Corvus et Vulpes von Bei ================================================================================ Kapitel 25: Nach langem Schlaf ------------------------------ Sie erwachte durch ein dumpfes Stimmengewirr, das ihr von schräg oben ans Ohr drang; ihre linke Hand fühlte sich eiskalt und leblos an, während die rechte glühte und seltsam feucht war. Während sie schweigend mit geschlossenen Augen dalag, drangen einige Brocken des aufgeregten Gesprächs bis zu ihrem Bewusstsein vor. „Bei Merlin, wie lange war sie … wie lange hat sie Lestrange …“ „Über zehn Minuten sicher – oder vielleicht länger – verflixt, tun Sie doch was!“ „Wir haben da – ich versuche … eine neue Therapie, vielleicht hilft es ja was, hmm …“ Glas klirrte; desinteressiert ließ Jiang Li ihre Aufmerksamkeit wieder abdriften. Dicht neben ihrem Ohr ertönte ein hohes Schluchzen und ihre rechte Hand wurde fest gedrückt. „Miss, wachen Sie doch auf, Miss – bitte!“ Wieder benetzten dicke Tränen ihre Haut. „Was soll denn die Hauselfe da? Schicken Sie sie weg!“ „Also hören Sie mal, Severus! Wenn „diese Hauselfe da“ nicht gewesen wäre, würde sich Lian immer noch da unten befinden!“ Ein heißer, beißend riechender Trank wurde ihr eingeflößt und sie musste husten und die Augen öffnen, obwohl sie am liebsten in der Finsternis geblieben wäre, wo sie sich treiben lassen, fühl- und gedankenlos bleiben konnte. Niemandem gelang es, die unsichtbare Barriere zwischen ihr und dem Rest der Welt zu überschreiten, so sehr es sowohl Madam Pomfrey mit ihren Arzneien wie auch Snape, Dumbledore und die übrige Lehrerschaft von Hogwarts versuchten. Selbst der Spezialist, der aus dem St. Mungos eilig zu Hilfe gerufen worden war, wusste nicht weiter und gab die Behandlung nach einigen Tagen schließlich auf. Man konnte nur noch abwarten und hoffen, dass es durch ständige Ansprache und Stimulation gelang, sie aus der selbst gewählten Isolation zurückzuholen.   Stille hatte sich über den Teil des Krankenflügels gesenkt, in dem ihr Bett abgesondert von den anderen Kranken untergebracht worden war. Nur mit Mühe war es Madam Pomfrey heute gelungen, ihr ein wenig Nahrung einzuflößen; ihr Zustand drohte sich zu verschlechtern. Sie schien immer durchscheinender zu werden und hob sich gegen die weißen Laken fast gar nicht mehr ab; unter den Augen hatten sich tiefe, bläulich-violett schimmernde Ringe gebildet, die Lippen waren rissig und grau. Plötzlich gab es einen leisen Knall und eine kleine, zierliche Hauselfe tauchte mitten aus der Luft neben dem Bett auf. Sie blieb für einen Augenblick regungslos stehen und betrachtete mit ihren tennisballgroßen Augen das blasse Gesicht mit den unruhig zuckenden Lidern. Dann senkte sie den Kopf und fasste vorsichtig nach den Fingerspitzen der Liegenden.   Jiang Li wurde unruhig. Sie fühlte überdeutlich, wie etwas die Ruhe in ihrem Kokon des Schweigens störte und sie erbarmungslos nach außen ziehen wollte, in das Wissen, die Erinnerung zurück. Ihre Anstrengungen, dagegen anzukämpfen, ließen sie langsam wacher und ärgerlicher werden; wieder entstanden Bilder in ihrem Kopf und zeigten ihr die letzten Sekunden, die sie in den Kerkern der ägyptischen Familie noch wahrgenommen hatte. Scham und Zorn stiegen langsam in ihr hoch und trieben sie an die Oberfläche zurück, steigerten sich immer mehr und entluden sich schließlich in einem erstickten, wutentbrannten Aufschrei, der sie in die Welt zurückschleuderte und schlagartig die Augen öffnen ließ. Die Hauselfe an ihrer Seite zuckte erschrocken zurück, als sie heftig an ihrer Geschirrtuch-Toga, die mit einem Hogwarts-Wappen bestickt war, gepackt und abrupt nach vorne gerissen wurde. „Du …“, knurrte Jiang Li mit rauer, spröder Stimme und schüttelte die Hauselfe grob. „Miss, es ist doch Hepsy! Hepsy! Miss, Miss! Erinnern Sie sich, Miss! Im Hogwarts-Express, Miss, als Sie Hepsy und den anderen – als Miss so gütig war, Ihr Backwerk mit den unwürdigen Hauselfen zu teilen …“ Die Mundwinkel der Elfe begannen leicht zu zittern und eine dicke Träne kullerte auf die Bettdecke. Jiang Li musterte Hepsy aus schmalen Augen und lockerte schließlich den Griff ein wenig. Erschöpft sank sie in die Kissen zurück und die Elfe rief unverzüglich nach Madam Pomfrey, die der Patientin ein starkes Beruhigungsmittel verabreichte.   ***   „Schön, dass es Ihnen wieder besser geht, Miss Lian!“ Dumbledore sah sie gütig an und lächelte sanft. Seine blauen Augen funkelten freundlich hinter der Halbmondbrille, während er eine Schachtel Pralinen auf das Nachtkästchen neben ihr Bett legte. Jiang Li wollte ihm danken, doch plötzlich wand sich eine dicke, schwarze Schlange aus ihrem Mund, glitt rasch über die Schulter nach unten und verschwand in den Falten der Bettdecke. Sie beugte sich nach vorne und spie Dumbledore eine Ladung dunkles, wie gestockt aussehendes Blut mitten ins Gesicht.   Sie erwachte und fühlte ihr Herz rasen. Seit sie durch die Hilfe der Hauselfe aus ihrer Besinnungslosigkeit erwacht war, kehrte dieser Traum immer wieder, wahlweise mit Dumbledore, Snape oder Lupin, und brachte sie um den Schlaf. Zwar ging es ihr dank der Zaubertränke, die von Snape auf Anweisung Madam Pomfreys für sie hergestellt wurden, wieder insofern gut, dass sie bereits seit einer Woche unterrichten konnte, doch ihre Nerven waren immer noch hochgradig angespannt und machten jeglichen Versuch der Erholung zunichte. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken; neidisch betrachtete sie für einen Augenblick den ruhig dahinschlummernden Snape neben sich und schlug dann entschlossen die Decke zurück. Leise, um ihn nicht zu wecken, griff sie nach dem Zauberstab, schlich sich zum Kamin, schnippte vorsichtig mit den Fingern und stellte eine kleine, bläuliche Flamme in ihrer Handfläche her, die gerade genug Licht spendete, um die verwischten Abdrücke kleiner Pfoten in der Asche aus der Dunkelheit zu schälen. „Verflucht“, murmelte sie lautlos, richtete sich auf und überlegte kurz. „Severus!“ Er drehte sich murrend zur Seite und schlief weiter. Jiang Li runzelte die Stirn. „SEVERUS!“ „Ja, verfl – !“ Snape richtete sich mit halb geschlossenen Lidern auf und fuhr sich durch die zerzausten Haare. „Lass mich doch schlafen!“ „Der Fuchs war schon wieder da!“ „Blödsinn! Was denn für ein Fuchs?“ „In der Asche! Ach, Sev, jetzt komm doch!“ Murrend schälte er sich aus der Decke, schlurfte gähnend zu ihr und sah nicht einmal richtig hin, als sie nervös zu Boden deutete. „Da!“ „Da ist doch nichts! Das war wahrscheinlich eine Katze, na und?“ „Nichts na und! Fuchsspuren sind das! Und jetzt frage ich dich, wie kommt ein Fuchs in meine Wohnung?“ „Was weiß ich? Das war eine Katze, sag ich dir, reg dich wieder ab. Und dafür weckst du mich auf?“ Knurrend verzog er sich wieder ins Bett und schob seinen Kopf unter den Polster. Jiang Li atmete tief aus und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Unvermittelt schoss eine blinde Wut in ihr hoch und sie richtete den Zauberstab auf Snape. In Gedanken formte sie den erstbesten Spruch, der ihr in den Sinn kam. „Levicorpus!“ Ein greller Lichtblitz flammte auf und Snape wurde an seinem Fußgelenk in die Höhe gerissen, bis er mit dem Kopf etwa einen halben Meter über der Matratze hing. „Verdammt noch mal! Was soll denn das? Lass mich sofort runter, hast du gehört!“, schrie er, schlagartig hellwach. Jiang Li umrundete ihn langsam und konnte ein zufriedenes Lachen nicht unterdrücken. Während sie ihn in aller Ruhe betrachtete, fiel ihr etwas ein, das ihr eigentlich schon seit Längerem auf dem Herzen lag. „Was ich dich eigentlich noch fragen wollte – was sollen denn diese Briefe von Narcissa Malfoy?“ Snape riss seinen Kopf heftig nach oben und starrte sie aus überquellenden Augen an. „Was? Welche Briefe? Du bist ja komplett verrückt!“ „Ha! Von wegen. Ich hab dich ertappt, so sieht’s nämlich aus! Die Schublade in deinem Zimmer war offen, und da habe ich gesehen –“ „Lass mich runter, vorher rede ich mit dir kein Wort mehr!“ Jiang Li zuckte mit den Achseln, löste den Fluch und ließ Snape unsanft auf das Bett zurückplumpsen. Er kämpfte sich mit wutverzerrtem Gesicht auf und drückte die rechte Hand gegen den Hinterkopf. „So, und jetzt – was ist denn nur los mit dir? Was sollen diese Verdächtigungen? Und wie kommst du dazu, in meinen Schubladen herumzukramen? Bist du eifersüchtig auf einen Brief?“ „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“, zischte Jiang Li, plötzlich wieder in Weißglut. „Der Brief ist ja wohl eindeutig, diese elende Malfoy-Zicke ist erstens verheiratet, zweitens hässlich und drittens absolut beschränkt! Die soll sehen, dass ihr aufgeblasener, blöder Mann sie noch ein bisschen behält! Wie du mit den Malfoys überhaupt noch was zu tun haben kannst, nach dem, was die mir angetan haben!“ Snape fixierte sie für einen Augenblick schweigend, dann schloss er die Augen und atmete tief durch. „Komm her“, sagte er leise und streckte die Hand nach ihr aus. Widerwillig folgte sie nach kurzem Zögern seiner Bitte und ließ sich neben ihm an der Bettkante nieder. „So, und jetzt hörst du mir zu. Erstens, du brauchst dir wegen Narcissa wirklich keine Gedanken zu machen, in Ordnung? Da war, ist und wird auch nie was sein! Mehr darf und will ich dir jetzt dazu nicht sagen, aber du kannst mir glauben. Vertraust du mir?“, fragte er sanft und nahm ihr Gesicht vorsichtig in beide Hände. Natürlich glaubte ihm Jiang Li kein einziges Wort. Aber ihr Zorn war schon wieder verflogen und hatte einer entsetzlichen, traurigen Leere Platz gemacht; in ihrem Kopf stritten sich zwei Stimmen, von denen die eine höhnisch nach den Möglichkeiten fragte, die Jiang Li noch offen blieben, denn die sofortige Trennung war eigentlich unvermeidlich und das Vernünftigste, das sie im Moment tun konnte. Es würde kurz wehtun und dann könnte sie ihr Leben weitaus besser fortführen, ganz ohne Snape, die Gedanken an seine vorhandene oder nichtvorhandene Treue, die Sorgen um ihr Verhalten in seiner Gegenwart, kurz: der ganze Schwachsinn hätte ein Ende. Aber da gab es die andere Stimme, die fast nichts sagte, sondern nur das Gefühl zeigte, die Leere, den Schmerz, und dann war es auch schon entschieden. „Es tut mir … hmm, leid, aber – diese Briefe – die letzte Zeit …“ Bei Merlin, und er kaufte es ihr auch noch ab oder tat wenigstens so und sie legten sich wieder ins Bett, ohne weiter darüber zu reden, als wäre nichts gewesen. Jiang Li hasste sich für ihre Schwäche und diese verlogene Kompromissbereitschaft, die doch nur ihrer feigen Konfrontationsunlust entsprang.   Die Lichter in der Bibliothek waren bis auf ein einziges längst gelöscht worden und Madam Pince trippelte unruhig zwischen den langen Regalreihen hin und her. Ihrem Gesichtsausdruck nach hätte sie Jiang Li am liebsten auf der Stelle hinausgejagt, doch hinderte sie die Anweisung Dumbledores daran, der seinem Lehrpersonal freien Bibliothekszugang, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, zugesagt hatte. Madam Pince war damit nicht sehr glücklich, denn da sie es nicht übers Herz brachte, ihre ledergebundenen Lieblinge unbeaufsichtigt in den Händen anderer zu lassen, musste sie nun oft lange Nachtschichten einlegen und war auch dementsprechend schlecht gelaunt. „Miss Lian –“  „Sie können doch wirklich schon gehen, Madam Pince, ich bitte Sie“, antwortete Jiang Li mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme und hob nicht einmal den Kopf. Sie saß unter der der letzten noch brennenden Kerze, hatte sich in die brüchigen, dicht beschriebenen Seiten eines großen, schweren Buches vertieft und kritzelte schon seit Stunden eifrig Notizen auf eine lange Rolle Pergament. Die Bibliothekarin seufzte und begann ihren ziellosen Marsch von Neuem, während sie vorgab, die Büchergestelle abstauben zu müssen und dabei hin und wieder ein gezieltes Hüsteln fallen ließ. Nach einer halben Stunde gab Jiang Li schließlich entnervt auf, klappte das Buch so heftig zu, dass sich eine Staubwolke davon erhob, und griff sich noch drei weitere Werke, von denen sich eines heftig dagegen wehrte, aus den umliegenden Regalen. „Aber, Sie können doch nicht –“ „Wenden Sie sich bei Beschwerden bitte an den Direktor persönlich!“, schnappte Jiang Li gereizt und schritt steif zur Tür hinaus, die sie mit einer großen Portion von Beherrschung nicht hinter sich zuschlug. Draußen atmete sie kurz durch und sah sich, schlagartig erschöpft, mit müden Augen um. Es war schon weit nach Mitternacht und die Gänge in Hogwarts schienen bis auf einen entfernt lärmenden Peeves und einige lautlos vorbeischwebende Geister leer zu sein. Als sie außer Sichtweite der Bibliothek gekommen war, verlangsamte sie ihren Schritt und ließ die Schultern hängen. Sie fühlte sich, als würde sie sich in einem dichten Nebelschleier bewegen, weder vor noch zurück, ständig auf der Stelle, da sie eigentlich gar nicht wusste, was sie mit ihren Studien bezweckte. Was nutzen ihre Erkenntnisse? Es schien alles so sinnlos zu sein. Plötzlich wehte eine leise Melodie durch die steinernen Flure und Jiang Li blieb vor einem der Bogenfenster stehen, um zu lauschen. Eine dunkle, geflügelte Silhouette schälte sich aus dem mit Sternen übersäten Himmel und hielt geradewegs auf das Fenster zu. „Fawkes!“ Der rotgolden schimmernde Phönix ließ sich vor Jiang Li auf dem Fenstersims nieder und wartete, bis sie ihn einließ. „Was tust du denn hier? Hast du mich gesucht?“, fragte sie leise und wollte gerade lächeln, als Fawkes wieder seine Stimme erhob und sie mit seinen hell funkelnden Augen musterte. Langsam, als wollte er sie einladen, ihn zu begleiten, schwang er sich wieder in die Luft und schwebte sekundenlang fast bewegungslos dicht über ihr. „Was willst du, Fawkes?“, fragte Jiang Li wieder und tat zögerlich einige Schritte in die Richtung, die er vorzugeben schien. „Wohin soll ich gehen?“ Der Phönix ließ sich sinken, bis er ihr gerade in die Augen sehen konnte, und schoss dann so unvermittelt zur Seite und nach oben hin weg, dass er mit einer Flügelschwinge ihre Wange streifte. Jiang Li zuckte zurück und duckte sich unwillkürlich, umklammerte ihre Bücher fester und rannte hinter Fawkes her, der nun keine Rücksicht mehr auf sie nahm und mit immer höherer Geschwindigkeit außerhalb ihres Gesichtsfeldes geriet. „Warte doch! Wohin willst du-“, schrie sie ihm hinterher und bog mit so hohem Tempo um eine Ecke, dass die Bewohner einiger Portraits an den Wänden, vor allem eine reich geschmückte junge Frau mit sternenförmigen Spangen im Haar, die stets ruhelos von einer Ecke zur anderen ihres gemalten Gemaches zu wandeln pflegte, missbilligend schnalzten und keifend Ruhe forderten. Ein wohlbeleibter Zauberer wedelte gerade drohend mit einigen Pergamentblättern, als ihr hastiger Lauf jäh gestoppt wurde. Jiang Li prallte mit voller Wucht gegen ein unsichtbares Hindernis, verlor den Boden unter den Füßen und wurde meterweit zurückgeschleudert. Die schweren Bücher unter ihrem Arm lösten sich und fielen mit ohrenbetäubendem Knall auf die steinernen Fliesen, wobei sie sich öffneten und mehrere Seiten verloren. Als Jiang Li wieder atmen konnte und den schmerzenden Kopf hob, war Fawkes verschwunden und Stille in den dunklen Gang eingekehrt, selbst die Portraits schwiegen. Nichts rührte sich; Jiang Li konnte sich nicht erklären, was sich ihr in den Weg gestellt hatte. Tapfer ein Stöhnen unterdrückend kämpfte sie sich wieder auf die Beine und sammelte humpelnd die zerfledderten Folianten ein, während sie aufmerksam auf jedes Geräusch lauschte, doch selbst die Nacht schien nun den Atem anzuhalten. „Ist da jemand?“, hauchte sie schließlich, als die Spannung für sie kaum noch auszuhalten war. Jemand oder etwas befand sich noch hier, es war ihr sogar, als hätte sie verstohlene Atemzüge gehört. Entschlossen legte sie die Bücher zu Boden, packte ihren Zauberstab, der den Unfall glücklicherweise unbeschadet überstanden hatte, und presste ihn einsatzbereit an die Brust. Leise Schritte erklangen und eine große, dunkle Gestalt erschien am gegenüberliegenden Ende des Korridors. „Severus?“, fragte sie ungläubig, als sie ihn erkannte. Er legte den Kopf ein wenig schief, kniff die Augen zusammen und näherte sich ihr rasch. Mit einem Blick nahm er die ganze Situation in sich auf, der lädierte Zustand ihrer rechten Gesichtshälfte und der gezückte Zauberstab sagten ihm genug. Wie ein Blinder begann er, beide Arme auszustrecken und den Raum um sich abzutasten. Jiang Li beobachtete ihn ungläubig. „Was – was tust du da? Hast du den Verstand verloren?“ „Potter“, knirschte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und fuhr in seinem seltsamen Betragen fort. „Er hat einen Umhang – einen Umhang, der seinen Träger unsichtbar macht. Die kleine Kröte schleicht mit seinen Freunden ständig durch die Schule und schnüffelt überall herum …“ Jiang Li war erschrocken, als sie den lodernden Hass in seinen Augen sah. Natürlich wusste sie, dass er Harry Potter bis aufs Blut verabscheute und empfindlich auf den Namen reagierte, aber es überraschte sie dennoch jedes Mal von Neuem, wenn sie diesen unversöhnlichen Groll aufblitzen sah. Und nach ihrem schmerzhaften Aufprall war sie gleich noch um einiges empfindlicher. „Hör auf – hör doch auf!“, hörte sie sich selber rufen, als ihr eine plötzliche Angst die Kehle zuschnürte. „Es ist so sinnlos, Severus!“ Er hörte den verzweifelten Klang ihrer Stimme und drehte sich zu ihr um. Wo sie bei ihrem harten Sturz mit dem Gesicht auf dem Steinboden aufgetroffen war, begann sich die Haut bereits dunkelrot zu verfärben und anzuschwellen. Das rechte Bein belastete sie nur wenig und die Schulter hing schlaff herab. Sie schien den Tränen nahe. „Es tut mir leid …“, murmelte er kleinlaut und ließ die Arme sinken. „Ich dachte nur –“ „Du dachtest? Du dachtest?“ Zorn stieg in ihr auf und sie vergaß die Schmerzen. „Du hast gedacht, das – was? Dass Harry Potter durch die Schule schleicht? Na und? Wen kümmert das? Warum ist es dir so verdammt wichtig, dass du einen dummen kleinen Schüler überführst? Ich mag ihn auch nicht, in Ordnung! Aber ich muss nicht in der Nacht durch die Schule schleichen und hoffen, dass ich zufällig ihn oder einen seiner dummen kleinen Freunde dabei erwische, wie er sich Süßigkeiten aus seinem Geheimversteck holt oder die Sternschnuppen beobachtet!“ „Du verstehst das nicht!“, schnappte Snape zurück und nahm ihr die dicken Bücher ab, die sie dank ihrer Blessuren nur mit Müh und Not schleppen konnte. Mit einem ärgerlichen Zischen hieb er kurz und gereizt mit seinem Zauberstab auf jedes Buch und fügte die losen Blätter wieder ein. „Er ist ein Idiot, ein gefährlicher Störenfried! Wie sein verdammter Vater!“ „Schön, aber trotzdem musst du nicht dauernd wie der böse Geist von Hogwarts durch die Gänge schleichen! Statt dessen solltest du lieber mir ein bisschen helfen!“ Snape kniff seine Augen so schmal zusammen, dass sie wie zwei schwarze Tuschestriche in seinem blassen Gesicht wirkten. „Helfen, wobei?“ Jiang Li stockte und musterte ihn sekundenlang schweigend. Ihre ernüchternden Gespräche mit ihm über ihre Mutmaßungen, Voldemort und die tellurischen Ströme betreffend, hatte sie nicht vergessen und anscheinend hatte sich seine Meinung diese Dinge betreffend auch nicht sehr geändert. „Bei – na, bei der Auswertung der Schwierigkeiten bei den letzten Missionen und so weiter …“, stotterte sie etwas lahm und wedelte mit der weniger lädierten Hand ziellos in der Luft herum. Snape hüstelte ungläubig und warf einen skeptischen Blick auf die Titel der vier Bücher, sagte aber nichts weiter. Jiang Li ärgerte sich im Stillen und begann demonstrativ so rasch wie in ihrem Zustand möglich vor ihm den Gang entlang in Richtung Ravenclaw-Turm zu humpeln. Snape folgte ihr mit nachdenklicher Miene. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ihnen plötzlich laute Stimmen und hastige Schritte über den Flur entgegenkamen. „Hier sind Sie also! Ich suche Sie bereits seit einer ganzen Weile!“ Minerva McGonagall eilte händeringend und mit kalkweißem Gesicht auf sie zu, Argus Filch dicht auf den Fersen. Jiang Li fühlte, wie eine dunkle Vorahnung ihre Eingeweide nach oben kroch, und hielt unwillkürlich den Atem an. „Sie müssen mit mir kommen, Jiang Li – es geht um Ihre Familie … Ihre Ziehmutter …“ Jiang Li meinte, nicht recht zu hören. „Was – Zhen Juan?“ „Kommen Sie – so kommen Sie doch!“ Vor lauter Nervosität und Mitgefühl zeigten sich auf der Wange der Lehrerin für Verwandlung leichte graue Fellstreifen und die Andeutung zweier spitzer Ohren blitzte zu beiden Seiten ihres Kopfes aus den pechschwarzen Haaren hervor.   Die folgende Prozedur weckte schmerzhafte Erinnerungen in Jiang Li. Wie bereits vor einigen Monaten, als ihr Urgroßvater Soocangga verstorben war, begaben sie sich zu Dumbledores Büro, in dem sie schon von ihm erwartet wurden. Wieder reichte er ihr mit ernster Miene ein schmales Stückchen Pergament, das per Eilkurier aus China nach Hogwarts geschickt worden war und auf dem sie von ihren Schwestern in knappen Worten dazu aufgefordert wurde, ihre Sachen zu packen und sich zu beeilen. Die Großmeisterin Zhen Juan war vor einigen Tagen rätselhaft erkrankt und nun wurde ihr Zustand kritisch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)