My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 12: Strafordnung ------------------------ Das Geschrei hörte nicht auf. Es wurde immer lauter. Zwei Personen schrien rum. Ich ging zur Tür. Noch einmal wischte ich mir über das Gesicht um nicht allzu verheult auszusehen, dann öffnete ich sie langsam. Sofort verstand ich, wer da schrie.   »Was soll ich denn noch tun? Was? Sag’s mir!«, schrie Kiyoshi. Er schien im Foyer zu stehen. »Dich nicht so benehmen! Weißt du überhaupt was du ihm angetan hast? Ein bisschen mehr Respekt wäre angebracht!«, rief nun auch mein Vater und schien wieder sehr in rage zu sein. Doch diesmal um einiges schlimmer als damals wegen dem ‚Wein’. »Ich habe Respekt vor ihm! Aber er hat keinen vor mir, was bitte soll ich ihm also entgegenbringen? Immer den lieben, netten Sohn vom Lande spielen?« »Nein, aber du sollst ihn nicht so fertig machen!« »Ich mache ihn nicht fertig, er macht mich fertig! Vater, er will sterben! Er will nicht verwandelt werden!« »Weil du ihm genau die Seiten dieses Lebens zeigst, die nicht rosig sind. Du machst dein eigenes Leben zur Hölle, Kiyoshi«, schrie mein Vater laut. Plötzlich herrschte Stille. Ich kauerte an meinem Türrahmen und hörte neugierig dem Gespräch zu. Kiyoshi und Vater stritten sich. Aber heftig. Ob das öfter so ist, fragte ich mich innerlich und lauschte, wieso plötzlich Stille eintrat. Plötzlich schluchzte Kiyoshi. »Dann mache ich mir mein Leben eben zur Hölle. Aber deswegen mache ich doch nicht das Leben von Hiroshi ebenfalls zur Tortour!«, schrie er wieder. Hin und wieder versagte seine Stimme. Er …? »Kiyoshi, achte auf deinen Ton mit dem du mit mir sprichst.« »Ich spreche ganz normal! So bin ich halt, du hast mich erzogen. Ist es nicht deine Schuld, dass ich so geworden bin wie ich nun bin? Du bist es doch Schuld!« »Zum letzten Mal. Vergreife dich nicht so im Ton, junger Mann.« »Zum letzten Mal, ich vergreife -«   Dann schallte es im Foyer und jemand schien hinzufallen. Sofort trat Stille ein. Ich zuckte leicht zusammen. Vater hat Kiyoshi doch nicht etwa geschlagen? Das hörte sich um so einiges schlimmer an als im Kaufhaus gestern.   Er weinte. Er schluchzte laut auf und zog kurz die Nase hoch. Das ging bestimmt Sekunden so. Ich hörte nur seine Schluchze und wie sehr er sich quälte. Meine linke Hand wanderte vom Türrahmen zu meinem Mund, wo ich sie vor Entsetzen auf meine Lippen legte. Erst als eine Träne auf mein Handgelenk tropfte, merke ich, wie sehr ich mitfühlte. Es tat mir Leid, dass er nun Ärger von Vater bekam. Er schien ein strenger Vater zu sein. Einerseits gab ich ihm Recht, dass Kiyoshi sicher etwas übertrieben hatte, aber andererseits gab ich Kiyoshi auch Recht. Er ist so. Natürlich ist er nicht leicht, aber was soll er schon tun? Jiro ist auch eine Nervensäge, trotzdem kommen wir alle irgendwo mit ihm klar. Lampe ist eklig und einfach unan­genehm, trotzdem gehört sie zu uns. Und Kyo und Roku sind sehr empfindlich, trotzdem geigen wir ihnen manchmal die Meinung, auch wenn es danach im Streit endet. So auch Kiyoshi. Er ist ein Arschloch und die Arroganz in Person, trotzdem ist er mein Bruder. Trotzdem habe ich ihn lieb, auch wenn ich ihn kaum kenne. Die Verbindung ist da. Jetzt besonders, wo mir das gleiche Schicksal ereilt wie ihm. Die Unsterblichkeit.   Ich wollte schon einen Schritt nach vorne setzen, um nach unten ins Foyer zu gehen, da hörte ich irgendein Gemurmel und wie Kiyoshi wieder schrie: »Dein Vatergetue kannst du dir in den Arsch schieben! Ich hasse dich!« Sofort hörte ich Treppenrumpeln und bevor ich in mein Zimmer zurückgehen konnte, starrte ich schon in die tränen­überfüllten blau-violetten Augen. Sein Blick war verzweifelt. Unser Blickkontakt dauerte nur wenige Sekunden, dann verschwand er in seinem Zimmer mit einem lauten Türeschlag. Wie angewurzelt blieb ich am Türrahmen stehen und starrte auf die schon längst geschlossene Tür. Erst nach einigen Sekunden fiel mir innerlich auf, dass seine linke Wange verdammt rot war. Ob sie blutete? Ich war mir nicht sicher, aber ich traute mich auch nicht es herauszufinden. Starr und stumm blieb ich stehen. Ich wischte mir vorsichtig wenige Tränen aus dem Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. Was für ein Gewirr. Hoffentlich endete der Tag bald, hoffte ich und drehte mich langsam wieder um.   Ich schlurfte in mein Zimmer und schloss hinter mir die Tür. Vorsichtig griff ich nach meinem Handy in meiner Hosentasche. Es war schon kurz nach sechs Uhr. Trotzdem schien der Tag nicht enden zu wollen. Mein Magen knurrte plötzlich. Ich hatte Hunger. Aber den schob ich erst einmal beiseite. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und starrte auf mein Handy. Mein Blick wechselte kurz zwischen Handy und Fenster, dann entschloss ich Jiro anzurufen. Ich hatte dieses Bedürfnis, wem zu erzählen, was gestern Nacht vorgefallen war. Was passiert war und was mit mir geschehen wird. Aber ich durfte nicht. Ich konnte es Jiro einfach nicht erzählen, das wäre fatal. Trotzdem wollte ich mit einem meiner Freunde sprechen.   Langsam wählte ich Jiros Hausnummer. Ich wartete kurz, dann meldete sich seine Mom. »Hallo Hiroshi?«, meldete sie sich und zeigte damit, dass sie meine Nummer auf dem Telefondisplay erkannt hatte. »Hallo Frau Hirotaka. Ist Jiro da?« »Ja, sicher. Einen Moment.« Man hörte Stimmen und wie das Telefon weitergereicht wurde. »Hero, was geht?«, meldete er sich in seiner typisch aufge­drehten, lustigen Art. Ich musste grinsen. Ich hätte schon wieder weinen können. Ich vermisste das so. »Hey. Nicht viel. Bei dir?«, antwortete ich gespielt locker. »Wie nicht viel? Ist bei deinem Dad nix los?« »Nicht wirklich, nein.« Oh, hier ist genug los. Eigentlich schon zu viel für meinen Geschmack. »Sag bloß. Erzähl doch mal. Wie ist es da so. Du wolltest noch die Umgebung und so beschreiben.« »Na ja … Was gibt es da viel zu beschreiben. Er hat halt eine riesige Villa und ein großes Anwesen. Es ist sehr waldig hier und es gibt vier Tore. Nord-, Süd-, Ost- und Westtor. Bei jedem Ausgang kommt man woanders raus. Ansonsten … recht langweilig hier. Nicht so wie City bei uns.« »Klingst ja nicht grade begeistert. Ist was passiert? Du klingst so niedergeschlagen?« Ich konnte es also nicht sehr gut vertuschen. »Hm, habe mich mit Kiyoshi gestritten.« »Mit … wem?« »Na …-«, ich stockte. Verdammt noch mal, ich hatte ihm ja noch gar nicht erzählt, dass ich einen Bruder habe. Jetzt war’s zu spät. Da habe ich mal nicht nachgedacht und nun ist es raus. Prima. Perfekt. »Wer ist Kiyoshi? Ein Freund von deinem Vater oder so?« »Nee … Du Jiro, bist du mir böse, wenn ich dir jetzt was erzähle, was ich dir vorher verschwiegen habe?« »Ich glaube nicht, nein. Außer es ist etwas, was uns beide angeht, dann schon.« Er klang etwas angereizt. »Nein, es geht eher um mich und Familie.« »Ach so. Rück schon raus! Wer ist Kiyoshi? Dein geheimer Bruder?« Dann lachte er. Ich lachte kurz mit, dann hörte ich abrupt auf. »Ja, genau.« Sofort trat Stille ein. »Nicht im Ernst, oder?«, fragte Jiro noch einmal nach und schien nun den Ernst der Situation verstanden zu haben. »Doch. Kiyoshi ist mein Zwillingsbruder.« »Zwilling auch noch? … Eineiigig?« »Ja …« »Auch das noch! Wahnsinn …« Er schien fassungslos zu sein. »Ja, so habe ich auch reagiert …« »Wieso hast du mir das nicht direkt erzählt?« »Ich hatte gehofft, er wäre nur eine Einbildung.« War gelogen, aber klang wenigstens noch lustig. »Oh man. Ist er denn nett -?« »Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Darüber musste ich nicht wirklich groß nachdenken. Kiyoshi war ja wohl alles andere als nett. »Äh ... Oh.« »Ja, er ist arrogant und eingebildet und zeigt ganz schön deutlich, dass er von der besseren Sorte ist.« Dass das wegen dem Vampirsein zutun hatte, erwähnte ich aber definitiv nicht. »Im Ernst? Du armer. Grade du, der ja eigentlich das Gegen­teil ist. Lustig, locker und alles andere als eingebildet und arrogant.« Ich schwieg kurz. Dann lächelte ich traurig. »Danke, Jiro. Das höre ich gerne.« Dann verkniff ich mir weitere Tränen. »Mensch, Hero! Ist alles klar bei dir? Du klangst schon nach der Anreise so komisch und jetzt ist es ja mal extrem. Ist irgendetwas passiert? Kann ich dir helfen? Soll ich herkommen und deinen blöden Bruder verhauen?« Ich musste lachen. Jiro, jetzt wusste ich wieder ganz genau, wieso du mein bester Freund warst. »Nein, nein, du brauchst nicht vorbei kommen.« Obwohl es mir lieber wäre. Doch Jiro würde nicht gewinnen. Kiyoshi war zwar zierlich und doch irgendwo nicht allzu mächtig, aber wenn er es drauf anlegte, konnte er ganz schöne Kräfte anwenden. Ich habe das am eigenen Leib gespürt, als er mich festhielt, um mich … »Ist denn wirklich alles in Ordnung? Oder ist was passiert?« »Wie gesagt, nur ein Zoff mit ihm. Nichts Weltbewegendes.« »Hero, das kauf ich dir nicht ab. Wie oft gehst du voll ab, wenn Lampe was Blödes macht und ihr streitet euch. Da ist’s dir doch auch egal.« »Ja, bei Lampe. Wenn wir uns streiten würden, wäre ich auch ziemlich down.« »Im Ernst? Oh Gott, Hero, wir streiten uns nie wieder, wenn du dann so bist.« Ich musste wieder leise lachen. Jiro, du bist niedlich, wie ein kleines Kind. »Hero, noch mal. Wenn irgendetwas passiert sein sollte, dann sag es mir doch. Du weißt, ich behalte es auch für mich, wenn du es willst. Du kannst mit mir über alles reden.« »Das weiß ich, Jiro. Danke dafür.« »Null Problem.« »… Du, ich glaube ich ruf mal meine Mom an.« »Ja, okay. Kann ich dich morgen mal anrufen? Sind ja Ferien, wir müssen ja nicht in die Schule.« »Äh …« Wer weiß, was morgen alles passiert. Ich hatte schon wieder Angst. »Klar. Ruf einfach an. Wenn ich nicht drangehe, kann sein, dass ich mein Handy grade nicht zur Hand habe.« »Du gehst ran. Wenn du nicht drangehst, dann mach ich mir Sorgen und ruf bei deiner Mom an. Du weißt, dass die sofort einreist oder die Polizei ruft.« »Das würdest du nicht tun!« »Du weißt, wozu ich fähig bin.« Kurzes Schweigen trat ein. Dann lachten wir beide los. Meine Mutter war schon eine gute Drohung. »Nein, wirklich Hero«, sagte er beim Lachen, »Geh bitte ran. Sonst mach’ ich mir wirklich Sorgen.« »Ich versuche es so gut ich kann.« »Alles klar. Dann bis morgen.« »Ja, bis morgen.«   Dann legte Jiro auf. Ich drückte auf den roten Hörer und ließ mein Handy sinken. Ich seufzte in mich hinein.   »Wer war das?«, ertönte die bekannte Stimme. Sofort drehte ich mich in Richtung meines Bettes um. Dort saß Kiyoshi mit angewinkelten Beinen und hielt mein Kissen in seinen Armen. Er sah mich mit rot unterlaufenen Augen an und machte einen schlappen Eindruck. »Was machst du hier?«, fragte ich perplex ohne Rücksicht auf seine Frage zu nehmen. »… Ich wollte nicht so alleine in meinem Zimmer sein«, murmelte er schon halb ins Kissen und senkte seinen Blick. Ich schluckte kurz. »Das war Jiro. Mein Kumpel aus der Schule.« Kiyoshis Blick hob sich wieder. »Er wusste also nichts von mir?«, fragte er. »Nein, ich wollte damit nicht gleich rumposaunen. Man kann eigentlich jetzt die Uhr danach stellen, bis es die ganze Nachbar­schaft weiß.« Das war zwar gemein Jiro gegenüber, aber was halt stimmt, stimmt eben. Er nickte kurz und versank dann wieder im Kissen. Ich starrte ihn eine Zeit lang an. Er sah so fertig aus. Seine Wange war noch immer leicht errötet. Die Haare waren zerzaust und lagen ihm im Gesicht. Seine Augen, rot unterlaufen, glänzten noch von den Tränen. »Sag mal … Was war vorhin eigentlich los?«, versuchte ich vorsichtig das Thema anzusprechen. »Hat man doch gehört, oder?«, kam eher etwas schroff zurück. »Klang nach einem Streit …« »War’s auch.« »Und wieso? Wegen mir?« »Natürlich, wegen wem sonst?« Der Geduldsfaden riss langsam. »Kannst du auch mal was netter sein? Ich versuche es vor­sichtig anzugehen, weil du wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett sitzt und du gibst mir die schroffsten Antworten über­haupt. Wenn du nicht alleine sein willst, dann sei auch nett.« Er seufzte kurz. Dann blickte er zur Seite wo die Tür war und legte seine linke Wange vorsichtig auf das Kissen. So konnte ich ihm nicht mehr in die Augen schauen. »Ja, es war wegen dir. Gerade, weil ich so schroff zu dir bin. Ich vergreife mich gerne im Ton.« »Hat man an einigen Stellen gemerkt.« Er zuckte kurz mit den Schultern. »Ist Alltag bei uns.« Dann drehte er sich wieder zu mir. Seine traurigen Augen sahen wieder ausdruckslos aus und starrten mich nur noch an. »Das ist fast jeden Tag so. Eigentlich ist es gar nicht so besonders, nur, dass es halt diesmal um eine andere Person geht, die sonst nicht dabei ist. Ansonsten ist die Abfolge die Selbe.« »Jeden Tag schlägt er d-?«, rief ich entsetzt darüber, dass unser Vater jeden Tag so handgreiflich meinem Bruder gegenüber wird. Sofort sprang Kiyoshi auf und hielt mir den Mund mit seiner linken Hand zu. »Nicht so laut. Man hört viel in diesem Haus. Besonders, wenn Vater unten im Wohnzimmer sitzt und sein Glas Blut trinkt. Dann ist es immer besonders still. Also sei leise«, zischte er mir entgegen. Dann ließ er langsam seine Hand von meinem Mund gleiten. »Sorry«, murmelte ich und wendete den Blick gen Boden. »Andere Väter trinken abends ein Glas Wein. Unser Vater trinkt sein Glas Blut. Das ist krank.« »Das sind Vampire, Hiro.« »Ja, ich weiß.« Dann schwiegen wir. Kiyoshi setzte sich wieder auf mein Bett und umarmte das Kissen hinter seinen angewinkelten Beinen. Dann blickte auch er auf den Boden. »Es sind erst zwei Tage rum, seitdem ich hier bin. Mir kommt es vor wie eine Woche oder länger.« »Die Tage vergehen langsam, ich weiß. Irgendwann …« Dann stockte er. Ich blickte auf und sah ihn an. »Irgendwann?«, wiederholte ich und wartete auf seine Fort­setzung. »Irgendwann … wenn du unsterblich bist … ist ein Tag nichts. Er ist nichts wert, er erfüllt dir keine Träume mehr und gibt dir keine neuen Chancen. Weil du weißt, dass sich eh nichts ändern wird.« Sein Blick trübte sich und sein Griff um das Kissen verengte sich ein Stück. »Wieso sprichst du eigentlich so schlecht über das Vam­pirsein? Chloe und Vater sind glücklich so wie sie sind. Wieso bist du es nicht?« »Wieso bist du nicht glücklich?«, fragte er und sah mir feste in die Augen. »Weil ich mein Leben verliere, dass ich vorher hatte. Ich muss alles aufgeben. Und mein Leben war nicht derart schlecht, dass ich es aufgeben möchte.« »Tz …« Kiyoshi sah verärgert zur Seite und sagte danach nichts mehr. Er schien sich sein eigenes Leben wirklich zur Hölle zu machen. Ich dachte noch vor wenigen Stunden, dass Kiyoshi die erwachsene Person wäre. Er wüsste, wo Grenzen sind und wo er noch einen Schritt tätigen könnte. Aber anscheinend ist er genauso in seinem depressiven Fluss der Jugend wie viele andere in unserem Alter auch.   Ich streckte mein Bein nach ihm aus und stupste ihn so am Arm an, dass er zur Seite fiel. »Hey!«, sagte er etwas perplex und starrte mich erschrocken an. Ich grinste etwas. »Du hast gesagt, du hasst Vater. Ich glaube nicht, dass du ihn hasst. Du fühlst dich nur ungerecht behandelt mir gegenüber. Das ist alles. Also zieh nicht so ein Gesicht. Wenn du dich mal etwas mehr anstrengen würdest, ein guter Sohn zu sein, dann würde er dich bestimmt auch anders behandeln.« »Das sagt der richtige, Chaos-Junge.« »Lieber Chaos-Junge als ein Arroganter und Eingebildeter Schnösel.« »Danke, ich habe schon mitbekommen, was du über mich erzählst.« »Nichts als die Wahrheit, Yoshi.« »Hör auf mich so zu nennen.« »Der Name passt aber so gut zu dir.« Ich musste fies grinsen. Ich hatte tatsächlich für einen Moment meinen Tod vergessen. »Wie gesagt, für dich muss noch ein Wort kreiert werden.« »Fang an.« » … « Er schien zu überlegen. Er lag noch immer halb auf der Seite und stützte sich mit seinem rechten Arm auf der Decke ab. Mein Fuß lag ebenfalls noch neben ihm auf der Bettkante. Plötzlich grinste er und musste leicht lachen. »Und? Hast du einen Namen?« »Keinen neu kreierten, dafür brauche ich mehr Zeit. Aber Zwerg reicht fürs erste.« Dann sah er mich belustigend an. »Zwerg? Wieso denn Zwerg?« Etwas verwundert über die Aussage, verschränkte ich meine Arme vor der Brust.   »Erstens: Du bist zehn Minuten jünger als ich. Zweitens: Du benimmst dich wie ein kleines Kind, das Zwergen sehr nahe kommt. Und drittens: Du bist so unberechenbar, gemein, hinterhältig und sarkastisch wie ein kleiner Giftzwerg. Ich finde der Name passt perfekt zu dir.« Kiyoshi setzte sich hin und stützte sich weiterhin mit seiner linken Hand ab. In der rechten Hand hielt er noch immer das Kissen. Ich schnaufte kurz zur Seite. »Das ist verdammt dämlich, weißt du das?« »’Yoshi’ ist genauso dämlich.« »Aber nicht so dämlich wie ‚Zwerg’.« »Mal sehen wie immun du bist, wenn ich dich ab jetzt immer so nenne.« »Sehr immun. Jedenfalls so lange, bis ich dich verprügele, wie die kleinen Kinder in der Schule, die mich immer gemobbt haben.« »Du willst dich mit mir anlegen? Dass ich nicht lache!« »Pass auf was du sagst!«, drohte ich ihm.   Es war wie im Kaufhaus, als es um das Bedürfnis ging, sein T-Shirt zu sehen. Wir beide grinsten uns hämisch an und stachelten uns gegenseitig hoch. Ich hatte diesen Drang ihm eine rein zu hauen. In sein perfektes Gesicht, dass keine Makel aufwies. In sein perfektes Gesicht, dass mich so fies ansah. In sein perfektes Gesicht, damit es nicht mehr perfekt war. »Zwergchen.«   Sofort sprang ich rüber auf mein Bett, ergriff seine Arme und riss sie zur Seite. Er schrie einen Kampfschrei aus, ich schrie irgendwelche Wörter, die ich selber nicht ganz verstand und wühlte mit ihm in meinem Bett rum. Das Kissen verabschiedete sich auf den Boden und die Decke legte sich vereinzelnd auf uns. Er lachte, ich auch. Er kratzte mich und ich kratzte ihn. Er zog mir an den Haaren, ich ebenfalls. Es war eine Rangelei à la Zwillinge. Nach wenigen Minuten waren wir beide schon erledigt, doch wir rangelten weiter. Immer weiter.   Bis sich unsere Beine ineinander verhakten und wir uns gegenüber saßen. Unsere Nasenspitzen berührten sich leicht. Mit zerkratzen Händen und Armen hielten wir uns gegenseitig fest. Unsere Blicke trafen sich. So verharrten wir für wenige Sekunden. Seine Augen glitzerten auf und ich versank wieder in ihnen. Auch er schien nicht ganz bei Sinnen zu sein, denn auch er löste sich nicht von meinen Augen.   Plötzlich näherten wir uns wieder. Es war so still im Raum. Niemand sagte etwas, nur unser schneller Atem war zu hören. Ich spürte seine Porzellanhaut auf meiner. Seine kalten, dünnen Finger strichen über meine Arme. Unsere Lippen berührten sich schon fast. Wir schlossen schon unsere Augen und warteten die sinnliche Berührung ab.   … »Wenn wir Hunger haben, wirken wir aber noch anziehender als sonst. Also wenn du Kiyoshi plötzlich nahe kommen möchtest, dann tu es lieber nicht.« …   Sofort wich ich zurück. Ich stieß Kiyoshi von mir und sprang aus dem Bett. Außer Atem und wie aus der Trance erwacht, sah ich ihn entsetzt an. Der, ebenfalls etwas perplex, blickte mich durch seine verwuschelten Haare an. Er schüttelte leicht den Kopf, dann richtete er sich wieder etwas auf. »W-Was ist los …?«, fragte er vorsichtig. »Was los ist? Da war es schon wieder! Diese Anziehung! Chloe hatte Recht. Wenn ich mich zu dir hingezogen fühle, sollte ich es liebe nicht zulassen, sonst ende ich wieder als dein Leckerbissen«, sagte ich aufgebracht in einem schon etwas lauteren Ton. »Wie bitte? Das ist doch absurd!«, rief er empört. »Absurd klingt das für mich weniger.« »Ich sag dir mal, was Sache ist: Wenn ich durstig wäre, würde ich nie zu dir kommen und schon fast darauf warten, dass ich dich beißen darf.« »Ach ja? Und …-« Plötzlich knurrte mein Magen verdammt laut. Ich wurde leicht rötlich und hielt mir die Hände vor den Magen. Kiyoshi starrte auf meinen Bauch und musste hämisch grinsen. »Ich glaube, du bist diesmal derjenige der Hunger hat.« »Das findest du wohl urkomisch, hä?«, fauchte ich ihm entgegen. Sofort versiegte sein Lächeln. »Nein, das finde ich weniger komisch, weil du die Schuld wieder mal auf mich schieben wolltest. Das finde ich nicht lustig.« »Tz, verständlich, oder? Wenn du doch die letzten paar Male dafür verantwortlich warst?« »Fürs Blutaussaugen bin ich verantwortlich, ja, aber für unseren Kuss wohl weniger.« »Wer weiß, wer weiß.« »Zwerg …«, mahnte er mich und verschränkte die Arme. »Yoshi …«, mahnte ich zurück und äffte ihn nach, indem ich auch meine Arme vor der Brust verschränkte. Nach wenigen Sekunden seufzte er. Dann griff er zur Kom­mode und schnappte sich das schwarze Döschen. Er machte es auf und nahm eine Tablette. »Hier.« Er hielt mir die kleine rote Tablette entgegen und wartete, dass ich sie mir wohl nehmen würde. »Ich will was Richtiges zu Essen«, motzte ich und drehte meinen Kopf zur Seite. Kiyoshi zog eine Augenbraue hoch und ließ die Tablette in der Dose verschwinden. »Und was versteht der Herr unter etwas ‚Richtigem’?« »Menschliches Futter«, spottete ich und ging zur Tür. Ich drehte mich kurz vor der Tür noch einmal um. »Sorry, Kiyoshi, du bist nicht aus Cheeseburger, sonst würde ich auch an dir knabbern.« Damit verschwand ich aus meinem Raum. Ich ging schnurstracks den matt belichteten Flur entlang. Ich hörte keine Schritte hinter mir, also ging ich davon aus, dass er in meinem Zimmer bleiben würde.   »Sehr lustig.« Ich erschrak und drehte mich zur Seite. Da lief Kiyoshi neben mir her. Ich blieb kurz stehen und sah auf seine Füße. Sie bewegten sich und kamen auch auf dem Boden auf, aber er machte keinerlei Geräusche. »Schwebst du, oder so?«, fragte ich perplex. »Klar, ich kann fliegen.« »Kannst du nicht.« »Natürlich nicht.« »Also?« »Hol dir deinen Cheeseburger, den wir nicht haben.« Ich verdrehte die Augen und schnappte mir Kiyoshi am Handgelenk. »Wir machen uns jetzt welche«, befahl ich schon fast. Ich wollte losgehen, doch er blieb stehen. »Zwerg, denk nach«, seufzte er. »Ja, ich weiß, du darfst nichts Menschliches essen. Wir machen einen spezial Cheeseburger für dich. Wirst sehen, den darfst du bestimmt essen.« Ich grinste ihn siegessicher an, doch er verzog ein ungläubiges Gesicht. »Wer’s glaubt.« »Was würde denn passieren, wenn du richtiges Essen ver­putzen würdest?« »Ich würde glaube ich kotzen.« »Im Ernst?« »Ja.« »Ist doch nicht so schlimm.« »Ich will aber nicht jedes Mal kotzen, wenn ich was probiere.« Ich zuckte mit den Schultern. Dann zog ich ihn mit mir. Wir rannten die Treppe runter und wollten schon nach links abbiegen, da kam unser Vater aus dem Wohnzimmer. Sofort wendete Kiyoshi seinen Blick ab und versteckte sich halb hinter mir. »Hallo Hiro«, begrüßte er mich freundlich. »Hallo Vater.« »Was hast du denn vor?« »Mit Kiyoshi kochen.« Diesmal bezog ich ‚Ich koche’ mit vollster Absicht auf mich. Auch wenn es mir weniger gefiel. »Aber das musst du doch nicht. Mamoru macht doch das Essen.« Er schien voll und ganz Kiyoshi zu ignorieren. »Ja, aber Kiyoshi und ich wollen uns was Eigenes machen.« »Was hast du denn vor?«, fragte er neugierig, noch immer mit einem Lächeln. »Vater, wir sind zu zweit. Immer noch.« Sein Lächeln versiegte und er schien an meinem sturen Blick zu merken, dass ich auf einen Plural bestand. »Dann macht was ihr wollt, aber versaut die Küche nicht so«, sagte er zwar immer noch freundlich, aber nicht mehr nett. Damit ging er dann die Treppe hoch und bog nach rechts in den geheimnisvollen Raum ab. Kiyoshi und ich warteten eine Weile im Foyer, bis sich die Tür schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)