Das Kreuz der gestohlenen Worte von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: Das Kreuz der gestohlenen Worte ------------------------------------------ Anna ist fort. Ich weiß nicht, ob sie es vergessen hat oder ob sie es absichtlich zurückließ, jedenfalls lag das Kreuz, das dem meinen so sehr ähnelt, allein in ihrem leeren Zimmer. Es glänzte im schwachen Licht, geschliffen und unversehrt, wie nur ein lebloser Gegenstand sein kann, selbst wenn seine Bedeutung zerstört wurde. Mehr ist mir von Anna nicht geblieben, nachdem sie ging. Oft frage ich mich, was von den Dingen bleibt, die ich festzuhalten versuche. Mir bleibt das Kreuz in meiner Hand, auf meinen Schultern, auf meinem Herzen. Allein die Zeit bleibt nicht stehen. Ich glaubte, es sei meine Pflicht, jenes Kreuz zu tragen, indem ich Annas Stimme zu sein versuchte. Damals, bevor ich von der Schule verwiesen wurde, war sie meine einzige, meine einzig wirkliche Freundin. Wir waren unzertrennlich, ständig zusammen und ich hatte es zu meiner Aufgabe erklärt, ihr zu helfen. Sie war auf mich angewiesen, so dachte ich zu jener Zeit und fühlte mich gebraucht und gemocht. Ihre Lippenbewegungen wurden zu Worten in meinem Mund. Ihre Emotionen wurden mein Gesang. Ich wollte für uns beide singen, weil sie das Singen genauso sehr liebte wie ich. Doch stattdessen lastete das eigentliche Gewicht nicht auf meinen, sondern auf ihren Schultern. Denn Anna ist stumm. Obwohl sie keinen einzigen Laut von sich geben kann, höre ich sie schreien, wenn sie wütend ist, und wenn ich sie verletzt habe, höre ich sie schweigen. Trotzdem verschloss ich mich vor ihren wahren Gedanken. Ich sah nicht, wie sehr ich sie durch meine Hilfe erniedrigte. Viele Menschen kritisieren meine Ehrlichkeit. Sie ermahnen mich, ich solle die Wahrheit besser für mich behalten oder sie zumindest schön verpacken, durch die Blume sprechen, auf hübsch umschalten. Trotz meiner unverschämt direkten Art hat mich am Ende Annas Ehrlichkeit zutiefst schockiert. Mitleid ist ein gemeines, überhebliches Ding, mit dem man jemanden in seinem Wert degradiert, um sich erhaben zu fühlen. Was ich damals tat, half nicht Anna, sondern bloß mir selbst. Als ich das erkannte, fühlte ich mich schmutzig und niederträchtig. Was für einen hässlichen Charakter du doch hast, Maria, schimpfte ich innerlich. Zwar rühmte ich mich, allen anderen erzählen zu können, was Anna wollte, ohne dass sie dafür sprechen musste, aber in Wirklichkeit habe ich sie nie richtig verstanden. Mit meiner Ignoranz habe ich sie gedemütigt. Dennoch, es änderte nichts. Ich wollte weiterhin ihre Freundin sein. Als ich mich entschied, ihr nicht mehr die Worte zu rauben, sang ich für uns beide Beethovens neunte Symphonie, seine Ode an die Freude, oben auf dem Dach der Schule. Ich sang über die Freude und heulte dabei wie ein Schlosshund. Es war das erste Lied, das wir damals gemeinsam gesungen hatten. Ein Lied, das ich fortan allein singen würde. Nun begreife ich kaum mehr, wie ich annehmen konnte, Annas fehlende Stimme zu sein. Niemand darf den persönlichen Klang eines Menschen ersetzen, ein Lied für jemanden anstimmen, der singen möchte und es selbst nicht kann. Im Laufe der vergangenen Tage legte sich die frühe Wärme des Jahres schwer auf meine Glieder, das grelle Sonnenlicht betäubte mich und dann, in einem unscheinbaren Augenblick, kam der Regen. Ich lief durch überfüllte Straßen, blickte in fremde Gesichter, hörte Gespräche. Einmal sah ich zwei Mädchen aus meiner einstigen Schule, sie trugen die Uniform der St. Katria und gingen schnatternd nebeneinander her. Die eine Schülerin erzählte, sie sei mitten im Gottesdienst weggepennt, die andere rief sie zur Raison und tadelte ihre Freundin, das dürfe sie nicht tun, das könne sich aufs Zeugnis auswirken, woraufhin die erste erstaunt und ungläubig reagierte. Sinnloses Gerede. Das war der Moment, als die ersten Regentropfen fielen. Sie kreischten empört und riefen, jetzt ginge es los, obwohl es heute so warm gewesen sei und sie keinen Schirm eingepackt hatten, sie wären wohl zu leichtsinnig gewesen. Der Frühling stünde vor der Tür und mit ihm die Vorboten der sommerlichen Regenzeit. Der Frühling. Ich hatte ihn fast vergessen. In letzter Zeit denke ich oft, dass die Menschen in meinem Umfeld ihre Stimmen nicht verdient haben. Sie können Laute artikulieren, doch höre ich nur leere Worte. Jeder Satz, den ich zufällig erhasche, ist es nicht wert, ausgesprochen zu werden. Wenn Anna ihren Mund öffnete, brachte sie keinen Ton heraus, trotzdem vernahm ich ihr Lachen. Die Zeit schreitet voran. Es ist also Frühling geworden. Über dem weiten Hafen von Yokohama liegt seit Tagen ein Regenschleier. Erst kürzlich kaufte ich mir ein Ticket für die Fähre und ließ mich im stillen Regen über das Wasser tragen. Die roten Ziegelsteinbauten der Speicherstadt zogen wie stumme Zeugen vorbei und ich suchte nach einem Zeichen von Anna. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist meine ruhelose Wanderschaft eine Jagd nach ihr. Ich ging ohne Ziel durch Yamate, den Bezirk unserer ehemals gemeinsamen Schule. Im europäischen Viertel irrte ich durch den italienischen Garten und über den christlichen Friedhof. Kreuze standen Spalier, deren Spitzen von Kränzen gekrönt waren. Am Wegesrand blühten rote Spinnenlilien. Ich kreuzte den schmalen Park am Yamashita-Pier, wo sich abends immer die Liebespaare treffen, um die erleuchtete Stadtkulisse sich im Wasser spiegeln zu sehen. Dann besuchte ich die Hikawamaru, ein im westlichen Stil erbautes Schiff, das zu einem Museum umfunktioniert wurde und seit Jahren unbeweglich vor Anker liegt. Dort saß ich einige Stunden auf den Polstermöbeln der ersten Klasse oder umkreiste unter Deck im Maschinenraum unermüdlich die riesigen Motoren. Als Kind stellte ich mir immer vor, wie ich mich in diesem Schiff versteckte und irgendwann fortsegelte, weg von Japan und seinen engen Straßen, hinaus aufs weite Meer, vielleicht nach Europa oder Amerika. Wahrscheinlich wusste ich nicht, dass man sich überall gefangen, allein und unglücklich fühlen kann. Später an diesem Tag streifte ich durch China Town, zwischen unzähligen Menschen vorbei an Ständen rechts und links, überall lockte man mit Speisekarten und bei jedem zweiten Schritt wurden mir Maronen angeboten. Doch in dem ganzen Trubel konnte ich Anna nicht finden. Ich fand nur meine Erinnerungen an damals. Anna und ich, wie wir gemeinsam singen, eine perfekte Harmonie. Anna, die mit mir lacht und weint und mich mit ihrem Glanz erfüllt. Anna, die mich aus leeren Augen ansieht, als sie ihre Stimme verliert. Anna, blasse schöne Anna, mit einem Rasiermesser in der Hand. Jetzt sitze ich hier in dem alten, für Publikum zugänglichen Bauernhaus im Sankei-Garten. Zwischen den hölzernen Schiebetüren offenbart sich die umliegende Landschaft des Parks. Meine Schuhe stehen ausgezogen unter dem weiten Strohdach, von dem kontinuierlich das Wasser tropft. Die Luft ist feuchtwarm, die Tatami riechen nach Ruß und Regen. Neben mir durchbohren die für das Mädchenfest auf einem Podest aufgebauten Kimonopuppen mit ihren kleinen, schwarzen Augen anklagend meinen Rücken. Dahinter steht im Alkoven eine Vase, darin ein einsamer Kirschblütenzweig, der langsam verwelkt. Ich wollte immer mit meinen Freunden herkommen. Bald, wenn die Kirschblüten blühen. Jedes Jahr ist es die schönste und kürzeste Zeit, doch diesmal kann ich mich nur an zwei Tage erinnern, an denen die Blütenpracht am herrlichsten war, bevor Wind und Regen sie von den Zweigen rissen. Ein Sturm aus rosafarbenen Fingerspitzen, die das Meerwasser und die gepflasterten Gehwege sprenkeln. Aus dem Fenster meiner Wohnung kann ich sie sehen, den Hafen und die zahlreichen Hochhäuser, die wie Hände aus Beton an den Wolken kratzen. Alles, was meine Heimat ausmacht. Yokohama ist eine Stadt der Ferne und Fremde, das Tor zur neuen Welt. Es gibt so vieles, was ich im Zentrum dieser von mir so geliebten Stadt sehen wollte. Ich habe die Gelegenheit nie ergriffen, weder mit meinen Freunden noch mit Anna noch allein. Wie oft im Leben nimmt man sich etwas vor? Wie oft schwört man sich, dieses oder jenes zu tun und macht am Ende nichts davon? Der nasse Kies auf dem unbefestigten Pfad knirscht leise, als sich jemand nähert. Kaum ein Mensch ist bei dem trüben Wetter auf den schlammigen Wegen unterwegs, in all den Gärten, die zur Kirschblütenschau normalerweise überfüllt sind. Wenigstens während des Regens, so dachte ich, könnte ich hier für mich sein. Meinen Kopf gesenkt haltend, das Gesicht hinter meinen feuchten Haaren versteckt, höre ich die herannahenden Schritte, bis ein Paar schwarz lackierter Schuhe am Absatz vor mir stehen bleibt. Bevor ich überhaupt den Blick hebe, weiß ich bereits, dass es Anna ist. Nach vergeblicher Suche habe nicht ich sie, sondern sie mich gefunden. Verzerrt schaue ich sie an, gebe mir Mühe, die Tränen zu unterbinden. Anna steht tatsächlich vor mir. Ihr blondes Haar, vom nebligen Regen benetzt, ist noch stärker gewellt als sonst. Sie wirkt gelassen, doch ihre Mimik ist schwer deutbar. Von diesem Moment an kommt es mir vor, als könnte ich Anna gar nicht mehr verstehen, ihre Gedanken nicht erkennen. Was früher ganz leicht war, ist nun fast unmöglich, weil ich mich zu oft irrte, ihr zu oft die Worte stahl, zu oft das Silbengeflecht mit dem meinen ersetzte und es als das ihrige ausgab. Meine Fehler wiegen schwerer als ihre hellen Locken im Regen. Ich traue mir nicht länger. Der Boden glüht vom Schweigen, als mir Anna mit einer Geste ein Zeichen gibt. Wie in Trance stehe ich auf, gehe zurück in den offenen Hauptraum des altertümlichen Gebäudes, über glatte Dielen, vorbei am Holzkohlebecken und hinab zum Eingangsbereich, wo ich meine Schuhe anziehe. Anna wartet auf mich. Wir gehen gemeinsam. Ich dachte, sie wäre mit ihren Eltern längst abgereist und meine Suche völlig sinnlos, doch ich will sie nicht danach fragen. Was können Worte sagen, was können Menschen einander mitteilen, einander erklären? Was unterscheidet uns von Anna? Wir können reden oder schreiben, aber Worte sind interpretierbar. Oft hören wir, was wir hören möchten, antworten auf das, was wir vom anderen erwarten, vernehmen nichts von dem, was er wirklich meint. Wir bilden uns eine Meinung und fällen ein Urteil. Was unterscheidet uns von denen, die stumm oder taub sind? Es gibt nur eine einzige Sache, die ich Anna jetzt schenken kann. Das ist nicht meine Stimme für ihr Schweigen, sondern mein Schweigen für ihre fehlende Stimme. Um ihr gerecht zu werden, sollte ich an ihrer statt mir selbst die Worte rauben. Meine Kehle blutet, meine Lippe brennt vor Sprache, doch das Unsagbare nächtigt auf meiner Zunge. In der Flut verebbt ohnehin jeder Inhalt und aller letzte Sinn. Gemeinsam finden wir einen Weg durch die Stadt, ohne uns auszutauschen, weder einen Blick noch eine weitere Geste, in zweistimmigem Schweigen. Ich kann Anna nicht in die Augen sehen. Die Menschen sind fort, kein Vogel singt und auch wir beide bleiben ohne Satz und Klang. Nur die Blätter flüstern und in den Fugen aus Stein plätschert das Wasser. Bald stehen wir vor meinem Wohnhaus, bald im Treppenflur und bald vor meiner Eingangstür. Ich hole den Schlüssel hervor, halte ihn tatenlos fest und lasse zu, dass Anna ihn mir nach einer Weile aus der Hand nimmt. Kaum ist die Tür ins Schloss und der Schlüssel zu Boden gefallen, da fühle ich ihre Arme im Nacken. Ein Hauch von Vanille und Rosen und eine beinahe nicht wahrnehmbare Präsenz von Chrysanthemen liegt in der Luft. Meine Mutter roch damals danach. Nach Chrysanthemen und roten Spinnenlilien. Anna erinnert mich an sie. Keine Gewalt oder Sanftheit liegt in ihrer Umarmung. Flüchtig sehe ich ihr Lächeln aufblitzen, unbeholfen, unschuldig, unehrlich. Dann drückt sie ihre kalten Lippen auf meine. Ihr Kuss ist feucht vom Regen. Überrascht weiche ich zurück. Für eine Sekunde fällt mir ein, dass ich meine Schuhe noch nicht ausgezogen habe, dabei stolpere ich rückwärts über den Absatz vom Eingangsbereich. Anna fällt über mich, fängt sich rechzeitig ab und mich auf, mit ihren Händen an meinen Schultern. Ich lasse andere Menschen schlecht aussehen. Das teilte sie mir damals zum ersten Abschied mit. Nach unserem Wiedersehen gab sie vor, sie habe sich in Shin Meguro verliebt. Ich weiß nicht, was sie denkt, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Ihre Hände haben meine Schultern verlassen und gleiten über und unter den Stoff meines Oberteils. Das Weiß der Flurdecke ist grau im Zwielicht. Hat Anna nur behauptet, sie würde Shin Meguro lieben, weil sie der Meinung war, ich würde es tun? Ihre Finger zwängen sich unter das Halbrund meines Büstenhalters. Zwei Zimmer umfasst meine Wohnung. Ähnlich wie die Dekoration des Innenraums oder die Schuhe, die mir Shin Meguro schenkte, ist auch meine Unterwäsche mit Rüschen besetzt. Mein Atem stockt. Annas Berührungen suchen nach meinem Herzschlag. Unsere Kleidung raschelt wie beschriebenes Briefpapier. Von draußen dringt das Murmeln des Wassers herein und geht über in das Rauschen eines losbrechenden Platzregens. Nie wollte Anna Gebärdensprache lernen. Sie war der Überzeugung, ihre Stimme käme irgendwann zurück. Ihre Handflächen streichen meine Oberschenkel entlang, lüpfen meinen Rock, das Matrosenkleid unserer Schule. Vielleicht glaubt sie es noch heute, dass ihre Stimme zurückkehrt. Zwei Zimmer und ich. In meiner Wohnung bin ich immer allein. Zwei Zimmer, ein Bett, kitschige Dekoration und eine Wohnküche mit Klapptisch. Die engen Wände lassen mich schwindeln. Annas Hände sind forsch und ungeniert. Ich erwidere atemlos ihre Küsse. Vielleicht glaubt sie noch immer, dass ihre Stimme zurückkehrt. Sie versucht nicht mehr, sich mir mitzuteilen, hat es womöglich lange aufgegeben. Ihre Hände drücken, kneifen, kratzen mich. Ist es Hass oder Leidenschaft? Zwei Zimmer und ich und Anna. Sie streift sich die Schuhe ab, hält meine Fußgelenke in ihrem zarten Griff und löst auch mir das Schuhwerk. Dann schlägt sie mir flach ins Gesicht. Das Rauschen verklingt, wandelt sich zurück in murmelndes Wasser. Verwirrt fasse ich mir an die heiße Wange und spüre erst jetzt den Schmerz. Anna und ich in zwei Zimmern aus Kitsch und Einsamkeit und Schweigen. Sanft fährt sie mit ihren Fingern über meine Lider und wischt mir die Tränen fort, die ich, wie den Schmerz, erst nachträglich bemerke. Den Schmerz fühle ich weiterhin, obwohl sie wieder zärtlich ist und mich erneut zu küssen beginnt. Es ist, als würde sie meinen Namen hauchen und mich damit beruhigen wollen, weil ich eine Dummheit beging. Nur eine milde Zurechtweisung, eine liebevolle Züchtigung. Mir wird heiß. Nicht allein das Regenwasser, das von Annas Haaren tropft und meine Kleidung durchnässt, kühlt meine Haut, sondern auch die Hitze unserer Körper. Anna reibt ihre glatten Schenkel gegen meine. Durch ihre Haltung gewährt sie mir Einblick auf die milchweißen Schatten ihres Dekolletés. Ihr schlanker Hals verströmt jenen präsenten Duft von Vanille, der sich mit meinem Rosenparfum mischt und mit dem unterschwelligen Geruch nach geschnittenen Chrysanthemen. Anna trinkt meinen Atem, während ihre Finger unter den Stoff meines Slips wandern. Liebt sie nicht Shin Meguro? Liebt sie ihn, weil ich ihn mag? Hasst sie mich, weil ich ihn mag? Könnte sie möglicherweise mich lieben? Der Schmerz verstärkt sich, wird süß und bitter. Ich klammere mich an ihre nackten Arme. Annas Fingernägel tun mir weh. Meine Gedanken werden konfus und graben sich in unsere Vergangenheit. Obwohl sie weiß, dass sie sich bloß selbst belügt, glaubt Anna vielleicht noch immer, ihre Stimme käme irgendwann zurück. Anfangs glaubten wir das alle. Niemand rechnete damit, dass etwas Derartiges geschehen konnte. Es begann mit einem harmlosen Gesangswettbewerb. Er wurde kurz vor den Sommerferien veranstaltet, es gab sogar einen Preis zu gewinnen, zwei Karten zu einer klassischen Oper, die Anna und ich gemeinsam sehen wollten. Mir war egal, wer gewann. Wäre ich es gewesen, hätte ich Anna eingeladen; wäre sie es gewesen, hätte sie umgekehrt dasselbe getan. Ich wusste allerdings, dass sie den Wettbewerb äußerst ernst nahm, dass sie sich mit mir messen wollte und mir keine Halbherzigkeit oder Jovialität verzieh. Also trainierten wir. Ich liebte diese Wochen vor dem Wettbewerb. Die Tage wurden heißer, man hörte bereits das beständige Lied der Zikaden. Genauso sangen Anna und ich ununterbrochen. Der Einklang unserer unterschiedlichen Stimmen machte unseren Gesang in meinen Ohren schöner, als er einzeln zu sein vermochte. Ich badete in Annas Melodien. Eines Nachmittags jedoch brach sie bei einem Duett mitten in einem hohen Ton ab und verstummte. Als ich sie verwirrt ansah, war ihr Gesicht kalkweiß, ihre Lippen wie Schnee. Von da an konnte sie nicht mehr singen, nicht mehr sprechen, nicht mal mehr lachen. Ihre Eltern hetzten mit ihr von einem Arzt zum nächsten. Zuerst hielt man es für eine vorübergehende psychogene Störung, eine durch Leistungsdruck entstandene Hemmung. Das hinge sämtlich von Anna ab und könnte im folgenden Moment schon wieder in Ordnung sein. Im folgenden Moment oder niemals. Als sich ihr Zustand nicht besserte, benutzte man große Bezeichnungen, um das Problem einzufangen, vermutete Laryngitis, sprach von Internuslähmung, durch Überbeanspruchung ausgelöste Stimmbandlähmung. Auskunft über die Dauer der Heilung gab es nirgends. Zum Schluss nannte man es Apsithyrie und machte Anna keine Hoffnungen mehr. Mir haben sich diese Wörter eingebrannt, weil ich in ihnen nach einer Antwort suchte. Von all jenen medizinischen Namen und Erklärungen verstand ich nichts. Doch ich verstand, dass Anna nicht mehr Anna sein konnte. Noch heute gibt es Momente, in denen ich mich schuldig fühle. Dann frage ich mich, ob Anna möchte, dass ich die Verantwortung übernehme. In solchen Momenten wie jetzt, wenn der Lärm unerträglich und das Schweigen unersättlich wird. Jeden Laut unterbinde ich, jedes Stöhnen, jedes Wimmern, das den Weg durch meine Kehle finden könnte. Anna gibt sich Mühe bei ihrem Zerstörungswerk. Sie versucht gleichzeitig liebevoll und brutal zu sein. Liebevoll, damit ich mich nicht wehre, brutal, damit ihr Tun seine Wirkung nicht verfehlt. Damit ihr Diebstahl perfekt ist. Trotz der Grobheit habe ich nicht vor, mich zur Wehr zu setzen. Ihr steht zu, was sie mir wegnehmen möchte, darum lasse ich mich darauf ein. Seit jenem Stillstand in der Vergangenheit trage ich all dies mit mir in eine ungewisse Zukunft, von der Anna kein Teil mehr sein wollte. Ihre Ähnlichkeit mit meiner Mutter, ihr Lächeln und ihre Lügen. Umarmungen, die töten wollen. Worte, die nach Missgeburt und Verlassenheit klingen. Verstummter Gesang. Der Duft von Chrysanthemen. Blumen existieren, um die Wahrheit zu überwuchern. Trotz all dieser unangenehmen Erinnerungen, trotz der Zweifel und des Schmerzes fängt die Welt um uns herum an zu taumeln. Annas Finger hinterlassen Spuren auf unserer Haut, sie sind feucht vom Regen und von meinem Blut. Halbnackt liege ich unter ihr und atme noch immer hektisch. Sie erhebt sich, bleibt über mir stehen, schaut auf mich herab. Einen langen, schier endlosen Augenblick. Dann beugt sie sich zu ihren Schuhen. Von all den Dingen, die sie in der letzten Stunde tat, kann ich das am wenigsten begreifen. Sich seiner Schuhe zu entledigen, sei es im Haus eines Fremden oder eines Freundes, bedeutet Respekt. Tritt man ein, bedeutet es, dass man bleiben will. Barfüßig auf brennenden Sohlen, so laufen Menschen durch den heißesten Wüstensand für diese Bedeutung. Anna jedoch nimmt sie mir fort, nimmt mir die Hoffnung darauf, dass sie bleiben wird. Und meine eigenen bloßen Füße geben mir die Gewissheit, dass ich ihr nicht folgen kann. Yokohama ist eine Stadt der Ferne und Fremde, wo Kreuze den Weg markieren und Wege einander kreuzen. Für einen kurzen Moment ist Anna wieder Teil dieser Stadt, als sie die Tür hinter sich schließt. In meiner Wohnung, in diesen zwei Zimmern aus Schweigen, schwebt lediglich noch ein leichter Hauch von Vanille. Die Schwestern haben uns beigebracht, dass es im Leben darauf ankommt, wen man in den Kreis seines Kreuzes lässt. Anna wollte mir die Unschuld nehmen, damit kein anderer sie bekam. Ob sie es aus Hass oder Liebe tat, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ein bisschen von beidem. Damals dachte ich noch, die Wahrheit würde man erst im Moment des Abschieds erfahren. Tatsächlich aber erfährt man sie nie. Nun ist Anna fort, endgültig. Mir blieb nur das Kreuz, das sie hinterließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)