My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 16: Respekt, Ehre und Blut ---------------------------------- Ihre Blicke sahen neugierig und gehässig zugleich aus. Sobald ich ihre Augen traf, sahen sie schnell wieder weg.   »Ich scheine hier nicht so ganz willkommen zu sein …«, murmelte ich. Jetzt drehten sich auch Kat und Ichiru um und beobachteten die neugierigen Blicke der anderen. »Keine Angst. Kiyoshi hat dir Respekt verschaffen. Wenn die wirklich etwas von dir wollen würden, wären die schon längst auf dich zugekommen. So wie Alexander auf Kiyoshi«, sagte Ichiru locker, verschränkte die Arme und lehnte sich locker zurück. »Verstehe ich sowieso nicht … Wenn Alexander … also eigentlich jeder hier weiß, dass Kiyoshi ein Reinblütler ist und damit auch einen hohen Rang bei euch hat, warum ärgert und verspottet dieser Typ ihn dann trotzdem?« »Wie gesagt … Aus reinem Missfallen seines Ranges. Und wahrscheinlich zusätzlich noch aus Dummheit. Es kommt zwar nicht oft vor, dass Kiyoshi so reagiert wie heute, aber es ist schon vorgekommen. Als Alexander zum Beispiel eure menschliche Mutter angegriffen hat.« Yagate schüttelte den Kopf beim Reden. »Na, da würde ich aber auch so abgehen, wenn ich es könnte!« Etwas wütend darüber, was dieser Alexander sich eigentlich erlaubte, ballte ich etwas meine Fäuste. »Na ja …«, sagte Kat und legte ihre kalten, zarten Hände auf meine Fäuste, »Alexander ist auch nicht irgendwer. Seine Eltern sind beide stinkreich und er selbst ist in allen möglichen Clubs, sodass er nicht nur bei uns Vampiren eine hohe Stellung hat, sondern auch bei den Menschen, was eure Familie ja nicht hat.« »Und stolz drauf. Was müssen wir denn berühmt sein? So können wir unser Geheimnis halt besser bewahren«, verteidigte ich unseren Familienstand. Ich fühlte mich schon richtig dazugehörend und empfand es als nicht wesentlich eine Berühmtheit sowohl in deren als auch in meiner Welt zu sein. »Natürlich, so sehen es die meisten hier, aber Alexander und seine Familie nicht. Die wollen Ruhm und Reichtum genießen«, seufzte Ichiru. »Schwer wird’s nur, wenn ihre dreißig Jahre um sind«, kicherte Kat böswillig und hielt sich die Hand vor den Mund. Schien hier so eine Art Attitüde zu sein. »Dreißig Jahre? Lebt ihr nicht ewig?«, wunderte ich mich. Ichiru musste kurz lachen. »Ja, gerade deswegen. Es wird doch auffällig, wenn ein Nachbar über dreißig Jahre nicht altert, oder? Deswegen sollten wir Vampire circa alle dreißig Jahre den Wohnort wechseln oder für einige Zeit untertauchen.« »Oh … Verstehe …« Klang logisch, aber auch nervig.   Da schellte es auch wieder im harmonischen Dreiklang. Sofort wurde die Tür aufgerissen und ein großer Mann betrat den Saal. Die Schüler beendeten sofort ihre Gespräche und standen wie in der Armee auf. Ich, nicht so schnell im Handeln, stand nachträglich auf und zog somit die ungeteilte Aufmerksam­keit des Lehrers auf mich. »Guten Morgen«, brummte er in seiner sehr dunklen Stimme. Wieder sprachen die anderen im Chor ein »Guten Morgen«. Sofort setzten sie sich wieder hin und öffneten ihre Bücher. Der Lehrer schwieg und sagte kein Wort. Er drehte sich nur zur Tafel, nahm eine Kreide und schrieb etwas an die Tafel. Als ich langsam nervös wurde, warum der Lehrer nichts tat, schielte ich zu Kiyoshi, der nur desinteressiert und ruhig auf seinem Platz saß und schweigend nach vorne sah. Wann war er denn aufgewacht? Oder hat er doch nicht geschlafen? Er bemerkte meinen Blick und sah mich an. »Ist etwas?«, flüsterte er mir kaum hörbar zu. »Sagt der Lehrer nichts?«, fragte ich vorsichtig und beugte mich etwas zu Kiyoshi rüber. Der wollte grade seinen Mund zur Antwort öffnen, da brummte die Stimme direkt hinter mir.   »Du bist der Bruder von Kiyoshi, richtig?« Ich fuhr heftig zusammen und drehte mich sofort zum Lehrer um. Er trug einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose. Ein blauer Schal lag locker um seinen Hals. Das Kälte- und Wärmeempfinden schien bei Vampiren nicht ganz so aus­geprägt zu sein wie bei uns Menschen. Seine kurzen schwarzen Haare und sein schwarzer Bart machten ihn düster und unangenehm. Sowieso sah sein Blick nicht sehr freundlich aus. »J-Ja, bin ich …«, brachte ich kleinlaut hervor. Wäre es ein normaler Lehrer gewesen, hätte ich sicher anders reagiert. Aber als ich seine großen Fangzähne beim Sprechen sah, zuckte alles in mir zusammen und ich wusste wieder, wo ich eigentlich war. Bei Vampiren, bei Monstern, die mich jeden Moment aus­saugen könnten. »Ein Mensch ist selten in unseren Runden, das hast du sicher schon gemerkt«, sagte er in einer lauten und strengen Stimme, die mich wieder zusammenfahren ließ. Die Chemielehrerin war mir um einiges sympathischer …   Ich nickte kurz und ließ mich im Sitz sinken, nachdem er endlich wieder nach vorne zum Lehrerpult ging. Dieser Mann, wie auch immer er hieß, war mir nicht ganz geheuer. Und nicht nur, weil er ein Vampir war, sondern auch, weil er eine strenge und seltsame Weise hatte zu sprechen. Schweigend nahm ich das Verhalten des Lehrers hin und schielte mit Kiyoshi in ein Buch, während er seinen Unterricht hielt. Zwischendurch wurde Kiyoshi drangenommen, obwohl er sich gar nicht gemeldet hatte, was mich innerlich etwas irritierte. Denn niemand meldete sich in diesem Unterricht, der Lehrer rief einfach Namen auf.   Meine Gedanken schweiften wieder kurz ab, da ich dem Stoff sowieso nicht ganz folgen konnte. Betrübt sah ich auf das Buch. Ich kam einfach nicht darüber hinweg, wo ich bin, wer ich bin, was ich werde und mit wem ich es zu tun habe. Obwohl sich alle Fragen beantworten ließen, waren sie doch ein Rätsel für mich. Ich hatte so Angst ein Monster zu werden. So ein blutrünstiges Monster, was nur an das eine denkt: Essen. Blut. Die gestrige Sache in der Küche war beängstigend genug. Ich war so in meiner Trance, dass ich mein Handeln nicht mehr beeinflussen konnte. Und meine Verwandlung war noch nicht mal Vollständig. Was würde dann also aus mir werden, wenn ich erst einmal ein richtiger Vampir wäre. Der Gedanke an meinen baldigen Tod holte mich wieder ein und meine Gesichtsfarbe nahm die der Tische an: weiß.   »Alles in Ordnung?«, fragte die weibliche Stimme vor mir. Ich blickte auf und starrte in Kats grüne Augen. Sie sah besorgt aus und drehte sich noch ein Stück zu mir um. Ich versuchte zu lächeln. »Ja, alles klar.« Sie versuchte dann auch zu lächeln und drehte sich wieder um. Wir hatten erst die zweite Stunde und mir kam es vor, als wäre es schon die fünfte. »Bis heute Abend« hat Vater gesagt. Das klang ja schon mal vielversprechend …   Die Stunde nahm ihren Lauf und als es wieder klingelte, verschwand der unbekannte Lehrer so schnell wie er ge­kommen war. Alle Schüler standen auf und packten ihre Sachen. Als Kiyoshi schon aufgestanden war und anscheinend auf meiner Seite die Bank verlassen wollte, stand ich ebenfalls auf und ließ ihn durch. »Wo gehen wir jetzt hin?«, fragte ich vorsichtig, da Kiyoshi wieder sehr missgestimmt aussah. »In den nächsten Kurs«, sagte er schroff und ging an seinen drei Freunden vorbei. Yagate schüttelte nur den Kopf und sah aufmunternd zu mir herüber. »Mach dir nichts draus. Der ist immer so«, meinte er und klopfte mir kurz auf die Schulter. Danach ging auch er nach unten und verließ den Klassenraum. Seufzend folgte ich den restlichen Schülern. Hinter mir gingen Ichiru und Kat. Plötzlich spürte ich sanfte Hände an meinem linken Arm. »Wir haben jetzt Russisch. Hast du das auch?« Ich stockte. »Russisch?«, fragte ich ungläubig. »Ja! Das ist ein tolles Fach.« »Hält sich in Grenzen …«, murmelte Ichiru hinter uns und grinste lustlos. Ich musste leicht mitgrinsen. »Ich kann kein Russisch, davon abgesehen …«, musste ich wohl oder übel zugeben und verließ nun auch mit den beiden den Klassenraum. Auf dem Flur traf mich erst einmal der Schlag:   Hunderte Schüler liefen auf diesem Gang rum. Eine Geräusch­kulisse, wie man sie aus Filmen kennt. Oder aus meiner Schule. Viele unterhielten sich, standen an der Wand und hielten ihre Mappen in den Armen. Einige Lehrer, jedenfalls Erwachsene, liefen auch durch die Gänge und grüßten manche Schüler. Für eine kurze Zeit machte es den Anschein, als sei es eine ganz normale Schule. Doch sofort kam mir die Wirklichkeit wieder ins Gesicht gesprungen. Alle Schüler waren Kreidebleich und sahen einfach nur perfekt aus. Einige große Schüler gingen an uns vorbei, andere waren eher kleiner. Trotzdem war keiner dick, keiner magersüchtig, keiner hatte auch nur einen Pickel im Gesicht und keiner hatte die Haare blöd liegen, sodass es unmöglich aussah. Kiyoshi stand noch neben der Tür von unserem Raum und hatte anscheinend auf mich gewartet. Mit genervtem Blick verdrehte er leicht die Augen und ging den Gang weiter zu den anderen Klassen, wie ich vermutete. »Kiyoshi ist heute aber extrem schlecht drauf …«, bemerkte selbst Kat, die Ichiru an der Hand und mich am Arm hatte. »Tja. Heute auf dem falschen Fuß aufgestanden«, lachte Ichiru in seiner fröhlichen Leichtigkeit. Erst jetzt bemerkte ich, wer fehlte. »Wo ist denn Yagate? Hat der jetzt kein Russisch oder ist er schon vorgegangen?« »Yagate hat kein Russisch belegt. Er hat dafür jetzt Heb­räisch.« Ich riss meine Augen auf und lachte zögerlich. »Hebräisch? Was kann man denn hier noch so alles belegen? Afghanisch? Isländisch?« »Hm … So weit ich weiß gibt es für unsere Jahrgangsstufe nur Russisch, Hebräisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Finnisch, Schwedisch, Chinesisch und Afrikanisch«, zählte Kat auf und grinste mich an. »’Nur’ ist gut …«, murmelte ich und musterte die Schüler, die an uns vorbeigingen. »Kat würde doch am liebsten alle belegen.« Ichiru musste lachen und Kat stieß ihm spaßeshalber kurz den Ellebogen in die Seite. Kiyoshi ging schweigend neben mir her und hatte seine Hände in den Hosentaschen. Die meisten, die an uns vorbeigingen, starrten mich oder Kiyoshi an. Wahrscheinlich überlegten sie kurz, ob wir Zwillinge sind, dachten sich »Ja« und bemerkten dann, dass ich ein Mensch war und Kiyoshi selbstverständlich nicht. Jedenfalls konnte ich das soweit aus ihren entgleisten Gesichtszügen entnehmen. Wobei »entgleist« noch lange nicht unperfekt hieß.     Auf einmal hörte man empörtes Rufen aus mehreren Ecken. Leute wurden zur Seite geschubst und andere machten schon freiwillig Platz. Uns kam eine kleine Gruppe von fünf Leuten entgegen, wobei einer von denen Alexander war. Da waren dann noch zwei Mädchen und zwei Jungs. An Alexanders Lache konnte ich schon seine Intention erkennen: Mobbingtime für Kiyoshi. Die Gruppe blieb vor uns stehen, sodass wir nicht an ihnen vorbeikamen.   Die zwei Weiber hatten lange blonde Haare, wobei eine von den beiden lockige, die andere glatte Haare hatte. Beide waren schlank und hatten ihren Rock für meinen Geschmack schon etwas zu hoch gezogen. Die eine starrte Kat verärgert, aber doch überlegen an und hatte ihre Hände vor der Brust verschränkt. Die andere, mit den lockigen Haaren, starrte mich verführerisch an und schien von meinem Aussehen recht amüsiert zu sein. Ihre goldgelben Augen sahen mich intensiv an. Während die Mädels uns schon fast mit ihren Blicken aus­nahmen, wurden die drei Jungs ganz schön unangenehm. Der eine war eine totale Kante und noch größer als Yagate; und der war schon groß. Er hatte schwarze Haare, die sehr kurz geschoren waren. Er sah schon von weitem nicht sehr nett aus, wobei der seinen Hemdkragen, wie die anderen beiden Jungs, hochgestellt hatte. So was nennt man bei uns in der Schule Bonze, dachte ich mir und konnte meinen Blick nicht von Jungs ablassen. Der andere neben Alexander war genauso groß wie er selbst, doch auch muskulöser. Mehr wie Yagate. Er hatte seinen Blazer locker über dem Arm liegen und hatte sein Hemd hochgekrempelt. Alle sahen etwas arroganter aus, als die anderen Schüler hier. Das will schon was heißen …   Die Jungs bildeten einen Kreis um Kiyoshi, der fast ein halber Kopf kleiner war, als die drei. Trotzdem schien er ihnen deswegen noch lange keinen Respekt entgegen zu bringen. Kat hatte mich noch immer an meinem linken Arm und schien sich regelecht zu verkrampfen.   »Du bist Hiro? Der Zwilling von Kiyoshi?«, sprach eine erotische Frauenstimme. Angeekelt von dieser Frau, die vor mir stand und ihre lockigen Haare zurückstrich, musterte ich ihr Auftreten. Sie war so groß wie ich und schien das in vollen Zügen zu genießen. Als die andere auch noch dazukam, widmete sich ihr Blick auch ganz meiner Existenz. Beide hatten eine recht große Oberweite, was sie immer mehr in das Format ‚Schlampe’ einordnen ließ.   »Süß«, sagte die andere Blonde und grinste mich vernaschend an. »Auch noch ein Mensch. Zum Anbeißen …«, murmelte die lockige Blonde und leckte sich kurz über die Zähne. Ich wich einen kleinen Schritt zurück und sah hilflos zu Kat runter. Die starrte beide nur böse an. Ichiru ebenfalls. »Darf ich eure Namen, bevor ich euer Leckerbissen werde, auch noch wissen?«, versuchte ich zu spaßen und sah gehässig zu den beiden. Sie lachten und hielten sich wieder einmal die Hand vor den Mund. »Ich bin Rose und das ist meine Schwester Sam. Freut uns, dich kennenzulernen.« »Ihn weniger!«, rief Kat dazwischen und sah verärgert aus. Rose und Sam sahen verachtend zu ihr rüber und schubsten sie zur Seite. Die löste sich von meinem Arm und stolperte zu Ichiru, der sie auffing. »Hey, was soll das?«, schrie Ichiru die beiden an. Die kicher­ten wie immer nur. »Die kleine Kathleen soll sich mal lieber da raushalten, wenn wir flirten«, meinte Sam und schien wohl die größere Feindin von Kat zu sein. »Danke, es besteht kein Interesse an euch«, sagte ich rau und schielte zu Kiyoshi.   Er war weg. Genauso wie die drei Jungs.   »Wo ist Kiyoshi?«, fragte ich auffordernd die beiden Weiber, die nur ratlos taten. »Keine Ahnung, vielleicht ist er ja nach Hause zu seinem Daddy gerannt.« Dann gackerten beide wieder los. Ich sah mich kurz um und versuchte durch die Massen hindurch irgendwo meinen Bruder zu erblicken, doch nirgend­wo erkannte ich die weißen Haare. Plötzlich ergriff mich eine Hand am Gesicht und drehte ihn wieder zu den Weibern. Die Hand gehörte zu Rose, die mir langsam über die Wange strich. »So ein hübscher Mensch. Wäre doch Verschwendung dein Blut in dir zu lassen, oder etwa nicht?« Sie grinste und ihre Zähne blitzen kurz durch ihren roten Lippenstift durch. »Ich finde es gut an der Stelle wo es ist, danke.« »Warum so abweisend uns gegenüber? Dein Bruder durfte doch auch mal zubeißen …«, fragte Sam und umgriff meinen Hals von hinten. Ich drehte mich etwas zu ihr um, da packte Roses Hand mein Kinn und hielt es fest. Ein Schmerz durch­zog mein Gesicht. Die beiden wandten ganz schöne Kräfte an. Vampirkräfte halt, gegen die ich keine Chance hatte. »Was wollt ihr?«, quetschte ich durch meinen Mund raus, der im Klammergriff von Rose war. »Was wollen wir? Das weißt du doch …«, flüsterte sie. »… Spaß und Blut …«, flüsterte auch Sam mir ins Ohr und zog mich zur Wand des Ganges.   Zum Glück kamen Kat und Ichiru auf uns zu. »Lasst ihn los! Er ist hier zu Besuch und ihr wisst, was passiert, wenn er Schaden nimmt«, rief Kat und drückte Rose weg. Ichiru nahm Sam am Oberarm und zog sie ebenfalls von mir, um sie dann zu ihrer Schwester zu schubsen. Schon fast außer Atem verkroch ich mich zwischen Kat und Ichiru, die sich schützend vor mich stellten. Rose und Sam lachten hämisch. »Wenn nicht heute, dann morgen. Wir haben Zeit, Süßer. Komm, wann du willst.« Rose winkte und ging mit ihrer Schwester den Gang zur großen Treppe entlang. Sofort verschwanden sie in der Vampirmenge, die anscheinend von der Ganze Sache wenig mitbekommen hatte.   »Danke …«, bedankte ich mich bei den beiden. Die drehten sich um und lächelten aufheiternd. »Die beiden übertreiben es ziemlich. Sie sind die Schul­matratzen und haben schon mit jedem Typen hier auf der Schule geschlafen«, spottete Kat und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Dabei sah Ichiru verlegen zur Seite. »Echt? Auch mit meinem Br-« »Nein, mit dem nicht«, unterbrach mich Ichiru und musste wie immer breit grinsen. »Dein Bruder hatte noch nie eine Beziehung, geschweige denn Interesse an einem Mädchen. Er ist sehr Gefühlskalt …« Danach seufzten beide. »Trotzdem ist er ja nett«, meinte Kat und klopfte mir auf die Schulter. »Oder?« »Äh … Ja … Doch, schon.« Na ja … Nett?   Trotzdem war nirgends eine Spur von Kiyoshi zu sehen. Ich wollte nicht sagen, dass ich mir Sorgen machte, aber unbesorgt war ich auch nicht. Er würde sich behaupten können, wenn es darum gehen würde, sich zu verteidigen, aber welches Ausmaß das haben könnte, war mehr einen Gedanken wert. Wer weiß, was jetzt grade passierte? »Komm, wir gehen schon mal in die Klasse. Vielleicht ist Kiyoshi ja schon da.« Damit zog mich Kat mit Ichiru wieder in die Menge, die langsam kleiner wurde. Wir gingen einige Meter und standen dann vor einer Klasse, die aussah, wie jede andere Klasse auch. Nur dass diese wieder riesige Vorhänge und Fenster hatte, mit weißen Tischen, die im faden Licht glänzten. Die Stühle waren ebenfalls weiß und sahen sehr neu und futuristisch aus. Das Ganze erinnerte mich ein bisschen an IKEA. Wenige Schüler saßen schon auf ihren Stühlen. Manche aus dem Chemie- und Physikkurs von vorhin waren auch dabei.   Ich atmete auf. Kiyoshi saß alleine an einem langen Tisch für vier Personen. Er starrte gedankenverloren auf den weißen Tisch. Fast schon freudestrahlend lief ich auf ihn zu und kroch neben ihn in die Bank. Leise ließ ich mich auf den bequemen Stuhl nieder. »Hey …«, begrüßte ich ihn mit einem vorsichtigen Lächeln. Der drehte sich wie aus der Trance erwacht zu mir um und murmelte irgendetwas von »Oh … Hallo«. »Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt, da die Situation von vorhin mit den so ‚freundlichen’ Typen recht unangenehm war. »Ja, alles klar«, sagte er schroff und starrte wieder auf den Tisch. Sofort ließ ich von ihm ab. Er war nicht nur schlecht drauf, sondern auch noch abweisend. Kat und Ichiru setzten sich neben mich an den Nebentisch. Beide packten liebevoll und mit perfekten Handlungsabfolgen ihre Hefte und Bücher aus. »Ist er noch schlecht drauf?«, fragte Kat, beschäftigt mit ihren Heften. »Ja …« »Wird schon«, versicherte mir Ichiru und hielt seinen Daumen hoch. Ich musste grinsen und nickte kurz.   Eigentlich viel zu nette Freunde, dafür, dass er so ein Stoffel war. Aber sie schienen ihn anscheinend doch irgendwo zu mögen. Vielleicht ist er sonst auch anders. Es dauerte nicht lange, da klingelte es wieder und eine Lehre­rin betrat sofort den Raum. Ich sah kurz auf meine Handyuhr und diagnostizierte, dass eine zehn Minuten Pause vorbei war. Die Lehrerin hatte kurze dunkelbraune Haare. Sie trug eine Brille und schien wie alle Lehrer Mitte dreißig zu sein. Aus ihrem dunkelbraunen Stoffrock kamen schlanke Beine zum Vorschein, während aus ihrem farblich passenden Blazer ebenfalls schlanke, weiße Hände ragten. Sie schien wirklich eine Russin zu sein. Doch die Perfektion stand ihr im Gesicht geschrieben. Wie jedem hier (außer mir natürlich).   Die Lehrerin begrüßte die schon längst aufgestandenen Schüler kurz mit einem seltsamen Wort, diese antworteten und setzten sich wieder. Ich verstand nichts und sah nur hilflos zu meinem Bruder, der nach einem Gemurmel von Worten der Lehrerin sein Buch aufschlug. Der beachtete mich gar nicht großartig, sondern widmete sich ganz dem Unterricht. Ich seufzte in mich hinein und hoffte darauf, dass mich die Lehrerin nicht bemerken würde. Selbst als Kiyoshi dann ein paar Mal etwas auf Russisch sagte, beachtete sie mich gar nicht. Kat und Ichiru saßen nur still neben mir und schienen nur zuzuhören, aber sonst nichts. Leere Blicke gingen nach vorne zur Lehrerin. Leere Blicke von jedem, der hier Anwesenden. Ein trauriger Anblick war es schon. Jugendliche, die tot waren und nur einen Weg in die Ewigkeit kennen. Was soll man da schon vom Leben erwarten? Ich freute mich nicht wirklich auf meinen Tod, aber wenn ich daran dachte, unsterblich zu sein, war ich schon neugierig auf die Zukunft. Vielleicht fliegen wir ja wirklich irgendwann mit Raumschiffen hier rum und müssen eines Tages auf den Mars fliehen, da die Erde keine Vorräte mehr für uns bietet. Oder wir machen einen solchen Evolutionsrückschritt, dass wir alle von neu anfangen müssen. Irgendetwas würde schon passieren. Das würde ich alles miterleben. Meine Mutter leider nicht. Meine Freunde auch nicht. Niemand, außer meinem Vater, meinem Bruder, Mamoru und den anderen Vampiren vielleicht. Traurige Vorstellungen trübten meinen Kopf und ich versank in meinem Stuhl.   Ich wusste nicht wie mir geschah, als es plötzlich wieder klingelte und die Schüler aufstanden. Etwas verwirrt sah ich mich um und sah nach links. Kiyoshi packte seine Sachen zusammen und wollte aufstehen. »Ist die Stunde schon vorbei?«, fragte ich perplex und fasste mir kurz an den Kopf. »Ja«, kam eine monotone Antwort. »Ach so …«, murmelte ich vor mich hin und stand langsam auf. »Wir sehen uns dann in der Mittagspause!«, rief Kat mit Ichiru. Die beiden Standen schon an der Tür und winkten uns zu. Ich winkte kurz zurück, dann waren sie aus dem Raum. »Wo gehen die beiden hin?« »Kurs.« »Hast du jetzt einen anderen?« »Ja.« Etwas genervt von den kurzen, schroffen Antworten, fasste ich mir kurz an die Stirn, während ich mit ihm den Raum verließ. »Welchen denn?« »Mathematik.« Urghs. Wer sagt denn heute noch Mathematik? Außer vielleicht die Mathematiklehrer, aber selbst die sagen bei uns nur Mathe. Es ist halt Kiyoshi … Kiyoshi halt … »Hast wohl eher naturwissenschaftliche Fächer, hm?«, ver­suchte ich ein Gespräch zu führen. »Ja.« Das Gespräch scheiterte wohl. »Bist du eigentlich immer so in der Schule? Zu Hause redest du viel mehr.« Wir gingen den langen Gang entlang, der nur halb so voll wie gerade eben war. »Findest du?« »Ja, finde ich. Und du bist netter. Na ja. Manchmal. Gestern jedenfalls warst du es.« »Aha.« »Ist irgendetwas passiert? Zwischen dir und diesen Typen da vorhin?« Neugierig sah ich ihn von der Seite aus an. Sein Blick zerknirschte sich etwas. »Nein, nichts wesentliches.« »Haben die dich wieder fertig gemacht?« »Nein. Nur blöde Sprüche gebracht.« »Ihr habt euch aber nicht geprügelt, oder?« »So etwas tun wir nicht.« »Hätte ja sein können …« Dann war das Gespräch wieder beendet. Wir waren in­zwischen die große Treppe runter gegangen und standen nun kurz im Foyer. Sofort lief Kiyoshi nach rechts und betrat direkt den ersten Raum. Es war wieder ein Hörsaal, aber viel größer als der andere. Massen von Schülern unterhielten sich, aber wie immer gemäßigt. Wir setzten uns in eine Mittlere Reihe. Es waren Dreiertische, genauso wie im anderen Hörsaal. Kiyoshi legte seine Schultasche sachte auf den weißen Tisch und öffnete sie. Ich konnte einen kurzen Blick in sie erhaschen und sah in ein geordnetes Innenleben mit Heften und Büchern, nach Größe geordnet. Seufzend legte ich meine Tasche unter den Tisch und setzte mich auf einen der Klappstühle. Gelangweilt von der Tatsache, dass ich in meinen Ferien in die Schule gehen musste, ließ ich mich sinken. Der Raum füllte sich nach einigen Minuten immer mehr, bis es schließlich klingelte und eine Frau den Raum betrat. Zu meiner Überraschung war sie schon alt und hatte Falten. Sie war bestimmt Mitte fünfzig. Sie stellte ihre große Ledertasche auf dem Pult ab und schob einen Overhead­projektor mit sich. Sie lächelte sanft und sah nun in die Masse. Alle standen auf. »Guten Morgen, meine Lieben.« »Guten Morgen.« Und schon saßen wieder alle. Verwundert setzte ich mich wieder hin. Rechts von mir saß niemand, links Kiyoshi. Der Raum war brechend voll. Nur wirklich vereinzelte Plätze waren frei. Die Lehrerin, die uns so fröhlich begrüßt hat, klappte ihre Tasche auf und holte einen Stapel Papierblätter raus. »Die bitte in der Klasse verteilen, danke«, sagte sie sachte und gab sie einer Schülerin, die vorne in der ersten Reihe saß. Und ehe ich mich versah, hatte Kiyoshi schon ein Blatt in der Hand. »Huh?«, brachte ich raus und Kiyoshi sah mich nur ge­lang­weilt an. »Das Blatt wurde doch gerade erst rumgegeben!« »Wir sind da halt etwas schneller«, murmelte er und öffnete seinen schwarzen Ordner, auf dem Mathematik stand. Er heftete es ordentlich ein und schob es in die Mitte zwischen uns. Plötzlich hörte man einen hohen Ton, wie von einem Mikrofon. »Wir haben letzte Stunde uns die Trigonometrie noch einmal angeschaut, wer kann mir denn dazu etwas erzählen?«, fragte die Lehrerin durch ein Mikrofon, damit sie auch der ganze Hörsaal verstehen konnte. Einige Finger gingen hoch, genauso Kiyoshis. Ich lehnte mich kurz zu ihm. »Was ist das?«, flüsterte ich ihm zu. »Trigonometrie?«, flüsterte er zurück. »Ja.« »Kosinus, Sinus, Tangens.« »Hä?« »Erklär ich dir später.« Ich bin wohl wirklich strohdoof oder ich passe einfach nie im Unterricht auf. Ich stützte meinen Kopf auf meine rechte Hand. Gelangweilt starrte ich nach vorne und dachte mir: »Das eine schließt das andere nicht aus …«   Die ältere Lehrerin nahm einen Schüler aus der hinteren Reihe dran. Der faselte etwas von Winkelberechnung und Hypotenusen. War mir auch egal. Das hier sollte nie meine Schule werden. Und selbst wenn sie es werden würde, könnte ich dann als Vampir ja immer noch alles nachholen. Als Vampir, wie bescheuert. Wie aus einem schlechten Hollywoodfilm. Die Stunde zog sich wie Gummi. Die Lehrerin legte eine Folie auf und erzählte dazu etwas. Sie schaltete dafür das Licht aus und ich konnte an vielen Gesichtern erkennen, dass das für sie viel angenehmer war. Nachtwesen halt. Mich lud es zum Schlafen ein. Also legte ich meinen Kopf auf meine Arme und war auch schon nach wenigen Sekunden ganz woanders.   »Junger Mann?«, kam eine Frauenstimme. Ich blinzelte kurz. Dann blinzelte ich noch einmal und hob meinen Kopf etwas an. Sofort erblickte ich die Lehrerin. Ich richtete mich auf und lief etwas rosa an. »Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte ich höflich. Die grinste nur und winkte ab. »Schon in Ordnung. Menschen leiden ja schnell unter Schlaf­mangel.« Dann ging sie lächelnd wieder nach unten zurück zu ihrem Pult. Etwas verwirrt sah ich mich in der Runde um. Alle starrten mich an, wendeten ihren Blick aber sofort ab, wenn ich ihn traf. Ich fasste mir kurz an die Stirn, dann sah ich zu Kiyoshi. Der sah wie immer desinteressiert nach vorne und starrte wie ein Toter durch seine Haare. Ich seufzte kurz. »Wieso hast du mich nicht geweckt?«, flüsterte ich zu ihm. Der zuckte nur die Schultern. »Ich dachte, ich lasse dich mal schlafen«, sagte er monoton ohne mich dabei anzusehen und schlug eine Seite in seinem Ordner um. »Hm …«, brummte ich und wendete mich ab. Die Situation war nicht wirklich peinlich, aber angenehm sicherlich auch nicht. Ich wollte eigentlich nur noch nach Hause. Nach wenigen Minuten klingelte es auch wieder. Doch niemand stand auf, niemand packte seine Sachen. Das roch nach einer Doppelstunde. Laut seufzend ließ ich mich wieder sinken und starrte an die Decke.   Ich bekam langsam durst. Mein Hals wurde etwas trocken. Ohne Frühstück auch kein Wunder. Ich bekam ja kein menschliches Essen mehr. Mit einem Mal ließ ich meinen Kopf nach vorne fallen und griff nach meiner Tasche. Vorsichtig versuchte ich einen Blick zu Kiyoshi zu erhaschen. Der starrte wieder nur in seine Flasche und sagte nichts. Nervig. Im Grunde ist er ziemlich langweilig. Langsam zog ich die Flasche aus meiner Tasche. Sie war wie Kiyoshis schwarz und hatte einen dunkelgrauen Verschluss. Mein Magen knotete sich etwas zusammen, als ich daran denken musste, was sich darin befand. Es wäre jetzt das erste Mal, dass ich Blut trinken würde. Das erste Mal, ausgenommen natürlich meinem verhängnisvollen Trank nach dem Biss.   Das erste Mal, dass ich mich wie ein Vampir verhalten würde. Doch irgendetwas in mir weigerte sich diese Flasche aufzu­drehen und daraus zu trinken. Mein Hals tat aber schon fast weh, weil er so trocken war. Ich legte meine Finger um den Deckel und drehte langsam auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)