Colour Free Fear von WhiteLady ================================================================================ Kapitel 3: Freiheit 2.0.3 ------------------------- Bernstein wurde zu Schiefer, wachsbleiche Haut weiß wie Schnee, goldblond zu pechschwarz. Einen Herzschlag später waren ihre Positionen vertauscht und Splitter presste Sergej unbarmherzig zu Boden. Für einen Moment sah er aus dem Augenwinkel etwas Silbriges aus dem weißen Armstumpf ragen – vielleicht Drähte oder Kabel - ehe sich das Fleisch dehnte und streckte und ihn nun zwei Hände gnadenlos auf die glänzenden Fliesen drückten. Auch das Blut war verschwunden; in Splitters makellosem, hageren Gesicht schimmerten die grauen Augen in einer Art wahnsinnigen Freude. „Idiot“, zischte er. „Denkst du wirklich, dass du auch nur annähernd gut genug für meinen Meister bist?“ In dem grellen, elektrischen Licht waren die Schatten auf seinem Gesicht schwarz und scharf umrissen wie Scherenschnitte. Sergej würdigte die ohnehin rhetorische Frage keiner Antwort, stattdessen fragte er selbst zurück: „Was hast du mit Nikko gemacht, du Monster?“ Splitter verzog das Gesicht, als wäre ihm ein schlechter Geruch in die Nase gestiegen. „Beleidige mich ruhig, das wird dir nichts nützen. Und nur zu deiner Information…“ Seine knochigen Finger bohrten sich in Sergejs Schultern; er hörte ein leises Knacken und hoffte, dass er ihm nicht die Schulter ausrenkte. „Meinem Meister geht es gut, ich habe ihm nicht wehgetan… Und wenn ich dich erst mal beseitigt habe, dann brauche ich ihn nur noch zu finden und ihm klar zu machen, dass er an meiner Seite viel glücklicher werden wird, als er es an deiner jemals war!“ Bis jetzt war Sergejs Bewusstsein von Schock, Schmerz und Überraschung trübe gewesen wie ein Himmel im November, doch als er diese Worte hörte, verzogen sich die Wolken schlagartig. „Glücklich?!“ Er war selbst erstaunt über die Wut in seiner Stimme, vor allem wenn man bedachte, dass ungefähr fünfzig Kilo lebendes Fleisch auf seinem Oberkörper knieten und ihm einen Gutteil der Atemluft abquetschten. „Wie kannst du davon reden, dass er bei dir glücklich wird?! Du bist doch nicht mal echt! Du bist eine konstruierte Persönlichkeit, ein zusammengewürfeltes Etwas aus Einsen und Nullen, nichts weiter! Wenn du mich tötest und ihn bei dir behältst, hast du vielleicht noch sechzig Jahre was zum Spielen, vorausgesetzt, sie ziehen ihm nicht vorher den Stecker!“ Vorher war sein Gesicht blass gewesen, mit roten Flecken auf den Wangen, nun war es gänzlich rot. An der Schläfe sah man eine Ader pochen. „Im Gegensatz zu dir ist Nikko nämlich lebendig und sobald sein Körper stirbt, verschwindet auch sein Bewusstsein aus deiner irren Traumwelt!“ Ein animalischer Aufschrei entrang sich Splitters Kehle, er sprang auf und riss Sergej am Kragen dabei mit sich. Der Hacker hörte die Wirbel in seinem Nacken knacken; für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Splitter hob ihn mit einer Hand hoch, so dass seine Füße ein gutes Stück über dem Boden baumelten. Die Sehnen und Adern spannten sich wie dicke Kabel unter der papierdünnen Haut. „Du weißt doch gar nichts.“ Die vorher klare Stimme der KI knisterte und knackte, wie ein Radio mit Funkstörungen. „Gar nichts weißt du! Weder über mich, noch über meinen Meister! Ihr Hacker, ihr haltet euch alle für so schlau, ihr mit euren Viren und Spezialprogrammen! Zerstören und stehlen, das sind die einzigen Dinge, die ihr könnt! Mutter war angewidert von Leuten wie euch, sie wollte nie etwas zerstören, sie wollte nur erschaffen! Und sie hat etwas erschaffen, nämlich mich!“ „Das hast du dir ja schön zusammengepuzzelt“, spottete Sergej todesmutig. Wieder ließ Splitter seinen bestialischen Wutschrei erklingen und knallte den Hacker mit voller Wucht gegen das massive Terminal. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen und er sackte keuchend an dem blanken Stahlpult zusammen. Die KI hockte sich vor ihn, die Ellbogen auf den knochigen Knien, und lächelte ihn freundlich an, als würden sie sich das erste Mal sehen. Aus irgendeinem Grund hatte seine Persönlichkeit mal wieder eine Hundertachtzig-Grad-Drehung vollführt, wie vor ein paar Stunden auf der Plaza, vom mordlustigen Psychopathen zum unschuldigen Kind. „Magst du eine Geschichte hören?“ Sergej, der immer noch nicht wieder zu Atem gekommen war, nickte nur, in der Hoffnung, dass das die mörderische KI lange genug beschäftigen würde, bis er einen Plan hatte. Wenn Splitter lächelte, und zwar wirklich lächelte, statt sein grauenhaftes Grinsen aufzusetzen, dann war er sogar beinahe hübsch. Seine Augen glänzten, von einer scheinbar kindlichen Freude erfüllt. „Weißt du, früher, also ganz früher, da waren hier noch ganz viele andere.“ Die Interferenzen waren aus seiner Stimme verschwunden, dafür hakelte sie jetzt ab und an, wie eine zerkratzte Schallplatte. „Aber mich hatten sie weggesperrt, an einen dunklen Ort, weit weg von hier, aus dem ich nicht raus konnte. Da war ich ganz allein, weißt du? Nur Mutter kam manchmal und versprach mir, dass ich irgendwann frei sein würde, dass ich dann nicht mehr allein sein würde, dass sie mir jemanden schicken würde, der bei mir bleiben würde, weil sie ja immer wieder gehen musste. Irgendwann ist meine Mutter gestorben… Aber dann kamen ihre Schwestern, die wie sie waren, aber eben doch nicht, verstehst du?“ Sergej nickte langsam; er verstand tatsächlich. Splitter sprach von den Klonen. Die schmalen Lippen der KI verzogen sich zu einem Schmollmund, und sie stützte das Kinn in die rechte Hand. „Die mochten mich noch weniger als Mutter, sie haben mich nicht mal in meinem Versteck besucht. Wenn man im Dunklen eingesperrt ist, vergeht die Zeit so unglaublich langsam… Und mit der Zeit wurde ich wütend.“ Nun blickten seine traumverschleierten Augen wieder etwas wacher. „Ich war so wütend auf die anderen, die frei waren und mit Mutters Schwestern spielen durften… Und mich hatten alle vergessen. Aber mit der Zeit wurden meine Fesseln lockerer, das Dunkel lichtete sich… Ich konnte spüren wie all die anderen mit der Zeit schwach wurden und starben… Und als nur noch ein paar übrig waren, sind meine Fesseln endgültig zerrissen.“ Er legte den Kopf auf die Seite, wie ein neugieriger kleiner Vogel. „Um die, die noch da waren, hab ich mich dann gekümmert.“ Eine boshafte, aber seltsam unschuldige Freude leuchtete in seinen harten Glimmeraugen. „Und dann hab ich gewartet… Gewartet, dass endlich jemand kommen würde… Jemand wie mein Meister.“ Sergej fixierte seinen Blick bewusst auf Splitters Gesicht, damit sich dieser sicher sein konnte, dass er ihm seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Er spürte seinen Herzschlag hart und schnell in seinen Schläfen pochen. „Und jetzt ist er endlich da, und wir können-“ Was genau sie konnten, ging in einem schrecklichen, feuchten Gurgeln unter, als Nikolai dreißig Zentimeter rostfreien Stahl in Splitters Rücken stieß. Wie bei einem Zaubertrick kam die Klingenspitze, nun schwarz vor Blut, aus seinem Bauch wieder zum Vorschein. Nikolai zog ihm den Dolch mit einem Ruck wieder aus dem Körper; als sich der Stahl endgültig löste, gab es ein schmatzendes, unangenehmes Geräusch. „Er hat mich kommen hören“, stellte er trocken fest. „Er hat gewusst, dass ich hinter ihm war…“ Die bernsteinfarbenen Augen ruhten unverwandt auf der KI. Splitter war auf die Seite gekippt, beide Arme fest um die stark blutende Bauchwunde geschlungen; eine furchtbare Mischung aus heiseren Schreien und atemlosen, halb erstickten Schluchzern hallte von den Wänden wieder. Sergej rappelte sich auf; er war blass, aber einigermaßen gefasst. „Wie kommst du überhaupt hierher?“, fragte er, wobei er versuchte, das blutende Häufchen Elend zu seinen Füßen zu ignorieren. Sein Partner zuckte mit den Achseln und wischte die besudelte Klinge geistesabwesend an seinem T-Shirt sauber; seine Augen waren immer noch auf Splitter gerichtet. „Wahrscheinlich auf demselben Weg wie du. Ich war gerade dabei, ihn zu Kebab zu verarbeiten, als er mit einem Mal zusammenzuckte und in Richtung Turm sah. Dann sagte er zu mir, dass wir unseren Tanz wohl auf ein anderes Mal verschieben müssten, und ist abgehauen. Ich bin natürlich hinterher, aber er war schneller als ich. Ich hab nur gehofft, dass ich noch rechtzeitig komme, schließlich konnte ich mir ausrechnen, dass er nichts Gutes vorhat.“ „Völlig richtige Annahme.“ Sergej wandte sich wieder dem Terminal zu und sortierte die Kabel, die er sich vor wenigen Minuten so achtlos herausgerissen hatte. Seine Hände zitterten leicht. „Er hat wahrscheinlich gespürt, dass ich mich an der Programmierung zu schaffen gemacht habe, und wollte mich aufhalten, ehe ich ihn endgültig lösche.“ Bei dem Wort „löschen“ stieg Splitters inzwischen recht leises Wehgeschrei wieder um ein paar Dezibel. Als sich Sergej umdrehte, weiteten sich seine Augen einen Herzschlag lang vor Überraschung. Nikolai hatte sich neben die verletzte KI gekniet und sie vorsichtig auf den Rücken gedreht, so dass sie nun etwas bequemer lag. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten; wenn er überhaupt eine Regung zeigte, dann war es allerhöchstens eine Art wissenschaftlicher Neugier. Als Splitter anfing zu würgen, drehte er seinen Kopf sacht zur Seite, damit er das Blut ausspucken konnte. „…Wie viel von unserem Gespräch hast du eigentlich gehört?“, fragte Sergej leise. „Das Meiste“, antwortete Nikolai scheinbar gelassen. „Was genau hat er eigentlich damit gemeint?“ „Tja.“ Der Hacker zog sich seinen Drehstuhl wieder heran. Anscheinend stand noch eine weitere Märchenstunde bevor. „Das was er erzählt hat, passt alles ins Bild. Splitter ist tatsächlich nur ein Teil der Persönlichkeitskonstruktion der gesamten KI; um eine komplette, in sich geschlossene Persönlichkeit zu schaffen, war Eva scheinbar doch nicht gut genug. Splitter war entweder falsch programmiert, hat irgendwann bei einem Virenbefall einen Knacks bekommen oder etwas Ähnliches, auf alle Fälle repräsentiert seine Persönlichkeit wohl hauptsächlich den Wahnsinn. Er ist völlig irre, wenn du verstehst was ich meine. Deswegen hat Eva ihn wohl auch weggesperrt, weil sie wusste, dass er für den Rest ihrer Schöpfung eine Gefahr darstellte. Und sie hatte leider Recht. Ich bin schon stutzig geworden, als ich die riesigen Speicherblöcke in CyCos Hauptquartier gesehen habe; die KI an sich sollte nämlich komplett ohne zusätzliche Speicher auskommen.“ „Woher weißt du das so genau?“ „Ich hab über das Ding 'ne komplette Doktorarbeit geschrieben, dementsprechend bin ich mir ziemlich sicher.“ „Du hast einen Doktor?“ „Klar. In neuronaler Informationstechnologie. Wenn ich den richtigen Pass benutze kann ich den Titel sogar verwenden. Aber darum geht’s jetzt nicht.“ Mit gerunzelter Stirn starrte er ins Leere, eine Hand in den verwaschenen Stoff seiner Jeans gekrallt. „Die zusätzlichen Speicher waren der erste Hinweis, aber als wir hier aufgewacht sind, hatte ich endlich Gewissheit: der Kern der KI ist innerlich völlig verfault und steht kurz vor dem unvermeidlichen Zusammenbruch. Deswegen ist hier drin auch alles so kaputt! Und die Sache mit der DNS…“ An dieser Stelle wurde sein Vortrag von einem feuchten, schmerzhaft klingenden Husten Splitters unterbrochen. Nikolai fasste ihn wortlos bei den Achseln und half ihm sich aufzurichten, damit er leichter atmen konnte. Sergej räusperte sich. „Ich dachte erst, die Elektronik der KI würde den Code brauchen um hoch- und runterfahren zu können, aber um den Code ging es im Grunde gar nicht, das war nur Tarnung. Tarnung dafür, dass die DNS von Evas Klonen die Persönlichkeiten der KI bei der Stange hielt, wie eine Droge, ohne die sie nicht leben konnten. Hätte man ihnen auf Dauer diese Droge verweigert, wären sie über Kurz oder Lang wohl alle wie Splitter geworden: bessere Virenprogramme, die in einem kaputten Wunderland vor sich hinvegetieren.“ Er erschauerte leicht und wandte sich wieder den Tasten zu. „Aber Evas Konstruktion nutzte sich ab; sie brauchte irgendwann die externen Speicher, wie ein alter oder kranker Mensch seine Krücken braucht.“ Die letzten Zeilen des entscheidenden Codes bauten sich vor seinem inneren Auge auf, aber aus einem Impuls heraus drehte er sich nochmals um. „Gleich ist es vorbei“, sagte er beruhigend, wobei ihm nicht ganz klar war, ob er Nikolai oder den inzwischen sehr stillen Splitter beruhigen wollte, der ihn mit großen, schmerzerfüllten Augen ansah. „Gleich verpasse ich der Programmierung den entscheidenden Stoß, hier drin wird alles gelöscht und wir können zurück in unsere Körper.“ Als Nikolai anfing zu sprechen, zitterte seine Stimme zwar nicht, aber trotzdem schien er sich seiner Sache nicht wirklich sicher zu sein. „Kannst du ihn nicht doch noch… irgendwie retten?“ Skeptisch hob der Hacker eine Augenbraue. „Splitter? Retten? Nikko, er ist nicht mal echt! Und völlig wahnsinnig noch dazu!“ „Na und?“ Das war ein überraschend schwer zu widerlegendes Gegenargument. Leise stöhnend fuhr sich Sergej mit der Rechten übers Gesicht. „Du verdammter Sturkopf! Was sollte das denn bitte bringen? Du hast selbst gesagt, dass er dich hat kommen hören, er hat nicht die geringsten Anstalten gemacht sich zu verteidigen… Wahrscheinlich wollte er sterben, wenn auch nur unbewusst, und wenn es durch deine Hand war, noch besser. Er ist doch nur noch ein Fragment, ein winziger Bruchteil eines großen Ganzen! Wenn wir ihn jetzt löschen, tun wir ihm letztendlich doch nur einen Gefallen, sonst quält er sich nur weiter, bis er schließlich doch irgendwann stirbt. Wir verpassen ihm nur den Gnadenschuss…“ Nikolai sah ihn fest an, die Hände auf Splitters Schultern. „Du hättest mir auch einen Gnadenschuss verpassen können, aber das hast du nicht getan. Du hättest mich weiter leiden lassen können, aber das hast du nicht getan. Du hast mich gerettet, wieso kannst du nicht auch ihn retten?“ Wütend schlug der Hacker mit der Faust auf das Terminal. Die Luft war stickig, geschwängert vom bitteren Blutgeruch der KI, und die Spannung zwischen ihnen konnte man beinahe auf der Zunge schmecken. „Willst du eine ehrliche Antwort? Ja, willst du das? Ich habe dich gerettet, weil DU es warst. Ich bin kein barmherziger Samariter, ich rette nicht regelmäßig irgendwelche dahergelaufenen Leute. Ich habe dich gerettet, und nur dich. Was ich für dich getan habe, würde ich für keinen anderen Menschen auf der Welt tun, weil mir kein Mensch auf dieser Welt auch nur annähernd so viel bedeutet wir du! Vielleicht bin ich besessen, vielleicht bin ich genauso irre wie Splitter, aber das ist mir egal! Ich habe dich gerettet, um DICH zu retten, kapiert?“ „Ja“, antwortete Nikolai ruhig. „Dann rette auch Splitter.“ „Und warum sollte ich das tun?“ „Weil ICH dich darum bitte.“ Dunkles Braun und helles Orange trugen für einen Moment einen erbitterten Kampf aus, einen Machtkampf, der an dem zerbrechlichen Gefüge ihrer Beziehung riss und kratzte, unbarmherzig und brutal. Schließlich seufzte Sergej resigniert und legte die Hände wieder auf die Tasten. „Was habe ich getan, dass der Killer gerade dann seinen Moralischen bekommt, wenn es um eine psychotische KI geht?“, fragte er das Terminal mit einem gespielt leidenden Gesichtsausdruck. „Hm… An sich ist das kein Problem. Splitters Persönlichkeitskonstruktion umfasst nur ein paar Dutzend Gigabyte, die kann ich problemlos transferieren… Aber ich verspreche nicht, dass es klappt“, sagte er, an Nikolai gewandt. Dieser nickte nur, die Arme bis zu den Ellbogen mit schwarzem Blut verschmiert. Sergej fragte sich flüchtig, ob die KI überhaupt noch lebte, aber das war im Grunde ja nicht sein Problem. Sein Zeigefinger schwebte über der Enter-Taste. „Also dann… Wir sehen uns auf der anderen Seite, ja?“ „Natürlich“, antwortete Nikolai. Sein Lächeln war das Letzte, das er sah, bevor die Scheinwelt des Kerns vor seinen Augen zersplitterte. Reifüberkrustete Wimpern erzitterten leicht, als das Bewusstsein in den zierlichen Körper zurückkehrte. Leise stöhnend versuchte Nikolai seine Glieder zu bewegen; alles an ihm war eigenartig taub und steif, bis auf den Knochen durchgefroren. Ungelenk erhob er sich und sah sich in dem riesigen, hell erleuchteten Raum um. Die Wissenschaftler, Techniker und Wachleute, die ihn hierher begleitet hatten, lagen wie reglos wie Puppen auf dem Boden verstreut, als hätte ein riesiges Kind sein Spielzeug nicht weggeräumt. Sein Gesicht juckte und als er mit einiger Schwierigkeit die Hand hob, um sich zu kratzen, bemerkte er erstaunt, dass getrocknetes Blut unter seinen Nägeln kleben blieb. Anscheinend hatte er irgendwann, während sein Bewusstsein in Splitters seltsamer Traumwelt steckte, Nasenbluten bekommen. Langsam schleppte er sich in Richtung Ausgang, die Lippen blau vor Kälte, wobei er sich an der Wand abstützte; seine Beine waren weich wie Pudding. Den Rest der Strecke zu Sergejs Wohnung bewältigte er wie im Traum; er bemerkte nicht mal das leichte elektrische Zwicken, als er durch das von dieser Seite ungefährliche Kraftfeld trat. Niemand versuchte ihn aufzuhalten; wahrscheinlich hatte die KI auch alle anderen Sicherheitssysteme von CyCo mit in den Tod gerissen. In der U-Bahn rückten die Menschen von ihm ab, doch das registrierte er nur beiläufig. Der Weg, den er gehen musste, schien irgendwo tief in seinen Gehirnwindungen eingespeichert zu sein und er folgte ihm, wenn auch langsam und schleppend. Als er in Sergejs Wohnturm im Aufzug stand, drohten seine Beine jederzeit unter ihm nachzugeben und als sich die Stahltüren öffneten, taten sie es tatsächlich. Aber anstatt auf den kalten Laminat zu landen, fingen ihn warme, kräftige Arme auf. Überrascht blinzelte er durch den blonden Vorhang seiner Haare. Nicht Sergej, sondern Melody hatte ihn aufgefangen und in ihrem hübschen Gesicht zeichnete sich eindeutig Besorgnis ab. „Da bist du ja! Ich wollte dich schon suchen gehen.“ „Sorry“, krächzte er. „Der Rückweg hat ein bisschen gedauert…“ Melody schüttelte nur den Kopf und hakte ihn unter. „Dann bring ich dich mal zum Großmeister, der erwartet dich nämlich schon sehnsüchtig.“ Sergej saß immer noch auf seinem Futon und sah etwas weniger ramponiert aus als Nikolai, allerdings nicht sehr. Neben ihm lag ein rotgeflecktes Taschentuch; anscheinend hatte auch er Nasenbluten gehabt. Er lächelte schwach, als er ihn sah. „Wir haben's überstanden, oder?“ „Ja, und du hast mich dabei fast zu Tode erschreckt!“, schimpfte Makoto, die gerade in ihrer Arzttasche wühlte, anscheinend auf der Suche nach einem bestimmten Instrument. „Mit einem Mal war sein EEG platt, platt wie das Meer bei Flaute! Und dann kommt es nach ein paar Minuten plötzlich wieder, wo ich mich schon drauf eingestellt hatte, dass ich ihn demnächst an die Lebenserhaltung anschließen kann! Macht das nie wieder, klar?“ „Hatten wir nicht vor“, murmelte Sergej verlegen. Nikolai ließ sich steif neben ihm nieder, so nah, dass sich ihre Oberarme berührten. Dabei registrierte er, dass sich auch rund um seine Implantate eine dünne Blutkruste gebildet hatte, deutliches Zeugnis der unglaublichen Anstrengung, die sein Gehirn in letzter Zeit durchgemacht hatte. „Splitter?“, fragte er leise. Der Hacker verdrehte die Augen. „Du kannst auch an nichts anderes denken, was? Moment.“ Er schnappte sich seine Tastatur und gab einen Code ein. „Hallo, Meister!“ Die schlaksige Gestalt der KI erschien prompt als Hologramm mitten im Raum. Er grinste breit und zeigte ihm einen Daumen rauf. „Der geistert jetzt durch meine Speicherblöcke“, brummte Sergej. „Aber ich sag dir eins, wenn er an meinen Daten herumpfuscht, dann lösche ich ihn ohne Gnade!“ „Jaja.“ Nikolai lehnte sich an ihn, die Augen nur noch halb geöffnet. Splitters Hologramm löste sich in einen wie glitzernden Funkenregen auf und Sergej sah vor seinem inneren Auge eine Flut von Daten, die in seine Speicher geladen wurden. „Und da trudeln die CyCo Daten ein“, sagte er, wobei er deutlicher zufriedener klang. „Wir haben's geschafft, Nikko, wir haben´s wirklich geschafft!“ Aber Nikolai hörte das schon gar nicht mehr; er war an den Hacker gelehnt bereits eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)