My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 11: Chloe ----------------- Die Straße, auf der wir gingen war klein und hauptsächlich nur für Fußgänger gedacht. Trotzdem stand ein blauer Van am rechten Straßenrand vor einem kleinen weißen Haus. Das Gebäude wirkte nett und freundlich, da vor den Gardinen am Fenster kleine Blumen standen, die von der Sonne angestrahlt wurden. Der Van dagegen sah dreckig und verbeult aus. Als wir beide an dem Auto vorbeigingen, spähte ich kurz rein und wendete mich sofort wieder ab, da es da drin auch nicht besser aussah.   Kiyoshi ging so schnell, dass ich schon fast rennen musste. Dabei waren unsere Beine gleich lang, trotzdem konnte er seine schneller bewegen. »Kiyoshi! Warum rennst du so?«, rief ich ihm hinterher und rannte schon hin und wieder ein kleines Stück. »Im Gegensatz zu dir, gefällt mir diese prallende Sonne nicht«, antwortete er stur und drehte sich nicht einmal um. Sein Stechschritt verlangsamte sich kurz, als wir an der Kreuzung waren. Er bog scharf nach rechts. Ich folgte ihm und schon standen wir in einer kleinen Gasse. Nicht mal ein Auto würde hier durchpassen. Auf der rechten Seite stand an einer Wand ein Zigarettenauto­mat. Und diese Wand gehörte einem Laden.   »Bestattungen … Ziemlich kranken Humor haben die Leute hier«, murmelte ich vor mich hin. Kurz nach dem Bestattungsladen folgte auch schon der nächste. Vor dem blieb Kiyoshi stehen. Dieser kleine Laden mit keinem Schaufenster und keinem Schild, war in einem sehr alten Mauerwerk, ganz im Gegensatz zu den restlich doch relativ neuen Gebäuden. Efeu wuchs eine Regenrinne hoch und die Tür war mit schwarzen Verschnörkelungen verziert. Alles sehr barock. Er blickte mich an und wartete die letzten Meter, bis ich ihn erreichte. »Zieh deine Jacke an«, sagte Kiyoshi auffordernd. »Was? Ist das ein Befehl?«, gab ich eingeschnappt zurück. »Ja, ist es. Nun zieh schon an, Hiro.« Seufzend lockerte ich meine schwarze Sweatshirtjacke von meiner Hüfte und zog sie an. Mir war schon nach wenigen Sekunden zu warm. »Verhalte dich ruhig, okay?«, meinte Kiyoshi und griff nach der Tür. Sie war schwarz mit getönten Scheiben und einer waagrecht angebrachten Metallstange. »Wieso? Fressen die mich da drin auf, wenn ich was sage?«, spottete ich und verschränkte die Arme. Mein Bruder seufzte und schüttelte den Kopf. Ich wusste zwar, was er meinte, machte aber trotzdem meine Späßchen. Nun hieß es also: So verhalten wie mein Bruder. Immer schön vampirisch wirken. Ich musste innerlich etwas lachen, obwohl das mehr aus Verzweiflung entstand.   Kiyoshi öffnete die schwere Tür und wir betraten einen Raum, der so dunkel war, dass ich meine eigenen Füße nicht mehr sehen konnte, als die Tür wieder ins Schloss fiel. Es war nicht nur dunkel, sondern auch verdammt kalt. Jetzt wusste ich, wieso ich eine Jacke mitnehmen sollte, da höchstens zehn Grad in diesem Raum herrschten. Es war einen kurzen Moment lang still. Ich hörte weder Schritte noch sonst irgendetwas. Nur mein Herz, das in diesem Moment so viel Blut pumpte, dass ich fast umgefallen wäre. Auf einmal spürte ich eine Hand um mein Handgelenk. Sie war kalt und löste bei mir Gänsehaut aus. Ich hoffte innerlich, dass es sich hierbei um Kiyoshis Hand handelte und nicht um eine andere vampirische Hand. Die Hand zog mich ein kleines Stück mit sich, bis ich an einem Widerstand stehen blieb. Es fühlte sich an wie ein hoher Tisch oder eine Theke.   Dann ging das Licht an. Erst wurde ich leicht geblendet, doch dann verschwand der Lichtstrahl aus meinem Gesicht. Ich schaute auf und erblickte eine Frau. Der Raum war klein und hinter der Theke war schon die Wand mit einer kleinen Tür. Links daneben standen ein paar Regale und zwei Kühltruhen. Die Frau hatte lange braune Haare, die lockig über ihre Schultern lagen. Ihre Augen waren stark geschminkt und ihre Nägel in einem knalligen pink lackiert. Sie trug ein schwarzes Top mit einer auffälligen Aufschrift, die ebenfalls knallig pink war. Der Ausschnitt zeigte sehr viel von ihrem Busen, der zum Verhältnis ihrer schlanken Figur, relativ groß war. Anscheinend trug sie keinen BH, da man leichte Züge ihrer Brustwarzen auf dem Top sah. Außerdem trug sie einen verdammt kurzen, ausgefransten Minirock aus Jeansstoff, wo jeder Gedanke in mir hoffte, dass sie wenigstens darunter etwas anhatte. Ich schätzte sie vom Aussehen her auf Mitte zwanzig. Sie stand hinter der Theke und ihre großen blauen Kuller­augen sahen mich verwundert an, während ihre Hände noch auf der Lampe lagen, die mich wohl geblendet hatte.   »Oh … Entschuldige bitte, dass ich dich angeleuchtet habe«, sagte sie. Ihre Stimme war sehr hoch, doch sie passte zu ihrem Aussehen. »Kein Problem …«, murmelte ich und mein Blick fiel auf ihre Haut. Sie war kahl und weiß. Ihre Adern und Venen stachen wie bei Kiyoshi blau und grün heraus. Trotz allem wirkte sie sehr attraktiv. Was ich aber noch lange nicht als anziehend empfand. Sie war also auch ein Vampir. »Seit wann hast du denn deinen Klon mit dabei?«, fragte die Frau und sprach dabei wohl mit Kiyoshi. Der stand noch regungslos neben mir und bemerkte meine neugierigen Blicke an dieser Frau gar nicht. »Er ist nicht mein Klon, sondern mein Bruder«, brummte er und sah sie dabei nicht sehr freundlich an. Ich zog meine Augenbraue hoch und dachte nur: Was für ein Muffel.   »Du hast einen Bruder?«, brachte sie freudestrahlend hervor. Dabei legte sie ihre Handflächen aufeinander und sah mich wieder mit ihren großen Kulleraugen an. Als mir in dem Moment keine passende Reaktion einfiel, streckte sie ihre Hand aus. »Mein Name ist Chloe! Und wie heißt du?« Sie strahlte über das ganze Gesicht und schien sich richtig zu freuen. »Äh … Ich heiße Hiroshi … Aber nenn mich Hiro, bitte«, stotterte ich vor mich hin, da ich so eine menschliche Reaktion gar nicht gewohnt war. War sie vielleicht doch ein Mensch? »Wah, ist ja Wahnsinn! Dass die Kabashi Familie doch noch ein Mitglied hat, ist ja selbst mir neu«, sagte sie aufgeregt und hüpfte hin und her. Dabei hielt sie meine Hand noch mit beiden Händen fest. »War es mir aber bis vor kurzem auch noch …«, seufzte ich mit einem leichten Grinsen auf den Lippen. »Wie?«, fragte sie neugierig und drehte ihren Kopf dabei leicht zur Seite. »Genug des Vorstellens. Wir suchen die Dinge, die Vater braucht«, brummte Kiyoshi wieder, packte mich am linken Oberarm und zog mich von Chloe weg. »Kiyoshi! Lass mich doch mit deinem Zwilling reden!«, meckerte sie und stützte sich dabei auf die Theke. Ihre großen Brüste lagen dabei mit auf der schwarzen Oberfläche. Ich verdrehte leicht die Augen, damit ich nicht die ganze Zeit auf ihre Brüste starrte. »Lass ihn einfach, Chloe«, zischte Kiyoshi und zog mich weiter. Plötzlich stockte Chloe und machte ein entsetztes Geräusch.   »Du bringst einen Menschen in meinen Laden?«, fragte sie und riss ihre Augen noch weiter auf. Dabei glänzten sie so, wie sie immer bei Kiyoshi leuchten, wenn er an Blut denkt, es sieht oder schmeckt. Mein Herz raste weiterhin und mein Adrenalin­spiegel stieg rapide an. »Chloe …«, mahnte Kiyoshi die Frau hinter der Theke und stellte sich schon fast schützend vor mich. Wie ein kleines Raubtier bewegte sie ihren Hals um an Kiyoshi vorbeizuspähen. Sie grinste etwas. Doch so schnell wie das Grinsen gekommen war, versiegte es auch wieder. Ihre Augen normalisierten sich etwas und sie richtete sich wieder normal auf. Mein Atem stockte für einen kurzen Moment, doch als sie wieder in ihren Normalzustand überlief, entspannte ich mich. »Du hast ihn gebissen …«, sagte sie so leise, dass es kaum hörbar war. Die Augen meines Bruders verformten sich zu schlitzen. »Die Verwandlung ist fehlgeschlagen, Kiyoshi. Er hat nicht dein Blut getrunken, sondern das eines anderen. Wie nachlässig von dir.« Dabei verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust. Ihr Blick verdüsterte sich. »Du weißt, was er wird.« »Das geht dich nichts an, Chloe«, zischte Kiyoshi erneut und war wahrscheinlich kurz davor den Laden wieder zu verlassen. »Was sagt Fudo dazu?«, fragte sie und ließ ihrem finsteren Blick freien Lauf. »Er wird sicher nicht begeistert sein, dass sein einziger menschlicher Sohn kurz davor ist zu sterben.«   »Halts Maul!«, schrie Kiyoshi plötzlich.   Chloe zuckte zusammen und auch ich riss meine Augen dementsprechend auf. Kiyoshi hatte einen Wutanfall? So etwas Menschliches hat er ja noch nie gemacht. Chloe seufzte laut und winkte ab. »Ist ja gut, ist ja gut. Fang nicht gleich an, den bösen Blut­sauger zu spielen«, sagte sie sarkastisch. Dann grinste sie wieder breit. »Mach dir nichts draus, Hiro. Vampir sein hat auch seine Vorteile.« »Die wären?«, fragte ich ungläubig und stützte mein Kinn etwas auf Kiyoshis Schulter ab. »Fängst du schon wieder damit an?«, zischte er mir zu und drehte sich etwas zu mir. »Es gibt ja auch nichts Gutes! Jedenfalls hast du mich noch nicht vom Gegenteil überzeugen können.« »Der kann dich auch sicher nicht überzeugen …«, warf Chloe ein und verdrehte gespielt die Augen. Sie schien ihn also nicht sehr zu mögen. Kiyoshi seufzte genervt und ging weiter in den kleinen Raum hinein zu den Kühltruhen. Da es nur geringfügig heller war als vorher, sah ich ihn nach wenigen Metern Entfernung nicht mehr. Ich drehte mich wieder zu Chloe, die grinste mich freundlich an. Noch etwas zögernd, ging ich zu ihr zur Theke. »Na? Fühlst du dich schon anders?«, fragte sie freundlich und legte ihren Kopf etwas zur Seite. »Hm. Ich fühle mich eigentlich schon seit dem ich hier zu meinem Vater und meinem Bruder gekommen bin sehr komisch«, versuchte ich zu Spaßen, doch Chloes Lächeln versiegte. »Wirklich? Aber Fudo ist doch nett. Er ist immer freundlich und höflich.« »Ja, natürlich. Aber die Atmosphäre ist für einen Menschen schon etwas seltsam.« »Hast du auch wieder recht. Wir haben eine andere Aura auf euch Menschen. Wir wirken anziehend, wusstest du das?« Dabei lachte sie etwas und zwinkerte mir zu. »Nein, wusste ich nicht«, lachte ich, »aber ich glaube, ich bin davon nicht betroffen.« »Och, ich glaube schon. Ihr Menschen habt zwar im ersten Moment Angst vor uns, aber danach wirken wir so unglaublich attraktiv und anziehend auf euch, dass ihr am liebsten nur noch in unserer Aura versinken möchtet.« Chloe verfinsterte ihre Miene, grinste aber noch. »Dass ist dafür, dass wir besser und schneller an unsere Beute kommen.«   Mein Gesichtsausdruck fiel wohl in sich zusammen, denn Chloe lachte los und rief so etwas wie: »Dein Blick!« Ich fand das weniger lustig. Sie hatte nämlich recht. Wenn ich mich fade zurückerinnerte, habe ich mich damals auch Kiyoshi einfach so hingegeben. Ich wollte seine Haut an meiner spüren. Meine Angst stieg mir zwar bis in die Fingerspitzen, trotzdem wollte ich bei ihm sein. Er wirkt also so gegensätzlich auf mich, weil er so eine anziehende Wirkung auf mich hat. Das würde wiederum erklären, wieso ich ihn geküsst … »Alles in Ordnung, Hiro?«, fragte Chloe und schnippte vor meinem Gesicht rum. »Oh, ja. Tut mir Leid.« »Du warst grade so abwesend. Hat dich das so geschockt?« Dabei sahen mich ihre großen blauen Augen erneut an. »Nein, nein. Eigentlich nicht.« Ich grinste sie etwas an und damit wollte ich das Thema beenden. Sie nickte. »Wenn wir Hunger haben, wirken wir aber noch anziehender als sonst. Also wenn du Kiyoshi plötzlich nahe kommen möchtest, dann tu es lieber nicht.« »Okay … Danke für den Tipp«, lachte ich gequält und kratzte mich etwas verlegen am Nacken. Hätte man mir das nicht mal früher sagen können?   »Weißt du, Vampir-Sein ist zwar nicht immer Stressfrei, aber es ist oft angenehm.« Ich sah sie fragend an, dann fuhr sie fort: »Du kannst zwar Tagsüber nicht so freizügig rumlaufen, dafür hast du aber die ganze Nacht nur für dich. Du benutzt also sozusagen den ganzen Tag, vierundzwanzig Stunden lang. Vampire brauchen nicht so viel Schlaf, wir können sogar eine Woche ohne Schlaf aushalten. Wir brauchen keine teuren Lebensmittel kaufen, denn uns reicht das Blut aus der Blutbank. Jeder hat seine Lieblingsblutart. Ich mag zum Beispiel am liebsten A+. Aber das gibt es leider so selten. Und wir Vampire können viel schneller Laufen als Menschen. Wir brauchen nämlich kein Auto oder derartiges für kürzere Strecken, die laufen wir genauso schnell. Und überhaupt, es gibt so viele Dinge, die toll an Vampire sind. Ich glaube, an uns Vampiren finden die Menschen die Unsterblichkeit am Besten. Wer will schon nach circa neunzig Jahren sterben?« Dann lachte sie wieder etwas und grinste mich glücklich an.   »Halt keine Vorträge, kassier das hier lieber«, brummte Kiyoshi von meiner linken Seite aus und stellte einen Korb auf die Theke. Chloe seufzte und verdrehte die Augen. »Ich versuche nur deinem Bruder sein neues Leben näher zu bringen, dass du ihm ja beschert hast. Es wäre deine Aufgabe, ihm sein neues Leben schöner zu machen, indem du ihm positive Argumente bringst und nicht nur negative zeigst.« »Mach einfach.« Kiyoshi deutete auf die Gegenstände hin. Ich starrte fassungslos auf den Haufen im Korb.   Darin enthalten waren bestimmt sechs Blutpackungen, zwei Packungen mit den roten Tabletten, Kanülen mit Spritzen, Pipetten und eine Packung blutdurchtränktes Fleisch. Meine Augen weiteten sich, als Chloe das Zeug einzeln aus dem Korb nahm und es mit dem Strichcodeleser kassierte. »Heute so wenig?«, fragte sie monoton. »Ist ja auch nur für ihn«, murmelte Kiyoshi und deutete auf mich. Sofort sah Chloe zu mir. »Findest du das nicht was übertrieben? Du hast ihn doch erst vor kurzem gebissen, ich kann seine offene Wunde doch noch riechen.« »Es kann jeden Moment passieren. Außerdem ist das nur die Einkaufsliste von meinem Dad, ich habe da keinen Einfluss drauf.« Sie seufzte wieder und widmete sich weiter dem kassieren. Ich fühlte mich so schlecht, als wäre ich zu Stein geworden. »F-Für mich?«, stotterte ich vor mich hin und sah Kiyoshi entsetzt an. »Wenn du erst mal soweit bist, findest du das auch lecker«, strahlte Chloe mich an und grinste. »Hm … Okay … Wenn du das sagst«, murmelte ich und sah zu, wie sie das Zeug in eine Tüte packte. Kiyoshi bezahlte und nahm die Tüte entgegen. Ich wusste nicht, wie viel es kostete, da Chloe weder den Preis sagte, noch ich so schnell zählen konnte, wie viel sie Kiyoshi zurückgab, noch was er gegeben hatte.   »Wir gehen. Bis dann, Chloe«, murmelte Kiyoshi und ging zur Tür. Vorher zog er sich seine Kapuze wieder auf und vergrub seine eine Hand, mit der er die Tüte trug, in seinem Jacken­ärmel, damit sie nicht der prallen Sonne ausgesetzt war. Ich wollte ihm schon folgen, da packte mich Chloe am Ärmel und flüsterte mir etwas zu: »Hey, Hiro. Wenn der Kerl dich mal nervt oder du was wissen willst, kannst du immer vorbeikommen. Ich mach dir dann eine heiße Milch. Und bei Bedarf auch mit etwas Blut drin.« Sie lächelte freundlich und ließ mich dann wieder los. Ich nickte und bedankte mich. Milch mit Blut klang zwar etwas eklig, aber sie meinte es ja nur gut. Ich verabschiedete mich freundlich von ihr und winkte, während ich zum Gehen ansetzte. Dann ging auch ich aus dem Laden, wo Kiyoshi schon wartete. Sofort schälte ich mich aus der Jacke, da die Sonne eine gewaltige Kraft auf mich hatte. Es war schön warm im Gegensatz zu da drinnen. Ich erhaschte noch einen kurzen Blick in den Laden, wo man durch die getönten Scheiben noch etwas Licht erkennen konnte. Dann erlosch auch dieses Licht und der Laden sah wieder so aus wie vorher: düster und dunkel.   »Sie ist ein lustiger Vampir«, murmelte ich vor mich hin und vergrub meine Hände in meinen Hosentaschen. »Sie labert mir zu viel«, entgegnete mir Kiyoshi mit grimmiger Miene. Es missfiel ihm etwas, das war unübersehbar. »Du magst sie also nicht?« »Doch, schon. Sie war die einzige damals, als wir hierhin gezogen sind, mit der ich spielen konnte. Aber da ging sie mir mit ihrem dummen Getue auch noch nicht so auf die Nerven.« »Na ja. Also so schlimm ist es jetzt auch nicht«, versuchte ich ihr wirklich leicht dummes Geschwafel ins Positive zu ziehen. »Du scheinst dich ja prächtig mit ihr zu verstehen.« Aha. Da haben wir’s doch. Das ist also der Punkt, der ihm missfällt. Ich verstehe mich gut mit Chloe und er hat Probleme mit ihr. »Du magst es also nicht, dass ich mich gut mit ihr verstehe?«, hakte ich nach und grinste dabei etwas verschmitzt. Während wir unser mehr oder weniger gutes Gespräch führten, gingen wir langsam die kleine Straße wieder zurück, von der wir auch kamen. »Nein, das ist es nicht.« Als er nichts weiter sagte, musste ich ihn einfach weiter ausquetschen: »Sondern?« »Ich mag sie einfach nicht so. Und es war mehr eine Feststellung, dass du dich gut mit ihr verstehst.« Ich musste leicht in mich hineingrinsen. Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Der Gedanke gefiel mir auf eine Weise, weswegen ich auch ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen bekam. »Was grinst du so?«, fragte Kiyoshi genervt und schien zu erahnen, was ich dachte. »Nur so«, meinte ich und sah mich in der Gegend um, so als ob nichts wäre. »Wehe du denkst jetzt, ich sei eifersüchtig«, zischte er und sah eingeschnappt zur Seite. »Nein, nein …« Ich musste etwas kichern. Zu spät. Ich dachte es schon. Mein Blick fiel zu ihm, als er zur Seite schaute. Kurz erblickte ich einen Teil seines Gesichtes und er war leicht rosa an den Wangen. Wie niedlich, dachte ich bei mir und grinste fröhlich weiter. Er scheint mich also doch etwas zu mögen.   Als wir wieder am Westtor ankamen und wieder jenseits der normalen Welt standen, dachte ich noch mal über die ver­gangenen Tage nach. Ich war jetzt ein Noneternal. Seltsame Vorstellung kein Mensch mehr zu sein. Ich war ein halbes Monster geworden. Wenn ich in den Spiegel blickte, dann sah ich nicht mehr mich, sondern jemand anderen. Das war nicht ich. Mein Leben endete hier. Traurige Vorstellung eigentlich. Kiyoshi und ich schlurften den etwas sandigen Walsweg entlang. Die Sonne schien prall auf uns herab. Kiyoshi schien wieder zu leiden. »Ich dachte immer, dass es im Norden in der Sommerzeit mehr regnen würde …«, sagte ich zu ihm. Er schien es erst nicht wahrgenommen zu haben, dass ich etwas sagte, doch dann drehte er seinen Kopf zu mir. »Normalerweise tut es das auch. Doch auch der Norden hat manchmal seine Sommertage.« Ich nickte und grinste traurig. Dabei starrte ich den Boden an und versank in meinen Gedanken. »Stimmt etwas nicht, Hiro?«, fragte mein Bruder und kam mir mit dem Gesicht etwas näher. »Wenn es also so weit wäre … müsste ich Mom dann auch verlassen, stimmt’s?« Meine Stimme versagte zwischendurch mal, weil ich mir wie immer meine Tränen unterdrücken musste. Ich sterbe und ich muss alles zurück lassen. Ich wurde ermordet. Durch die Zähne meines Bruders. Ich sollte ihn hassen …   »Wenn du es in der Sonne weiterhin gut aushaltest, kannst du auch dort bleiben, obwohl es mit der Schule schwierig werden würde«, sagte Kiyoshi und versuchte mir anscheinend ein paar Hoffnungen zu machen. Ich schüttelte leicht den Kopf. »Abwarten was passiert. Du weißt ja, ich habe mich noch nicht entschieden.« Damit blieb Kiyoshi stehen. Er blickte mich entsetzt an und versuchte sein perfektes Gesicht seinen menschlichen Zügen freien Lauf zu lassen. »Du willst immer noch lieber sterben als ein Vampir zu werden?« Ich blieb ebenfalls stehen, doch mit einem Abstand von circa zwei Metern. Ich sah ihn mit einem Lächeln an und versuchte damit den Ernst der Situation zu entlasten. »Die Wahl liegt bei mir, hast du gesagt. Und ich habe mich noch nicht entschieden. Wenn ich lieber sterben wollen würde, dann hätte ich mich ja schon entschieden.« »Hiro, das ist Irrsinn. Du solltest leben und nicht sterben. Außerdem -« »Ich bin doch schon halb tot!«, unterbrach ich Kiyoshi und ließ mein Lächeln sofort versiegen. »Nein, Hiro, das bist du nicht. Ich bin halb tot -« »Du bist tot. Das hast du gesagt und ich glaube das auch. Du und Vater, ihr beide seid nicht normal. Ihr seid Monster. Blutrünstige Monster. Und Mom wusste das, deswegen hat sie dich weggegeben.« Kiyoshi knirschte kurz mit den Zähnen und verkrampfte seine Hand an der Tüte. »Schön, dass du das behalten hast«, zischte er durch seine zusammengedrückten Zähne und funkelte mich böse an. »Allein die Vorstellung, zu leben und dabei tot zu sein, ist für mich eine Tortour. Dann soll ich das also auch noch durch­machen? Vergiss es.« »Tja.« »’Tja’?«, wiederholte ich seine arrogante Antwort. Sofort sah ich an seinem Blick, dass seine Vampirzüge wieder voll und ganz zur Geltung kamen. Anmutig und selbstbewusst richtete er sich auf und starrte mich mit verachtenden Augen an. Diesmal konnte mir niemand mehr erzählen, dass er das aus dem Unterbewusstsein tat. Das machte er mit vollem Be­wusstsein. Aus voller Absicht. »Alles was du dazu zu sagen hast, ist ‚tja’?« »Ja. Mach doch, was du willst. Dich zwingt niemand, irgend­ein ‚blutrünstiges Monster’ zu werden. Du kannst dich auch deinem Schicksal hingeben und einfach sterben, wenn es soweit kommt. Glaube mir, er wird nicht angenehm werden.«   In meinen Augen sammelten sich erneut Tränen. Es waren aber keine traurigen Tränen, diese waren gefüllt mit Wut. Wut über Kiyoshi und meinen Vater. Auch wenn Fudo sehr wenig dafür konnte, hatte er doch eine Mitschuld daran, mich einfach dieser Gefahr auszusetzen. Meine Mutter kam entsprechend dazu. Doch die Hauptschuld an meinem Tod trug Kiyoshi und er nahm es auch noch locker hin. Er hatte sich zwar dafür entschuldigt, aber mal im Ernst: Das bringt mir mein Leben auch nicht wieder. »Danke für den Tipp, Brüderchen. Ich sollte dich abgrundtief hassen. Dafür, dass du mir das angetan hast.« »Mich hassen? Das hast du dir schön selber zugefügt. Ich gebe zu, dass, wenn ich dich nicht fahrlässig gebissen hätte, die Voraussetzung für dieses Dilemma nicht gegeben gewesen wäre, aber im Endeffekt hast du dir das selber eingebrockt.« »Ich mir selber? Du spinnst ja wohl! Ich habe früher auch einfach mal Blut geleckt, da ist nie irgendetwas passiert und plötzlich trinke ich euer Synthetik-Zeug und schon verwandle ich mich in ein Monster! Kannst du nicht ein bisschen verste­hen, wie ich mich gerade fühle?« Und da kullerte schon die erste Träne meine Wange runter. Kiyoshi sah mich ausdruckslos an und in seinen Augen war noch immer dieser verachtende Blick zu spüren. »Nein. Kein Stück«, brachte er raus und starrte mich weiter an. Meine Augen öffneten sich ein Stück, ich drehte mich stur um und rannte zum Hauseingang. Dort machte mein Vater gerade die Tür auf. Ich stürmte rein und rannte die Treppe hoch in mein Zimmer. In der Tat war ich darüber überrascht wie schnell ich es erreichte. Ich rannte definitiv schon schneller als vorher. Ich knallte mit einem lauten Schlag die Tür zu. Danach trat Stille um mich herum ein.   Ich ließ mich erschöpft auf meinem Bett nieder. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und weinte in sie herein. Ich schluchzte immer wieder auf. Meine Verzweiflung stieg mir in den Kopf und alles wollte auf einmal raus. Alles war in diesem Moment zerstört. Mein Glück, meine Freude, meine Hoff­nungen, mein Lächeln und mein Leben. Ich griff mir mit meinen Händen in die Haare und packte etwas zu. Sofort erinnerte es mich an den Moment, wo Kiyoshi meine Kehle entblößte und dabei mit seiner Hand meine Haare nach hinten zog. Sofort schluchzte ich erneut auf und biss die Zähne aufeinander. Wie oft habe ich mir schon im Unterbewusstsein gesagt, dass ich stark sein musste. Einfach versuchen alles mit Spaß und Freude zu sehen. Versuchen, einfach durchzu­kommen. Irgendwie. Doch nun konnte ich nicht mehr. Kiyoshi war ein Arschloch, ein Monster, das alles in mir zerstört hatte. Und alles was er mir entgegenbringen konnte, war Arroganz und Egoismus. Jetzt war alles vorbei.   Doch ich konnte an kein Ende denken. Ich löste mich kurz aus meinen Händen und versuchte mit verschwommenem Blick zu sehen. Meine Vorhänge waren leicht zusammengezogen und lie­ßen etwas Licht in den Raum. Sie zauberten eine schöne Atmosphäre, die mich noch trauriger machte. Sie erinnerte mich an unser großes Wohnzimmer. Wir hatten an einem Fenster auch lange Vorhänge, die, wenn die Sonne schien, ein bisschen Licht durchließen. Es war immer schön dann auf dem Sofa zu sitzen und in den Himmel zu schauen. Einfach zu träumen und an Nichts weiter zu denken. Keine Sorgen zu haben. Nur für einen kleinen Moment. Ich stand auf und zog den Schreibtischstuhl vor das Fenster. Ich öffnete es einen Spalt und setzte mich auf den Stuhl, sodass ich mich auf der Lehne aufstützen konnte. Ich blinzelte leicht, eine letzte Träne floss über meine Wange und tropfte auf meinen Arm. Ich legte meinen Kopf auf die Lehne und starrte aus dem Fenster. Die Bäume wehten ein wenig im Wind und ließen die Sonne auf den Boden. Wenige Wolken schwebten langsam am Himmel. Einige Vögel saßen auf den Ästen und zwitscherten vor sich hin.   Ich genoss den Moment und versuchte wieder einmal alles zu vergessen. Es war erst schwer, doch plötzlich wusste ich gar nicht mehr, wieso mein Herz so schwer war. Es war einfach nur noch schwer. Es weinte weiter und erholte sich nicht, doch ich selber konnte abschalten. Wenn auch nur für einen Moment. Nur ganz kurz. Aber es tat gut.   Plötzlich hörte ich Geschrei. Es kam aber nicht von draußen, sondern aus der Villa. Es hörte sich grauenhaft an … Sofort öffnete ich meine Augen und drehte mich zur Tür. Langsam stand ich auf und wollte nachsehen, wieso diese grauenhaften Schreie in unserem Haus waren … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)