My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 17: Unaufhaltsamer Durst -------------------------------- Ich drehte den Deckel der Flasche langsam weiter auf.   Mein Wille siegte. Sofort verschwand die Flasche wieder zugedreht in meiner Tasche. Irgendwann werden die hier bestimmt eine richtige Pause haben. Dann werde ich mal schauen, was es hier so zu kaufen gibt. Das war mein Plan und an den würde ich mich auch halten. Schon klingelte es wieder und die Schüler wurden still. Kiyoshi packte seine Flasche weg und schenkte der Lehrerin wieder ein Desinteresse feinster Art. Dabei fiel mir auf, dass wenn er künstliches Blut trank, er gar nicht diese glänzenden Augen bekam. Nur wenn er frisches Blut roch, trank, sah oder nur daran dachte. Also eigentlich immer … So nahm die langweilige Mathestunde ihren lauf. Hin und wieder musste ich gähnen und einfach für ein paar Sekunden meine Augen schließen. Der netten Mathelehrerin zur Liebe, legte ich mich nicht noch einmal schlafen. Auch wenn sie von Verständnis redete, dass ich Schlafmangel besaß. Denn den hatte ich wirklich: Von Freitag auf Samstag hatte ich Verfolgungs­wahn, den ich im übrigen immer noch nicht vollständig erklären konnte, von Samstag auf Sonntag wurde ich auch schon gebissen und hatte mich zwar dann fast ausgeschlafen, doch die Halb-Verwandlung nahm mich ziemlich mit. Und Sonntag auf heute war nun auch nicht gerade eine ruhige Nacht. Ich bekam am Vorabend nichts mehr zu essen, durfte mir einen Vortrag von meinem Vater anhören und träumte von herausgerissenen Herzen meiner Familie. Alles sehr entspannend, doch, wirklich. Schöne Ferien.   Das erlösende Klingeln ließ auf sich warten. Zwischendurch mussten die Schüler eine Aufgabe machen und Dinge von der Tafel abschreiben. Manche Aufgaben kamen mir bekannt vor, andere wiederum waren für mich fast wie Hieroglyphen, die erst entziffert werden mussten. Dann klingelte es endlich. Die Erlösung. Mein Hals kratzte richtig heftig. »Haben wir jetzt Pause?«, bettelte ich Kiyoshi schon fast an und sprang von meinem Klappstuhl auf. Der sah mich erst verwundert an, dann nickte er. »Ja, zwanzig Minuten.« »Nur?«, fragte ich verwundert. »Reicht doch. Was willst du denn so lange machen?« Er zog eine Augenbraue hoch und stand ebenfalls auf. »Mir was zu essen kaufen …« »Du hast doch -…« »Nein«, unterbrach ich ihn stur. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und sah verärgert zur Seite. Kiyoshi verdrehte die Augen und seufzte laut. »Hiro, du weißt, dass dir menschliches Essen schaden kann.« »Kann. Tut es aber noch nicht.« »Wie auch immer«, sagte er und hing sich seine Tasche um, »Du kannst das Gebäude jetzt nicht einfach verlassen. Das nächste Geschäft ist sowieso eine ganze Ecke von hier entfernt. Entweder haltest du es bis zur Mittagspause aus oder du trinkst das Blut. Ist deine Sache, was du tust.« Damit ging er an mir vorbei und stapfte die Treppe runter, um den Raum zu verlassen. Langsam folgte ich ihm. Mit missgestimmter Miene verließ ich den Raum und überlegte, was ich nun tun sollte. Eine riesige Masse von Schülern bewegte sich durch die Gänge der Schule. Einige starrten mich dumm an, andere eher interessiert. »Wo gehen wir jetzt eigentlich hin?«, fragte ich Kiyoshi, der vor mir herging. »In die nächste Klasse.« »Ich denke, wir haben Pause?« »Und wo deiner Meinung nach, sollen wir diese Pause verbrin­gen?«, fragte er genervt und drehte sich halb zu mir um. Seufzend schüttelte ich kurz den Kopf und folgte ihm einfach weiterhin. Noch nicht mal einen Schulhof haben die? Was ist das für eine Schule? Anstatt die Treppe hochzugehen, liefen wir an der großen Eingangstür vorbei in Richtung eines anderen Ganges. Hier wurden die Massen schon weniger. Ich wollte ihn nicht schon wieder fragen, was er jetzt für ein Fach hatte, deswegen ließ ich mich einfach überraschen. Wir liefen den Gang entlang und mussten einmal kurz links abbiegen. Sofort roch ich Farben. Der Geruch von Terpentin stieß mir sofort in die Nase und sogleich kamen einige Schülerinnen mit Leinwänden an uns vorbei. Ich ging ein paar Schritte schneller, um neben Kiyoshi zu gehen. »Lass mich raten, du hast jetzt Kunst«, murmelte ich vor mich hin. »Ja.« Na, super. Ich und zeichnen. Geschweige denn mit Farben umgehen und damit malen. Das ist ja schon knapper Mord. Mein Bruder steuerte einen Raum an und ging durch die offene Tür. In ihm saßen nur wenige Schüler. Sie musterten mich sofort und fingen an zu tuscheln. Der Raum war klein und mit den weißen Tischen schon fast überfüllt. Sie waren wie ein Hufeisen angeordnet. Auf jedem Platz lag schon eine Leinwand mit Zeichnungen drauf. Einige Stellen waren auch schon bunt. Kiyoshi ging zu einem Platz und legte eine Leinwand etwas zur Seite. Dann schob er einen Stuhl halb hinter, halb neben sich und deutete darauf, dass das meiner ist. Ich nickte und legte meine Tasche auf ihn. Dann erspähte ich eine Leinwand auf seinem Platz. »Ist das deine?«, fragte ich neugierig und spähte ihm über die Schulter. »Ja.« Die kurze Antwort kaum beachtend, sah ich mir das Gemälde genauer an. Mit Bleistift wurde eine Rose skizziert, die neben einem Kreuz und einem Glas stand. Das Glas war mit Ver­schnörkelungen verziert, die es edel erschienen ließen. Das Kreuz war eher schlicht, doch seine Enden waren mit ver­zierten Dreiecken geschmückt. Der Hintergrund sollte wohl schwarz werden, da er an einigen Stellen schon schwarz war. »Wow. Das sieht toll aus«, bewunderte ich das recht dustere Bild. Auf einmal musste ich husten. Ich wendete mich von Kiyoshi ab und hustete mich erst einmal aus. Mein Hals war so trocken. Ich würde es keine Minute länger mehr aushalten. Doch ich wollte dieses Blut nicht trinken. »Geht’s?«, fragte Kiyoshi und legte seine Hand auf meine Schulter. »Ja, geht schon. Hab mich nur fürchterlich verschluckt«, log ich ein wenig und grinste ihn an. »Verschluckt? Solltest du nicht lieber mal etwas trinken?« »Nein, das geht schon.« Damit drehte ich ihm wieder den Rücken zu und bewunderte das Bild weiter.   Dann kam mir eine Idee.   »Sag mal, Brüderchen, wo ist hier eigentlich das Klo?«, fragte ich leicht grinsend. »Wenn du jetzt direkt nach links den Gang entlang gehst, die letzte Tür. Steht aber auch dran.« »Alles klar. Danke. Ich bin gleich wieder da.« Damit ver­schwand ich aus der Tür. Ich bemerkte zwar Kiyoshis miss­trauenden Blick, beachtete ihn aber nicht weiter. Für mich war nur noch das Klo interessant. Vielmehr das Waschbecken, aus dem Wasser floss. Klares Wasser, das mir zwar gestern noch weiter die Kehle ausgetrocknet hat, doch ich hatte die stille Hoffnung, es würde diesmal das Gegenteilige bewirken. Kaum ein Mensch, oder eher Vampir, war auf dem Gang zu sehen. Ich erspähte die Tür mit dem kleinen Männchen drauf. Daneben war ein kleines Schild mit »Toilette« angebracht. Ich betrat den kleinen Raum. Es war ein nobles, kleines WC. Der Spiegel war groß und die Waschbecken in einem strahlenden weiß mit silbernen Wasserhähnen. Die Fließen sahen auch recht sauber und gepflegt aus. Aber das war erst einmal neben­sächlich. Ich vergewisserte mich kurz, ob noch jemand hier war. Niemand war zu sehen, also drehte ich den Wasserhahn auf. Klares Wasser floss in das Waschbecken und verschwand im Ausguss. Ich beugte mich vor und legte meinen Mund an den sanften Strahl. Ich saugte etwas und schon schmeckte ich die Flüssigkeit, wie sie meine trockene Kehle hinunterfloss. Ich nahm noch einen Schluck und noch einen. Doch das Gefühl der Trockenheit ging nicht weg. Mit beiden Händen umkla­mmerte ich das Waschbecken mit der stillen Hoffnung, dass das Wasser seine erwünschte Wirkung zeigen würde.   Plötzlich drehte jemand das Wasser ab. Ich öffnete die Augen und sah nur eine weiße Hand, wie sie den Wasserhahn fest umgriff. Meine Augen folgten der Hand zum Arm, über die Schulter und schon sah ich die weißen Haare. »Was tust du da?«, sagte Kiyoshi mit mahnender Stimme. »Etwas trinken …«, murmelte ich und wischte mir beim Aufrichten das restliche Wasser vom Mund. »Du sollst das Blut trinken und nicht Wasser.« »Ich will es aber nicht trinken!« »Das tut hier nichts zur Sache«, zischte er mir zu. Ich zuckte kurz zusammen und sah seinen Vampirinstinkt durchkommen. Sofort blickte ich zur Seite und seufzte kaum hörbar. »Hiro, es ist besser für dich. Niemand will dich hier quälen oder dir Vorschriften erteilen, aber es ist nur zu deinem Besten, wenn du das tust, was man dir sagt.« »Mag sein. Aber mein Wille sagt mir ständig etwas anderes. Und mit dem bin ich schon länger in Kontakt als mit euch. Oder dir.« »Hiro, bitte.« »Fang deine Sätze nicht immer mit meinem Namen an. Ich schenke dir auch so genug Aufmerksamkeit.« »Ich mache das nicht, damit ich deine Aufmerksamkeit bekomme, sondern -…« »Ist okay!«, unterbrach ich ihn wieder. Sofort schwieg er. Ich fasste mir an meinen Kopf und stützte mich am Wasch­beckenrand ab. Mein Blick fiel kurz in den Spiegel und ich sah eine verreckende Kreatur, deren Augenränder rot und blau anliefen. Dann musste ich wieder husten und fasste mir instinktiv an meinen Hals.   Kiyoshi konnte das wohl nicht mehr mit ansehen. Er packte mich an den Schultern und drückte mich in eine Toiletten­kabine. Ich lehnte an der Wand hinter dem Klo und konnte schon kaum mehr atmen. Jedes Schlucken tat weh und jeder Atemzug, der im Grunde nicht nötig war, stach wie tausend kleine Nadeln in meinem Hals. Mein Bruder schloss kurzerhand die Tür ab und zog seinen Blazer aus. Vorsichtig legte er ihn auf den Deckel der Toilette und krempelte seinen rechten Ärmel hoch. »Was … tust du da?«, brachte ich gerade noch heißer raus und sah ihm gebannt zu. »Dir helfen, Dummkopf.«   Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Kiyoshi krempelte sein Hemd bis zum Ellebogen hoch und biss sich selbst in die Hauptschlagader. Das Blut tropfte kurz auf den Boden. Gebannt starrte ich auf den Tropfen, dann sofort wieder zu Kiyoshi. Aus seinem Mund tropfte es ebenfalls. Seine großen Fangzähne waren mit Blut überströmt. Dann kam er auf mich zu und hielt mir sein Handgelenk hin. »Trink.« Schwer atmend starrte ich auf sein blutüberströmtes Hand­gelenk und wie aus den zwei eleganten Löchern immer mehr Blut quoll. Kiyoshis Augen leuchteten, so wie ich es liebte. Ja, ich liebte es, wenn er mich so anstarrte, wenn er so eine benebelnde Wirkung auf mich hatte. Ich spürte meine Fang­zähne immer größer werden und wie ich den Geruch seines Blutes genoss. Mein Herz klopfte schnell und hämmerte förmlich gegen meine Brust. »Jetzt trink!«, forderte Kiyoshi mich ein zweites Mal auf. Innerlich rief mein noch menschliches Ich ‚Nein’, aber mein sterbender Körper ‚Ja’.   Ich wusste nicht wie mir geschah, da schluckte ich das süße Blut. Wie ein Raubtier umklammerte ich Kiyoshis Handgelenk und drückte es an meine Lippen, um so viel Blut wie möglich aus den zwei Löchern saugen zu können. Kiyoshi selbst stützte sich an der Wand, an der ich lehnte, ab und sah mir dabei zu, wie ich sein Blut mit vollstem Genuss trank. Es tropfte nur so an meinem Kinn herunter. Es war wie ein Rausch. Wie bei Drogen. Alles in mir wurde taub. Aber auf eine so angenehme Weise, dass es niemals enden sollte. Sein Blut schmeckte so gut. Es war das eines Reinblütlers. Es war so süß und mild, schon fast wie Nektar. Einfach umwerfend. Ich hätte nie gedacht, dass ich so von Blut schwärmen würde, aber sein Blut war eine Delikatesse. Ganz anders als das Künstliche von damals.   Ich war so in meinem Sumpf des Genießens, dass ich gar nicht an Kiyoshi dachte. Der atmete auch immer schwerer und verkrampfte sich allmählich an der Wand. »Hiro …«, hauchte er mir ins Ohr. »Das muss reichen …« Doch ich wollte nicht aufhören. Auch wenn meine trockene Kehle schon längst wieder befeuchtet war, wollte ich noch mehr trinken. Ich spürte, wie sich meine Fingernägel in sein Fleisch krallen. Jeder Schluck war so kostbar. Kiyoshi atmete laut und gab quälende Geräusche von sich. In meinem Blickwinkel sah ich seine Hand immer weißer werden, während er das Blut von seinem Gesicht gierig ableckte und mich beobachtete.   Plötzlich entriss er mir sein Handgelenk. Das Blut, was noch in meinem Mund war, tropfte auf den Boden. Als ich Kiyoshis Blutquelle schon hinterher haschen wollte, drückte mich seine linke Hand gegen die Wand. Verkrampft und wahrscheinlich mit letzter Kraft hielt mich Kiyoshi am Hals von ihm fern. Ich sah wie er das restliche Blut von seinem Handgelenk ableckte. Schon verheilte die Wunde und nichts deutete mehr auf einen Biss hin. Er drehte sich langsam zu mir um. Sein Blick traf meinen. Geschwächt und außer Atem sah er mich durch­dringend an. »Das … war definitiv zu viel …«, murmelte er und ließ seine linke Hand von meinem Hals über meine Brust gleiten. Er schnappte sich seinen Blazer und öffnete die Toilettentür. Taumelnd verließ er daraufhin das kleine WC. Noch wie angewurzelt blieb ich in der Kabine stehen. Erst als ich Stimmen hörte, wischte ich mir blitzschnell das restliche Blut von meinem Mund und ging mit gesenktem Blick aus der Toilette. Ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Jetzt erst recht.   Während ich noch auf dem Gang schon fast in den Kunst­raum rannte, klingelte es. Ich blieb kurz fassungslos stehen. »Ich habe doch nicht zwanzig Minuten lang …?«, murmelte ich zu mir selbst. Wenn ich wirklich knappe zwanzig Minuten von Kiyoshi getrunken habe, dann habe ich ihn ja schon fast getötet … Geschockt schlurfte ich in den Kunstraum. Der Lehrer oder die Lehrerin waren noch nicht da. Trotzdem saßen schon alle an ihren Leinwänden und holten sich Farben und Paletten aus einem kleinen Schrank. Neben der Tür stand das Lehrerpult, auf dem ebenfalls einige Farben standen. Kiyoshi stand, als wäre nichts geschehen, an seinem Platz und mischte an­scheinend grade die Farben. Reumütig schlich ich mich auf meinen Platz und setzte mich geräuschlos hin. Mit meiner Tasche auf dem Schoß sah ich den anderen zu, wie sie gekonnt die Bilder kolorierten. Ich traute mich gar nicht mehr, irgend­etwas zu Kiyoshi zu sagen. Er half mir und ich saugte ihn förmlich aus. Was war ich nur geworden?   Nach wenigen Minuten kam dann auch eine Frau in das Zimmer und schloss die Tür. Sie lächelte freundlich und ging mit einigen Pinseln in der Hand zu ihrem Pult. Schnell legte sie ihre Tasche ab und kramte ihre Unterlagen raus. Dann blickte sie in die Menge und strich ihre langen roten Haare aus ihrem Gesicht. Sofort fielen ihre Augen auf mich. »Wir haben einen Gast?«, fragte sie in einer lieblichen Stimme und kam schon fast auf mich zu getänzelt. Sie reichte mir ihre Hand. »Ich bin Frau Aoki, die Kunstlehrerin.« Vorsichtig reichte ich ihr meine Hand. »Ich bin Hiroshi Kabashi«, murmelte ich schon fast und versuchte zu lächeln. »Kabashi? Huch? Ihr seid Zwillinge? Ist ja amüsant«, kicherte sie und ließ meine Hand los. »Kiyoshi, wieso erzählst du mir denn nicht, dass du deinen Bruder mitbringst? Dann hätte ich eine Leinwand mitgebracht.« Ohne sich auch nur zu ihr umzudrehen, sagte er monoton: »Das wurde kurzfristig entschieden.«   Frau Aoki schüttelte grinsen den Kopf und sah wieder zu mir. »Na ja. Wie auch immer. Möchtest du denn etwas zeichnen? Unser aktuelles Thema lautet: ‚Vorlieben in Dingen und Farben’.« »Äh … Ich kann aber nicht gut zeichnen …« Ich betete, dass ich nicht zeichnen musste. Blamieren wollte ich mich eigentlich nicht. »Ach, das macht nichts. Übung macht den Meister. Warte ich hole dir ein Blatt.« Damit verschwand sie wieder kurz aus dem Raum. Ich seufzte leise und ließ meinen Kopf auf die Tasche fallen. Wieso ich?, fragte ich mich in Gedanken.   Und da kam Frau Aoki auch schon wieder mit einem DinA3 Blatt und einer Schachtel Kohlestifte. Sie machte mir neben Kiyoshi eine Ecke frei und legte die Sache auf den weißen Tisch. »Wo ist denn Rebecca heute?«, fragte sie Kiyoshi. Der zuckte nur mit den Schultern, während ein anderes Mädchen von gegenüber ihr zurief, dass die sich frei genommen hatte. Dann redete die Gruppe noch etwas, während ich mich lustlos an das Blatt begab. Vorsichtig spähte ich zu Kiyoshi. Der schien sehr vertieft in seiner Arbeit zu sein und malte ganz genau an einer Linie entlang. Der ganze Hintergrund war nun schwarz und das Kreuz wurde dunkelgrau mit einigen Lichteffekten. Wenn ich an das Thema dachte, verdrehte ich beim Anblick von Kiyoshis Arbeit nur die Augen. Tolle Vorlieben hat er ja. Mein Blick schweifte durch die restliche Klasse. Die vier anderen Jungen malten alle etwas mit Sport oder Action, während die Mädchen ihre Bilder mit Blumen oder Herzchen bemalten. Ich wechselte hin und wieder mal den Blick zwischen meinem Bruder und den anderen und musste etwas verärgert feststellen, dass Kiyoshi sich nun wirklich nicht in die Rolle eines typischen Vampirs einordnet lässt. Die Vampire hier sind fast wie Menschen. Ihr Verhalten vielleicht nicht ganz, aber vom Grundsatz her schon. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass Kiyoshi von Geburt an ein Vampir war, während alle anderen bis vor ein paar Jahren noch Menschen waren.   Ich krempelte meine Ärmel hoch und nahm widerwärtig einen Kohlestift in die Hand. Ausdruckslos starrte ich auf das weiße Blatt Papier und nahm mir fest vor, einfach drauf los zu malen. Nach ein paar Strichen wusste ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich noch mal zu welchem Thema machen wollte. Lustlos stützte ich mich auf meiner linken Hand auf und kritzelte einfach rum.   Ich war wohl so in meinen Gedanken versunken, dass ich das Klingeln überhört haben musste, denn Kiyoshi nahm seine Flasche raus und trank wieder nur einen kurzen Schluck, um dann wieder in sie hineinzustarren. Ich blinzelte kurz auf. Dann noch mal. »Oh, die Stunde ist rum?«, bemerkte ich etwas spät. »Ja, wir haben noch eine«, antwortete Kiyoshi monoton und schraubte seine Flasche wieder zu. »Hm …« Dann fasste ich mir kurz an den Kopf. Mein Blick fiel auf sein Bild. Es war schon fast fertig. Das Glas war silbern geworden und die Rose ebenfalls schwarz, so wie eigentlich alles auf diesem Bild. Trotzdem konnte man alles erkennen. Es sah so düster aus. Eigentlich würde nur noch das Fenster mit dem Ausblick auf einen Friedhof fehlen. »Das sieht schön aus«, versuchte ich ihn zu loben und deutete auf seine Leinwand. Er sah erst mich, dann die Leinwand an. »Findest du?« »Sonst würde ich es nicht sagen.« »Na ja.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Jetzt sag nicht, du findest es nicht schön?« »Es hält sich in Grenzen.« Ich seufzte und wendete mich ab. Als ich mich etwas reckte, sah ich auf das Blatt Papier, das vor mir lag. Ich konnte meinen Augen kaum trauen: Mein ‚Gekritzel’ ohne irgendwelche Gedanken verkörperte zwar nichts sensationell Gutes, aber für meine Verhältnisse sah es klasse aus. Traurig starrte ich jedoch auf die Kohlestriche. Es war unser Wohnzimmer. Das Wohnzimmer meiner Mutter. Ich hatte alles gezeichnet. Das Sofa, davor der Glastisch. Unser Plasmafernsehr, mit dem hässlichen Teppich. Daneben unser großer Esstisch, sogar mit etwas Ikebana von meiner Mutter. Und an dem Tisch … sogar meine Mutter selbst wie sie an ihrem Zeug arbeitete. So vertieft wie sie war, beachtete sie gar nicht, dass sie ihren Laptop neben sich stehen hat. So wie es immer war. Ich würde dann gleich von der Schule kommen und sie dort sehen. Aus Spaß würde ich sie erschrecken. Ich würde lachen und meine Mutter meckern. Herzerfüllt würde sie mich jedoch in den Arm nehmen und mich begrüßen, sofort in die Küche springen, um mir was zu essen zu machen. Liebevoll würde sie den Tisch decken und mich ausfragen, wie es in der Schule war. Früher war es mir nervig, doch jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher als das. Meine Mutter, wie sie für mich da war und alles tat, worum ich sie bat. Meine Mutter, wie sie mit ihrer hohen Stimme mich versuchte zu zähmen und ich doch immer wieder Mist baute. Trotzdem vergab sie mir immer wieder. Ich brauchte das einfach. Dass sie mir jeden Abend einen gute Nachtkuss gab und jeden Morgen einen guten Morgenkuss. Früher wollte ich die nie haben. Das war peinlich. Aber jetzt, wo mir genau diese Liebe fehlte … wünschte ich sie mir sehr.   Ich merkte gar nicht, wie die Tränen auf mein Kohlebild tropften. Da ich das Bild in einer Schräglage hielt, liefen sie runter und zogen die Kohle mit sich. Das Sofa und der Esstisch verzogen sich nach unten und verschwanden bald ganz, als noch mehr Tränen tropften. Ich musste kurz schluchzen und vergrub mein Gesicht hinter dem Bild. Verkrampft hielt ich es noch in meinen Händen und versuchte nicht allzu viel Aufmerk­samkeit auf mich zu ziehen. Doch da hörte ich schon Getuschel und wie Frau Aoki mit ihren Stöckelschuhen auf mich zukam. »Hiroshi? Was ist denn los?«, fragte sie besorgt und legte ihre zarten Hände auf meinen Rücken. Ich schluchzte immer mehr. Dann hörte ich Kiyoshis Stimme. Er sagt irgendetwas zu Frau Aoki, die nahm ihre Hände von mir und schon spürte ich andere kalte Hände. »Komm, wir gehen kurz raus«, hauchte mir Kiyoshi ins Ohr. Ich ließ das Bild los und ging mit meinem Bruder aus dem Raum, während uns alle hinterher starrten. Seine rechte Hand lag noch auf meiner Schulter, als er die Tür schloss. Wir gingen mit schnellen Schritten den Gang entlang und steuerten die Haupttür an. Als wir dort waren, öffnete Kiyoshi sie mit einem Schwung und ich betrat die frische Luft. Der Himmel war bezogen und keine Sonne war zu sehen. Sofort drehte ich mich zu meinem Bruder um. Er ging ohne irgendeinen Schutz raus. Sofort wendete ich meinen Blick ab. Ich setzte mich langsam auf die kleine Steinmauer, die Kreisförmig vor dem Eingang stand und innen bepflanzt war. Verzweifelt und immer noch am schluchzen, legte ich meinen Kopf in die Hände. Kiyoshi setzte sich sanft neben mich. »Vermisst du sie so sehr?«, fragte er leise. »… Ja …«, schluchzte ich in meine Hände. »Aber du telefonierst doch jeden Tag mit ihr.« »… Das reicht doch nicht.« »Was fehlt dir denn?« »Mein ganzes zu Hause!«, schrie ich verzweifelt und beugte mich so nach vorne, dass mein Kopf meine Knie berührte. »Du bist erst vier Tage hier und bekommst schon so Heim­weh …«, murmelte er. »Hier ist es auch grauenhaft …« »Na ja …« »Ist es!« »Für dich vielleicht. Aber für uns hier ist es normaler Alltag. Habe ein wenig Verständnis, dass auch wir ein geordnetes Leben brauchen.« »Ihr, aber nicht ich!« Er seufzte und lehnte sich ein wenig zurück. Wir schwiegen. Ich versuchte mich zu beruhigen, während Kiyoshi nur meinem Schluchzen zuhörte. Als ich mich endgültig beruhigt hatte, richtete ich mich auch etwas auf und wischte mich meine restlichen Tränen aus dem Gesicht. Ich starrte auf den gepflasterten Boden. »Ich werde sterben …«, murmelte ich vor mich hin. »Heute war so erschreckend … Ich habe dein Blut getrunken.« »Ich habe es dir auch in einer Weise aufgedrückt«, versuchte er die Situation etwas zu verbessern. »Trotzdem habe ich es getrunken … Weil ich es brauchte. Abscheulich.«   Als keine Reaktion kam, blickte ich kurz auf. Ich sah in seine ausdruckslosen Augen und erkannte ein Stückchen Traurigkeit. Dann bemerkte ich, was ich eigentlich gesagt hatte. »Nein, nein! So meinte ich das nicht.« »Wieso sagst du es dann …?« »Weil … weil ich erst rede und dann denke. Tut mir wirklich Leid.« Ich sah ihn entschuldigend an, während er keinen Ausdruck von sich gab. Etwas in mir wollte nicht, dass er wütend auf mich war. »Wirklich, es tut mir Leid …«, versuchte ich es noch einmal. Doch seine Miene war unerweichlich, bis er seinen Blick abwendete und gen Schulgebäude schaute. Schweigen umhüllte uns. Ich sah ihn eine Weile lang an in der verzweifelten Hoffnung, er würde ein Wort sagen; nur eine kleine Phrase, damit ich wusste, dass er nicht sauer auf mich war. Doch es kam nichts. »Kiyoshi … Ich finde dich nicht abscheulich. Es ist nur für mich als Mensch so fremd, sich in so etwas hineinzufinden«, murmelte ich vor mich hin und senkte den Kopf in seine Richtung. Als immer noch nichts von ihm kam, blickte ich auf und sah ihn gespannt an. Er dachte wohl nach, öffnete seinen Mund und wollte wohl gerade etwas sagen. Doch so schnell er seinen Mund öffnete, schloss er ihn auch wieder und wiegte sich weiterhin in Schweigen. »Kiyoshi!«, sagte ich nun etwas lauter und umfasste seine Hand, die vorher ruhig auf dem kalten Stein lag.   Sofort wendete sich sein Blick zu mir und unsere Blicke trafen sich. »Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit? Wenn ich Sätze mit deinem Namen anfange, scheint das ja nicht wirklich viel zu bringen«, neckte ich ihn und konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Er seufzte kurz zur Seite und wendete seinen Blick für kurze Zeit wieder ab. Ich drückte seine Hand ein wenig und schon sah er mich wieder an. »Redest du jetzt nicht mehr mit mir?« Langsam wurde ich etwas wütend. Ich stand unter Tränen, komme mit meinem eigenen Schicksal nicht zurecht, lasse verletzende Wörter aus mir heraussprudeln, entschuldige mich mehrmals dafür und er spielt immer noch den Beleidigten. Aber wenigstens weiß ich jetzt, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich richten konnte … »Doch«, gab er kurz zurück. »Ich habe mich entschuldigt, für das was ich gesagt habe. Warum muss ich immer so Kleinlich bei dir werden? Kannst du nicht einfach wie jeder andere auch ein Feedback geben, wenn ich etwas sage?« »’Wie jeder andere’, hm?«, bemerkte er arrogant und ließ seine gesamte abfällige Art durch. Und da ging es mit mir durch.   Ich packte ihn an seine Oberarme und achtete gar nicht, wie sehr ich zudrückte. Es musste einfach aus mir heraus, also schrie ich ihm alles entgegen, was mir in dem Moment durch den Kopf ging: »Ja, ich weiß, du bist nicht ‚wie jeder andere’! Und ich weiß auch, dass du etwas Besseres bist, jedenfalls besser als der Rest hier. Ja, vielleicht sogar um einiges besser, eleganter, schlauer, reifer, schöner, erhabener und schlagfertiger als ich. Sowieso bist du der Vampir unter den Vampiren. Ich schätze dir hoch an, dass du mir vorhin geholfen hast; ich glaube, ich wäre verreckt wegen meiner Sturheit. Ich würde wahrscheinlich nicht lange ohne dich überleben, jedenfalls nicht in dieser Welt. Das hier ist nicht mein zu Hause, du hast mich hier hin geschleppt. Wegen dir bin ich hier, du hast mich in dieses Höllenloch geschubst, also ist es auch deine Verantwortung, die du zu tragen hast. Aber kannst du es nicht wenigstens einmal unterlassen, ständig einen auf Besser zu machen? Wenigstens einmal so tun, als würdest du wie ein Mensch sein? Wenigstens einmal vorgeben, mich ein kleines Stückchen zu mögen? Ist das möglich?« Meine Stimme wurde immer bebender und brach an manchen Stellen sogar kurz ab, weil mir die Tränen schon wieder in den Augen standen. Der Typ machte mich einfach nur fertig. Seelisch vernichtend.   Kiyoshi sah mir gequält in die Augen. »Hiro …«, quetschte er aus seinen Lippen. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich ihm wehtat. Ich lockerte meinen Griff und sänftigte meine verbissene Miene. Kiyoshi atmete ein wenig auf und entspannte sich wohl auch ein wenig in seiner Sitzhaltung. »Hast du dich jetzt wieder beruhigt?«, fragte mein Bruder vorsichtig und schon fast so leise, dass ich es kaum verstand. Ich biss mir kurz auf meine Unterlippe, wendete den Blick ab und versuchte meine restliche Wut runterzuschlucken. Vorsichtig nickte ich. »Würdest du mich dann freundlicherweise wieder loslassen?« Sein verletzter Unterton war deutlich zu erkennen. Er hatte also doch ein menschliches Herz, wenn es um Gefühle ging. Doch das war es nicht, was ich herausfinden wollte. »Erst, wenn du mir versprichst, dir meine Worte zu Herzen zu nehmen.« Sofort sah ich ihm wieder in die Augen und, habe ich mich versehen? In seinen Augen glitzerte es nass und er zwinkerte hin und wieder. Er musste es mir also nicht erst versprechen, er tat es wohl schon. War ich denn wieder so hart gewesen? In letzter Zeit kann ich meine Gefühle kaum unter Druck halten. Geschweige denn sie ausschlaggebend kontrollieren. Aber konnte ich das denn jemals?   Seine Augen wendeten sich nach unten. Erst, als mich seine Haare an meiner Nase kitzelten, roch ich auch seinen Duft. Dieser süße Geruch, den ich vor einigen Minuten mit dem Geruch des Blutes einatmete, löste in mir wieder Sehnsüchte aus. Situationen, wie die im Bad, auf seinem Bett, in der Küche, auf meinem Bett oder sonst wann, wo ich seinen Geruch ganz besonders wahrnahm. Genau jetzt, wo ich seine zarten Gesichtszüge mit meinen Augen entlang fuhr, wollte ich an seine Reizvollste stelle. Und diesmal meinte ich nicht seinen Hals.   Ich löste meine Hände von seinen Oberarmen und strich ihm an beiden Wangenseiten vereinzelt die Haare nach hinten. In dem Moment sah er wieder auf. Seine blau-violetten Vampir­augen starrten mich glänzend an. Diese Augen, die ich so liebte. Dieser Duft, den ich den ganzen Tag einatmen könnte. Dieses Gesicht, das zwar meinem so ähnelte, aber doch ein ganz anderes war. Diese blasse Haut, die jede Ader unter ihr preisgab. Diese Lippen, die schon ein Stück auseinander lagen …   »Kiyoshi …«, flüsterte ich noch ein letztes Mal, bevor ich meine Hände ganz um seine zarten Wangen legte und ihn an mich zog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)