My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 9: Schicksal -------------------- Als ich wach wurde, lag ich in meinem Zimmer. Die Roll­läden waren heruntergelassen und der Raum wurde in eine gemütliche Atmosphäre getunkt, da die Sonne halb durch die Fensterscheiben schien. Der           dunkelrote Vorhang war zur Hälfte vor die Fenster gezogen, sodass ein Rotschimmer sich über das Zimmer legte. Langsam erhob ich mich und setzte mich aufrecht hin. Niemand war in meinem Zimmer, nur ich. Mein Kopf tat fürchterlich weh. Er fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Da es hell war, wollte ich nach der Uhrzeit schauen, doch ich fand nirgends eine Uhr. Erschöpft und in einem elenden Zustand stand ich auf, suchend nach meinem Handy. Erst als ich meine Hose auf dem Stuhl vermisste, bemerkte ich, dass ich angezogen war. Ich fasste mit der rechten Hand nach meinem T-Shirt und zog etwas daran. Es war wirklich das T-Shirt, das ich gestern in der Stadt anhatte. Es war doch gestern, fragte ich mich innerlich. Mit einem Griff in die rechte Hosentasche zückte ich mein Handy und sah, dass ich eine SMS bekommen hatte. Sie war von Jiro. Doch erst wollte ich die Uhrzeit wissen. »Schon dreizehn Uhr …«, murmelte ich, als ich die digitale Handyuhr betrachtete. Ich fasste mir an meinen Kopf und setzte mich wieder aufs Bett. Ich war einfach so erschöpft und müde. Ich berührte den Touchscreen meines Handys und öffnete die SMS.   »Yo. Alles klar, dann guten Appetit. Ich hab mal recherchiert und deine Familie hat einen voll langen Stammbaum, der reicht bis ins 16. Jahrhundert! Wundere mich nur, da gibt’s einen, der heißt wie dein Dad. Erzähl dir mehr am Telefon. Hadde! Jiro«   Meine Familie …? Es machte ‚Plopp’ und schon war alles wieder da. Die Erinne­rung kehrte zurück. Und sofort schmerzte mein Kopf umso mehr. Meine Familie besteht aus Vampiren. Richtige Vampire. Und ich spinne nicht, dachte ich mir und fasste an den Verband an meinem Hals. Es tat nicht mehr allzu sehr weh, aber ein gewisser Schmerz war noch da. Kiyoshi hat mich gebissen. Es tat ihm zwar Leid, aber er hat mir ganze zwei Mal das Blut ausgesaugt. Mein Vater ist auch einer. Und aus Neugierde über den Geschmack von Blut, trank ich dieses Synthetikzeug. Alles zog sich in mir zusammen und ich musste eine Tablette schlucken. Danach bin ich wohl umgekippt oder eingeschlafen. Die Erinnerungen verblassten an der Stelle. Sie taten weh. Es waren Erinnerungen, die ich nicht brauchte. Der Gedanke allein, dass ich in einer Hütte voller Monster saß, ließ eine kleine Träne über meine Wange kullern. Ich war sonst keiner, der sofort heulte, aber das reichte über die Vorstellungs­kraft eines Menschen. Über eigentlich alles Menschliche. Während ich traurig auf meinem Bett saß, versuchte ich über die SMS von Jiro nachzudenken. Die erste Frage, die mir in den Sinn kam, war, wieso Jiro sich überhaupt über meine Familie informierte. Aber das könnte ich ihn ja am Telefon fragen. Die zweite war, wieso es so komisch sein sollte, dass ein Familien­stammbaum bis ins 16. Jahrhundert ging. Die erste richtige Frage war: Wo um alles in der Welt kann man meinen Familien­stammbaum einsehen? Sicher nicht in der Stadtbibliothek. Und in Geschichtsbüchern auch nicht, so was meidet Jiro. Bleibt nur noch das Internet, aber so Stammbäume veröffentlicht man doch nicht. Außer man ist berühmt. Aber das war ich ja nicht. Da kam mir sofort mein Vater in den Sinn. Er war vielleicht berühmt. Und damit man etwas über ihn weiß, veröffentlicht er vielleicht seinen Stammbaum im Internet? Wäre ziemlich dumm, aber heutzutage ist alles möglich, dachte ich und legte mein Handy auf mein Nachttischschränkchen. Da fiel mir eine schwarze Dose auf. Sie war klein und rund. Sie sah aus wie die von Kiyoshi. Vorsichtig machte ich sie auf und seufzte sofort. Darin waren die roten Tabletten. Ich schloss die Dose wieder und legte sie zurück.   War ich jetzt … auch so ein Monster? Aber Kiyoshi hat mir doch gesagt, ich sei kein Vampir ge­worden. Ich hätte doch sein Blut trinken müssen, wenn meine Erinnerung mich nicht täuschte. Langsam stand ich auf und öffnete ein kleines Stück den Vorhang. Die Dunkelheit machte mich wütend. Ich ergriff das Band für die Rollladen und riss es nach unten. Sofort traf mich das grelle Sonnenlicht.   Es war so angenehm, Sonne auf seiner Haut zu spüren. Sofort musste ich grinsen. Ich war kein Vampir. Sonst würde ich schreiend weglaufen oder zusammenzucken. Jedenfalls war das immer so in diesen Filmen. Kiyoshi und mein Vater mussten sich auch immer vor der Sonne schützen, deswegen bestätigte das meine These umso mehr. Ich fühlte mich in meiner eigenen Haut nicht wohl, auch wenn ich mir nun sicher sein konnte, kein Monster zu sein. Vorsichtig öffnete ich meinen Schrank und kramte mir Sachen raus. Der Beschluss zu Duschen kam, als ich auch noch meine fettigen Haare im Gesicht hängen hatte. Als ich vor der Tür stand, atmete ich noch einmal tief ein und aus. Dann drückte ich leise die Klinke runter und öffnete sie. Ich spähte durch den Türschlitz und als ich niemanden sah, tapste ich leise den Gang entlang. Ich bemühte mich möglichst leise zu sein, damit ich auch niemandem begegnen würde. In der nächsten Zeit wollte ich erst mal keinem Vampir begegnen.   Als ich am Bad ankam, klopfte ich kurz an. Es kam keine Antwort, also öffnete ich die Tür. Niemand war im Bad zu sehen. Erleichtert und erfreut, schloss ich die Tür hinter mir und legte meine Sachen auf einer der weißen Schränkchen. Schnell zog ich mich aus und sprang unter die Dusche. Das System war mir zum Glück schon bekannt und es schien sich auch nicht geändert zu haben. Leise brauste das Wasser auf meinen Kopf herab. Erst als ich mir durch meine Haare fuhr und meine Hand an meinem Hals herunter gleiten ließ, merkte ich, dass ich den Verband nicht abgemacht hatte. Vorsichtig und mit Sorgfalt, fummelte ich den Verschluss nach hinten und riss mir schon fast den Verband ab. Schnell warf ich ihn aus der Dusche und schloss die Duschtür wieder. Das Wasser schmerzte etwas an der Wunde. Es war ein heißer Schmerz. Fast genau der gleiche, als er mich biss. Ich kniff die Augen zusammen und ließ das Wasser direkt auf mein Gesicht prasseln. Es war sehr angenehm, aber der Schmerz in meinem Kopf hörte nicht auf. Auch die Schmerzen am Hals und an meinem Handgelenk nicht. Überhaupt tat mir fast alles weh. Wo bin ich da nur rein geraten? Ich war plötzlich wütend. Diese Wut machte mich rasend. Ich suchte die Schuldperson. Meine Mutter war schuld. Sie musste mich ja unbedingt hier hin schicken und das erfahren lassen. Aber wäre mein Vater nicht gewesen, hätte meine Mutter mich erst gar nicht zu ihm geschickt. Sie wusste von dem ganzen und hat es mir nie erzählt. Deswegen mied sie auch immer den Kontakt zu meinem Vater. Be­stimmt jedenfalls. Sie kannte die Gefahr und hat mich ihr trotzdem ausgesetzt. Aber Kiyoshi hat meiner Mutter auch gesagt, er würde mir nichts tun und hat es trotzdem. Er ist schuld. Aber auch meine Mutter. Und mein Vater erst recht, denn hätte er meine Mutter nicht geheiratet, wäre Kiyoshi gar nicht erst hier … Aber ich auch nicht. Was denke ich eigentlich, fragte ich mich und hielt meine Hände vor das Gesicht. Es war zwar sowieso nass, aber ich spürte meine warmen Tränen, wie sie in Richtung Kinn abkühlten und mit dem restlichen Duschwasser gen Boden fielen.   Ich schlug mit voller Wucht gegen die Wand, wo der Dusch­kopf befestigt war. Danach schmerzte mir auch noch die Hand, aber es war kein Vergleich zu dem Schmerz, der mir durch den Hals ging. Als ich meine Augen öffnete, sah ich die rote Flüssigkeit an mir runter fließen. Ich konnte es nicht mehr sehen. Ich wollte es auch gar nicht mehr sehen. Ich schluchzte laut los und kniete mich hin. Immer wieder seufzte ich auf, während ich mein Gesicht in meinen Händen vergrub. Es war zum Verrückt werden. Es war einfach schrecklich. Alles. Meine Familie besteht aus Vampiren. Und ich gehöre dazu? Aber ich bin keiner. Meine Mutter und ich sind die einzigen Menschen.   Nach langer Zeit, stieg ich aus der Dusche. Im ersten Mo­ment tat es mir etwas Leid wegen der Wasserrechnung, aber mein Vater hatte gewiss genug Geld. Als ich mir meine Boxershorts anzog, tropfte es auf die Fließen. Mein Hals hörte nicht auf zu bluten. Ich ergriff mir ein paar Tücher aus einer Box und versuchte das Blut etwas zu stoppen. Dabei fiel mein Blick in den Spiegel.   Ich sah grauenhaft aus. Meine Haare waren nass und zerzaust vom Duschen und meine Gesichtsfarbe ähnelte der Wand hinter mir. Die Augenringe gingen mir schon fast bis unters Fleisch, so tief und schwarz waren sie. Meine Augen dagegen sahen matt und müde aus. Sie hatten jeglichen Glanz verloren und waren im Augen­weiß rot vom Weinen. Es war, als würde mich eine Kreatur anschauen. Als würde sie mir sagen wollen, wie schlecht es ihr geht. Vorsichtig entfernte ich die schon aufgeweichten Tücher von meinem Hals und sah mir die Bisswunde an. Es waren zwei runde Löcher in meinem Hals. Sie sahen tief aus. Schon quoll das Blut aus ihnen und floss an meinem Hals herunter. Es wurde nicht weniger. Langsam bahnte es sich seinen Weg über meinen Oberkörper, wo es schließlich langsamer wurde und aufhörte. Der Anblick im Spiegel war so anders. Als ob das nicht ich wäre. Wo war der lustige Hiroshi hin? Wo war das Leben hin? Bis vor zwei Tagen war noch alles in Ordnung. Mein Leben war wie immer. Manchmal regte ich mich über den Alltagstrott auf, doch jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher als den wieder zu bekommen. Gar nicht zu wissen, dass es Vampire gibt. Niemand hat mich gefragt, ob ich das überhaupt wissen wollte. Meine Familie war mir egal. Ich wollte das ganze hier gar nicht. Und jetzt steckte ich mitten drin. Wie sollte ich das nur Mom beibringen? Die Gedanken huschten mir durch den Kopf. Ausreden, Lügen und vielleicht sogar Wahrheiten würde ich meiner Mutter entgegenbringen.   Auf einmal wurde die Badtür aufgerissen. Ich erschrak und sah geschockt zur Tür. Dort stand Kiyoshi und sah mich mit entsetzten, glänzenden Augen an.   »Oh, tut mir Leid … Ich habe nur frisches Blut gerochen und dachte … es sei was passiert …«, sagte er und sah sich im Bad um. Seine Augen waren wie gestern, als er mich gebissen hatte. »Es … ist auch etwas passiert …«, murmelte ich und wendete meinen Blick zum Waschbecken vor mir. Dabei legte ich meine rechte Hand auf die Kante. Kiyoshi schien das verstanden zu haben und schloss die Tür hinter sich. Jedoch blieb er dort stehen und ließ seine Hände an der Klinke, während er mich ansah. »Hiroshi, es tut mir wirklich Leid. Wegen gestern.« Jeglicher menschliche Ton war nun verschwunden. Er klang wie eine Puppe. So unecht. Aber doch so perfekt. Wie ein … Vampir. »Was passiert ist, ist passiert«, murmelte ich und verfestigte meinen Griff um das Waschbecken. »Hiroshi, ich weiß nicht, wie ich es wieder gut machen kann. Sag du mir, was ich tun kann.« Er klang zwar immer noch genau gleich, doch ein verzweifelter Unterton war zu erkennen. Ich überlegte kurz. »Lasst mich nach Hause fahren.« Ich schloss meine Augen und betete schon förmlich, dass er mit meinem Vater reden würde. »Ich weiß nicht, ob das so gut ist, dich direkt nach diesem Vorfall wieder nach Hause zu lassen …« »Wieso?«, schrie ich und mir kamen schon wieder die Tränen in die Augen geschossen. Ich würde es keinen einzigen Tag mehr aushalten. »Ich habe Vertrauen zu dir, Hiroshi, und Vater sicher auch, aber … du solltest das lieber erst verdauen, bis du nach Hause fährst.« Kiyoshi blickte dabei zu Boden. »Willst du damit sagen, ich könnte es ja wem erzählen?« Hin und wieder versagte meine Stimme, da ich versuchte mir die Tränen zu unterdrücken. »Ja, so in etwa.« »Das ist ja wohl mehr als albern!«, rief ich erneut und schlug heftig gegen den Waschbeckenrand. Die Hand schmerzte kurz, aber er verging genauso schnell wie er gekommen war. »Hiroshi, bitte …« »Wieso nennst du mich jetzt wieder bei meinem vollen Namen? Gestern hat’s doch auch geklappt!« Ich biss mir auf die Lippe und versuchte die aufgestaute Wut nicht an Kiyoshi auszulassen. Aber er sprach immer so gehoben, als sei er etwas Besseres. »Gut, Hiro. Aber du solltest lieber noch etwas hier bleiben. Wer weiß wie sich dein Zustand entwickelt«, murmelte er. »Mein Zustand? Ich fühle mich zwar beschissen, aber ich bin kein Monster geworden!«, schrie ich. Plötzlich stach etwas in meinem Hals und ich griff mir automatisch an die Wunde. Das Blut quoll wieder aus den zwei Löchern und breitete sich über meiner Hand aus. »Du wirst zwar kein Monster … Aber ich weiß nicht, was das für Wirkungen haben wird, da du ja gestern Blut getrunken hast.« Er ließ die Klinke los und kam einen Schritt auf mich zu, blieb aber sofort wieder stehen. »Blut getrunken … Was ist daran so schlimm?«, fragte ich, während sich meine Stimmlage wieder auf normale Lautstärke beruhigt hatte. »Die … Nein … Du …« Er wusste nicht ganz wie er an­fangen sollte und suchte nach Worten. Dabei sah er auf den Boden und fasste sich mit der linken Hand in den Nacken. »Was ist mit mir?«, hakte ich nach und wurde immer wüten­der, weil er selbst bei unperfekten Dingen wie Formulierungs­suchen perfekt wirkte. Er sah zu mir. Kurz danach kam er noch zwei Schritte näher. Doch diesmal blieb er nicht stehen. »Bleib da wo du bist!«, rief ich und zeigte mit meinem linken Zeigefinger auf ihn. »Komm mir nicht zu nahe oder ich ramme die sonst was in deine Brust!« Nicht nur ich schien vor meinen eigenen Worten erschrocken zu sein, denn auch Kiyoshi öffnete seinen Mund ein kleines Stück und sah mich entsetzt an. Sofort ging er einen kleinen Schritt zurück. »Nein, nein … So meinte ich das nicht …«, fügte ich sofort hinzu und nahm meinen Finger runter. »Ich möchte mein Blut nur erst einmal … behalten.« Dabei sah ich wieder nach unten ließ meine Hand von der Wunde sinken. Plötzlich war seine Stimme ganz nah. »Würde ich im Moment nach deinem Blut dürsten, hätte ich dich schon längst angefallen.« Er stand direkt vor mir und sah mich mit funkelnden Augen an. Trotzdem sagten sie nichts aus. Es war dieser gleichgültige, arrogante Blick, der mich anstarrte. »Aha …« Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Ich hatte Angst vor ihm, nach dem gestrigen Erlebnis noch mehr als vorher.   Dann schwiegen wir. Mein Blut lief mir mittlerweile nicht mehr aus der Wunde, trotzdem war es noch nass. »Auch wenn du noch ein Mensch bist, hast du die Vampir-Gene in dir.« »Und was ist mit dir? Hast du menschliche Gene?« »Nein. Ich hatte mal welche, aber mein Körper kam damit nicht klar. Unser Vater musste mich richtig Verwandeln.« Mir kam ein verzweifeltes Grinsen auf den Mund. »Und du willst mir jetzt damit sagen, dass mir das gleiche passieren könnte?« »So in etwa, ja …« »Ich … Ich will aber …-« »Ich habe mir das auch nicht ausgesucht!« Seine Stimmlage klang auf einmal so menschlich. Sie war aufgeregt und ver­zweifelt. Dabei hatte er seine Hand um meinen Arm gelegt und hatte ihn feste im Griff. Er starrte mich traurig und wütend zugleich an. »Ich wurde auch nicht gefragt, ob ich dieses Leben haben möchte. Ich wurde so geboren und hatte nur die Wahl zwischen Leben und Tod. Aber selbst die hatte ich nicht, denn mit eineinhalb Jahren kann man solche Entscheidungen noch nicht treffen. Du hattest wenigstens ein menschliches Leben.« »Ich hätte es auch weiterhin gehabt, wenn ihr nicht gewesen wärt!« »Du hast in deiner eigenen Dummheit das Blut getrunken. Du kannst die Schuld nicht nur uns alleine geben!« »Ich wusste ja nicht, dass ich dieses dumme Synthetikzeug nicht vertrage!« »Du hast es schon vertragen, nur deine Vampir-Gene sind damit aktiviert worden. Es war zwar nicht mein Blut, aber künstliches. Da ist es erst einmal egal ob es Vampirblut oder unechtes Blut ist. Ich habe dir gesagt, dass du es nicht trinken sollst -« »Vampir-Gene aktiviert? Wieso hast du mir das zu dem Zeitpunkt nicht gesagt?« »Hätte ich dir das von grade eben in einer Moralpredigt gehalten, dann hättest du das Glas fünf Mal ausgetrunken!« Wir schrien uns immer lauter an. Sein Griff an meinem Arm festigte sich von Satz zu Satz und ich sah seinen Augen an, dass er immer wütender wurde. Natürlich hatte ich eine kleine Mitschuld, aber die war ja wohl so gering, dass man sie auch fast weglassen konnte. »Willst du mir damit also sagen, dass ich auf dem besten Wege bin, ein Vampir zu werden?« »Eher gesagt erst mal ein Noneternal.« »Ein … was?« »Ein Noneternal. Wörtlich ‚sterblich’. Du bist halb Vampir, halb Mensch.« »So wie bei Blade?« Kiyoshi verdrehte die Augen. »Nur, dass wir hier nicht in Hollywood sind und das nicht funktioniert.« »Wieso nicht? Blade kann halt -« »Der Schauspieler Blade ist weder ein Vampir noch ein Mischmasch aus Mensch und Vampir. Der Rest ist erfunden. Es geht nicht.« Er unterbrach mich andauernd. »Und warum nicht?«, fauchte ich ihn an und wollte ihm meinen Arm entziehen, doch mir schmerzte immer noch alles, sodass es für mich fast unmöglich war. »Weil dein Vampirblut dafür sorgen wird, dass deine Lebens­wichtigen Organe zum Stillstand kommen werden. Und deine menschliche Seite braucht die aber. Das Vampirblut ist stärker als das menschliche, sodass deine Organe lahm gelegt werden und du stirbst.« Mein Mund öffnete sich ein Stück. Ich realisierte die Situation und zuckte kurz mit dem Kopf, um dann zur Seite zu schauen. Dann sah ich Kiyoshi wieder an. »Sind ja tolle Aussichten für mich und mein Leben«, spottete ich mit einem sarkastischen Unterton. »Ach, wirklich? Ja, natürlich sieht das nicht glänzend aus. Deswegen solltest du auch hier bleiben. Der Tag kann morgen kommen, er kann auch erst in einer Woche kommen. Aber dann muss jemand von uns bei dir sein, damit wir dich retten können.« Jetzt nahm ich meine gesamte Kraft und riss meinen Arm weg.   »Lieber sterbe ich!«, schrie ich ihn an. Seine Augen weiteten sich. »Lieber sterbe ich, als dass ich zu so einem Blut saugenden Monster werde! Ich habe die Wahl, das weißt du. Und ich will kein Vampir werden! Das ist kein Leben, das ist einfach nur dahin existieren. Ich weiß nicht viel von euch, aber das was ich weiß, hat schon keinen einzigen positiven Aspekt. Und wie soll ich das meiner Mutter beibringen? Oder meinen Freunden? Ich müsste einfach gehen, ohne irgendwem etwas zu sagen, weil ich es ja nicht darf! Das ist, als ob ich sterben würde. Und da sterbe ich lieber richtig. Da habe ich wenigstens bei meiner Beerdi­gung meine Freunde bei mir.« Mir schossen die Tränen in die Augen und ich schluchzte kurz auf. Das Blut fing langsam an zu trocknen und bildete schon eine krustenartige Substanz. Kiyoshi sah mich nur entsetzt an. Er schien traurig über meine Worte zu sein. Ich wusste, sie hatten ihn verletzt. Ich dachte genauso wie meine Mutter. Vampire sind Monster. Und ich will kein Monster werden. Doch der Gedanke, dass ich sterben würde, ließ mir noch mehr Tränen in die Augen fließen. Mein Leben kann jeden Moment vorbei sein. So hat es Kiyoshi mir jedenfalls gesagt. Vielleicht kommt der Tag schon morgen, vielleicht auch erst in einer Woche.   Kiyoshi schüttelte langsam den Kopf. Dann blickte er zu Boden. »Dann … soll das deine Entscheidung sein und ich möchte dir da auch nicht reinreden«, murmelte er. Er sah verletzt und traurig aus. Drei Tage sind vergangen, seitdem ich von Kiyoshi weiß. Und wir sind uns nur am streiten. Jetzt würde ich sogar lieber sterben, als dass ich so werde wie er. Meine Augen öffneten sich ein kleines Stück, als ich Kiyoshis Hände auf seinem Gesicht sah. Er vergrub es in seinen weißen Händen und machte keinen Ton. Es war die Stellung, die er auch gestern im Laden gemacht hat, nachdem Vater uns getrennt hatte. Er verharrte eine Weile so, bis ich fragte: »Weinst du?« »Nein …«, sagte er leise und nahm seine Hände vom Gesicht. Er weinte tatsächlich nicht. Sein Blick sagte nichts, doch sein Gesamtbild sah traurig aus. »Ich dachte nur …« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weine nie.« In mir stieg plötzlich die Wut. »Siehst du! Noch so eine Sache, die euch Vampire so un­erträglich macht! Ihr könnt keine Emotionen zeigen. Nur wenn ihr grade euer Essen hattet. Dann könnt ihr mal menschlich sein. Aber sonst seid ihr wie Puppen, wie perfekte Roboter, die von irgendeiner Hand gesteuert werden und selber keinen eigenen Willen haben. Was ist denn das für ein Leben?«, schrie ich ihn schon wieder an. Kiyoshi öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch er stockte für einen kurzen Moment. Dann sah er zu Boden und schloss ihn wieder. »Was wolltest du sagen …?«, fragte ich leise. Als er mir keine Antwort gab, seufzte ich und sah zur Seite. Mein Blick fiel kurz in den Spiegel. Da standen wir beide uns gegenüber und sahen aufs Haar genau gleich aus. Er war blass, ich auch. Er hatte fast weißes Haar, ich auch. Er hatte diese matten Augen bekommen, ich auch. Er hatte starke Augenringe, ich auch. Er war ein Vampir und … ich auch?   »Ich wollte sagen, dass mich deine Worte sehr verletzen … Aber du hast Recht. Sie verletzen mich zwar im ersten Moment, aber ich kann dir nicht meine Gefühle preisgeben oder dir zeigen, wie sehr die Worte mich treffen.« Ich blickte ihn erst durch den Spiegel an, dann direkt. Er fasste vorsichtig nach meiner blutverschmierten Hand und legte sie auf sein schwarzes Hemd. Es war die Herzseite der Brust, die ich da unter meiner Hand spürte. Er sagte nichts und ich auch nicht.   Es war so still. Zu still.   Dann verstand ich was er mir damit sagen wollte. Da schlug kein Herz. Da hob sich kein Brustkorb. Es war einfach nur ein kalter, lebloser Körper. Ich hatte das Wort ‚leblos’ nur immer benutzt, weil es so zu ihm passte, aber nun war es ein noch besser passendes Wort. ‚Kiyoshi’ bedeutete so etwas wie ruhig. Ja, das war er. Ruhig. Er und sein Körper. Wie eine Leiche. »Ich bin tot. Tote haben keine Emotionen, weil sie nichts spüren. Und wer nichts spürt, ist einfach nur da. Eine belang­lose Existenz. Du hast vollkommen Recht.« Sein Blick war Ausdruckslos, doch dann formte er mit seinen weißen Lippen ein trauriges Lächeln. Seine Hand lag auf meiner, während ich noch immer auf einen Herzschlag wartete. »Du bist tot …?« »Ja, ich bin tot.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)