La Vie de Fayette von Sky- (Beloved Enemies) ================================================================================ Kapitel 1: Kiss And Faint ------------------------- Es gibt wirklich Tage, an denen man am liebsten im Bett geblieben wäre, weil man von vornherein weiß, dass der Tag beschissen wird. Man wacht auf, ist den halben Tag so müde, dass man sich vor lauter Gähnen noch glatt den Kiefer ausrenken könnte, man kann nichts im Kopf behalten und das, was man im Kopf hat, vergisst man. Manche Leute haben das nach einem starken Wetterwechsel, dass sie komplett neben der Spur sind und genau das hab ich auch erleben müssen. Zuerst einmal hatte ich verschlafen und als ich dann natürlich versuchte, so schnell wie möglich ins Bad zu kommen und mich fertig zu machen, da stolperte ich so ungünstig über meine Tasche, dass ich stürzte und mir das Knie verletzte. Und weil ich so in Eile war, wollte meine Frisur nicht sitzen, mein Shirt hatte ich auf links angezogen, sodass dieses kleine Schildchen schön für alle sichtbar rausguckte und mein Portemonnaie mit meinem Busticket hatte ich auch vergessen. Als nächstes vergaß ich völlig, mir beim Bäcker noch ein Brötchen zu holen und kam letzten Endes trotz Hektik und meiner Bemühungen dennoch mehrere Minuten zu spät. Unser Dozent war natürlich alles andere als begeistert, als er gerade noch über Pablo Picasso erzählte und seine Werke näher beschrieb und ich mitten reinplatzte. Denn was Prof. Tanner überhaupt nicht leiden konnte, waren Unterbrechungen. Sämtliche Blicke waren auf mich gerichtet, als ich durch die Tür stürmte und völlig außer Atem im Hörsaal stand. Die einen drehten sich aus Neugier um, weil sie sehen wollten, welcher arme Irre denn zu spät kam. Andere wiederum aus Ärger darüber, dass sie bei diesem spannenden Vortrag unterbrochen wurden und der Rest war einfach nur gelangweilt und für sie war meine Verspätung zur Vorlesung wahrscheinlich das Spannendste, was sie für den Rest des Tages erwarten konnten. Ich kassierte sogleich eine Schimpftirade alleroberster Güte, denn Prof. Tanner war ein Kunstprofessor aus Leidenschaft und wer es wagte, aus der Reihe zu tanzen, dem zog er so dermaßen das Fell über die Ohren, dass man sich vorkam, als wäre man im Ausbildungslager aus dem Film Fullmetal Jacket gelandet und hätte einen Gunnery Seargeant Hartmann vor sich. Dann konnte man sich gleich sein eigenes Grab schaufeln und sein Testament machen. „Wie ich sehe, geben Sie sich auch die Ehre, an meiner Vorlesung teilzunehmen, Miss Brightside.“ Prof. Tanner war wirklich ein guter Dozent, wenn es darum ging, die Ordnung zu wahren und dafür zu sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzte. Ja sein Unterricht war so verdammt gut, dass fast jeder gute Noten hatte. Aber er konnte echt ein Arsch sein. So hatte er es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, mich immer als Miss zu titulieren, was ja daher kam, weil ich schon immer sehr mädchenhaft ausgesehen habe. Und selbst heute kam es vor, dass ich mir das anhören muss. Und Tanner redete mich immer dann so an, wenn er sauer auf mich war, so wie heute. Natürlich machte es mir keinen Spaß, so angeredet zu werden, aber ich wusste, wann es besser war, die Klappe zu halten, denn ich wollte lieber nicht riskieren, dass der Feldwebel, so wie wir ihn nannten, komplett ausrastete und noch explodierte. Auch wenn ich mir nicht selten bildlich vorgestellt habe, mein Kunstprofessor könne einer spontanen Selbstentzündung zum Opfer fallen. Die Sauerei würde zwar unschön werden, aber dafür hätte ich diese herrliche Genugtuung, dass dieser Kerl das bekam, was er manchmal verdiente. Ich ließ also die Schimpftirade über mich ergehen, entschuldigte mich ein paar Male und ging zu meinem Platz, wobei von einigen Plätzen ein leises Kichern von den Damen her kam, die sich wahrscheinlich darüber amüsierten, dass ich gerade als Frau bezeichnet worden war. Oder es war jene peinliche Geschichte, über die sie lachen mussten. Jene, die ich schnellstens wieder vergessen wollte, weil sie einfach nur beschämend war. Ohne auch nur einen Menschen im Hörsaal anzusehen, steuerte ich direkt meinen Platz an und setzte mich direkt neben Micah Stafford. Dieser wartete noch sicherheitshalber, bis Feldwebel Tanner mit seinem Vortrag fortfuhr, ehe er mir einen Stups gegen den Oberarm gab, um auf sich aufmerksam zu machen. Micah zählte nicht gerade zu meinen Freunden, aber wir hingen in der Uni oft miteinander ab, gingen zusammen in die Mensa oder redeten ein wenig miteinander. Er zählte zum Glück nicht zu den Leuten, die sich einen Spaß daraus machten, mich wegen meines Aussehens oder meines Namens aufzuziehen. Wie alle anderen nannte auch er mich bei meinem Spitznamen Fay, was wenigstens etwas maskuliner als mein voller Name klang. „Hey Fay, stimmt es eigentlich?“ „Was?“ fragte ich, wobei ich mich absichtlich unwissend stellte in der Hoffnung, dass er nicht das meinte, was ich bereits ahnte, aber bei meinem Glück wäre das sicher nicht der Fall. Dafür war der Vorfall einfach zu peinlich. „Na ich meine das mit Katherine!“ Ich sah sein amüsiertes Grinsen und wusste sofort, dass er sich einen Heidenspaß aus der Geschichte machte. Zugegeben, man konnte es ihm auch nicht verdenken. Es war einfach verdammt komisch. Zumindest für die anderen. Ich wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Der Sachverhalt war nämlich folgendermaßen: ich hatte ein Auge auf Katherine Simmons, eine Kommilitonin geworfen und es hatte mich wirklich einiges an Mut gekostet, sie anzusprechen. Immerhin war sie gut aussehend und sehr beliebt. Sie zählte zu den nicht ganz so abgehobenen und arroganten Mädchen, die ich sowieso nicht leiden konnte und für mich war sie die Traumfrau schlechthin gewesen. Blöderweise aber gehörte das Thema Liebe genau zu jenen, bei denen all meine verbale Schlagfertigkeit dahin war und ich mich in ein schüchternes kleines Schulmädchen verwandelte, welches sich nicht traute, ihren großen Schwarm anzusprechen. Wobei wir ja wieder beim Thema wären… Knapp einen Monat lang hatte ich gebraucht, um all meinen Mut zusammenzunehmen und sie anzusprechen. Und selbst da hatte ich größtenteils nur ein heilloses Gestammel hervorgebracht und war so aufgeregt gewesen, dass ich kaum einen vernünftigen Satz sprechen konnte. Aber Katherine war zum Glück eine verständnisvolle und freundliche Person und sie hatte über meine extreme Schüchternheit hinweggesehen und sich einverstanden erklärt, mit mir zusammen die Mittagspause zu verbringen. Zuerst hatten wir uns einfach nur zum Essen getroffen und miteinander geredet. Danach hatten wir uns auch mal zum Kino verabredet und zusammen gemalt. Es hatte alles so gut geklappt, aber dann war etwas passiert… eine Katastrophe, die mich zur Lachnummer der halben Universität machte: wir trafen uns wieder zum Mittagessen in der Mensa und Katherine hatte sich nichts Böses dabei gedacht, als sie mich zur Begrüßung küsste. Sie hatte von meinem Problem nicht gewusst, weil es mir zu peinlich war, darüber zu sprechen und wahrscheinlich hätte sie mich entweder ausgelacht oder mir nicht geglaubt, wenn ich es ihr gesagt hätte. Aber kaum, dass unsere Lippen aufeinanderlagen, wurde mir komplett schwarz vor Augen und ich bin ohnmächtig geworden. Zum Glück war ich nicht allzu lange bewusstlos, vielleicht nur ein oder zwei Minuten. Aber Katherine hatte erst mal einen gewaltigen Schreck gekriegt, wie auch ein paar, die das direkt miterlebt hatten. Andere wiederum fanden es urkomisch und nachdem der erste Schreck verflogen war, verbreitete es sich in der ganzen Schule, dass ich kollabiert war. Katherine hingegen hatte sich große Sorgen gemacht und das Gespräch mit mir gesucht. Sie hatte wirklich gedacht, sie wäre schuld daran, dass ich umgekippt wäre. Als ich ihr dann aber gestand, dass ich wirklich jedes Mal bewusstlos werde, wenn es zu einem Kuss kommt, wollte sie das erst nicht glauben und hielt es für einen schlechten Scherz. Und um mich auf die Probe zu stellen, küsste sie mich also noch mal. Das Ergebnis war, dass ich wieder zusammengebrochen bin. Da ich mich zu sehr geschämt habe und ich nicht weiter als Depp vor ihr da stehen wollte, hatte ich unsere beginnende Beziehung sofort beendet und seitdem ging ich ihr möglichst aus dem Weg. Jetzt hatten wir seit knapp einer Woche kein Wort mehr miteinander gewechselt und ich hab mich erst mal krankschreiben lassen, weil es mir so unendlich peinlich war, wieder zur Uni zu gehen. Und es ist überraschend leicht, dem Arzt am Telefon was vorzujammern und einen Krankenschein zu kriegen. Zumindest meiner zählt zu der Sorte, die selbst bei Kopfschmerzen sofort drei Tage krankschreibt. So hatte ich erst mal Ruhe und jetzt, wo ich wieder zurück war, schien mir Katherine auch aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich war es auch das schlechte Gewissen bei ihr, weil dieser Vorfall in der Mensa mich zur Lachnummer der Uni gemacht hatte und sie mich irgendwelchen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt hat. Na zumindest ließen die anderen sie in Ruhe und machten sich nur über mich lustig. Und das Schlimme war, dass ich es ihnen nicht mal verdenken konnte! Wenn ich hören würde, dass ein Typ jedes Mal ohnmächtig wird, wenn er geküsst wird, dann würde ich mit Sicherheit auch lachen. Ich seufzte und legte meinen Kopf auf meinen Armen ab, wobei ich versuchte, mein Gesicht zu verstecken. „Hör mir bloß damit auf. Das war mehr als peinlich genug, klar? Es reicht doch schon, wenn die ganze Uni darüber spricht.“ Micah gehörte zu den wenigen, die mein Problem kannten und die sich glücklicherweise nicht darüber lustig machten. Es reichte ja schon, wenn ich mich selber beschissen genug fühlte, weil jetzt alle Bescheid wussten. Wenn ich wüsste, woran es denn läge, dann hätte ich es ja auch schon längst abgestellt. Entweder hatte ich einen ziemlichen Knacks im Oberstübchen, oder aber, was allerdings eher unwahrscheinlich war: mein Körper war allergisch gegen Küsse. Und das war eigentlich gänzlich ausgeschlossen, weil ich nie ohnmächtig wurde, wenn mir zum Beispiel mal meine Mum oder Emily einen Kuss auf die Wange drückten. Ja, bei Verwandten war das alles anscheinend kein Problem. Aber kaum, dass irgendjemand anderes es versuchte, da schaltete sich alles in mir aus. Ich hatte sogar schon getestet gehabt, ob es auch bei Personen der Fall war, die ich schon lange genug kenne und so hab ich kurzerhand meinen besten Freund Seth gebeten, es mal bei mir zu versuchen. Da er sowieso schwul war und ich ihm vertraute, hab ich kein Problem darin gesehen und es sollte ja nur ein Test sein. Das Ergebnis war aber genau dasselbe wie bei allen anderen. Ich war knapp zwei Minuten außer Gefecht gesetzt und als ich aufwachte, lag ich auf dem Boden und Seth leistete Erste Hilfe. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass mein Oberstübchen nicht ganz in Ordnung war. „Hast du ihr denn nichts von deinem Problem gesagt?“ Etwas angesäuert blickte ich meinen Sitznachbarn an, dessen Grinsen inzwischen wieder verschwunden war, wofür ich ihm auch wirklich sehr dankbar war, denn ansonsten wäre ich richtig genervt gewesen. „Wie denn?“ fragte ich zurück, wobei ich aber versuchte, möglichst leise zu reden, um nicht noch in Tanners Fadenkreuz zu gelangen. Der Kerl schmiss nämlich sein Leben gerne seinen Schlüsselbund nach Leuten, die seinen Vortrag störten. „Soll ich mir vielleicht ein Schild umhängen, wo groß und breit Bitte nicht küssen! Ohnmachtsgefahr! drauf steht?“ „Ja entschuldige mal“, kam es von ihm zurück, als er merkte, wie sehr mich das alles frustrierte. „Ich hab auch bisher nie einen Typen getroffen, der bei einem Kuss sofort aus den Latschen kippt, wenn noch nicht mal Zunge im Spiel war. Fällst du beim Sex etwa auch jedes Mal um, oder kriegst du gleich einen epileptischen Anfall?“ Nein, seltsamerweise war es, was das betraf, überraschend problemlos und unkompliziert. Ich hatte schon zwei Beziehungen gehabt und da hatte alles ganz gut funktioniert. Nun gut, ich muss auch zugeben, dass ich mit meinem ersten Mal verdammt schnell war. Kaum, dass ich 16 Jahre alt war, hatte ich auch schon mit Lisa Rogers aus der Theater AG ein Techtelmechtel gehabt da war es mit dem Sex ohne Zwischenfälle verlaufen. Aber da hatten wir uns auch nicht geküsst. Es war wirklich nur das Küssen, was mir solche Probleme bereitete und ich konnte mir nicht einmal erklären, warum es bei mir so gekommen war. Und das war noch frustrierender als die Tatsache, dass ich mich mit meinem Problem zum Affen gemacht hatte. „Nein, mit dem Sex funktioniert es ganz normal“, erklärte ich Micah, um ihn nicht noch auf dumme Gedanken zu bringen, er könnte sich noch irgendeinen Schwachsinn zusammenreimen. „Ich hab nur mit dem Küssen Probleme, das ist alles. Und können wir endlich mal das Thema wechseln? Ich hab keine Lust, darüber zu reden.“ Ich versuchte, Tanner ein wenig bei seinem Vortrag über abstrakte Kunst und ihre Hintergründe und Symbole zuzuhören, doch so wirklich konzentrieren konnte ich mich nicht. Und das lag auch daran, weil Micah gleich wieder zu reden anfing. Zwar war er ein netter Kerl, aber er konnte reden wie ein Wasserfall und das konnte manchmal ganz gut sein, aber in solchen Momenten konnte er auch eine Nervensäge sein. „Hast du schon gehört? Tessa hat sich von Eric getrennt. Das heißt, sie ist Single!“ Ich sagte nichts, sondern starrte ihn mit einem genervten Blick an, der auch ohne Worte „Ist nicht dein Ernst…“ verriet. „Sehr witzig“, entgegnete ich trocken. „Als hätte mir das Desaster mit Katherine schon nicht gereicht, jetzt soll ich mich an Tessa ranschmeißen?“ „Wenn du sie nicht willst, dann nehme ich sie eben. Ich hab gehört, sie ist eine verdammte Granate im Bett mit solchen Melonen!“ Und damit begann er nun mit betonenden Handgesten vor seiner Brust darzustellen, wie groß Tessas Oberweite war. Zugegeben, so ganz kalt ließ mich das ja auch nicht. Aber ich hielt nicht sonderlich viel davon, immer nur davon zu reden, welche Studentin wie im Bett war und was ihre Körbchengröße anbelangte. Wir waren immerhin keine vollpubertären Teenager mehr, sondern waren jetzt erwachsen und das hieß für mich, dass man auch mehr an den Mädchen und Frauen sehen konnte, als nur ihr Hintern oder ihre Brust. Aber es gab leider eben auch gewisse Individuen, die das noch nicht ganz kapiert hatten und dazu zählte auch Micah. „Dann sprich sie doch an und frag sie. Mehr als riskieren kannst du ja nicht.“ „Denkst du echt, ich hab Chancen bei der?“ Ehrlich gesagt nein, denn Tessa Kingsley gehörte quasi zur High Society der Universität und sie gab sich auch nur mit Studenten ab, die an ihr Niveau herankamen. Sie hatte wohlhabende Eltern, die ihr wirklich alles finanzierten und wenn man sich Paris Hilton mit Pamela Andersons Körbchengröße und ohne Chihuahua vorstellte, dann hatte man so ungefähr ein Bild davon, wie Tessa aussah. Für viele die Traumfrau schlechthin und wahrscheinlich wäre ich auch schwach geworden, wenn die Gute nicht die Charaktertiefe eines Toastbrots hätte. Für sie zählten nur echte Kerle. Kerle mit Muskeln, am besten noch Bart und mit der Bräunung eines Sportlers. Also alles, was ich nicht hatte. Deshalb war ich auch realistisch genug um zu wissen, dass solche Frauen für mich immer unerreichbar sein würden. Also ließ ich gleich die Finger von denen und wenn ich mich bei Tessa blicken lassen würde, dann würde ich mir wahrscheinlich nur erst mal Spott für die verpatzte Sache mit Katherine abholen. „Was ist, Fay?“ Ich hob wieder den Blick, als ich merkte, dass Micah mich wieder angesprochen hatte. „Wie bitte?“ fragte ich noch mal nach. „Ich hab dich gefragt, ob du schon jemanden im Visier hast.“ So langsam kam ich mir wirklich mehr als verarscht vor in diesem Moment und ich verspürte nicht wenig Lust, ihn zu erwürgen, aber ich ließ es sein. Nach diesem peinlichen Desaster letzte Woche wollte ich nicht schon wieder in den allgemeinen Fokus der Aufmerksamkeit geraten. „Kein Interesse.“ „Willst du jetzt etwa ab jetzt enthaltsam wie ein Mönch leben, nur weil du ein Problem mit dem Küssen hast?“ „Ich will doch nicht bloß nur wegen dem Sex eine Freundin“, gab ich nun deutlich gereizter zurück und vergaß dabei völlig Feldwebel Tanner, der mich schon längst ins Fadenkreuz genommen hatte. „Wenn’s danach geht, kann ich mir doch gleich eine Nutte holen, wenn mein Geld dafür reichen würde.“ Und ehe ich mich versah, musste ich mich auch schon ducken, als da schon der Schlüsselbund angesegelt kam und mich nur knapp verfehlte. „Haben Sie uns etwas Konstruktives mitzuteilen, oder warum stören Sie meinen Vortrag, Miss Brightside?“ Schon wieder starrten mich sämtliche Augenpaare an und von einigen war erneutes Gekicher zu hören. Dabei wanderte mein Blick ungewollt zu Katherine, die mich fast schon mitleidig ansah. Schnell wich ich ihrem Blick aus und fühlte mich in diesem Moment wie der letzte Vollidiot. „Nein“, antwortete ich dem Feldwebel, sammelte den Schlüsselbund auf und gab ihn zurück. „Ich habe nichts mitzuteilen. Entschuldigen Sie die Störung.“ „Wenn Sie mit Mr. Stafford über Ihre Beziehung reden müssen, dann tun Sie das gefälligst woanders.“ Wie ich diesen Arsch manchmal hasste… Bis zur Mittagspause hin war ich die meiste Zeit mit den Gedanken woanders. Meistens kreisten sie um Katherine und ich hatte wirklich Angst, dass sie noch zu mir kommen und mich ansprechen würde. Wahrscheinlich hätte sie es auch getan, wenn sie nicht selbst gemerkt hätte, dass es die ganze Situation nur noch verschlimmert hätte. Und wahrscheinlich wollte sie mir zuliebe weitere Eskalationen vermeiden. Für sie war es schon schlimm genug, dass ich wegen ihr zwei Mal ohnmächtig geworden war. Ich wollte auch nicht, dass sie sich meinetwegen schlecht fühlte und ich hatte mit ihr auch lang und breit darüber gesprochen und ihr klar gemacht, dass es nicht ihre, sondern meine Schuld war. Auch wenn ich eben wusste, dass so etwas zu den Standardentschuldigungen gehörte, wenn man sich von jemandem trennte. „Du bist total süß und so, aber es funktioniert halt nicht. Es liegt nicht an dir, sondern an mir, verstehst du?“ So etwas erzählten heutzutage die meisten, wenn sie ihre Freundin verließen. Aber in meinem Fall hatte ich es wirklich ehrlich gemeint und das auch Wort für Wort. Katherine war ein tolles Mädchen und ich liebte sie immer noch, aber ich wollte ihr und mir nicht den ganzen Spott antun, nur weil ich unfähig war, jemanden zu küssen oder geküsst zu werden. Welcher Kerl hatte das denn auch bitteschön? Katherine hatte einen richtigen Kerl verdient und ich… ich musste erst mal zusehen, dass Gras über diese ganze Sache wuchs. Trotzdem hatte ich ein richtig flaues Gefühl, als ich in die Universitätsmensa ging, denn meine Angst, Katherine zu begegnen und mit ihr noch reden zu müssen, war groß. Nun ja, das flaue Gefühl konnte aber auch von der Tatsache herkommen, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. Zum Glück war die Mensa ziemlich groß und es war wie immer ziemlich viel Betrieb. Es waren nämlich auch viele Leute von außerhalb der Uni hier, die zum Mittagessen hierher kamen. Auszubildende aus den umliegenden Betrieben, die günstig essen gehen wollten oder Schüler, denen das Essen an ihrer eigenen Schule nicht schmeckte. Da die Universität, auf deren Campus auch unsere Kunsthochschule lag, eine „offene Küche“ hatte, war dies kein Problem und so lernte man noch andere Leute kennen und sah nicht immer nur die gleichen Gesichter. „Na Fay? Wie läuft es mit dir und Kathy? Fällst du immer noch in Ohnmacht?“ Ich wandte mich um und entdeckte nicht weit von mir entfernt Keith, Spencer und Mike, die eindeutig über mich und meinen Zusammenbruch lachten. Die drei mussten mir schon die Schulzeit zur Hölle machen und sie waren die größten Idioten, die auf Erden wandelten und es war mir immer noch ein absolutes Rätsel gewesen, wie es die drei geschafft hatten auf die Uni zu kommen, wenn sie nach meiner Einschätzung die Intelligenz einer Tomate hatten. Wobei das wieder nicht sonderlich fair den Tomaten gegenüber war. Jedes Obst und Gemüse hatte mehr Intelligenz als die drei. Ich warf Keith einen giftigen Blick zu. „Kümmere dich um deinen Kram, klar?“ „Oho… hat da jemand vielleicht seine Tage, oder leidest du immer noch, weil eure Lesbenbeziehung vorbei ist?“ Mein Blick wanderte zu meinem Besteck auf dem Tablett und ich fragte mich, ob ich ihm die Gabel in den Hals rammen und es wie einen Unfall aussehen lassen konnte. Aber ich ließ diese Gedanken lieber, das brachte doch sowieso nichts und außerdem gab es eh zu viele Zeugen hier. Also strafte ich die drei mit Ignoranz, holte mir mein Essen ab und suchte mir im Anschluss einen Platz. Da ich keine Lust hatte, von den anderen Kommilitonen eins auf den Deckel zu kriegen und mir den nächsten Spott anzuhören, setzte ich mich zu den Azubis. Die kannten mich sowieso alle kaum bis gar nicht und da war ich auch froh drum. So wurde mir dieser Horror erspart, dass ich wieder von meinem Kollaps in der Mensa letzte Woche erzählen musste, oder ihn mir von anderen Leuten in übertriebener und etwas verfälschter Form anhören durfte. Wenigstens mit dem Essen hatte ich heute Glück, denn es gab Reis und Frikassee. Und der Nachtisch bestand aus Schokoladenpudding. Es gab schon mal Tage, wo selbst das Mensaessen furchtbar war. Das Schlimmste, was ich hier je gegessen hatte, war der Couscous. Das war einfach kein vernünftiges Essen, sondern sah aus, als hätte man alle Essenreste zusammen in einen Topf geworfen und zusammen mit Couscous serviert. Und so hat es leider Gottes auch geschmeckt. Am meisten aber freute ich mich auf den Nachtisch, denn Schokoladenpudding war doch der beste Nachtisch, den man bekommen konnte. Wenigstens ein kleiner Trost. Es reichte schon, wenn ich schon mit Magenschmerzen zur Universität fahren musste, weil ich mich so sehr davor gegraust hatte, dass die anderen über diese Sache mit Katherine reden würden. Naja… zumindest war es nicht ganz so schlimm, wie ich zuerst angenommen hatte. Stattdessen redeten nur die üblichen Idioten darüber, die offenbar keine anderen Hobbys hatten und die unbedingt Aufmerksamkeit brauchten, indem sie über andere Leute ablästerten. Ich kannte das zur Genüge und war inzwischen daran gewöhnt. Ich selbst hatte mich nie wirklich zu der Art von Leuten erzählt, die großartig lästern mussten, nur um sich wichtig zu machen. Ja okay… ich hab schon mal mitgemacht, als unsere verhasste Erdkundelehrerin an der High School einen dermaßen großen Riss in der Hose hatte, dass man ihre Unterhose darunter sehen konnte. Aber die hatte es auch nicht anders verdient, denn sie war ungerecht, viel zu streng und auch sonst ein sehr unausstehlicher Mensch gewesen. Die Sorte Frau, bei der man sich wirklich ernsthaft fragte, ob sie nicht vielleicht in der Menopause war. Während ich auf meinem Teller Reis mit Hühnerfrikassee zusammenmischte und dann aß, beobachtete ich hin und wieder mal das Treiben in der Mensa. Einige der Leute, die herkamen, kannte ich noch von der High School. Mit den meisten verstand ich mich ganz gut, aber dennoch war mir die High School Zeit nicht gerade positiv im Gedächtnis geblieben, aber ich glaube, ich bin da eh nicht der Einzige, dem es so geht. Ich war nie sonderlich hässlich oder ein Streber. Meine Noten waren gut genug gewesen, dass ich mit Mühe und Not einen Platz an der Kunsthochschule bekommen hatte und das Einzige, was mich eben zur Zielscheibe für andere machte, war mein Aussehen, von dem man nicht hundertprozentig sagen konnte, ob es jetzt männlich oder weiblich war. Und ich habe wirklich alles versucht, um dieses verdammte Image loszuwerden. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin, dass ich kaum passende Kleidung fand, die auch wirklich zeigte „Ich bin ein Kerl!“ Meine Schultern waren verdammt schmal und die meisten Sachen hingen wie Zelte an mir runter. Selbst die Schuhe waren mir meistens zu breit. Nun gut… ich kannte ja Frauen, die ähnliche Probleme hatten. Sie waren zu groß und zu breit, um in Kleidergröße 34 reinzupassen und die Klamotten waren dann alle zu kurz oder saßen nicht richtig. Aber die Frauen hatten einen entscheidenden Vorteil: sie konnten sowohl Kleider als auch Hosen tragen. Und ich kannte kaum einen Mann, der ein Kleid oder einen Rock tragen konnte, ohne gleich als Transvestit oder als Drag-Queen durchzugehen. Was also konnte man da tun? Entweder einen Gürtel oder Hosenträger zulegen, oder aber in den sauren Apfel beißen und Hosen aus der Frauenabteilung nehmen. Unsere Nachbarin Mrs. Rockwell, die seit einiger Zeit auf einen absoluten Esoteriktrip war und die ganze Zeit mit ihren Räucherstäbchen und Klangschalen herumfuchtelte, erzählte uns mal, dass alles Positive und Negative was wir taten, eine entsprechende Resonanz zur Folge hatte. Tat man was Gutes, widerfuhr einem auch Gutes. Und wenn man Böses tat, erlebte man eben Böses. Das nannte sich Karma. Allerdings stellte sich mir die Frage, was ich in meinem letzten Leben verbrochen haben musste, um so viele Probleme an den Hals zu bekommen. Nach der Mittagspause schnappte ich mir meine Tasche und verließ die Mensa. Irgendwie hatte ich immer noch ein flaues Gefühl in der Magengegend und Hunger hatte ich auch. Das mochte wahrscheinlich daran liegen, weil ich in der Hektik mein Frühstück zuhause vergessen hatte. Nun stand ich vor der großen Frage, was ich machen sollte. Aushalten und dann beim Abendessen satt werden, oder aber mir noch einen Snack holen? Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, damit aufzuhören. Nicht, weil ich es nötig hätte, auf meine Figur zu achten. Ehrlich gesagt wäre ich dankbar, wenn ich ein paar Kilo mehr hätte und dann nicht mit so einer Mädchenfigur leben müsste. Aber ich hatte immer ein schlechtes Gewissen dabei, mir zwischendurch noch Snacks reinzupfeifen. Ich hatte eben auch keine Lust, zusätzlich noch als verfressen abgestempelt zu werden. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, mit denen ich fertig werden musste. Letzten Endes siegte aber mein Hunger und ich kehrte deshalb noch mal zurück und kaufte mir einen Schokoriegel. Nicht gerade sättigend, aber nach der deftigen Mahlzeit brauchte ich auch unbedingt etwas Süßes. Vor allem war es eine gute Nervennahrung, wenn man bedachte, dass ich gleich wieder in die Höhle des Löwen zurückkehren und dem Feldwebel über den Weg laufen würde. Nach der Theorie hatten wir nämlich noch praktischen Unterricht, also das Malen und Zeichnen. Und nach meinem Zwischenrufer mit den Nutten war ich mir nicht ganz sicher, ob er mich bloß wieder auf eine übliche Art und Weise schikanieren wollte, weil er Zuspätkommer immer bis zum Ende des Tages auf den Kieker hatte. Aber wenn er jetzt auch noch wegen meinen Zwischenrufer sauer auf mich war und es mir gleich noch unter die Nase reiben würde, dann konnte ich wirklich mit dem Gedanken spielen, ob es nicht vielleicht besser wäre, das Weite zu suchen und stattdessen zu schwänzen. Zumindest nur für heute. Der Gedanke war verlockend, aber ich entschied mich doch anders und nachdem ich mir einen Schokoriegel geholt hatte, machte ich mich schnell auf den Weg, um nicht schon wieder zu spät zu kommen. Sonst war der Tag endgültig für mich gelaufen. Selbst aufs Malen konnte ich mich einfach nicht konzentrieren und war deshalb heilfroh, als der Tag an der Uni sich endlich dem Ende zuneigte und wir nach Hause gehen konnten. Selten hatte ich mich so erschöpft und abgekämpft gefühlt… Und selten war ich der Uhr so dankbar, dass sie mich von Feldwebel Tanner erlöst hatte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)