Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 41 - Was Bilder erzählen -------------------------------- Kapitel 41 – Was Bilder erzählen Wieder in seiner Wohnung angekommen, nahm er sich die Akten vor, die ihm Jenna dagelassen hatte. Zuerst suchte er alle Fotos der Opfer und ihrer Bilder heraus, legte sie auf seinem Tisch aus, den er zuvor abgeräumt hatte – in seinem Spülbecken stapelten sich langsam die Kaffeetassen, zum Abspülen allerdings konnte er sich nicht überwinden. Im Anschluss war er in sein Büro gegangen und hatte seinen Laptop geholt, sowie alle Notizen, die er sich privat gemacht hatte. Zufrieden ließ er seinen Blick über sein Schlachtfeld schweifen; dann straffte er die Schultern, fuhr den Computer hoch und blätterte seine Notizen zu den ersten zwei Bildern auf. Bisher hatte man den Bildern wenig Bedeutung beigemessen, das wusste er – sie waren am Tatort gefunden worden, und er traute sich wetten, dass Montgomery sie einfach als Aufschrei nach Aufmerksamkeit eines verkappten Künstlergenies wertete. Und zwar genau des verkappten Kunstgenies, das momentan bei ihnen im Yard einsaß. Shinichi jedoch war sich sicher, in ihnen steckte eine Botschaft. Allein, sie unter den Schichten von Farbe zu finden, war die Herausforderung. Das erste Bild war ein formvollendetes Meisterwerk; in handwerklicher Perfektion dargebrachte Schönheit. Shinichi seufzte, griff sich das Foto. Die Ähnlichkeit zu Ran ließ ihm immer noch einen Schauer den Rücken hinabrieseln – allerdings fielen ihm jetzt immer deutlicher auch die Unterschiede auf. Rans typische Ponywelle, die Ayako fehlte. Ihre Augen waren nicht von diesem unendlich tiefen Blau wie Rans… ein Blau, das ihn immer an Kornblumen denken ließ und nie an Wasser oder Himmel, ein Blau, in dem er sich verlieren konnte, aber nie ertrinken. Rans Augen… die ihn gestern so verletzt angeschaut hatten. Er seufzte leise, rieb sich die Stirn. Ja, du hast Mist gebaut, Kudô… Er schob die Gedanken beiseite. Dazu hast du jetzt keine Zeit. Sobald du das hier gelöst hast, kannst du versuchen, zu retten, was zu retten ist. Vorher nicht. Fakt war, dieses eine Bild war trocken gewesen. Fertiggestellt. Ein überaus hübsches Mädchen in einem schwarzen Wildseidenkleid mit einem Stiefmütterchen in der Hand. Shinichi seufzte. Wirklich viel brachte ihm das noch nicht; zu wenig wusste er über den Kontext, in dem er die Bilder zu lesen hatte. Also suchte er sich die Blätter noch einmal heraus, die er zu seiner Suche zu den Blumen gefunden hatte. Hamlet. Also gut, schaun wir mal. Ayako hatte das Stiefmütterchen. Das Stiefmütterchen ist einerseits die Wappenblume Osakas, aber gehen wir mal davon aus, dass eher die zweite Bedeutung, nämlich die Relation zu Shakespeare hier eine Rolle spielt, lassen wir ersteres mal außen vor. Das Stiefmütterchen steht für die Erinnerung. Ayako… sieht Ran unglaublich ähnlich. Und wenn wir jetzt einfach mal annehmen, dass sowohl die Auswahl der Mädchen als auch diese einzelnen Hinweise wie das Haar oder der Geruch nach Gin auf die Organisation hinweisen sollen, dann könnte es doch sein, dass mich Ayako an das Versprechen erinnern soll, das Gin mir in jener Nacht gegeben hat. Shinichi runzelte die Stirn, seufzte. Immer vorausgesetzt, diese Vermutung stimmt, und sie stecken dahinter. Aber irgendwo muss ich einfach anfangen… und ich denke, der Bezug zu Shakespeare lässt sich nicht leugnen, also machen wir mal einfach da weiter. Ob meine Vermutung bezüglich der Schwarzen Organisation stimmt oder nicht, ist an der Stelle jetzt wohl auch noch nicht… schlachtentscheidend. Er massierte sich die Nasenwurzel. Weiter im Text. Die zweite war Erin; und Erin fanden wir mit Rosmarin. Rosmarin steht für Liebe und Treue, und passt gut zu Erin, schließlich war sie verlobt. Und sollte jemand eine Spur legen wollen, so weißt er spätestens ab hier ganz deutlich auf Hamlet hin. Nur wieso…? Und wenn ich es im privaten Kontext lesen soll, wie soll ich das deuten? „Ran…?“, murmelte er leise. Nicht doch. Und nicht zu vergessen, der Fenchel. Fenchel gilt hier als Zeichen für Schmeichelei und Erfolg. Juniper war ein Model. Das passt zu jemanden, der mit seiner Schönheit sein Geld verdient. Das hat mit mir und Ran und der Organisation doch nichts zu tun. Oder? Gedankenverloren ging er nach draußen in den Flur, ging in seine Diele, fischte die Eintrittskarte zu „Hamlet“ aus seinem Sakko, legte sie neben seine Aufzeichnungen. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. „Nun, das ist jedenfalls ein sehr konkreter Hinweis. Ich denke, es macht Sinn, sich diese Aufführung anzusehen.“ Er schluckte. „Aber gut, es fehlt noch etwas. Wir haben noch die Akelei, das Gänseblümchen, das Weinkraut und das Vergissmeinnicht.“ Der junge Detective zog die Unterlippe kurz zwischen die Zähne. „Meredith. Was könnte zu ihr passen?“ Er ging die Liste durch. „Gänseblümchen als Zeichen für Betrug und Lüge, Weinkraut als Zeichen für Enttäuschung und Verbitterung.“ Er lehnte sich zurück. Wenn es hier wirklich darum ging, dass Brady als Komplize für dieses Verbrechen fungiert hatte, dann, so war er sich sicher, hatte Meredith davon nichts gewusst, war also angelogen und betrogen worden, von der Liebe ihres Lebens, was sie bestimmt enttäuscht hatte - also würde das passen. Er schloss die Augen, kurz, atmete durch. Finden wir dich also mit Gänseblümchen und Weinkraut, Meredith? Er zog die Fotografien mit den Stoffproben für die Kleider hervor, die man in ihrem Arbeitszimmer gemacht hatte. Dort waren immer noch die fünf seidenen Rechtecke zu sehen, von tiefschwarz bis weiß. Fünf. Wir haben erst vier Mädchen. Und es sind auch noch Blumen übrig. Akelei und Vergissmeinnicht. Verrat. Hoffnung und Glaube. Er schluckte hart, dachte nicht darüber nach, wollte nicht darüber nachdenken, zu welchem Mädchen diese Eigenschaften passen könnten. Sie ist sicher. Auf sie wird aufgepasst, das weißt du. Und dú schnappst sie, bevor ihr was passiert. Wenn das alles so stimmte, dann blieb jetzt nur noch eine Frage – warum gab man ihm solche Hinweise? Zu guter Letzt auch noch die Karte? Legte ihm jemand eine Spur? Wollte jemand, dass er das alles löste? Oder war es eine Falle? Wollte jemand ihn ganz bewusst dorthin locken? Warum? Shinichi seufzte. Gehen wir davon aus, Gin steckt dahinter. Was hätte er davon, mich so lange zappeln zu lassen, und mit Hinweisen zu füttern, von denen er nicht sicher sein kann, dass ich sie lesen kann? Es gibt zu viele Unbekannte. Also… wer könnte sich das ausgedacht haben…? Er schüttelte den Kopf. Etwa Brady? Konnte er denn wissen, wie dieser Plan aussah, bevor er ausgeführt wurde? Wobei… „Er war wohl derjenige, der die Mädchen deponiert hat, alle. Bei Juniper haben wir ihn schließlich geschnappt – es liegt also nahe, dass er von vorneherein oder spätestens ab Ayako wusste, wie der ganze Plan aussah. Und wenn… wenn er wirklich der Typ Mensch ist, für den ich ihn halte, also für eine zerrissene Seele, auf der Suche nach Glück, ein Mensch, der auf die schiefe Bahn geraten ist, nur weil er das Beste für jemand anderen wollte… jemand, der im Grunde seines Herzens kein Mörder ist und bitter bereut, was er tut…“ Er trommelte mit seinen Fingern auf die Tischplatte. „Dann könnte er es gewesen sein, der mir diese Hinweise versteckt hat. Damit ich sie aufhalte… weil er es bereut; weil er sein Mädchen retten will – warum auch immer. Aber das… das war ganz schön riskant.“ Shinichi seufzte. Auf jeden Fall ist es wert, ihn das mal zu fragen, denke ich. Ich muss Jenna darum bitten, wohl. Shinichi schluckte. Ich muss herausfinden, was das zu bedeuten hat. Etwas anderes war indessen auch noch von Interesse – und zwar war das die Sache mit den Bildern an sich. Denn während das erste Bild fertiggestellt und bereit zum Aufhängen gewesen war, verhielt es sich mit den anderen beiden anders. Warum hatte man es so eilig mit dem zweiten und dritten Mord, dass er nicht einmal der Farbe die Chance gab, anzutrocknen? Das Labor sagt, es ist ganz normale Ölfarbe… die braucht eigentlich nur zwei, drei Tage, um anzuziehen. Sie ist da noch nicht trocken, aber läuft wenigstens nicht mehr von der Leinwand. Warum musste gerade dieses letzte Bild so viel schneller gemalt werden? War es so wichtig, gleich Druck auszuüben, mit der Aussicht auf eine Mordserie, dass man keinen Tag länger warten wollten? Shinichi seufzte, kratzte sich am Hinterkopf, stützte sich mit der anderen Hand auf dem Tisch ab. Gerade das letzte Bild hatte sehr gelitten; das Gesicht der jungen Frau schien merklich nach unten gerutscht zu sein, auch wenn er glaubte, erkennen zu können, dass das Mädchen auch ohne die Tatsache, dass die Farbe verlaufen war, die traurigsten Augen von allen hatte. Es sah aus, als würde sie weinen. Vielleicht hat sie das wirklich. Vielleicht ahnte sie, im Gegensatz zu den anderen, was ihr bevorstand. Sie muss kurz nach Fertigstellung des Bildes gestorben sein. Shinichi schluckte. Dennoch konnte selbst er als Laie erkennen, dass es mit genauso viel Sorgfalt gemalt worden war wie das erste und das zweite Bild. Er drehte sich um, holte das Lexikon, schlug den Absatz über die Gattung des Porträtbildes heraus und las nach. Das Bild war im Stil der Malerei der Altniederländer gemalt; eine feine Ölmalerei, die jedes noch so kleine Detail wiedergab. Jedes Haar in ihrer Hochsteckfrisur, jeder Faden der Spitze, jede Perle auf dem Bustier ihrer Kleider. Jede Wimper, jede Falte, scheinbar jede Pore auf ihrer Haut. Eine umso größere Schande war es, dass nur das erste Bild die Chance bekommen hatte, wirklich fertiggestellt worden zu sein. „Ist es vielleicht ein Countdown?“, murmelte Shinichi. „Einer, dessen Abstände sich verringern, je näher die Deadline rückt?“ Die Abstufung der Farben deutete immerhin auf eine derartige Reihe hin. Shinichi seufzte. „Gut, dann rechnen wir mal nach… Das erste Opfer wurde vor sieben Tagen gefunden. Das zweite vor vier. Das dritte gestern, zwei Tage später…“ Er schrieb die Daten untereinander auf. 23.4. Todeszeitpunkt Ayako Kanagawa 24.4.- 25.4.- 26.4.- 27.4. Todeszeitpunkt Erin Schaugnessy 28.4. - 29.4. - 30.4. Todeszeitpunkt Juniper Torrez 1.5. – heute - Shinichi schauderte, als ihm die Schlussfolgerung aus dieser Zeitleiste ins Gesicht lachte. Die Abstände verkürzen sich wirklich! Und sie haben das vierte Opfer bereits… sie haben ihr Bild… und sie haben ein Kleid. Hätte man heute eine Leiche gefunden, sollte das langsam publik geworden sein. Die Reihenfolge deutet auch… auf morgen hin. Morgen…! Er griff in die Tasten, fing eine Nachrichtensuche an, seufzte erleichtert, als er nichts fand, das auf eine vierte Leiche hinwies. Dennoch – beruhigen konnte ihn das nicht. Eher bekräftigte die Nachricht, dass es keine Nachrichten gab, seine Befürchtung. Morgen. Und sollten sie ein fünftes Opfer planen, was nicht auszuschließen ist… dann wäre sie am darauffolgenden Tag tot. Er glaubte, ihm müsse der Kopf platzen. Fakt war, er wusste nicht viel – aber er kannte den Namen des nächsten Opfers. Und er hatte eine Ahnung, welche Blumen auf dem letzten Bild sein würden. Und ich bin außer Dienst! Kein Mensch bei Scotland Yard wird mir glauben… ich muss es James sagen, das in jedem Fall, aber… Dann fuhr er hoch, als sein Handy zu klingeln anfing, getrieben vom Vibrationsalarm, über den Tisch rutschte. Er griff danach, las kurz den Namen, der auf dem Display erschienen war. „Hey, Hattori.“ Heiji seufzte erleichtert. „Schön, dass du abhebst. Hatte schon befürchtet, du…“ „Warum sollte ich nicht abheben?“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch, konnte sich die Antwort eigentlich denken – dass sie ihn dennoch für so labil hielten, beunruhigte ihn ein wenig. Dennoch beschloss er, darauf einfach nicht einzugehen. „Fertig mit Berichtschreiben?“ „Woher-…“, fing Heiji an, bevor er grinsend abbrach, als ihm die Erkenntnis dämmerte. „Ich sehe, du hast hier immer noch Augen und Ohren.“ „Und Hände und Beine.“, ergänzte Shinichi. „Sieht so aus… sie war mich vorhin besuchen und hat mir erzählt, was ihr Spannendes macht.“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Anscheinend hat Montgomery die Ermittlungen wirklich eingestellt.“ „Hat er, ja. Ich hab vorhin mit Kogorô das Abschlussgespräch mit den Kanagawas geführt. Ehrlich, so mies hab ich mich selten gefühlt, ich glaub einfach nich‘, dass wir ihnen den richtigen… oder einzigen Täter präsentiert haben…“ Er seufzte erneut. „Wie geht’s dir?“ Shinichi ließ sich zurücksinken. „Wie wohl… ich versuche, herauszufinden, was wirklich läuft. Ich muss allerdings anmerken, sehr viel weiter bin ich noch nicht… außer dass ich befürchte, wenn noch ein Mord geschieht… geschieht er morgen.“ Heiji zuckte zusammen. „Morgen?“, krächzte er. „Ja.“ Shinichi schluckte. „Ich bin gerade die Todeszeitpunkte in den Pathologieberichten durchgegangen. Die Abstände verringern sich regelmäßig. Der nächste Mord wäre, geht meine Rechnung auf, morgen. Und ich sag dir noch was.“ Er seufzte. „Es wird Meredith Rowling sein. In einem hellgrauen Kleid. Vermutlich dekoriert mit Gänseblümchen und Weinkraut. Ich hab sogar das Bild schon gesehen, es hing in Bradys Wohnung…“ Er hörte, wie Heiji ächzte. „Lass mich raten. Du weißt nur nicht…“ „Ich weiß nur nicht, wo der Mord geschieht, richtig.“ Langsam atmete er aus. „Es macht mich fertig, ehrlich.“ Er schloss die Augen kurz. „Halt die Augen offen, Heiji. Und sollte Brady… doch noch reden wollen…“ „Halt ich dich auf dem Laufenden.“ Shinichi seufzte leise, rieb an einem Fleck auf der Tischplatte. „Pass auf die Mädchen auf. Hörst du…?“ Heiji merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. „Natürlich mach ich das, das weißte.“ Gedankenverloren legte er auf, betrachtete die Mädels, die an einem Tisch saßen, und sich unterhielten. Akai stand am anderen Ende des Raums, in der Nähe des Eingangs – sie wollten den Mädchen mal ein bisschen Privatsphäre lassen, es war ihnen anzumerken, dass diese Rundumbewachung sie ein wenig nervte – und eher beunruhigte, als das Gegenteil zu bewirken. Vor allem wohl Sonoko zeigte sich sichtlich missvergnügt über die Wendung, die ihr Kurzurlaub genommen hatte – vor allem, für die, die sich in diesem Urlaub endlich mal erholen sollte. Und so hatte sie auch nicht damit gespart, in den letzten Stunden gegen ihre Aufpasser ein wenig zu ätzen – und über einen gewissen Detektiv herzuziehen. Ran hatte sie nur milde angelächelt, wusste, warum sie das tat – allerdings musste sie zugeben, langsam erschöpfte sie dieser Zustand – und zwar nicht nur körperlich. Ran war ausgebrannt. Verunsichert. Erschöpft. Und deswegen hatte sie sich kurz abgeseilt, um sich ein wenig frisch zu machen, ein wenig Ruhe zu genießen, bevor sie wieder zu den anderen stoßen wollte. Ran war für Heijis Dafürhalten nun schon erstaunlich lange oben – allerdings machte er sich keine Gedanken. Er hatte ihn vorhin in der Lobby gesehen, und im Aufzug verschwinden. Und er schaute nicht auf, als er neben ihm Platz nahm. „Sie waren wohl bei ihr.“ Heiji blickte aus dem Augenwinkel zu Yusaku Kudô, der neben ihm Platz genommen hatte, einen Blick zu der Gruppe warf, der sich gerade über eine Menge Kuchen hermachte. „Er wird von sich aus wohl nich‘ kommen.“ Yusaku lächelte bitter. „Ich habe mit meinem Sohn noch nicht gesprochen, seit gestern… aber ich fürchte auch, er wird von sich aus nicht kommen. Immerhin habe ich sie aber soweit gebracht, ihm noch eine Chance zu geben.“ Heiji fuhr aus seiner gelassenen Haltung hoch, starrte ihn an. „Was ham’se?“ Yusaku lächelte schmal. „Mit ihr geredet. Und… einen längst überfälligen Botengang gemacht.“ Heiji schaute ihn verständnislos an. Yusaku lachte leise in sich hinein, bestellte bei der herangekommenen Kellnerin einen Kaffee. „Ihr glaubtet alle, er habe ihr damals keine Erklärung hinterlassen. Das war ein Irrtum.“ Heiji schloss die Augen kurz, atmete scharf ein. „Er schrieb einen Brief und gab ihn mir. Ich sollte ihn Ran geben, falls ihm etwas passierte. Da ich dachte, wie er auch, dass sie nicht mehr lebte, gab ich ihn ihr nie… hatte ihn aber immer dabei, ich weiß nicht warum. Nenn es Sentimentalität, Heiji…“ Er kniff die Lippen zusammen, seine Augen blickten nachdenklich in die Lobby. „Der Brief erschien mir immer als… Rückfahrkarte. Er… entstand an einem Punkt in seinem Leben, an dem noch alles möglich war. An einem Punkt, wo er es noch nicht so gegen die Wand gefahren hatte, wie er es momentan tut, dieser Sturkopf von meinem Sohn. Ehrlich, manchmal frage ich mich, was in seinem Kopf vorgeht… ich kann verstehen, warum er es tut, das heißt aber nicht, dass ich es gutheiße. Und ich traue mich wetten, dass er dagegen gewesen wäre, wüsste er, dass ich ihr den Brief gebe. Nur, um nicht über die Konsequenzen nachdenken zu müssen. Nur um nicht zuzugeben, dass er sich in Bezug auf sie einfach gründlich irrt. Sie ist kein kleines Mädchen. Und er braucht sie.“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich hab ihn ihr gegeben. Und sie gebeten, sich mit ihm zu treffen. Ihm eine letzte Chance zu geben.“ Er nahm dankend den Kaffee entgegen, den die junge Serviererin ihm brachte. „Sie hat gesagt, sie macht es. Ich hoffe für ihn, er nutzt sie. Noch eine, fürchte ich, wird er nicht kriegen.“ Er trank einen Schluck Kaffee. "Und offen gestanden, noch eine verdient er dann auch bei aller Liebe nicht." Er lächelte matt. Heiji sah ihn bewundernd an. „Sie scheinen ein Händchen für Frauen zu haben. Wollnse nicht mal nen Kurs geben…?“ „Mein Sohn bräuchte wohl sicherlich einen. Du etwa auch?“ Der Autor lachte leise. Heiji schüttelte grinsend den Kopf, bedachte Kazuha mit einem liebevollen Blick; als er sich dem Schriftsteller wieder zuwandte, war seine Miene ernst geworden. „Aber wie wollense ihn dazu bringen, sich mit ihr nochmal zu treffen? Auch wenn ihn das gestern… in Stücke gerissen hat, das von ihr so zu hören, es war doch, was er wollt‘. Sie sollt‘ sich von ihm fernhalten.“ Yusaku setzte seinen Kaffee an die Lippen, trank ihn aus, strich sich mit seinen Fingern über den Oberlippenbart. „Ich gar nicht, Heiji. Sie wird das machen.“ Und erst jetzt bemerkte er, dass Shiho sie anschaute. Anscheinend hatte sie Yusaku Kudôs Blicke in ihrem Rücken bemerkt – sie hatte sich umgewandt, blickte die beiden Männer unverwandt an. Heiji starrte verwirrt von ihr zu dem Mann an seiner Seite und fragte sich, ob die beiden jetzt tatsächlich Gedanken austauschten – die Frage beantwortete sich von selber, als sie aufstand und an sie herantrat, sich auf einem Stuhl niederließ. „Wollen Sie mir nicht sagen, wie ich Ihnen helfen kann, bevor sie mir ein Loch in den Hinterkopf stieren?“ Yusaku lächelte sie freundlich an. „Ich hab sie für neunzehn Uhr vor den Big Ben bestellt. Sieh zu, dass er auch da ist, bitte. Pünktlich.“ Shiho schaute ihn nur an, kurz – dann stand sie auf, verließ die Lobby. Akai warf ihm einen Blick zu, ging ihr hinterher, ließ Jodie, die sich zu ihm gesellt hatte, kurz allein. Yusaku Kudô wiegte seinen Kopf nachdenklich hin und her – schließlich räusperte er sich, warf Heiji einen Blick zu. „Drücken wir ihnen die Daumen.“ Er lächelte den jungen Osakaner kurz an, ein Lächeln, das kaum in seine Augen reichte, als er aufstand und eine Banknote auf den Unterteller seiner Kaffeetasse legte. Heiji starrte ihm hinterher, seufzte. So ganz sicher sind se sich wohl selber nich, was, Herr Kudô? Auf der Treppe vor dem Hotel war sie stehen geblieben. Akai hielt neben ihr, sah sie nachdenklich an. Shiho zog sich ihren Mantel enger um die Schultern – auch wenn es nicht kalt war, so wehte doch ein ziemlich kühler Wind. Sie schaute in den Himmel, nachdenklich. Er folgte ihrem Blick, regte sich ansonsten nicht. Und er musste nicht erst den Mund aufmachen, um die Antwort auf seine Frage zu bekommen. „Er will, dass ich ihn dazu bringe, sich mit Ran zu treffen.“ Sie seufzte leise, wandte dann ihren Kopf, schaute ihn an. Er beobachtete, wie der Wind in ihren rotblonden, schulterlangen Haaren spielte. „Und wirst du’s tun?“ Sie lächelte traurig – in ihren blaugrünen Augen funkelte Resignation. „Natürlich. Weil ich will, dass er glücklich ist. Und weil ich weiß, dass sie die einzige ist, die ihn glücklich machen kann… weil erst sie ihn komplett macht. Sie…“ Shiho seufzte leise, schaute wieder in den Himmel. „Sie weiß das. Sie will ihn bei sich, um endlich vollständig zu sein. Ihn zu überzeugen wird deutlich schwerer…“ Ein leichtes Lächeln umschmeichelte ihre Lippen. „Aber das wird nicht meine Aufgabe sein. Ich soll ihn nur an Ort und Stelle bringen, und das… krieg ich hin.“ Sie zog ihr Smartphone aus ihrer Manteltasche, öffnete den email-Editor. Ehe sie die Nachricht tippte, schaute sie in den Himmel, als es auf einmal etwas dunkler zu werden schien, beobachtete, wie sich die Wolken über ihren Köpfen sammelten. Grau, schwer und voller Regen. „Er sollte einen Regenschirm mitnehmen.“ Akai grinste schmal. Sie sah die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheibe klatschen, aus einem Himmel, der genauso grau war, wie sie sich fühlte. Leer, ausgehöhlt, trist. Meredith starrte auf die beiden Kleider, die ihr gegenüber hingen, eins schöner als das andere, von ihr mit so viel Ehrgeiz und Eifer entworfen, mit Hingabe genäht, liebevoll bestickt. Sie ahnte, in einem der beiden würde sie sterben. Und sie wusste, das zweite würde das letzte Kleid sein, das sie in ihrem Leben tragen würde. Das Bild, das Eduard noch begonnen hatte, hing daneben, neben dem Portrait, das in ihrer Wohnung gehangen hatte, das Portrait, das sie selbst zeigte. Mit einem Seidenshirt, auf dem sich Gänseblümchen tummelten, von ihr selbst entworfen und genäht. Er hatte sie so genannt, manchmal. Daisy. Weil sie so klein und zierlich wie dieses kleine Pflänzchen war; also hatte sie das Shirt entworfen, zusammen mit einer Menge anderer Blumen-T-shirts. Eduard hatte die Idee so gut gefallen, dass er sie in diesem Shirt unbedingt hatte porträtieren wollen. Und nun hing es da, dieses Bild, als Ergänzung ihrer Bildreihe – es war purer Zynismus, dass es so gut passte. Und daneben hing das Bild von ihr. Sie war hübsch, das musste sie zugestehen. Selbst in der grünen-grauen Untermalung, die zwar etwas dreckig wirkte, fast ein wenig verrottet, waren deutlich ihre zarten, wohlgeformten Gesichtszüge zu erkennen. Vor allem diese klaren Augen mit den langen Wimpern, bannten ihren Blick - sie waren für eine Japanerin so ungewöhnlich, und sie starrten einen an, mit so viel Sehnsucht und Drängen in ihrem Blick. Sie war eine Frau, die liebte, und Meredith musste weder Hellseher noch Detektiv sein, um zu ahnen, dass dieser Blick einem für sie nicht erreichbaren Mann gegolten hatte. Sie war keines der Mädchen, die sich auf ihre Annonce hin gemeldet hatten. Sie war Sherlock Holmes‘ große Liebe, das ahnte sie. Sie hörte die beiden Japaner über ihn reden, über Shinichi Kudô. Den Sohn ihres großen Idols, ihres Lieblingsschriftstellers. Wie hatte es soweit kommen können? Mit wem hatten sie sich angelegt, wer waren diese Menschen, die Eduard zu diesen Taten hatten treiben können? Er hatte es sicher nur gut gemeint… wie immer. Er war immer schon so gewesen; zu leicht zu blenden, zu leicht zu täuschen, zu leicht den Verlockungen des Lebens erlegen, vor allem, wenn diese ihm versprachen, das Leben für sie schöner zu machen. Oh, Eduard… Bis vorgestern hatte sie gemeint, für zwei extravagante, introvertierte, reiche Ausländer zu arbeiten. Seit gestern wusste sie, dass es Killer waren. Und Eduard… wusste das wohl seit Ayakos Tod. Er hatte es ihr verschwiegen, wohl um sie zu schützen – erfolgreich konnte man das nicht nennen, was er da angezettelt hatte. Nun lief er wohl herum, versuchte zu tun, was zu tun war, um sie zu schützen – und ahnte, wusste wohl wie sie, dass auch sie sterben würde. Der Gedanke rüttelte sie auf, ließ sie auffahren aus der Lethargie, in die sie gesunken war, seit sie miterlebt hatte, wie die Liebe ihres Lebens einen Menschen umgebracht hatte. Ihr wurde jetzt noch schlecht vom Gedanken daran. Sie hatte die Augen zugekniffen, als sie ihn hatte ausholen sehen. Hatte nicht hingeschaut, als das Schwert das Mädchen traf – sie hatte nur den scharfen Klang gehört, als das Metall auf Haut und Fleisch und Knochen traf, und allein das hatte gereicht, um in ihr den Würgereiz auszulösen. Und sie hatte ihn heulen und schreien gehört, noch als sie gegangen waren. Den Schmerz, die Qual, die Reue in seiner Stimme hallten jetzt noch in ihren Ohren nach. Er hatte das nur für sie getan. Und das entsetzte sie. Dann ging die Tür auf, und sie kam herein. Meredith schaute auf zu ihr, machte sich nicht die Mühe, aufzustehen. „Hallo, sweetheart.“ Chianti trat näher, ihre Pfennigabsätze hallten in lautem Klack-Klack von den Wänden des leeren Raums wider, in dem Meredith saß. Es war nicht besonders warm hier drin – man hatte sie festgebunden, mit ihren Händen vor ihrem Körper, so, dass sie die Toilette benutzen konnte, die im Raum stand. Sie blieb stehen, gerade so weit von ihr entfernt, dass sie außerhalb von Merediths Aktionsradius stand. „Where is Eduard?“, flüsterte sie leise, wusste nicht, ob sie es eigentlich wirklich wissen wollte. „In jail, actually. They caught him after placing our dearest Juniper at Madame Toussauds.“ Chianti lachte leise, bedachte das Mädchen zu ihren Füßen mit einem abschätzenden Blick. „I wonder that you still care about him…“ Meredith starrte sie an. „That’s just not him. That’s what you made him do, it’s all your fault, you have…!“ Sie sog scharf die Luft ein, ihr Brustkorb hob und senkte sich erregt. Dann schluckte sie, zwang sich zur Raison. „What the hell are you up to, anyway?“ „Torture him… and then see him die, finally.“ „Who?“ „Sherlock Holmes.“ Chianti lachte finster, amüsierte sich über Merediths verwirrten Blick. „And why did you need Eddie and me?“ „To let him discover step by step what there’s to come for him. What's lying ahead...“ Seine kalte Stimme ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren. „He has destroyed us once. This is our revenge – the revenge he’s been waiting for, for five years, now. And as we don’t want it to get boring for neither him nor us, we’re playing this little game. Having her as a second participant in this game of ours is a bonus we didn’t count on.“ Gin, der ebenfalls eingetreten war, lachte heiser, schaute auf das Porträt von Ran, ließ seine Lippen sich vor Vorfreude zu einem widerlichen Lächeln kräuseln. „This is going to be his biggest case – as well as his last. The final blow to his beating heart…“ Er wandte sich ihr zu. „So, all you’ve been was the means to this end.“ Gin schaute sie aus eisigen Augen an, ohne zu blinzeln. „You were appropriate. And you did, what you were able to do, but as it happens, your service is no longer needed. It’s time for you to go. Just like useless peasants in a game of chess, you are going to be sacrificed for the big move to set the king checkmate…” Meredith schaute ihn alarmiert an. „What did you do to Eduard…!?“ Er lächelte nur. Allerdings, dieses Lächeln reichte ihr, um kraftlos an die Wand zu sinken, ihn atemlos anzustarren, als sich in ihren Augen Tränen sammelten. „Did you kill him? I thought he…“ „Not yet.“ Gin grinste breit. „Not yet...“ Dann wandte er sich zur Tür um. „Enjoy the night, little girl. Have pleasant dreams… they’ll be your last.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)