My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 20: Verboten -------------------- Unsere Nasen berührten sich kurz; ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Zögerlich fixierte ich seine zarten Lippen, aus denen seine Fangzähne blitzten. Einerseits starb ich vor Angst. Mein inneres Ich mochte meinen Gegenüber wohl nicht ganz so sehr wie mein Körper, mein Herz, meinen Kopf oder meine Seele. Doch mit verdrängter Angst genoss ich den Augenblick. Ich spürte seine Lippen ansatzweise auf meinen. Er war so zögerlich. Ich ebenfalls, nichtwissend, wie weit ich gehen durfte. Kurz lösten wir uns, berührten uns wieder, diesmal stärker. Nach nur wenigen Sekunden küssten wir uns leiden­schaftlich, während unser Atem schneller wurde. Seine Lippen waren so weich und zart; er küsste so gut. So etwas hätte ich niemals gedacht, aber auf mir saß der ‚untote’ Beweis. Vorsichtig knabberte ich an seiner Unterlippe. Seine Hände ließen meine Handgelenke los, wanderten zu meinen Händen, umschlossen sie sanft, drückten mit der Zeit immer stärker zu. Zögerlich ließ ich meine Zungenspitze über seine Lippen wandern, traute mich kaum ihn darum zu bitten. Jedoch war das noch nicht mal nötig. Er öffnete seinen Mund, ließ meiner Zunge einlass und spielte mit ihr. Es fühlte sich so gut an. Hatte ich jemals einen so guten Kuss? Meine Exfreundinnen könnten nicht mit ihm mithalten. Nicht mal nach mehreren Kussübungen. Es fühlte sich einfach unglaublich gut an. Unsere Lippen rieben immer mehr aneinander, während unsere Zungen sich nicht voneinan­der lösen wollten. Immer wieder berührten sich unsere Nasen, der Atem lag des jeweils anderem auf der Haut, während uns hin und wieder ein kleines Geräusch unserer Stimme entfuhr. Es war so erregend, wie er auf meiner Hüfte saß. Ich löste mich von seinen Händen, legte sie sachte um ihn und drückte ihn an mich. Ich spürte seinen ganzen Körper auf meinem. Seine zarten Hände wanderten um meinen Nacken, während seine Fingerkuppen Gänsehaut auf meinem Körper verursachten. Sie waren kalt und im ersten Moment unangenehm, doch je länger sie mich kraulten, desto ange­nehmer wurde es. Unsere Lippen waren wie verschmolzen. Immer wieder küssten wir uns aufs neue, mal mit Zunge, mal ohne. Meine Finger strichen über seinen Rücken, bis sie eine freie Stelle seiner Haut entdeckten. Vorsichtig strichen sie das Hemd beiseite, fuhren unter das schwarze Kleidungsstück und streichelten seine zarte Porzellan­haut. Es schien ihm ebenfalls zu gefallen, da seine Küsse energischer wurden, während ich eine langsam steigende Erregung in meiner Hose nicht mehr unterdrücken konnte. Im ersten Moment dachte ich: Das ist gar nicht gut, ganz und gar nicht. Aber im zweiten vergaß ich den Gedanken sofort wieder und widmete mich meiner leidenschaft­lichen Zuwendung. Ich konnte meine kleine Erregung nicht mehr weiter unterdrücken; war mir nicht sicher, ob ich da nicht auch eine weitere an meinem Bein spürte? Mit einem Ruck drückte ich ihn in mein Kissen. Unsere Lippen lösten sich dabei nicht, unsere Hände berührten den jeweils anderen und genossen die Nähe. Während seine zarten Finger in meinem Nacken ruhten, strich ich ihm über sein Hemd und begab mich an den ersten Knopf. Ich löste mich von seinen Lippen, küsste mich vom Kinn bis zum Hals runter. »Hiro …«, hörte ich ein leises Flüstern. Kurz löste ich mich von seinem Schlüsselbein und sah ihm tief in die Augen. Seine Augen glänzten mich an, bettelten um etwas, das er brauchte. Ein fieses Grinsen huschte mir über die Lippen. Unbesorgt machte ich weiter. Ich knöpfte die weiteren Knöpfe auf, küsste ihn an seiner Brust. »Ja?«, flüsterte ich nach einer Weile auf meinen Namen. Sachte strich ich über seinen Oberkörper, genoss jeden Millimeter Haut, spürte sein Beben der Brust. Es war unge­wohnt einen männlichen Körper zu beglücken, doch machte es weitaus mehr Spaß, als irgendeinen Frauenkörper zu nehmen. Lag es daran, dass ich es ausnahmsweise mal wirklich wollte? Ich wusste nicht genau, was zu tun war, küsste mich aber über seinen Brustkorb entlang und spielte mit meiner Zunge an seinen Brustwarzen. Als er kurz aufstöhnte, wusste ich was zu tun war. Nach nur wenigen Sekunden waren sie hart geworden. Vorsichtig fing ich an, an ihnen zu knabbern, sachte drückte ich immer wieder meine Zähne auf sie. Sein bebender Körper war so anreizend. »Hiro …«, wiederholte Kiyoshi meinen Namen, diesmal etwas deutlicher. Genussvoll leckte ich ihm über seine Brust, küsste mich wieder zu seinem Hals, bis ich ihm meine Lippen aufdrückte. Nachdem wir uns wieder einem leidenschaftlichen Kuss hingegeben haben, nahm ich seinen Kopf in meine Hände und erkundete mit meiner Zunge seinen Kiefer. »Hiro … Bitte …«, flehte er schon fast in mein Ohr. Seine Stimme klang rau und ausgetrocknet. Ich ließ kurz von ihm ab, genoss unsere Körperberührung und küsste ihn. »Niemand hält dich davon ab …«, flüsterte ich ihm entgegen. In Sekundenschnelle umschlangen mich seine Arme und drückten mich gegen ihn. Meine Haare fest in der Hand, den Kopf zur Seite gerichtet, spürte ich den hungrigen Blick auf meinen entblößten Hals. Noch spürte ich seine Zunge, die Küsse und wartete auf den blutigen Schmerz.   Auf einmal riss mich etwas am Arm von Kiyoshi weg, schleu­derte mich auf den Boden. Ich hörte Stimme meines Bruders, wie er ‚Nein’ rief, mehrmals hintereinander. Dann drehte ich mich entsetzt wieder zum Geschehen. »Der Faden reißt, eindeutig!«, schrie Vater und packte Kiyoshi an den Schultern. Mehrmals schüttelte er ihn, während Mamoru das Licht einschaltete. Vater riss meinen Bruder aus dem Bett, schubste ihn zu Mamoru, der ihn im Klammergriff aus meinem Zimmer beförderte, wobei Kiyoshi seine mutierte Form noch beibehielt. Dann verschwanden beide. Zurück blieben mein Vater und ich. Ich musste mich noch vom rauen Griff meines Vaters rehabilitieren. Es tat ziemlich weh. Mein Arm schmerzte be­achtlich, während mich mein Vater mit verachtendem Blick ansah. Eine Weile hörte ich noch Kiyoshis Schreie, bis sich eine Tür schloss und endgültige Stille eintrat. »Hast du das beabsichtigt?«, schrie mein Vater auf einmal. Ich zuckte heftig zusammen. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Nur damals gehört, aber nicht gesehen. Ich hatte Angst und zwar richtig. »… W-Was? Was beabsichtig?«, stotterte ich und sah ver­ängstigt zu meinem Vater auf, da ich noch auf dem Boden hockte. »Dass dein Bruder hier rein kommt! Was hast du dir dabei gedacht, die Tür nicht abzuschließen? Und was um alles in der Welt war das gerade eben? Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?« Seine Stimme bebte in meinen Ohren, ließ mich erstarren und zittern. Ob es daran lag, dass er ein Vampir war oder dass meine Mutter nie so schreien konnte, war mir in dem Moment egal. Mein Vater stand vor mir, schrie mich an, war wütend und ich hatte das Gefühl, er würde mich jeden Moment töten wollen. »Ich … Ich dachte …« Weiter kam ich nicht. Meine Stimme versagte und Tränen kullerten mir über die Wange. Wie ein kleines Kind hockte ich auf dem Boden, hielt mir vor Schmer­zen den Arm und winkelte meine Beine an. »Ich meine es Ernst!«, schrie Vater wieder, packte mich erneut am Arm und zog mich zu ihm hoch. Es war zum Glück der Andere, schmerzhaft war es trotzdem. »Ich meine es wirklich Ernst, Hiroshi! Du und Kiyoshi seid Brüder, so etwas tut man nicht. Andere Rasse hin oder her. Ich hatte Befürchtungen, ihr würdet euch nicht ausstehen können, da ich Kiyoshis Verhalten gut kenne. Aber wenn ich so etwas sehe, habe ich wohl das Gegenteilige bewirkt.« Meine Tränen flossen immer weiter. Ich wusste ja selbst nicht, was Kiyoshi für mich war. Es war ein Fluss des Begehrens. Ob es daran lag, dass wir Zwillinge waren? Und diese magische Anziehungskraft zwischen uns schon natürlich hervorgerufen wurde? Oder ob es wirklich um Kiyoshi ging, wusste ich nicht. Aber wieso konnte ich ihm das nicht sagen? Jegliche Worte blieben mir im Hals stecken. »Hiroshi, ich will das nie wieder sehen! Falls doch, schicke ich Kiyoshi für die Zeit, die du zur Verwandlung brauchst, auf ein Internat. Damit das klar ist: Auf dich wartet dann auch eine Strafe!« Seine Stimme beruhigte sich etwas, war aber noch immer beängstigend. »Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«, schrie er mir plötzlich wieder entgegen. Schnell nickte ich und zeigte ihm deutlich, dass er mich loslassen solle. Er sah mich noch eine Weile finster an, ließ dann von mir ab und verließ meinen Raum. Mit einem lauten Türschlag trat Stille in mein Zimmer ein. Laut schluchzte ich auf, beugte mich nach vorne und ließ meinen Tränen freien lauf. Ich konnte mich kaum mehr beruhigen. Immer wieder gluckste ich und weinte laut. Meine Arme schmerzten, wobei der rechte mehr weh tat; mein Herz schlug wie verrückt, Tränen verschwammen mir die Sicht. Ich kniff fest die Augen zusammen, wollte alles einfach verdrängen, aus meinem Kopf bekommen. Doch alles blieb, wo es war. Die Bilder, die Gedanken, die Gefühle. Mit einem Mal ließ ich mich auf dem Boden fallen. Auf dem Bauch liegend, legte ich meinen Kopf in meine Arme und weinte bitterlich. Die Tage hier waren so grausam. Jeden Tag weinte ich. Sei es aus banalen oder aus wirklich für mich schrecklichen Gründen. Ich wollte nach Hause. Mit Kiyoshi. Dort würde er nie geschlagen werden. Dort würde meine Mutter ihn lieb haben, jedenfalls würde ich dafür sorgen. Aber würde meine Mutter das so hinnehmen, wenn sie mich in so einer Lage mit Kiyoshi erwischt hätte? Ich wollte es gar nicht wissen. Dass Vater uns erwischt hatte, war schlimm genug. Die Schreie von Kiyoshi, als er weggezogen wurde, ließen mich noch mehr weinen.   So ging es noch weitere Minuten. Vielleicht auch schon fast Stunden? Ich weinte so lange, bis ich gar nicht mehr genau wusste, wieso ich eigentlich weinte. Doch das mulmige, schwere Gefühl in meinem Körper ließ mich nicht aufstehen. Erschöpft und ausgelaugt blieb ich auf dem Boden liegen und weinte noch ein wenig. Hin und wieder schluchzte ich kurz auf. Bis ich vor Erschöpfung einschlief.   Die Sonne schien in mein Zimmer und schmerzte auf meiner Haut. Noch im Halbschlaf drehte ich mich auf die Schattenseite meines Bettes. Langsam öffnete ich meine Augen. Ich starrte auf meinen Schreibtisch. Vorsichtig drehte ich mich um und blinzelte nach draußen. Ein neuer Tag stand vor dem Fenster, lächelte mich schon fast an und zeigte mir, wie glücklich alles war. Mein Gesicht verzog sich und ich wurde wütend. Mit einigen Schmerzen in den Gelenken errichtete ich mich und stand auf. Mein Blick fiel auf meine Arme. »Oha …«, brachte ich raus und starrte auf die roten Streifen um meine Oberarme. Sie waren rot, blau und grün in einem. Richtige Quetschungen. Noch taten sie etwas weh, aber es war aushaltbar. Langsam schlurfte ich zum Fenster und ließ die Rollläden so runter, dass nur durch die kleinen Schlitze Licht in mein Zimmer kam. Ich setzte mich auf mein Bett und sah mein Handy unter dem Nachttischschränkchen liegen. Es musste wohl rausgefallen sein. Ich bückte mich kurz, nahm es und sah auf das Display. Es war schon zehn nach zehn. Und ich hatte zwei SMS. Die eine war von Jiro. »Hey Hero. Muss mein Handy jetzt schon abgeben, gibt’s einfach nicht! L Pass auf dich auf und hab Spaß, denk an mein Angebot mit der SMS! Bis dann! Hadde!« Ich grinste matt und drückte sie weg. Zurückschreiben würde eh nichts bringen, außer er wollte in drei Wochen eine SMS von mir sehen, wie ich ihm auch viel Spaß für seinen schon vergangenen Urlaub wünschte. Die andere war von meiner Mom. Schon erfreut, dass sie an mich gedacht hatte, öffnete ich sie. »Hiro, dein Vater hat mich vorhin angerufen. Ich hoffe, dass du eine gute Erklärung für dein Verhalten hast. Wir telefonieren heute Nachmittag, wenn ich von der Arbeit zurück bin.« Das war’s. Kein Tschüss, kein ‚Ich liebe dich’, kein ‚Mein Schatz, pass auf dich auf’ oder sonstiges. Vater hatte sie angerufen und geplaudert, was letzte Nacht war. Jetzt wusste sie be­scheid? Oder hatte er ihr nur von meinem ‚Verhältnis’ mit Kiyoshi erzählt? Wahrscheinlich … Eine Träne floss über meine Wange auf das Display meines Handys. Traurig drückte ich die SMS weg und legte es wieder auf das Nachttischschränkchen. Ich wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht und seufzte leise. Jetzt war meine Mutter auch noch gegen mich? Was würde ich ihr denn erklären? Am besten die Wahrheit. Aber zur Wahrheit gehörte auch die Sache mit dem Beißen. Allein deswegen hatte ja alles angefangen. Nur deswegen. Deprimiert und ziemlich down, hockte ich auf meinem Bett und dachte über die Geschehnisse nach, wobei sich meine Gedanken immer und immer wieder wiederholten. Ein klares Zeichen bei mir für Verzweiflung. Langsam glaubte ich auch, keinen Ausweg mehr zu finden. Sonst fand ich immer einen, auch wenn er nicht der ange­nehmste war, so war er doch ein Fluchtweg aus meiner misslichen Lage. Aber jetzt? Nicht mal einen Ansatz von Hoffnung.   Draußen zwitscherten die Vögel fröhlich vor sich hin. Die Sonne verschwand manchmal hinter den Wolken, die sich anbahnten. Doch trotzdem kam sie immer wieder raus und schien warm in mein Zimmer rein. Ich ließ mich in mein Bett fallen und drückte mein Gesicht ins Kissen. Ich roch seinen Geruch. Den süßlich, herben Geruch von ihm. Ich liebte ihn so. Sanft schloss ich die Augen und genoss die restlichen Züge, die ich von letzter Nacht übrig hatte. Ob wir es wirklich getan hätten? Immerhin waren wir gut davor. Ich wollte Sex mit ihm und hätte es beinahe geschafft. Dafür, dass ich keine Ahnung von dem hatte, was ich da tat, hielt ich es für ganz gut gelungen. Allein der Gedanke an die Hand­lungen, die ich ausübte, ließen meine Lust steigen. Sofort schüttelte ich innerlich den Kopf und wollte das vergessen. Kiyoshi war jetzt in der Schule. Und würde Vater uns noch mal er­wischen, würde Kiyoshi dann für mich nicht mehr zugänglich sein. Internat … Und das wegen mir. Irgendwo knabberten heftige Schuldgefühle an mir, aber andererseits war er auch selbst Schuld daran. Er kam in mein Zimmer, konnte nicht von mir ablassen, wie ein Tier stürmte er auf mich zu, überrumpelte und verführte mich. Natürlich wechselte die aktive Position schnell in meine Wenigkeit, aber das hielt ich für nebensächlich. Hauptsache war, dass er damit angefangen hatte. Meine Gedanken waren kindisch, beruhigten mich aber in einer Weise. Ich schloss meine Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Sein Gesicht erschien mir kurz in meinem Kopf. Wie er leise meinen Namen flüsterte. Wie er mich um Blut bat. Ich hätte es ihm gegeben. Bedingungslos. Ich seufzte.   Vorsichtig erhob ich mich und sah mich in meinem Zimmer um. Ich sollte mir langsam eine Antwort ausdenken, die ich meiner Mutter entgegenbringen würde. Langsam stand ich auf und ging zur Tür. Mit einem leisen Quietschen drückte ich die Klinke runter und ging aus meinem Zimmer. Der goldene Schlüssel steckte noch auf der Innenseite. Warum sollte ich abschließen? Wenn Kiyoshi dann kommt, wollte ich es erst recht nicht. Trotzdem wollte ich es genauer wissen, traute mich aber nicht im Geringsten direkt zu meinem Vater zu gehen und zu fragen. Brauchte ich auch gar nicht. Er stand unten im Foyer und blätterte in einem Haufen Blätter, die er in einem großen Aktenordner, den er trug, hatte. Ich stand regungslos an der Treppe und wusste nicht ganz, was ich genau wollte. Sein Blick huschte zu mir. Mit ausdrucksloser Miene betrachtete er mich. Wie ein Häufchen Elend stand ich wahrscheinlich an der Treppe; hatte eine Hand auf dem Geländer liegen, verheulte Augen, keine richtige Haltung, da mir alles wehtat und trug noch immer meine Jogginghose mit T-Shirt. »Guten Morgen, Hiroshi«, sagte er monoton, war dennoch freundlich. »Guten … Morgen …« Ob er noch sauer war? Vorsichtig schlurfte ich die Treppe runter und versuchte jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Plötzlich huschte Mamoru an mir mit einem riesigen Wäsche­korb vorbei nach oben. Ich erschrak und sprang noch weiter zum Geländer. »Entschuldigen Sie, junger Herr Hiroshi«, sagte Mamoru in seiner Eile und verschwand direkt wieder im Gang. Noch sichtlich erschrocken sah ich auf die Stelle, wo er verschwunden war. »Hiroshi, ich möchte mit dir reden.« Sofort wendete ich meine Augen wieder zu Vater. Er sah ernst aus und schien keine Scherze mehr zu machen. Ich schluckte heftig und schlich weiter die Treppe runter. Mein Herz schlug gegen meine Brust, während ich schon fast vor Angst starb. Er ging ins Esszimmer und setzte sich an den großen Esstisch, während er mir meinen Stuhl halb neben sich zeigte. Nachdem ich mich links neben ihn setzte, trennte uns nur die Ecke des Tisches. »Du weißt, dass ich gestern ziemlich wütend war«, fing er an. Ich nickte stumm und sah betrübt auf den Tisch. Ich wollte auf keinen Fall hochsehen. »Was läuft zwischen dir und Kiyoshi denn genau?« Sofort weiteten sich meine Augen. Hilflos sah ich dann doch zu ihm auf und öffnete meinen Mund. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Vater lockerte seinen Blick ein wenig, da meiner anscheinend sehr entsetzt wirkte. »Ich will das nicht wissen, um dir darüber eine Moralpredigt zu halten. Ich will das wissen, um im Klaren zu sein, wo ihr beide steht, damit ich das Schlimmste verhindern kann.« Das Schlimmste klang sehr harsch. »Hiro, bitte.« Ich öffnete meinen Mund und versuchte einen Ton durch meine Lippen zu schieben. »Was … genau willst du denn wissen?« Er schien erleichtert, dass ich noch reden konnte. »Am besten alles, was du mir erzählen kannst.« »Äh …« Ich stockte. Wo sollte ich denn anfangen? Ich wusste ja selbst noch nicht mal, wo das ganze anfing. »Ich bin mir nicht sicher, was genau passierte, aber …« Sein Blick schien interessiert, doch abweisend zugleich. Er wollte das wahrscheinlich wirklich nur wissen, um unsere Beziehung zu Nichte zu machen und nicht, um sie in irgend­einer Weise zu fördern. »Kiyoshi … tat es Leid mich gebissen zu haben … Im Bad, als ich so blutete, wusch er es mir ab. Da war so eine Ver­bindung. Ich glaube, wir beide wussten nicht ganz … was wir taten …« Meine Stimme wurde gegen Ende immer leiser. »Was habt ihr denn gemacht?« Ich presste meine Lippen aufeinander. Meine Wangen er­röteten leicht, während ich vor Scham meine Hände zwischen den Knien zusammendrückte. »… Wir haben uns … geküsst …« Sofort drückte ich meine Augen zusammen und hoffte, er würde nicht handgreiflich werden. Denn das traute ich ihm in dem Moment zu. »Geküsst?« Ich nickte. »Verstehe.« Er klang wirklich mal verständnisvoll. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und sah ihn an. Seine großen Hände lagen sachte gefaltet auf dem Ebenholzesstisch, während seine Augen auf den Tisch sahen. »Ist diese Art von Zuneigung zwischen euch schon öfter vorgekommen?« Ich schwieg kurz. »Welche … Art meinst du? Dass wir uns …?« »Ja.« »Vor dem letzten Mal … Zweimal … und …« Ich stockte. »Und?« Zögerlich hob ich die Schultern kurz an. »… und mehrere Versuche.« »Was war denn dazwischen gekommen? Sicher nicht die Vernunft.« Der Satz stach etwas in meiner Brust. Vernunft ist ein sehr dehnbares Wort, aber das behielt ich für mich. »Um ehrlich zu sein … du.« »Ich habe euch abgehalten?« »Ja … entweder kam Mamoru rein, du hast mich gerufen oder sonst irgendetwas …« Er nickte. »Aha.« Das ganze Gespräch war mir so unglaublich peinlich. Immer­hin stand ich nicht auf Männer. Die ganze Sache war für mich ebenfalls so schockierend wie anscheinend für ihn. »Und das gestern? Ist das auch schon vorgekommen?« »Nein …« »Versucht?« »Nein.« Ein kurzes Schweigen trat wieder ein. Dann atmete Vater tief ein und hielt kurz inne. »Liebst du ihn?« Bamm. Er fragte mich genau das, was ich die ganze Zeit überlegte. Ich mochte ihn, kein vertan. Aber wie sehr ich ihn mochte, wusste ich nicht. Jedenfalls wollte es mir nicht klar werden. Liebte ich ihn wirklich? Aber er war ein Mann, mein Bruder, und keine scharfe Braut. Meine Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf, während ich mit glühendheißer Birne auf den Boden starrte. »Hiro?«, fragte mein Vater nach. Ungeduldig war kein Aus­druck für den Nachbrenner der Frage. »Ich …«, brachte ich raus. »Also …« Kein vollständiger Satz wollte aus meinem Mund kommen. »Hiro, du kannst auch einfach schweigen. Dann denke ich mir meinen Teil, wenn du es mir nicht sagen möchtest.« Um Gottes Willen, das wäre ja noch schlimmer. »I-Ich weiß es nicht …«, stotterte ich mich leiser Stimme. »Du weißt es nicht?« Mein Vater schien überrascht, da er sich wahrscheinlich schon seine Meinung gebildet hatte. »Ich bin mir nicht sicher … Einerseits mag ich ihn wirklich, aber … ich …« Dann versiegte meine Stimme wieder. Ich schnappte nach Luft und versuchte mich innerlich zu beruhigen, aber da ging nichts mehr. Mein Vater seufzte kurz, stand auf und schob den Stuhl an den Tisch. »Ich will dich nicht verhören. Zwischen euch scheint also nichts Ernstes zu laufen, wenn ich das so richtig verstanden habe.« Etwas erleichtert über den Abbruch des Gesprächs nickte ich. »Trotzdem bitte ich euch beide darum, euch auch wie Brüder zu verhalten. Jedenfalls in meiner Gegenwart. Was ihr draußen macht, kann ich nicht kontrollieren; solange ihr bei mir seid, macht ihr so etwas nie wieder.« Etwas überrascht über den Teil mit dem ‚was ihr draußen macht, kann ich nicht kontrollieren’, sah ich ihn mit großen Augen an. Hieße das, er wollte das einfach nur nicht sehen? »Verstanden?« »J-Ja …«, sagte ich schnell und nickte kurz. Dann verschwand er geräuschlos aus dem Zimmer. Ich blieb noch wie ange­wurzelt auf dem Stuhl sitzen. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, während ich versuchte die Situation zu realisieren. Vater war gegen eine Beziehung zwischen mir und Kiyoshi, klar, welches Elternteil wäre das nicht. Aber indirekt hat er gesagt, dass wir in seiner Abwesendheit tun und lassen können was wir wollen. Das fand ich gut. Ich freute mich richtig. Es schien also, dass, wenn ich noch mal mit Kiyoshi reden würde, wir da weitermachen konnten, wo wir stehen geblieben waren.   Sofort versiegte mein plötzliches Grinsen. Ich wollte da weitermachen? War ich denn verrückt geworden? Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Verwirrt und nicht ganz im Klaren mit mir selber, torkelte ich die Treppe hoch in mein Zimmer. Mamoru stand an meinem Schrank und räumte meine Klamot­ten sorgfältig in ihn. »Oh, äh … Mamoru, das müssen Sie aber nicht tun …«, sagte ich etwas zurückhaltend und versuchte zu lächeln. Er sah mich durch seine kleinen Brillengläser an. »Junger Herr, das ist meine Aufgabe.« »Mag ja sein, aber ich brauch auch was zu tun. Also lassen Sie gut sein, ich mach das schon.« Er sah etwas perplex aus, ließ aber den Korb stehen und ging aus meinem Zimmer. Sachte rastete die Tür in das Schloss ein. Hatte ich Mamoru gesiezt? Hatte ich ihn nicht immer geduzt? Ich war mir selbst nicht mehr sicher. Normalerweise duzte ich Leute immer, egal ob sie älter oder jünger als ich waren. Immer noch sichtlich benebelt durch das Gespräch, schloss ich die Schranktür. Der halbvolle Korb stand zwar noch neben meinem Schreibtisch, jedoch hatte ich jetzt keine Lust den Inhalt einzuräumen. Ich wollte nur allein sein. Warten, bis Kiyoshi nach Hause kommen würde. Einfach abwarten, was er mir zu sagen hat bezüglich Vaters Meinung. Er hat sicher auch schon mit ihm darüber gesprochen oder tut es noch. Leise setzte ich mich aufs Bett und atmete tief ein und aus. Erst jetzt bemerkte ich das frisch gemachte Bett. Sofort stand ich auf und strich über die kleinen Falten, die ich gemacht hatte. Ich zog mir den Stuhl heran und setzte mich auf ihn. Ordentlich mit gefalteten Händen im Schoß und einer geraden Haltung starrte ich auf die schwarze Tagesdecke mit den schönen Rosen. Nach einer Weile, fast ohne Gedanken im Kopf, sah ich auf meine Hände. Sie waren weiß und dünn. Sie sahen so anders aus. Wenn Mom mich am Ende der Woche sehen wird, weiß sie sicher Bescheid. Dann könnte ich nicht mehr lügen. Sowieso müsste sie es spätestens dann erfahren, wenn mein Todestag gekommen wäre. Meine Tage waren gezählt. Und ich dachte, das würde man nur in dummen Filmen sagen. Vorsichtig beugte ich mich nach vorne und legte meinen Kopf in meine Hände und lauschte den Vögeln außerhalb meines Zimmers. Ob meine Veränderung auf persönlicher Ebene mit der grundsätzlichen, körperlichen Veränderung oder mit meinem Umfeld zu tun hatte, wusste ich nicht, doch es beschäftigte mich. Ich war so anders geworden, so abwesend. Nicht mehr der lustige, fröhliche Hiroshi. Was war nur geschehen? Wie konnte es nur dazu kommen? Wie Flashbacks kamen mir die Bilder wieder zurück in den Kopf. Wie ich mich im Spiegel bluten sah, wie ich am liebsten schreiend weggelaufen wäre, wie sich alles in mir drehte, als ich das Blut trank, wie ich am liebsten geschrien hätte, obwohl es nichts mehr zu sagen gab. Weiß ich überhaupt was ich bin? Wohin gehöre ich eigentlich? Ein Mix aus Vampir und Mensch, glaubte ich zu sein. Gehöre weder in die eine noch in die andere Welt. Ein Untoter, wie aus einem schlechten Horrorfilm. Es dauerte wohl auch nicht mehr lange, dann würde ich wie Kiyoshi aussehen: Düster, mysteriös, Angst einflößend, untot. Ein Leben in ewiger Dunkelheit.   Ich wusste nicht wie lange ich so da saß; ich hatte kaum ein Gefühl für Zeit, hing mit meinen Gedanken noch so vielen anderen Dingen nach. Die Sache mit Kiyoshi, das Gespräch mit Vater, ganz weit hinten dem verhängnisvollen Biss, meiner Zuneigung zu Blut und der zu Kiyoshi. Er war mir so wichtig geworden. Nicht wie ein Bruder, das sicher auch, doch mehr als Freund. Als eine Person, ohne die ich diesen Alltag nicht überleben würde. Auch wenn er oft an meiner inneren Wut Schuld war oder er mir öfters auf die Nerven ging, so war er mir doch unglaublich wichtig. Sehn­süchtig wartete ich die Zeit ab, die mir noch blieb, die ich zu verschwenden hatte. Sehnsüchtig würde ich warten, bis er von der Schule kommen würde. Sehnsüchtig, ihn einfach in den Wald zu entführen und ihn gegen einen Baum zu drücken, ihn zu küssen, ihn zu berühren, ihn zu riechen, seinen Duft einzuatmen, ihn …   Fast wie erschrocken, erhob ich mich schnell aus meiner Position und starrte wieder auf meine Hände, in denen vorher mein Kopf lag. Ich öffnete kurz den Mund, wollte schon etwas zu mir selbst sagen, schloss ihn aber doch und schwieg.   Das klang dumm und absurd. Das war nicht der Hiroshi, der das dachte. Das war einfach nicht so, wie es hätte sein sollen. Wie verhängnisvoll ein einfacher Besuch sein konnte. Ob das wirklich der Hiroshi war, der das dachte? Der diesen Schmerz im Herz hatte, die Sehnsucht empfand? Der innerlich vor Schmerzen schrie, weil er nicht das bekam, was er wollte? Weil er wusste, dass er das nicht bekommen durfte? War das Hiroshi? Oder war das schon das Monster in mir, das zu erwachen drohte? Ein Grinsen huschte mir über die Lippen. Traurig und mich selbst als Dummkopf bezeichnend ließ ich mich etwas im Stuhl sinken. Diese Gedanken waren eindeutig. Die Sehnsucht nach ihm. Ich wollte es nicht sagen, ich wollte es nicht wahrhaben, doch musste ich es mir eingestehen …   Ich liebte ihn.   Er war alles in meinem kurzen Leben geworden. Ich wollte alles an ihm haben. Seine Seele, sein Herz, seine Liebe, sein Blut, seinen Körper, mit Haut und Haaren. Er sollte mir gehören. Nur mir. Seine glänzenden Augen sollten mich ansehen, seine kratzige, dunkle Stimme meinen Namen rufen, seine zarte Haut meine streicheln, während er seine Lippen nur meinen widmen würde. Und das war nur ein Teil meiner immer größer werden­den Besitzansprüche an ihm. Ich erschrak vor mir selbst, wissend, dass ich das ernst meinte. Vorsichtig fasste ich mir an meine Stirn. Tastete sie ab, suchte innerlich nach einem Einstich, wo die Gehirnwäsche stattgefunden haben könnte. Natürlich fand ich weder ein Loch noch irgendeinen Hinweis auf eine Gehirnwäsche. So schnell konnte ich mein Herz verlieren? So schnell wurde ich von einer Person abhängig? Unglaublich, was aus mir geworden war.   Mein Blick fiel kurz aus dem Fenster. Durch die kleinen Löcher der Rollläden spähend, suchte ich nach Leben. In diesem Haus suchte man nach so etwas ja vergebens. Seufzend griff ich nach meinem Handy, sah auf das Display und legte es wieder zurück. Noch bestimmt sechs Stunden, wenn es bei Kiyoshi wieder später werden würde. Sechs Stunden waren verdammt lang, wenn man weder Fernseher noch Computer hatte. Meine Mutter würde mit ihrem ‚Früher haben die Kinder mit Steinen und Stöcken gespielt’ ankommen. Sicher, früher, aber damals hatten die auch keinen Computer. Denn hätte es den schon damals gegeben, hätten die Kids wahrscheinlich auch den ganzen Tag vorm Bildschirm verbracht. Die Langeweile trat schon nach nur wenigen Minuten ein. Ich hatte jedoch keine Lust mich anzuziehen, den Schrank einzuräumen, etwas zu essen oder sonst irgendetwas Produk­tives zu tun. Einfach rumhängen und nichts tun war aber auch nicht in meinem Sinne. Ich drehte mich etwas auf dem Stuhl und lehnte mich zum Schreibtisch. Auf ihm lagen noch die schönen Bücher meiner Mutter. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, sie dort liegen zu lassen, bis ich wieder zurückfahren würde, doch jetzt hatte ich nichts Besseres zu tun, als Mist zu lesen. Etwas angenervt schnappte ich mir das erste Buch und schlug es auf.   »Mein erster Tag an der neuen Schule. Ich war so aufgeregt, dass mein Herz gegen die Brust hämmerte. So viele junge Frauen und Männer auf dem kleinen Schulhof, alle in wunderschönen Uniformen. Sie alle tummelten sich in Grüppchen an einigen Stellen und quatschten wild. Immerhin waren die Sommerferien um und jeder hatte sicher eine Menge zu erzählen. Ich auch: Meine Familie und Ich sind hier hergezogen, weil mein Vater eine neue Stelle angeboten bekam. Ich selbst war von der Idee weniger begeistert, da ich alle meine alten Freunde verlassen musste, und wer tut das schon gerne? Dieser Ort hier war knappe 100 km von meinem alten Heimatort entfernt. Traurige Aussichten für eine Aufrechterhaltung einer Freundschaft. Grade dann, wenn die beste Freundin weder Handy oder Computer hatte. Briefe schreiben war nie so mein Ding gewesen. Ich dachte immer, ich müsste mich auf Mobbingattacken und Lästereien einstellen, doch die Schüler sahen alle nett aus. Langsam ging ich lächelnd den Schulhof entlang, bis mich eine Lehrerin anlächelte und grüßte. Ich grüßte zurück, drehte meinen Kopf zur Seite und achtete nicht, wohin ich eigentlich lief. Und da passierte es schon: Ich lief in den wohl attraktivsten und nettesten Jungen der gesamten Schule. Schusselig wie ich war -«   Seufzend klappte ich das Buch nach der ersten Seite wieder zusammen. Grauenhaft war kein Ausdruck dafür. »Mom, das ist für Mädchen. Ich bin ein Junge«, murmelte ich für mich selber und legte den pinkfarbenen Wälzer wieder zu den anderen. Bei mir mussten Bücher schon sehr gut ge­schrieben sein, damit ich sie las. Und interessant, selbst­verständlich. Da musste Blut fließen, Morde begangen werden, Intrigen und Gewalt vorkommen, Action pur mit vielleicht einer Spur Hintergrundstory. Als ich die Titel der Bücher durchging, gefiel mir keins auf Anhieb. Sofort ließ ich die Idee mit dem Bücherlesen wieder fallen. Ich schob den Stuhl etwas näher an den Schreibtisch heran und stützte meinen Kopf auf. Gelangweilt betrachtete ich die glatte Oberfläche der Holzplatte. Massives Holz war teuer und edel, das wusste selbst ich als ‚IKEA-Plastik- Schreibtisch-Besitzer’. Neugierig öffnete ich die erste Schublade des Tisches. Darin enthalten lag nur das Feuerzeug. Enttäuscht schloss ich sie wieder und öffnete die darunter. Ein Blätterhaufen ergoss sich schon fast aus der Schublade. Doch zu meiner Enttäu­schung nur blanke, weiße Seiten. Wieder schloss ich sie und hoffte auf mehr Sehenswürdiges in der dritten. Doch auch in dieser befanden sich nur ein Tesafilmabroller mit Tesafilm, ein Tacker, ein Locher und eine Schachtel Klammern für den Tacker. Gereizt schmiss ich auch diese Schublade wieder zu und seufzte genervt auf. Mein Magen knurrte auf einmal etwas. Ich blickte an mir runter und versuchte zu deuten, was mir mein Körper sagen wollte. Hatte ich Hunger auf menschliches Essen oder bevorzugte mein Magen lieber etwas Blutiges? In der Tat verspürte ich ein wenig Appetit. Mit geschlossenen Augen versuchte ich herauszufinden nach was ich verlangte. Ich wusste es nicht. Kiyoshi würde mir sicher jetzt wieder eine seiner tollen Tabletten hinhalten. Stur wie ich war, würde ich sie natürlich nicht nehmen. Aber stur und vielleicht auch feige wie ich im Moment war, wollte ich auch nicht runter in die Küche gehen und an das abgeschlossene Kühlfach gehen. Außerdem verfolgten mich diese schlechten Erfahrungen mit Kunstblut noch immer. Mit einer eleganten Handbewegung griff ich hinter mir und packte die kleine schwarze Dose. Sofort schnellte meine Hand wieder zu mir. Eine Weile starrte ich auf die Dose. Mich ekelte der Inhalt dermaßen an, dass ich schon ans Kotzen dachte. Ich war ja immer der optimistische Kerl und hoffte auf Genesung ohne Tabletten oder Pillen, doch diese Krankheit war chronisch. Leider. Sanft drehte ich am Deckel und öffnete die besagte Dose. Sofort lächelten mich lauter roter Tabletten an. Ich ließ die Dose auf die Tischplatte fallen. »Nein. Nein, nein, nein. So was nehme ich nicht«, sagte ich zu mir selbst und hob abweisend die Hände. Stur schloss ich meine Augen. Das Bild von Kiyoshi kam mir in den Kopf. Diese Mutation, wie er kaum Kontrolle über sich hatte, wie er nach Blut dürstete, es kaum aufhalten konnte. Würde ich vielleicht auch Menschen angreifen? Nur um an Blut zu kommen? Wäre ich dazu in der Lage? Der Gedanke an solche Taten ließ mich eine Tablette aus der Dose nehmen. Sie war klein und rund, gar nicht so groß, wie ich sie in Erinnerung hatte, als Kiyoshi mir eine reindrückte. Ich atmete einmal tief ein und aus. »Nur zum Wohle der anderen …« Murmelnd schloss ich die Augen, atmete noch einmal tief ein. Ich kam mir schon fast lächerlich vor, da ich mich fast wie bei einer Geburt anstellte. Oder als würde ich mir gleich einen Finger abhacken müssen, weil es irgendwie für eine ‚Heldentat’ nötig war. Während mein Herz wie wild klopfte, hielt ich den Atem an.   Ich schmeckte Blut. Jedenfalls den Geschmack von Blut, wobei ich mir nicht sicher war, ob in diesen Tabletten wirklich Blut enthalten war. Widerwärtig über den Geschmack und der Tatsache, dass ich eine Tablette zu mir nahm, schluckte ich sie runter. Eine Weile verharrte ich in meiner angespannten Position. Dann öffnete ich die Augen und sah auf meine Hände. Es war nichts passiert. Ich mutierte nicht, ich fühlte mich körperlich gut und hatte weder Beschwerden noch seltsame Halluzinationen, wie ein weißes Licht am Ende des Tunnels auf mich zukam. Schultern zuckend über die Tat, wunderte ich mich, dass es gar nicht so schlimm war, wie ich es immer dachte. Lag vielleicht daran, dass ich damals noch so benebelt und mein Hals halb vorm Austrocknen war. Auf einmal wieder schwer genervt, griff ich wieder nach meinem Handy, starrte aufs Display und legte es neben mich auf den Schreibtisch. »Zehn Minuten erst rum? Tz …«, zischte ich vor mich hin, schloss die schwarze Dose und legte sie zum Feuerzeug in die Schublade. »Wie um alles in der Welt soll ich die Zeit tot­schlagen? Soll ich hier vergammeln?« Wieder stützte ich meinen Kopf auf und starrte gegen die weiße Wand. Mein Hunger war beseitigt, körperlich ging’s mir richtig gut, doch seelisch recht bescheiden. Um genau zu sein beschissen. Ich hatte bessere Zeiten gehabt. Obwohl nicht der richtige Zeitpunkt war, sarkastische Witze über mein eigenes Ende zu machen, musste ich doch leicht schmunzeln. Ich hatte noch genau drei Tage vor mir. Drei grauenvolle Tage. Wobei ich diesen Tag als sehr entspannt empfand. Oder als relativ langweilig, wie man’s nahm. Da kam mir die Idee, meine Flugbestätigung aus dem Koffer zu kramen. Sofort huschte ich zum Schrank und zog meinen Koffer raus. Nachdem ich ihn geöffnet hatte, stieß ich mit der Klappe an die Holzkiste. In sie hatte ich damals alle Dinge verstaut, die meine Mutter mir unbedingt noch mit in den Koffer gegeben hatte. Meine Bewegungen wurden schlagartig langsamer und ich zog das Stück Papier mit nur halb so großer Begeisterung aus dem Koffer. Denn die Dinge meiner Mutter, erinnerten mich an sie und sie erinnerte mich wiederum an das tolle Gespräch, was ich noch mit ihr führen werde. Je nachdem wie das ablaufen würde, wäre sicher auch meine Begeisterung wieder zurückzufahren. Wenn ich überhaupt zurückfahren dürfte. Vorsichtig klappte ich den Zettel auf und las meine Flugdaten durch. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. »Abflug um viertel vor zehn. Halleluja.« Wenigstens etwas. Das hieß zwar früh aufstehen, aber demnach auch früh wieder weg. Ich küsste kurz den Zettel, faltete ihn wieder schön zusammen und legte ihn zurück in den Koffer. Diesen verstaute ich wieder im Schrank. Die Neugierde übertraf wieder mal meinen Kopf und ich öffnete die Holzkiste. In ihr lagen Dinge wie Plüschtiere, CDs, Hefte und sogar ein Bild. Ich griff nach dem silbernen Bilder­rahmen und sah mir das Foto an.   Es war meine Mutter mit mir, als ich meinen ersten Tag im Gymnasium hatte. Sie war so stolz auf mich. Das Foto hatte eine Freundin von ihr geschossen. Sie hielt mich im Arm, während ich glücklich meine Schultasche umklammerte. Damals war ich noch kleiner als sie und trug die Dinge, die sie an mir sehen wollte. Wir beide grinsten glücklich in die Kamera, während ich mir ein trauriges Grinsen nicht verkneifen konnte. Wir beide waren ein Herz und eine Seele, sie war so stolz auf mich an diesem Tag, wünschte mir alles Gute und Glück. Sie fuhr die ersten Tage immer mit mir in der Bahn, damit ich auch ja sicher ankam. Eine kleine Träne kullerte mir über die Wange. Ich vermisste sie und der Gedanke, dass ich ihre Liebe immer mit Füßen getreten hatte, es nicht geschätzt habe, wie sie für mich da war, machte mich noch trauriger als vorher. Die Träne tropfte auf das Bild. Sofort drehte ich es um und wischte das Nasse an meiner Jogginghose ab. Da fiel mir etwas Geschriebenes auf. Ich drückte den Ständer des Rahmens etwas zur Seite und las das mit Edding geschriebene leise vor: »Ich bin immer für dich da, mein Schatz.«   Ich ließ den Bilderrahmen fallen und drückte mir meine Hände vors Gesicht. Ich schluchzte laut los und weinte bitter. Was tat ich eigentlich immer? Was war ich eigentlich für ein Sohn? Ich stritt mich immer mit ihr, folgte nie ihrem Willen, tat immer genau das, was sie nicht wollte. Sicherlich war sie nicht immer perfekt und machte mit ihrem versuchten Perfektionis­mus vielleicht auch manches noch schlimmer, trotz allem war sie eine gute Mutter. Trotzdem ich so gemein zu ihr war, trotzdem ich kein guter Sohn war, liebte sie mich so sehr und tat so viel für mich. Sie wollte mich nicht verlieren, das war alles. Meine Tränen liefen an meinen Handgelenken runter, mein Hals tat schon vom fielen Schluchzen und Weinen weh.   »Hiro?«, kam eine dunkle Männerstimme von meiner Tür aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)