Vielleicht irgendwann von Juju ================================================================================ 2. Kapitel, in dem Takerus Eltern sich die Haare schneiden lassen ----------------------------------------------------------------- „Piep, piep, piep, recht guten Appetit!“, riefen alle Kinder im Chor, bevor sie ihren Löffel ergriffen und sich über ihr Mittagessen hermachten. Es gab Reis mit Hühnchen und Gemüse und Hikari hatte einen Bärenhunger. Kein Wunder. Sie war den ganzen Vormittag draußen mit ihren Freundinnen herumgerannt. Sie hatten Sandkuchen gebacken, Fangen gespielt und so getan, als wären sie entführte Prinzessinnen. Takeru hatte eigentlich der Prinz sein sollen, der sie befreite, doch er hatte nicht mitspielen wollen. Stattdessen hatte er allein auf einer Bank gesessen und mit einem Blatt gespielt. Naja, eigentlich hatte er es nur zerrupft, sodass seine Hände hinterher ganz grün waren. Hikari hatte sich gewundert, warum er lieber allein herumsaß, anstatt mit ihr zu spielen. Nun warf sie einen Blick auf seinen Teller. Sie selbst hatte schon die Hälfte ihrer Portion verdrückt, während auf seinem Teller gerade einmal ein klitzekleines Stück fehlte. Dabei aß Takeru normalerweise immer mehr als alle anderen zusammen. „Warum isst du nicht?“, fragte sie und sah ihn an. „Keinen Hunger“, murmelte er, ohne von seinem Teller aufzublicken. Mit dem Löffel schob er sein Essen durch die Gegend, trennte den Reis vom Gemüse und das Gemüse vom Hühnchen. „Wenn du nicht aufisst, regnet's morgen“, erinnerte Kari ihn eindringlich. Sie wollte keinen Regen. Wenn es regnete, mussten sie drin bleiben, aber draußen war es viel schöner. Takeru spielte auch lieber draußen, das wusste sie. Also warum aß er nicht? Auch Frau Sato, der Erzieherin, fiel auf, dass Takeru keine Lust auf sein Mittagessen hatte. „Takeru, was ist los? Iss dein Mittagessen“, forderte sie ihn auf. „Wir wollen doch dann alle gemeinsam ein Buch lesen.“ Takeru sah sie nur aus seinen großen blauen Augen an und schüttelte den Kopf. „Wieso nicht? Hast du keinen Hunger?“, fragte Frau Sato, stand von ihrem Platz auf und ging zu ihm. Sie hockte sich zwischen ihn und Hikari und sah ihn an. „Sieh mal, Hikari ist schon fast fertig. Deine beste Freundin war heute schneller als du.“ „Keinen Hunger“, bestätigte Takeru nur. „Hm“, machte Frau Sato und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast aber schon zum Frühstück kaum etwas gegessen. Was ist denn los? Geht es dir nicht gut?“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Was hast du? Bauchschmerzen?“, hakte Frau Sato nach und fühlte seine Stirn. Auch Hikari musterte ihn neugierig. „Bist du traurig?“, fragte sie. Takeru sah Hikari an und nickte langsam. „Oh, warum denn? Hat dich jemand geärgert?“, fragte Frau Sato besorgt. „Meine Eltern lassen sich scheiden“, antwortete Takeru endlich und ließ den Kopf wieder hängen. „Oh“, machte Frau Sato und wirkte auf einmal ganz komisch. Hikari sah beide nur abwechselnd an und war verwirrt. Was bedeutete „denn sich scheiden lassen“? Auf jeden Fall war es etwas Schlechtes und es hatte etwas mit Takerus Eltern zu tun. Scheiden klingt so ähnlich wie schneiden. Vielleicht wollten seine Eltern sich die Haare abschneiden lassen? Das wäre wirklich traurig, wenn sie auf einmal beide keine Haare mehr hätten. Vor allem für Natsuko. Eine Frau ohne Haare? „Das tut mir Leid, Takeru“, murmelte Frau Sato und streichelte ihm über die schmalen Schultern. „Das ist wirklich traurig und ich verstehe dich. Aber du musst trotzdem etwas essen, hörst du? Du willst doch groß und kräftig werden.“ „Ja. Du willst doch mal der Größte in der Gruppe sein“, fügte Hikari aufmunternd hinzu. Takeru war nämlich der Kleinste in ihrer Kindergartengruppe. „Ich hab' aber keinen Hunger“, wiederholte Takeru nur. Frau Sato seufzte, als wäre auch sie traurig. „Na schön. Versuch‘ wenigstens, ein bisschen zu essen, okay? Und was du nicht mehr willst, lässt du dann einfach stehen.“   Nachdenklich saß Hikari auf ihrem Platz hinter dem Beifahrersitz und starrte aus dem Fenster. Sie und ihre Mutter hatten gerade Taichi vom Fußballtraining abgeholt und waren nun auf dem Weg nach Hause. Seit Beginn des Schuljahres spielte Taichi nun schon Fußball. Hikaris Mutter sagte immer, dass sein Trainer sagte, er wäre gut. Er war schnell und treffsicher. Und es machte ihm unglaublich viel Spaß. Er sah sich sogar manchmal mit ihrem Vater zusammen Fußballspiele im Fernsehen an und dann redeten sie gemeinsam darüber, als würden sie selbst mitspielen. Hikari fand das nur furchtbar langweilig. Sie blieb dann lieber im Kinderzimmer und spielte mit ihrem Puppenhaus. Heute aber musste Hikari den ganzen Tag über Takeru nachdenken. Sie fragte sich, was so schlimm daran war, wenn seine Eltern sich wirklich die Haare schneiden ließen. Ja, es war traurig, aber so traurig nun auch wieder nicht. Und außerdem hatte Takeru noch nie über die Haare seiner Eltern geredet. „Mäuschen, ist alles okay mit dir? Du bist so still“, riss ihre Mutter sie aus ihren Gedanken und sah sie im Rückspiegel an. „Wenigstens plappert sie mal fünf Minuten nicht“, warf Taichi ein, der neben Hikari hinter dem Fahrersitz saß. „Tai, hör' auf“, wies Yuuko ihn zurecht. „Mama, weißt du, was T.K. heute im Kindergarten gesagt hat?“, fragte Hikari, ohne auf die Bemerkung ihres Bruders einzugehen. „Nein, was denn?“ „Er hat gesagt, seine Eltern wollen sich schneiden lassen oder so. Er war ganz traurig und wollte sein Mittag nicht essen“, erklärte Hikari aufgeregt. „Sich schneiden lassen?“, fragte Yuuko verwirrt. „Sie meint bestimmt ‚sich scheiden lassen‘“, sagte Taichi. Hikari bestätigte seine Vermutung mit einem Nicken und wandte sich wieder an ihre Mutter. „Was heißt das?“ „Mann, bist du doof. Du bist echt noch ein Baby, wenn du das nicht weißt“, erwiderte Taichi abfällig. „Du sollst aufhören, so mit deiner Schwester zu reden!“, rief Yuuko verärgert. „Genau.“ Hikari streckte ihm die Zunge raus. „Ich bin kein Baby mehr.“ „Doch. Du gehst ja sogar noch in den Kindergarten. Ich geh' schon zur Schule und komme in die zweite Klasse. Und du bist erst vier.“ „Na und? Nächstes Jahr komme ich auch in die Schule“, entgegnete Hikari trotzig. „Übernächstes Jahr, Süße“, berichtigte ihre Mutter sie. „Mama, was heißt denn nun 'scheiden lassen'?“, erinnerte Hikari ihre Mutter an die eigentliche Frage, die sie ihr gestellt hatte. Yuuko seufzte, so ähnlich wie Frau Sato. Irgendwie schienen alle traurig zu sein. „Naja, weißt du...“, begann sie zögerlich. „Das heißt, dass seine Eltern sich trennen“, übernahm Taichi die Erklärung. „Matt hat's mir gestern auch erzählt.“ „Sich trennen?“, fragte Hikari noch verwirrter als vorher. „Ja“, antwortete Taichi. „Sie lieben sich nicht mehr. Takeru und Natsuko werden wegziehen.“ Hikari sah ihren Bruder mit großen Augen an. „Und Matt und Hiroaki? Bleiben die da?“ „Ja. Die bleiben da, wo sie jetzt alle vier wohnen“, erklärte Taichi gewichtig. „Und wo gehen Takeru und Natsuko hin?“ Taichi zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht nach China oder so.“ Hikaris Augen wurden noch größer. Sie hatte zwar keine Ahnung, wo China war, aber es war sicher weit weg. „Sie ziehen doch nicht nach China. Erzähl' ihr nicht so einen Unsinn, Tai! Sie ziehen nur in einen anderen Stadtteil von Tokio, Schatz“, erklärte Yuuko. „Ihr werdet euch nicht mehr im Kindergarten sehen, aber wir können Natsuko und Takeru trotzdem ab und zu besuchen fahren.“ „Er geht nicht mehr in unseren Kindergarten?“, fragte Hikari ungläubig. Das war für sie ganz und gar unvorstellbar. Takeru und sie waren doch die ganze Zeit in den gleichen Kindergarten gegangen. Da konnte er doch nicht so einfach in einen anderen gehen. „Nein, der ist dann wahrscheinlich zu weit weg“, antwortete Yuuko. „Also Yamato bleibt auf der gleichen Schule wie ich“, verkündete Taichi. „Bestimmt sogar in der gleichen Klasse.“ „Ja, Liebling. Das ist schön“, erwiderte Yuuko. Hikari hatte sich zurückgelehnt und sah wieder aus dem Fenster. Sie verstand das alles nicht. Takerus und Yamatos Eltern hatten sich also nicht mehr lieb und deswegen mussten Takeru und Natsuko wegziehen? Warum konnten sie nicht trotzdem weiter zusammenwohnen? Eltern konnten sich doch nicht einfach trennen. Die gehörten doch zusammen. Mama und Papa. Jedes Kind hatte doch beides und nicht nur eins von beiden. Wie sollte das funktionieren? Und dann würde Takeru in einen anderen Kindergarten gehen. Das ging doch auch nicht. Sie waren doch beste Freunde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)