Spiegelbild von NaruxHina-Fan ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Spiegelbild   So ein bequemer Sessel war einem nach einem langen, harten Tag immer willkommen. Das weiche Leder, die hohe Lehne, in die man sich hinein kuscheln konnte. Sie stützte den kleinen gebeugten Rücken und schien ihn zu umarmen, hegte ihn ein und umfing ihn wie schützende Flügel. Ja, nichts ging über einen Ohrensessel. Conan zog die Beine an und legte das dicke Manuskript auf seinem Schoß ab. Der lange Probentag machte sich bemerkbar, doch er würde noch einige Stunden mit der Wiederholung des Textes zubringen müssen. Er knipste die alte Leselampe an und ließ deren gelbes Licht die Schatten im Raum vertreiben. Nirgendwo konnte er besser lesen als in der Bibliothek seines Elternhauses, wo das Blei vergangener Generationen zu immer neuen Entdeckungsreisen einlud. Ihre Klassenlehrerin hatte beschlossen, ein Theaterstück zu inszenieren und über beide Ohren gestrahlt, als sie ihnen den Namen präsentierte: „Ein Skandal in Böhmen“. Auch noch auf Englisch! Für den durchschnittlichen japanischen Mittelstufenschüler eine vielfache Katastrophe; auf der Bühne stehen, im Rampenlicht, einen fremdsprachigen Text intonieren und dass trotz oder gerade wegen der Pubertät?! Entsprechend schien sich der Enthusiasmus in Grenzen zu halten, die allgemeine Beteiligung wollte sich er gar nicht einstellen. Allein die Detective Boys, natürlich der enge Zirkel, Genta, Mitsuhiko und Ayumi waren von vorne herein Feuer und Flamme. Bei dem Gedanken an die Jubelschreie der drei musste Conan grinsen. Dieser Bande  war doch auch nichts zu peinlich, das hatte sich all die Jahre nicht verändert. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, so war er selbst sofort begeistert gewesen. Arthur Conan Doyles Werk war nun einmal nicht zu übertreffen. Das Glück, diese literarische Perfektion selbst inszenieren zu können, musste man erst einmal haben. Seine eigene Motivation übertrug sich mehr und mehr auf den Klassenverband. Durch kreative Vorschläge, zielstrebige aber dezente Anregungen hier und da drückte er dem Stück immer mehr seinen Stempel auf und es dauerte nicht lange, bis er sich im Zentrum der Aufmerksamkeit wiederfand. Seine Lehrerin nickte bei jedem Einfall wohlwollend; anstatt die Zügel anzuziehen und die Leitung in ihren Händen zu halten, gab sie die Planung ganz aus der Hand und ließ ihn mehr und mehr aufblühen. Conan wurde diese Entwicklung kaum bewusst, bis er eines Tages plötzlich aufwachte und feststellte, dass er die gesamte Verantwortung abbekommen hatte. Na gut, wenn dem so sein sollte… Kaum verwunderte es, dass ihm bei der Rollenvergabe schließlich die Hauptrolle angetragen wurde. Keinem seiner Mitschüler war entgangen, wie sehr sich der junge Mann mit dieser Rolle zu identifizieren vermochte. Hinter seinem Rücken wurde er nur noch ‚Sherlock‘ genannt. Bekanntlich verbreitete sich nichts schneller als Klatsch auf Schulfluren, sodass manche ihn ob des neuen Spitznamens neidisch beäugten, manche, gerade die Mädchen der Schule, zu dem für sein Alter so reifen und athletischen Jungen mit Bewunderung und – wenn man so mochte – verschämten Interesse aufblickten. Doch die klaffende Wunde in seinem Herzen hatte noch niemand erkannt, derselbe Schmerz, den er tagtäglich mit einem breiten Grinsen wegzulächeln versuchte. Jede Zeile des Theatertextes packte ihn und riss ihn mit sich. Er hatte aus Anlass des Stückes Doyles Original noch einmal gelesen und das, obwohl er das Buch schon seit Jahren auswendig beherrschte. Charmant, besonders, geheimnisvoll, witzig und gerissen, so erschuf der Autor Irene Adler, die Einzige, die Sherlock Holmes jemals schlagen konnte. Mit Rationalität und Berechnung, Präzision und Verstand war dieser Person nicht beizukommen. Wie sehr Conan es liebte, dass auch Holmes einmal scheitern durfte, ohne dass er jedoch versagte. Conan Doyles Holmes durfte nicht absolut versagen. Conan fuhr in seinem Sessel hoch. Wo das Leder ihn gerade noch einzupacken schien, da versteifte sich sein Rücken. Dort, am Ende des Raumes, in den Schatten seiner Wahrnehmung, da stand ein Mann. Er war groß und düster, eine hagere Erscheinung, und trug einen langen Mantel. Die Kreme des Huts, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, verdeckte seine Züge. Allein ein knochiges Kinn deutete der schwache Schein der Leselampe an. „Wer sind Sie? Geben Sie sich zu erkennen!“, schrie Conan. Seine Finger vergruben sich in den Armlehnen. Das konnten doch nicht… Der große Mann kicherte, ein tiefes, kurzes Lachen, dann trat er nach vorne. Der hellbraune Tweetmantel umwehte ihn mit jedem Schritt, seine dünnen, kräftigen Arme hatte er hinter dem Rücken verschränkt. Er hob den Kopf, straffte seinen Rücken und sah Conan direkt in die Augen. „Guten Abend Sir, mein Name ist Sherlock Holmes, mit wem habe ich das Vergnügen?“, lächelte er und trat in den Lichtkegel der Lampe. Höflicherweise hielt er einige Meter Abstand, die er nach Conans überraschter Aufforderung mit wenigen Schritten überwand. Conan rieb sich die Augen, zwinkerte, schüttelte den Kopf, doch der Hüne verschwand nicht. Na gut, wenn das nun Realität war, dann konnte er nicht so unanständig sein und seinen Gast einfach so hier stehen lassen. „Mann nennt mich den Retter der japanischen Polizei. Andere nennen mich den japanischen Sherlock Holmes“, grinste Conan und bedeutete seinem Gast, sich zu setzen. „Naja, ich bin die geschrumpfte Version. Aber dass ich jemals die Chance haben würde, das Original kennen zu lernen, hätte ich nie zu träumen gewagt!“ „Das Original bist du selbst“, bedeutete Sherlock, „auch wenn wir gewisse – Gemeinsamkeiten – haben. Dein Spürsinn ist beeindruckend. Ich schaue dir sehr gerne über die Schultern, wenn du arbeitest. Meistens könnte ich es nicht besser machen.“ Conan lief rot an. Solch ein Kompliment von seinem Idol?! Moment. „Was meinen Sie mit ‚meistens‘? „Gegenfrage; was würdest du tun, würdest du scheitern?“ Sherlock sah ihn eindringlich an, doch Conan verstand nicht, worauf er hinaus wollte. „Inwiefern ‚scheitern‘?“ „Warum meinst du, warne ich so sehr vor den Frauen? Frauen vernebeln dir den Verstand, Frauen berauben dich deiner Freiheit, Frauen binden dich!“, dozierte der hagere Brite und hob seinen langen Zeigefinger. „Was würdest du tun, wenn sie Ran töten würden? Würdest du aufgeben? Würdest du sie jagen und zur Strecke bringen? Aus Hass? Aus Wut? Du würdest in ihre Falle laufen. Du würdest dich selbst aufgeben. Du würdest verlieren.“ „Aber ich…ich?“, Conan rang um Worte. Sein Hals hatte sich zugeschnürt, sein Herz raste wie verrückt. Zwei stille Tränen bahnten sich den Weg über seine vor Zorn und Verwirrung geröteten Backen. „Deswegen darf ich das nicht zulassen! Niemals würde ich das erlauben! Ich…ich“. „Es wird der Tag kommen, da wird deine Entscheidung unvermeidbar sein.“ Holmes hob den Kopf. „Triff sie jetzt.“ Die Tränen machten Conan das Sprechen unmöglich, lautes Schluchzen machte seine Kehle rau und verwundbar. Er hatte sich in den Sessel gekauert und bemerkte nicht, wie sich der große Mann erhob und verabschiedete. Kurz darauf war er wieder in den Schatten verschwunden. Zurück blieb ein weinendes Häufchen Elend, ein gebrochener Mann. Sie saß schon seit Stunden gegenüber am Fenster und betrachtete das kleine Licht in dem gewaltigen, finsteren Haus. Sie sah ihn weinen, immer und immer wieder. Und jedes Mal kam sie, um ihn zu trösten. Auch heute glitt sie von der kalten Fensterbank, schlich zur Tür und hüllte sich in ihren roten Kapuzenmantel. Der samtene Stoff umfing sie und erinnerte sie an seine schützenden Hände. Heute würde sie für ihn da sein. Erst mit der Morgendämmerung würde er erlöst sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)