Down Hill 2: Efrafa von Sky- ================================================================================ Kapitel 1: In Sicherheit ------------------------ Helles Licht blendete ihn, als er langsam die Augen öffnete. Sofort musste er sie wieder zukneifen und er drehte den Kopf weg, um dieser starken Lichtquelle auszuweichen. Nur langsam schaffte er es, sie an diese neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen und sich ein wenig umzuschauen. Viel sah er nicht und sein Kopf fühlte sich bleischwer an. Ihm war furchtbar heiß und er spürte seine Kleidung wie eine zweite Haut an seinem Körper kleben. Er war völlig durchgeschwitzt und er spürte, wie sein Gesicht glühte. Außerdem war ihm schlecht. Aber wo war er denn? Es roch irgendwie nach Desinfektionsmitteln und er spürte, dass er in einem Bett lag. Und das Zimmer sah aus wie eine Krankenstation. Konnte es vielleicht sein, dass er in einem Krankenhaus lag? Ja, wahrscheinlich war es das. Er war vermutlich in einen Unfall geraten und war dann bewusstlos geworden, weil er sich wahrscheinlich noch den Schädel angeschlagen hatte. Was für ein Glück, dachte er sich und atmete erleichtert aus. Es war alles nur ein Traum. Ein völlig verrückter Traum. Suchend begann Mello nun damit, seinen Kopf zu bewegen und einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Doch er fand keines. Ja aber wieso gab es denn keine Fenster hier? Es war wohl besser, wenn er nachsehen ging. Also setzte er sich auf, spürte aber sogleich die Schmerzen in seiner unteren Körperhälfte, die die schrecklichen Erinnerungen an die Horrorstunden wieder zurückholten, die ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Und mit einem Male kam ihm die schreckliche Erkenntnis, dass das kein Traum gewesen war und er keinen Unfall gehabt hatte. Es war alles wirklich passiert. Er war von diesem Psychopathen stundenlang vergewaltigt und später bei seiner Flucht mit der Machete verletzt worden. Dann war er in einen Schacht gestürzt und im Hell’s Gate gelandet. Dieser Horror war wirklich passiert und er hatte diese entsetzliche Hölle mit eigenen Augen gesehen und war mittendrin gewesen… Doch wie war er aus dem Hell’s Gate rausgekommen und wieso war er noch nicht tot? Hastig sah er sich um und bemerkte, dass es noch weitere Betten gab. In einem davon lag ein blondhaariger Junge, der mit dem Rücken zu ihm gekehrt lag und dessen Augen bandagiert waren. Wohl durch die Geräusche aufmerksam geworden, setzte sich der Junge auf und wandte den Kopf Mello zu, dann hustete er kurz und bemerkte „Oh, du bist also wach. Und ich dachte schon, du wärst ins Koma gefallen.“ „Wer… wer bist du und wo bin ich?“ „Keine Angst, du bist in Sicherheit. Momentan sind wir beide auf der Quarantänestation von Efrafa II. Wir befinden uns also in Ebene 2, direkt unter Ebene 3, die auch als Todeszone bekannt ist. Mich kannst du ruhig Echo nennen, das ist mein Deckname für Down Hill. Und wie darf ich dich…“ Wieder musste der Junge heftig husten und er wirkte auch nicht gerade gesund. Offenbar war er krank und befand sich deshalb hier. „Mello“ antwortete der 24-jährige. „Und wieso bin ich auf der Quarantänestation?“ „Keine Ahnung. Vermutlich weil du krank bist oder der dringende Verdacht auf Krankheit besteht. Ich hab mir die Grippe eingefangen und musste deshalb hierher. Es gibt leider nicht genug Medikamente in Down Hill, um alle Häftlinge zu versorgen und sie sind eh sehr schwer zu beschaffen. Und um zu verhindern, dass sich Krankheiten verbreiten, werden Infizierte sofort isoliert. Darf ich raten? Du bist ein Rookie, oder?“ „Ja“, antwortete Mello nach kurzem Zögern, da er sich erst mal wieder daran erinnern musste, was noch mal ein Rookie war. „Und wie bin ich hierher gekommen?“ „Das weiß ich nicht. Ich bin schon seit vorgestern hier und kriege deshalb nicht viel mit. Aber gleich müsste jemand kommen, der dir weiterhelfen kann.“ So ist das also, dachte Mello und legte sich wieder hin. Ich bin tatsächlich in Efrafa. Es hat tatsächlich ein verdammtes Wunder gegeben, das mich genau hierher gebracht hat. In diesem Moment wurde er so von seinen Gefühlen überwältigt, dass ihm die Tränen kamen. Tränen der Erleichterung, dass er noch am Leben war und dass er endlich in Efrafa war. Mehr noch, man hatte sich um seine Verletzungen gekümmert und er lag in einem Bett und nicht etwa in einer schmutzigen und schäbigen Zelle. Konnte es wirklich sein, dass er endlich in Sicherheit war? Allein der Gedanke wäre zu schön um wahr zu sein. „Hey“, hörte er Echo sagen, der sich aufrecht hinsetzte und ein fröhliches Lächeln auf den Lippen hatte. „Ganz egal was dir auch zugestoßen sein mag, hier kann dir nichts mehr passieren. Glaub mir, Efrafa ist der sicherste Ort innerhalb von Down Hill. Hier passen wir alle aufeinander auf und halten zusammen.“ Na Echo schien ja echt zuversichtlich zu sein. Doch so wirklich fiel es Mello schwer zu glauben, dass ihm nichts mehr passieren konnte. Nicht nach dem, was er erlebt hatte. „Und wie lange…“ „Ah!“ rief Echo sofort. „Rhyme ist auf dem Weg hierher.“ Rhyme… das war doch eine der Personen, die Kaonashi genannt und die er als vertrauenswürdig eingestuft hatte. Ja genau. Er hatte ihm angeraten, in Efrafa nach Rhyme, Morph oder Christine zu fragen, wenn er dorthin kommen sollte. Wer wohl dieser Rhyme war? Die Tür wurde geöffnet und herein trat ein groß gewachsener Mann von vielleicht 26 Jahren, womöglich auch etwas älter. Er hatte schneeweißes Haar, Augen mit einer außergewöhnlichen magentafarbenen Iris und eine sanfte und ruhige Ausstrahlung. Sein Lächeln hatte etwas sehr friedliches und als Mello ihn so sah, konnte er in diesem Moment irgendwie nicht anders, als an das Meer zu denken. Selten hatte er bei einem Menschen eine solche Ausstrahlung gesehen und irgendwie hatte er etwas von einem Fels in der Brandung oder von einem sanften Riesen. „Hey Echo, wie geht es dir denn? Immer noch Halsschmerzen?“ „Zugegeben, ich muss noch husten, aber es geht besser. Nur das Fieber will einfach nicht runter. Aber ansonsten ist alles in Ordnung. Rhyme, liest du mir nachher was vor, solange Morph nicht zu mir kommen kann?“ „Klar, mach ich. Er hat mich sowieso darum gebeten und mir auch Bescheid gegeben, wo ihr stehen geblieben seid. Das war doch El-Ahrairah und das schwarze Kaninchen von Inlé, richtig?“ „Nein, die Geschichte hat mir Birdie schon vorgelesen. Als Nächstes kam die Geschichte Die Sache mit König Berser-Kerl.“ „Ach so. In Ordnung, Echo. Wenn ich fertig bin, lese ich dir das Kapitel gerne vor.“ „Super!“ Damit drückte Rhyme dem Jungen eine Tablette und ein Glas Wasser in die Hand. Danach ging er zu Mello und lächelte freundlich. Er strahlte etwas sehr Warmherziges aus, was Mello selten in dieser Art gesehen hatte. Irgendwie schien ein inneres Licht von diesem Menschen auszugehen, welches selbst die schlimmste Dunkelheit erleuchten mochte. Rhyme war ein sehr charismatischer Mensch, aber auf eine sehr warme und positive Art und Weise. „Hi, ich heiße Rhyme. Ich gehöre zum Down Hill Untergrund und möchte dich herzlich in Efrafa Willkommen heißen. Ich muss schon sagen, du hattest wirklich großes Glück. Dein Blutverlust war bereits lebensbedrohlich und es ist wirklich ein Wunder, dass du hier bist. Es ist noch niemandem gelungen, dem Hell’s Gate zu entkommen.“ „Woher weißt du davon?“ „Das haben wir sofort am Geruch deiner Kleider gemerkt. Es gibt nur einen Ort in Down Hill, der so stark nach Verwesung und Fäulnis riecht. Deshalb mussten wir deine Kleidung verbrennen und dich augenblicklich in die Quarantänestation bringen, um das Seuchenrisiko einzudämmen.“ „Seuche?“ Rhyme nickte und begann nun damit, Mellos Fieber zu messen und seinen Puls zu prüfen. „Den Patriarchen zufolge hatte es nach dem Ausbruch aus dem Asylum viele Tote gegeben, die dann in den Ecken langsam verwesten. Die daraus entstandenen Gase und die teilweise miserablen hygienischen Zustände haben dafür gesorgt, dass eine Seuche fast drei Viertel der Gefängnisinsassen dahingerafft hat. Darum wurde die unterste Ebene, die ursprünglich ein riesiger Maschinenraum werden musste, in eine Leichendeponie umfunktioniert, um zu verhindern, dass so etwas wieder passiert. Und um das Risiko minimieren, mussten wir deine Kleidung vernichten und dich vor allen anderen Häftlingen isolieren.“ „Und was ist mit dir?“ Rhyme lächelte etwas verlegen und erklärte „Ich kann nicht krank werden, selbst wenn ich wollte. Und da Dr. Helmstedter und Birdie derzeit in Efrafa I sind, bin ich hier so etwas wie der Krankenpfleger. Solange du auf der Quarantänestation bist, bin ich der Ansprechpartner für dich. Du hast sicherlich viele Fragen, oder? Um vorweg die Frage zu beantworten, wie du hergekommen bist: Kaonashi hat dich hergebracht und gesagt, du hättest versucht, zu uns zu kommen und wärst an Sigma und Scarecrow Jack geraten. Dein Zustand war wirklich kritisch und Dr. Helmstedter und Birdie mussten dich operieren. Nicht nur, dass sie deine Wunden nähen mussten, du hattest eine Rippenprellung, eine Platzwunde an der Schläfe und außerdem andere unschöne Geschichten, die ich vor Echo lieber nicht laut erwähnen will.“ „Kaonashi hat mich hergebracht? Wer… wer ist er eigentlich?“ „Er ist der Shutcall der ersten Ebene, die Core City genannt wird. Er gilt als eine der stärksten und gefährlichsten Insassen von Down Hill und gelegentlich gerät er mit unserem Shutcall immer wieder aneinander. Für gewöhnlich ist er eher ein Einzelkämpfer und schert sich nicht um andere. Es wundert mich wirklich, dass er dir geholfen hat. Vermutlich hat dein Kampfgeist oder dein immenses Glück bei ihm Eindruck hinterlassen. So… du hast 40°C Fieber und deine Wunden sind leicht entzündet. Hast du starke Schmerzen?“ „Nur wenn ich mich allzu viel bewege…“, murmelte Mello, war aber mit den Gedanken ganz woanders. Er konnte es nicht glauben, dass Kaonashi tatsächlich ein Shutcall war. Davon hatte dieser nie etwas erzählt und es war ihm ein Rätsel, wieso ein Shutcall, der außerdem als Einzelgänger bekannt war, ihm half zu entkommen und ihn dann auch noch hierher brachte. Warum? Wieso hatte Kaonashi das für ihn getan? Das waren Fragen, die Mello bei seiner Verfassung und den jetzigen Umständen wohl nicht so schnell beantworten würde. „Okay“, sagte Rhyme schließlich und begann Handschuhe anzuziehen. „Wenn Birdie später zur Visite kommt, kann sie dir etwas gegen die Schmerzen geben. Ich habe dazu leider keine Befugnis und kann auch keine Spritzen setzen. So, als erstes sollten wir dich kurz waschen. Du…“ „Was willst du?“ rief Mello, als er das hörte und sofort setzte er sich auf, woraufhin sein gesamter Körper wieder von starken Schmerzen erfasst wurde. Dieser Typ, den er nicht einmal kannte, wollte was mit ihm machen? Allein der Gedanke war schrecklich. Niemand durfte ihn anfassen, geschweige denn ihn so sehen. Niemand durfte ihn anfassen. Er wollte schon aufstehen, doch Rhyme drückte ihn sanft aber dennoch bestimmt wieder aufs Bett. „Ganz ruhig“, sprach er besänftigend. „Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand hier will dir etwas tun und ich kann gut verstehen, wie du dich fühlen musst. So ein Erlebnis vergisst man nicht so schnell und es war sicher sehr schlimm für dich.“ „Es ist wirklich alles in Ordnung“, versicherte Echo ihm. „Mach dir keine Sorgen. Rhyme ist der aufrichtigste Kerl, den du hier in Down Hill finden wirst. Er würde niemandem etwas tun.“ „Ich lass mich von niemandem wieder anfassen, klar? Also bleibt weg, oder ich…“ Doch Rhyme hielt ihn weiter fest und versuchte Mello zu beruhigen. Und da er selber so eine unfassbare Ruhe und Sanftmut ausstrahlte, verlor der angeschlagene 24-jährige seine Angst. Größtenteils lag es aber auch an dem hohen Fieber, dass er eh kaum Energie hatte. Rhyme legte eine Hand auf Mellos Schulter und seine magentafarbenen Augen ruhten auf den Verletzten. „Ich kann dir sehr gut nachfühlen, was du für Alpträume durchleben musstest. Jeder von uns hier hat in diesem Gefängnis Schreckliches erleben müssen. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Solange du in Efrafa bist, hast du nichts zu befürchten. Hier wird dir keiner etwas tun. Leg dich ruhig hin und Echo kann ja aufpassen, dass ich nichts Dummes anstelle.“ „Ganz recht, ich hab meine Ohren überall!“ rief der Junge und lachte. Er wirkte sehr gut gelaunt, trotz seines bescheidenen Gesundheitszustandes und wahrscheinlich rührte seine gute Laune daher, um die Stimmung zu lockern. Mello war zwar immer noch nicht wohl bei der ganzen Sache, aber da er zu erschöpft war, um sich zu bewegen, ließ er Rhyme seine Arbeit machen. Gegenwehr hätte er eh kaum leisten können bei seinem Zustand. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als sei er von einer Dampfwalze überrollt worden und das Fieber raubte ihm zusätzlich jegliche Energie. „Dass du schwitzt, ist ein gutes Zeichen“, sagte Rhyme schließlich. „So wirst du auch schnell wieder gesund. Und gleich bekommst du auch erst mal etwas Vernünftiges zu essen. Und wenn du möchtest, kannst du ja auch zuhören, wenn ich Echo etwas vorlese. Normalerweise macht das ja Morph, weil er der beste Vorleser ist, aber hier auf der Quarantänestation hat nur zugelassenes Personal Zutritt. Und das wären Dr. Helmstedter, Birdie und ich.“ „Wozu liest du denn vor? Kann der Junge nicht selbst was lesen?“ Er sah wie Echos Lächeln schwand und er den Kopf senkte. Und auch Rhyme wirkte bedrückt. Offenbar hatte Mello ungewollt in einer tiefen Wunde herumgestochert. „Echo kann nicht mehr lesen. Er ist blind.“ „Was?“ Mello hielt die Augen auf Echo gerichtet, der langsam die Bandagen abnahm, sodass seine geschlossenen Lider zu sehen waren. Als er sie öffnete, sah der 24-jährige, was mit dem Jungen nicht stimmte: er hatte keine Augen mehr. „Sigma hat ihn vor vier Jahren zusammen mit einigen anderen Rookies verschleppt, da war Echo gerade erst 12 Jahre alt. Er nahm ihm seine Augen, um sie seiner Trophäensammlung hinzuzufügen und seitdem er hier in Efrafa ist, liest Morph ihm jeden Tag etwas vor, weil Echo nicht mehr in der Lage ist, irgendetwas zu lesen.“ Schließlich legte Echo die Bandagen wieder an und legte sich hin. „Andere hatten eben nicht so viel Glück wie du. Manche haben ihre Familien verloren, bevor sie nach Down Hill kamen. Ehepartner, Freunde, Familien, Kinder. Wir konnten überleben, weil wir uns zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen haben, in welcher der Zusammenhalt untereinander stärker ist als woanders in diesem Gefängnis und wir nie unüberlegt handeln. Unter unserem Shutcall konnten wir eine geordnete Gruppe aufbauen, die zu den stärksten in Down Hill zählt, direkt neben Songan und Konngara. Hier kämpfen die Starken, um die Schwächeren zu beschützen und jeder hat hier seine feste Aufgabe. Und Echo hat damals sein Augenlicht geopfert, um unseren jetzigen Shutcall zu retten. Aus diesem Grund beschützen wir ihn auch. Wir versuchen nach den Regeln und Prinzipien einer vernünftigen Gesellschaft zu leben und uns unsere Menschlichkeit zu bewahren, um einander zu helfen. Deswegen gibt es innerhalb von Efrafa auch keine solchen Übergriffe wie du sie erlebt hast und wenn, dann werden sie hart bestraft. Im Grunde ist Efrafa eigentlich das Paradies von Down Hill. Alles, was wir tun müssen ist, auf die Befehle unseres Shutcalls zu hören und ihm loyal zu bleiben. Dann können wir hier meist ein ruhiges Leben führen. Wir haben unsere eigene Logistik, direkten Zugriff auf Schmuggelwaren, Waffen, medizinisches Personal und saubere Quartiere. Dass du hergekommen bist, war die vernünftigste Entscheidung, die du treffen konntest.“ Rhyme schlug langsam die Decke beiseite und begann damit, Mello die Bandagen abzunehmen und ihn zu waschen. Er ging dabei sehr professionell vor und machte es fast schon, als wäre es für ihn reine Routine. Das erleichterte es auch Mello ein Stück weit, diese beschämende Prozedur über sich ergehen zu lassen. Natürlich war es ihm immer noch furchtbar unangenehm und er schämte sich auch. Vor allem aber musste er sich an diese Vergewaltigung zurückerinnern und an die Qualen, die er dabei erlitten hatte. Nachdem Rhyme fertig war, behandelte er die Wunden mit einer Salbe und bandagierte sie wieder. Im Anschluss half er Mello dabei, einen Pyjama anzuziehen. „Er ist leider etwas groß, weil es manchmal schwer ist, vernünftige Kleidung zu bekommen, die auch hundertprozentig passt. Ich leih dir übergangsweise ein paar meiner alten Klamotten, solange du noch keine eigenen hast.“ „Gibt es hier keine Gefängniskleidung oder so?“ „Nein. Wir tragen meistens die Sachen, mit denen wir hier hergebracht wurden und der Rest unserer Kleidung wird uns dann zugeschickt.“ Schließlich, als Mello umgezogen war, hob Rhyme ihn hoch und legte ihn ins Bett daneben, damit er das andere neu beziehen konnte. Dabei wurde schnell klar, wie kräftig er eigentlich war. Obwohl er nur gut fünfzehn bis zwanzig Zentimeter größer war, konnte er Mello problemlos hochheben. „Und wieso seid ihr hier?“ „Wir sind Ghosts, so wie die meisten neueren Insassen. Schwerkriminelle findest du hier meistens nur unter den Patriarchen. Es gibt hier aber auch ein paar, die waschechte Reds sind.“ „Reds?“ „So werden Rebellen, Oppositionelle und aktive Systemfeinde genannt. Die Farbe Rot ist eine sehr beliebte Farbe unter den Widerstandskämpfern und deshalb wirst du hier als Red bezeichnet, wenn du als Regimefeind eingeliefert wirst. Echo zum Beispiel ist der Sohn einer Rebellenfamilie und der Einzige, der von dieser überlebt hat.“ „Und du?“ „Ich bin ein Ghost. Über mich gibt es nicht viel Spannendes zu erzählen. Ich hab ein einfaches Leben zusammen mit meinen Freunden geführt, bevor wir auseinandergegangen sind. Dann hat mich die KEE erwischt und ich bin hier aufgewacht.“ Schließlich hatte Rhyme seine Arbeit beendet und legte Mello wieder in sein Bett zurück und deckte ihn zu, dann legte er ihm einen feuchten Lappen auf die Stirn, um wenigstens für ein bisschen Kühlung zu sorgen. Mello fühlte sich vollkommen erschöpft und kraftlos und er bezweifelte, dass er wirklich noch großartig etwas ausrichten oder von hier abhauen konnte. Er war müde und er merkte jetzt auch deutlich, dass er Hunger und Durst hatte. „Wie lange war ich denn eigentlich weggetreten?“ „Drei Tage hast du auf der Intensivstation gelegen, dann wurdest du hergebracht und hast den ganzen Tag geschlafen. Also summa summarum bist du schon vier Tage hier. Nur ist dein Fieber erst gestern ausgebrochen, also kann es sein, dass du noch ein paar Tage hier bleiben musst. So, ich bin gleich wieder zurück.“ Damit verabschiedete sich Rhyme und verschwand aus dem Zimmer. Aber kurz darauf kam er mit einem Tablett zurück. Das erste stellte er auf einem kleinen Tischchen neben Echos Bett ab und holte schließlich Mellos, wobei er erklärte „Vinny meinte, Hühnersuppe wäre das Beste gegen Grippe, Erkältung und Fieber. Passt aber auf, er liebt es gerne scharf und deshalb kocht er auch etwas schärfer.“ Es gelang Mello mit Rhymes Hilfe, sich aufzusetzen und etwas zu essen. Es gab zu der Suppe noch drei Scheiben Brot und als er den ersten Bissen gegessen hatte, bemerkte er auch, wie hungrig er eigentlich war und selten war er so dankbar über eine warme Mahlzeit gewesen. „Wenn du einen Nachschlag willst, musst du nur Bescheid sagen. Wir haben frische Vorräte reinbekommen und da wird eben auch etwas mehr gekocht.“ „Wie jetzt? Gibt es hier keine Gefängniskantine?“ „Die gab es mal, aber inzwischen ist sie umfunktioniert worden. Wir bekommen gewisse Grundnahrungsmittel über eine festgelegte Lieferroute und verteilen sie dann an die Insassen. Zum Beispiel Nudeln, Brot, Reis. Ein Mal in der Woche gibt es auch Fleisch, aber da es kein frisches Gemüse oder Obst gibt, haben die Patriarchen Beziehungen zu den Gefängniswärtern an der Erdoberfläche, die uns mit weiteren Gütern beliefern. Über Doktor Helmstedter haben wir ebenfalls eine eigene Schmuggelroute und bekommen auf diese Weise auch Waffen und andere Güter geliefert.“ Offenbar hatten sich die Insassen über die Jahre gut organisiert. Echo fügte nach kurzer Überlegung noch hinzu „Im Grunde kannst du Down Hill wie eine unterirdische Gefängnisstadt betrachten. Ebene 0 und Ebene 2 sind die Stützpunkte der verschiedensten Gruppen und waren zu Anfangszeiten Gefängnisse. Core City ist die Hauptstadt. Früher war das mal die Verwaltungsebene mit VIP-Zellen gewesen, die relativ luxuriös im Vergleich zu denen im Asylum sind. Dort findest du nicht nur das Bordell und die ganzen Anlagen, sondern auch Geschäfte. Tattoostudios, einen Friseur, Warenhändler und anderen Schnickschnack. Wenn du etwas brauchst, findest du es in Core City. Hier auf Ebene 2 gibt es hin und wieder mal Ärger mit den anderen Gruppen, weil die nämlich an unsere Schmuggelwege kommen wollen. Aber zum Glück haben wir Christine und die anderen. Die beschützen unseren Stützpunkt. Naja, ich will mal nicht so viel auf einmal erzählen. Mit der Zeit findest du schon noch heraus, wie hier der Hase läuft und dann verstehst du auch die Struktur im Gefängnis. Solange du hier noch auf der Quarantänestation festsitzt, wirst du vom Efrafa-Alltag eh nicht viel mitkriegen. Erst mal solltest du wieder gesund werden.“ „Genauso wie du“, fügte der Weißhaarige noch hinzu und setzte sich schließlich auf einen Stuhl. „Also… Da ich gerade Luft habe, lese ich ein Kapitel vor, wie versprochen.“ „Toll, danke!“ rief Echo begeistert und aß weiter. Mello selbst bekam nicht viel von dem mit, was Rhyme da vorlas. Er merkte nur nebenbei, dass es offenbar eine Art Fabel über ein Kaninchenvolk war, welches von einem Fürsten angeführt wurde, den man auch den Fürst mit den tausend Feinden nannte. Nicht gerade die Art von Lektüre, die er selber unbedingt lesen würde, aber er hatte sowieso nie sonderlich viel vom Lesen gehalten. Er hörte aber trotzdem zu, da er ahnte, dass es eventuell die einzige Unterhaltung in den nächsten Tagen sein würde. Nachdem er aufgegessen hatte, legte er müde den Kopf ins Kissen und schloss die Augen. Es war schon ein seltsames Gefühl nach allem, was ihm passiert war. Er hatte die Hölle gesehen und nun war er in Sicherheit. Man kümmerte sich um ihn und keiner versuchte, ihm irgendetwas anzutun. Selten war Mello so erleichtert gewesen wie in diesem Moment. Er war dieser Hölle entkommen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)