit nicht einmal verabschieden. Am nächsten Tag standen Mathe und Chemie als erstes auf dem Plan. Herr Katsuki wollte nun auch offenbar weiter in seinem Unterricht voran schreiten, wodurch Haruka die Gelegenheit bekam, Michiru etwas näher zu kommen. Diese hatte konzentriert schon mal nach der richtigen Seite im Lehrbuch gesucht und bemerkte erst gar nicht, wie nah die Blondine in der Zwischenzeit an sie heran gerutscht war. Als sie das Buch ablegte, erschrak sie kurz und blickte dann mit leicht geröteten Wangen in ihren Hefter. Der Sportlerin war nicht entgangen, wie schüchtern die Schönheit in ihrer Gegenwart wurde. „Wenn ich dir zu nahe gekommen bin, kannst du es mir ruhig sagen.“, flüsterte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht. „Du solltest dich lieber auf den Unterricht konzentrieren, als auf mich zu achten.“, entgegnete Michiru nun wieder selbstbewusster, wodurch Harukas Grinsen noch größer wurde. Ihr gefiel diese Schlagfertigkeit und dieses Selbstbewusstsein, obwohl die Geigerin ihre eigene Röte bemerkt haben musste. Sie nutzte die Gunst der Stunde und fragte die Künstlerin etwas zum Periodensystem der Elemente. Beim Erklären beugte sich Michiru weiter über das Buch und Haruka konnte einen unglaublichen Duft wahrnehmen, der in ihr eine eigentlich vergessene Erinnerung wach rief. Sie musste an den letzten Urlaub denken, den sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester unternommen hatte. Damals hatten sie zusammen einen riesigen Japanischen Garten besucht, in dem es viele Blumenbeete, einen großen Springbrunnen und einige blühende Kirschbäume gegeben hatte. Das war es! Die junge Violinistin duftete nach kräftig blühenden Kirschblüten. Betört durch den Geruch und die Erinnerung hörte Haruka der Schönheit gar nicht mehr zu und sah sie nur verträumt von der Seite her an. Auch Michiru nahm den Geruch ihrer Sitznachbarin wahr. Ihr Duft erinnerte sie irgendwie an eine Mischung aus schweren Holzmöbeln und Rosen. Als hätte man einen frischen Rosenstrauß in einen Raum gestellt, in dem ein großer, alter Flügel steht. Augenblicklich fühlte sich die Streicherin wohl und irgendwie geborgen. Glücklicherweise hatte Haruka ihr nur eine Frage gestellt, deren Antwort sie im Grunde schon selber wusste. Die Schülerinnen waren so stark von der jeweils anderen abgelenkt, dass Michiru alles falsch erklärte und Haruka ihr sowieso nicht zuhören konnte. Und das schienen auch beide zu bemerken. Als sie ihre Ausführung beendet hatte, sah die Künstlerin schüchtern wieder auf und blickte in die Augen der Sportlerin. Für einen Moment schien die Zeit anzuhalten. Doch dann durchbrach die Schulglocke die Stille und holte die beiden Verträumten wieder in die Realität zurück. „Entschuldige bitte, aber Chemie ist nicht gerade mein bestes Fach.“, log Michiru, um zu überspielen, wie sehr sie von Haruka aus dem Konzept gebracht worden war. „Kein Problem.“, lächelte die Blondine. Noch bevor sie sich wieder richtig gefasst hatten, stand plötzlich Narumi neben ihrer Freundin. Um einer Diskussion wie der gestrigen aus dem Wege zu gehen, sagte sie lieber nichts und zog Michiru einfach aus dem Raum, dicht gefolgt von Hiro und seinem Anhang. „Mein Gott, ihr seid ja sowas von süß!“, ertönte Junkos Stimme kurz darauf. Haruka schrak unweigerlich zusammen. „Ja! Unglaublich. Na wenn Michiru-san mal nicht voll neben der Spur stand. Eigentlich liegt ihr Chemie genauso gut, wie jedes andere Fach auch. “, stellte Kikyo fest. Verblüfft guckend drehte sich Haruka zu den beiden um. In der Pause musste sie sich darüber aufklären lassen, wie offensichtlich Michiru und sie einander verfallen waren und, obwohl sie anfangs alles leise, schüchtern und fast schon verwirrt abstritt, musste sie sich eingestehen, dass die beiden Mädchen sie selbst auf jeden Fall durchschaut hatten. Kurz vor Beginn des Geschichtsunterrichts erreichte Michiru mit ihrer Gruppe den Klassenraum, in dem Haruka bereits an ihrem Platz saß. Sie vermied den Blickkontakt mit ihr, da sie in der Pause nicht so angenehme Gespräche geführt hatte. Es war Hiro nicht entgangen, wie die beiden miteinander umgingen. Deshalb hatte er auf die Violinistin eingeredet, sie solle sich nicht mit diesem arroganten Angeber abgeben, der wahrscheinlich sowieso nur ein großes Mundwerk hatte. Die Blondine sah vorsichtig zu der Schönheit herüber, die irgendwie eingeschüchtert wirkte. „Ist alles in Ordnung?“ , fragte sie besorgt. „Ja, natürlich. Alles bestens.“, antwortete die Künstlerin kühl, wobei sie starr auf ihren Tisch blickte. Zufrieden war Haruka mit dieser Antwort ganz und gar nicht. Da ihr Klassenlehrer aber gerade den Raum betreten hatte, konnte sie der Sache nicht weiter nachgehen. Währenddessen sie grübelte, biss sich Michiru auf die Unterlippe. Was bildete sich Hiro überhaupt ein? Hielt er sie auch nur für eine seiner ‚Stuten‘, wie Haruka Narumi und Sanae betitelt hatte? Mittlerweile war sie sich sicher, dass der Blonde nicht sie damit gemeint hatte. Das hoffte sie zumindest… Doch an Hiros Meinung über sie zweifelte die Künstlerin. Sie war nicht so! Sie wollte nicht zu seinen wehrlosen kleinen Mädchen gehören, die sich von ihm beschützen ließen und ihn im Gegenzug dafür anhimmelten. Im Grunde wollte sie nicht mal mehr Teil dieser Gruppe sein. Nachdem die Stunde vorüber war, packten die Schüler ihre Japanischunterlagen aus und Haruka lehnte sich wieder zu Michiru herüber. „Michiru-san, ich sehe doch, dass irgendetwas nicht stimmt. Du kannst dich mir ruhig anvertrauen! Ich sage es auch nicht weiter.“, doch die Streicherin schüttelte nur still und langsam ihren Kopf und versuchte den Kloß runter zu schlucken, der ihr mittlerweile im Hals steckte. Haruka war so anders. Die Violinistin erkannte die Sorge, die in der Stimme des Blonden steckte. Wieso war der Neue so fürsorglich, obwohl sie sich erst seit drei Tagen kannten? Unzufrieden ließ sich die Sportlerin wieder in ihren Stuhl zurück sinken. Sie hatte in der folgenden Stunde noch mehr Probleme als sowieso schon, dem Stoff zu folgen. Japanisch war für sie schon schwierig genug, auch ohne, dass sie pausenlos darüber grübeln musste, was ihrer Schönheit auf dem Herzen lag. Nachdem nun auch die vierte Unterrichtsstunde geschafft war, streckte sich Haruka und wanderte zu Kikyo herüber. Mit Michiru zu reden, brachte offensichtlich ohnehin keinen Erfolg. „Das liegt bestimmt an Kawashima. Er vergisst gerne mal, dass sie ihm nicht verfallen ist. So wie Narumi-san oder Sanae-san. Deshalb behandelt er sie gerne wie die anderen Mädchen. Aber das hat sie nicht verdient. Und ich glaube, das weiß sie auch.“, erklärte die Klassensprecherin Haruka. „Es ist schade, dass sie sich immer noch mit diesem Idioten abgibt.“ Der Englischlehrer betrat den Raum und die Schüler fanden wieder zu ihren Plätzen. Nachdem Herr Nanba die Stunde eröffnet hatte, bat er die Schüler, die Hausaufgaben zur Auswertung auszupacken. >Verdammt!<, biss sich Haruka auf die Zunge. >Gut aufgepasst, du Genie. Irgendwie ist dir das wohl gestern entgangen…< Ehrlich hob sie die Hand, um Herrn Nanba mitzuteilen, dass sie ihre Aufgaben nicht erledigt hatte. Michiru hingegen war vorbildlich vorbereitet und wurde vom Lehrer sogleich aufgefordert, ihre Hausaufgaben vorzutragen. „Tenoh-kun, Kaioh-san, Sie werden bitte am Ende der Stunde zu mir kommen.“, legte die Lehrkraft fest und fuhr mit seinem Unterricht fort. >Na super. Jetzt gibt´s auch noch eine Extraaufgabe. Aber was will er von Michiru?<, dachte sich Haruka und versuchte heute keine Hausaufgaben zu überhören. Am Ende der Stunde warteten die beiden Schülerinnen, wie von Herrn Nanba angeordnet, bis die restliche Klasse den Raum verlassen hatte. „Tenoh-kun, Sie sind erst seit drei Tagen hier und haben schon ihre ersten Hausaufgaben nicht erledigt.“ „Ja, aber das war nur-“ „Das will ich alles gar nicht hören!“, wurde sie von dem Lehrer unterbrochen. „Kaioh-san, Sie sind die beste Schülerin dieser Klasse. Ich hoffe, Sie können Ihrem Mitschüler etwas unter die Arme greifen und ihm helfen seine Aufgaben zukünftig ordnungsgemäß zu erledigen.“, damit war das Thema für Herrn Nanba erledigt. Zügig nahm er sich seine Tasche, verließ ohne ein weiteres Wort den Raum und ließ die beiden verdutzt schauenden Schülerinnen allein zurück. „Tut mir leid, Michiru-san. Ich wollte nicht, dass du wegen mir eine Extraanweisung bekommst. Normalerweise habe ich auch keine Probleme in Englisch, aber irgendwie habe ich gestern wohl verpasst, dass er uns was aufgegeben hat.“, entschuldigte sich Haruka bei ihrer Mitschülerin. „Ist schon in Ordnung. Es war ja nicht deine Schuld, dass er mir den Nachhilfeunterricht aufgebrummt hat.“ „Warte mal! Von Nachhilfeunterricht war keine Rede! Nur von Hausaufgaben. Ich komme mit dem Unterrichtsstoff bestens klar. Nur überhöre ich hin und wieder die ein oder andere Anweisung…“, rechtfertigte sich die Blondine, was die Künstlerin zum Kichern brachte. Augenblicklich entspannte sich die Sportlerin wieder. Nach einer kurzen Überlegung stellte sie sich Michiru gegenüber und sah ihr sanft in die Augen. „Schön, dass du wieder lachen kannst. Was war vorhin mit dir los? Es steht dir überhaupt nicht, wenn du so traurig bist.“, fragte sie vorsichtig. „Es war Nichts. Jedenfalls nichts von Bedeutung.“, antwortete Michiru gezwungen lächelnd. „Wenn es irgendetwas mit mir zu tun hatte, kannst du es mir ruhig sagen. Ich möchte nicht, dass du dich wegen mir unwohl fühlst. Aber auch alles andere kannst du mir erzählen. Und wenn Kawashima irgendetwas getan hat, dann möchte ich nur, dass du weißt, dass ich keine Angst vor ihm habe. Wenn er dir also zu nahe gekommen ist, oder er etwas Verletzendes zu dir gesagt hat, werde ich ihn gerne für dich in die Schranken weisen.“, versprach Haruka. Michirus Gesichtszüge wurden weicher. Sie fühlte, dass der Neue ihr die Wahrheit sagte. Dieser hob langsam die Hand, um der Violinistin eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen. Bei der zärtlichen Berührung bekam die Streicherin eine Gänsehaut und ohne es verhindern zu können, schloss sie die Augen. Diese Nähe und Fürsorge kannte sie nur in einer anderen Form von ihrer Familie. Ein Außenstehender konnte noch nie so dieses Gefühl von Geborgenheit in ihr auslösen. Haruka vernahm die Reaktion der Künstlerin mit einem Lächeln und zog sie daraufhin sanft aber bestimmt in ihre Arme. Wie in Trance ließ Michiru sich gegen den Blonden fallen und nach einem kurzen Moment legte sie ihre Hände auf dessen Rücken und schmiegte sich weiter an ihn. >Moment mal…< ohne es wirklich bewusst zu tun, versuchte sie den Körper des Neuen besser wahrzunehmen. Er fühlte sich anders an, als erwartet. Sie hatte schon öfter ihren Vater oder auch ihren Bruder umarmt – einen richtigen Freund hatte Michiru noch nie, dafür war sie zu misstrauisch und alle Jungs in ihrem Alter kamen ihr irgendwie nicht reif genug oder aber langweilig vor – aber dieser Körper fühlte sich anders an. Zwar war auch er muskulös, aber viel sanfter. Und wenn sich die Violinistin nicht irrte, fühlte sie an der Stelle, an der sie eigentlich starke Brustmuskeln erwartet hätte, etwas viel Weicheres… >Also habe ich es mir doch nicht nur eingebildet!< Vorsichtig drückte Haruka die Schönheit leicht von sich, nur so weit, dass sie ihr wieder in die Augen sehen konnte „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie leise. Michiru nickte und das glückliche Lächeln auf ihren Lippen verriet der Sportlerin, dass sie die Wahrheit sagte. „Wenn wir noch etwas zum Mittag wollen, müssen wir jetzt los.“, erkannte die Blondine und reichte ihrer Mitschülerin ihre Tasche. In der Cafeteria spürte Michiru den Blick Hiros. Trotzig hob sie ihr Kinn noch etwas weiter an, holte sich ihr Essen und setzte sich mit Haruka an einen langen Tisch, an dem bereits ein paar jüngere Schüler saßen. Einer von ihnen sah sie eingeschüchtert an, aber die Künstlerin versicherte ihm, dass sie ihm nichts tue und er ruhig sitzen bleiben könne. Verdutzt sah ihr die Sportlerin ins Gesicht. „Kawashima-kun hat die Angewohnheit andere Schüler zu verjagen, wenn sie an ‚seinem‘ Tisch saßen.“, erklärte die Violinistin knapp. Darüber konnte die Blondine nur den Kopf schütteln. Während der restlichen Pause erkundigte sich Michiru nach Harukas Schwächen in den einzelnen Fächern und nachdem sie feststellte, dass die Blondine wohl wirklich nicht so viele Defizite hatte, beschlossen sie sich einfach donnerstags nach der Schule zusammen zu setzen, um die bis dahin aufgegebenen Hausaufgaben zu erledigen und in den Fächern zu lernen, in denen künftig ein Test anfallen könnte. Auf die Frage hin, warum es nicht schon heute ginge, erklärte Michiru, sie hätte ihrer kleinen Schwester versprochen, gleich nach der Schule mit ihr zu spielen. Regelmäßig spielten die Schwestern im Violinen- und Klarinetten-Duett. Haruka war hellauf begeistert. „Weißt du, welches Instrument dazu am besten passen würde?“, fragte sie grinsend. „Naja, Taru-chan sagt immer, uns fehle ein Flügel, um vollkommen zu klingen.“ „Und rate mal, wer zufällig schon seit gut zehn Jahren Klavier spielen kann.“, zwinkerte die Blondine. Überrascht hoben sich Michirus Brauen. Die Sportlerin nickte stolz und sprach weiter: „Vielleicht ergibt sich ja mal eine Möglichkeit. Dann begleite ich euch.“ Nach dem Essen schlenderten die beiden Schülerinnen zurück zum Klassenraum. Es stand noch eine weitere Stunde Englisch an und nach dieser Pause konnten sich sowohl Michiru, als auch Haruka wieder besser konzentrieren, was auch Herrn Nanba auffiel. Der jedoch bildete sich ein, seine Schüler hätten sich einfach in der Pause schon einmal zum Lernen zusammen gesetzt. Als es zum Unterrichtsende läutete, erschien Narumi sofort wieder an der Seite ihrer Freundin und zerrte sie mit den Worten „Mensch, was sollte das denn?“ und „Willst du ihn noch total auf die Palme bringen?“ davon. Hiro ging den beiden schweigend nach und warf noch einmal einen finsteren Blick auf Haruka, bevor er verschwand. Junko und Kikyo gesellten sich indes zu ihrer neuen Freundin. „Naa, schöne Pause gehabt?“, flötete die Schwarzhaarige und Haruka musste unweigerlich wieder anfangen, zu grinsen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)