Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 28: Nachtschwärmer -------------------------- Kapitel 28 – Nachtschwärmer Als die Haustür hinter ihm zufiel, schloss er die Augen. Tief sog er die kalte Nachtluft in seine Lungenflügel, stieß sie langsam aus – und wurde sich bewusst, dass er zum ersten Mal an diesem Tag richtig frei durchatmete. Die Ereignisse des Tages hatten ihn von einem Adrenalinschub in den nächsten gejagt, kaum einen Moment der Ruhe für ein paar tiefe Züge Sauerstoff und ein wenig Leere in seinem Kopf hatte man ihm gegönnt. Nun stand er da, genoss die Kälte des britischen Frühlings dieser fast frostigen Aprilnacht auf seiner Haut, stieg dann langsam, bedächtig, die drei Stufen auf den schmalen gepflasterten Weg, der zum Haus führte, hinunter. Kurz überlegte er, ob er das Auto nehmen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen – er hatte das Gefühl, dass ein nächtlicher Spaziergang genau das Richtige wäre, um sich etwas herunterzufahren. Um seinen Kopf frei zu kriegen für den Fall. Klarheit… Er achtete nicht darauf, wohin seine Füße ihn trugen, ließ sich treiben, genauso wie er seine Gedanken schweifen ließ. Es war immer noch ordentlich was los auf den Straßen Londons, trotz der vorgerückten Stunde. Geschäftsleute eilten an ihm vorbei, die Krägen ihrer Mäntel weit ins Gesicht gezogen zum Schutz vor dem kalten Wind, in ihren Händen Aktentaschen und Koffer, Touristen schlenderten die Straßen entlang, auf ihrem Gesichtern Freude und Entzücken über das pure Dasein in dieser Stadt, mit den Händen auf die beleuchteten Sehenswürdigkeiten deutend oder aus dem nahegelegenen Sherlock-Holmes-Museum herausströmend, Mütter, die mit ihren Kindern und den Einkäufen des Tages durch die Stadt wanderten, von einer U-Bahn-Station zur nächsten. Obdachlose, die sich ein geschütztes Plätzchen für die Nacht suchten, in das der Wind nicht ganz so grausam pfiff, Arbeiter, die sich nach getaner Arbeit mit der Tüte des nächsten Schnellimbisses in der Hand auf den Weg in den wohlverdienten Feierabend machten, Paare, die händchenhaltend und Zärtlichkeiten austauschend über die Gehsteige eher schwebten als gingen… Shinichi blieb stehen, schluckte hart. Ein bitterer Geschmack hatte sich auf seiner Zunge ausgebreitet, als er einem jungen Mann und einer jungen Frau dabei zusah, wie sie sich vor dem Eingang der U-Bahn-Station Baker Street innig küssten, sich kaum voneinander verabschieden konnten, obwohl sie sich ein lächelndes „See you tomorrow“ zuriefen. So sollte es noch sein. Nicht wie das, was ich heut veranstaltet hab. Hau ab und komm nie wieder, Ran… Kudô, was bist du für ein Bastard. Er schluckte, lächelte, merkte, wie ihm die Trauer die Mundwinkel nach unten zog als er an den verletzten Ausdruck in ihrem Gesicht dachte. Ihre blasse Haut, ihre nass glänzenden, blauen Augen, in denen er trotz seiner Grausamkeit zu ihr nur eins lesen konnte – diese verzweifelte Liebe, die sie für ihn empfand. Und sie war es auch, die sein Herz mit eiserner Faust zusammendrückte, bis der letzte Tropfen Blut daraus entwichen zu sein schien. Er keuchte, griff sich an die Brust, versuchte, sich wieder in den Griff zu kriegen, als sie ihn übermannte, die Verzweiflung. Verdammt, was hast du ihr angetan… aber welche Wahl hast du? Leben soll sie… Und wenn das dein Ziel ist, dann kann es etwas anderes nicht geben. Dein Glück mit ihr. Nicht, solange sie da sind. Womit die Lösung für dein Dilemma eigentlich auf der Hand läge, Sherlock. Schnapp sie dir und schick sie endlich hin, wo sie hingehören. In den Knast. In die Hölle, noch besser. Er atmete tief durch, straffte die Schultern, presste die Lippen zusammen. Dann trat er auf die Straße, winkte ein Black Cab heran und nannte dem Fahrer die Adresse des Lofts. Es wurde Zeit, dass er sein Glück selbst in die Hand nahm. Hatte er nicht immer auf diese Chance gewartet? Er war ihnen so nah auf der Spur wie schon lange nicht mehr. Also, was stand er hier noch rum? Wenn er irgendwann wieder gut machen wollte, was er heute verbrochen hatte, fing er besser gleich damit an. Wie erwartet war die Gegend gottverlassen. In diesem Teil Londons lebten noch nicht viele Leute – und die, die hier wohnten, liebten es, allein und einsam zu sein. Er war mit dem Aufzug nach oben gefahren, zum zweiten Mal an diesem Tag, und nun stand er vor der Tür, die mit einem Polizeisiegel verschlossen worden war. Das Pflichtbewusstsein meldete sich zusammen mit seinem engsten Verbündetem, seinem Gewissen, als er die Marke vorsichtig abpulte, sie halb kleben ließ, damit er wusste, wie er das neue Siegel wieder hinkleben musste. Er hatte solche Aufkleber stets bei sich, sie gehörten zur Standardausrüstung – ein Tatort musste immer versiegelt werden. Er war in den Flur getreten, den kleinen Vorraum, und stand nun etwas unschlüssig vor dem gelb-schwarz gestreiften Absperrband, dass jedem, der sich dem Tatort näherte, in regelmäßigem Abstand wiederholt dieselbe Botschaft verkündete: crime scene – do not cross. Dann zuckte er mit den Achseln, hob das Absperrband mit dem Unterarm hoch, schlüpfte darunter durch und fand sich in der nur spärlich vom Mond und der Straßenbeleuchtung erhellten Loftwohnung wieder. Schwarz, rissig und matt lag der mittlerweile eingetrocknete See aus Blut zu seinen Füßen, gesäumt von einer weiß leuchtenden Kreidemarkierung. Shinichi seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust. Was er genau hier wollte, wusste er selber nicht. Irgendwie jedoch bekam er das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben. Als er das Loft heute Nachmittag gefunden hatte, hatte er kaum die Muße gehabt, das hier alles auf sich wirken zu lassen. Die Aufregung hatte ihn zu sehr in ihrem Griff gehabt, die Erregung darüber, zu spät gekommen zu sein. Der Ärger darüber, dass er diesen Ort erst jetzt gefunden hatte. Wut über sich selbst. Der zeitliche Druck, das FBI und das Yard einschalten zu müssen. Jetzt stand er hier, und er war allein. Und auf einmal konnte er seine Anwesenheit fast spüren. Glaubte, den beißenden Gestank seines Tabaks immer noch riechen zu können – wahrscheinlich war dem auch so. Langsam trat er um die Blutlache herum, zog sich ein paar Handschuhe aus seiner Sakkotasche, die er da immer aufbewahrte, und näherte sich dem großen Schreibtisch, der das Zentrum des Raumes bildete und von dort aus die Wohnung dominierte. Groß, aus schwarzem Rauchglas und poliertem Chrom stand er auf dem schwarzen Steinboden, hinter ihm ein schwarzer, lederner Chefsessel, verwaist und wie auf seinen Besitzer wartend. Shinichi wusste, die Spurensicherung hatte bereits mitgenommen, was in irgendeiner Weise sachdienlich war – allerdings suchte sie nicht nach den Dingen, nach denen er vielleicht jetzt suchte. Und so trat er langsam an den Schreibtisch heran, zog den Drehstuhl zur Seite und ließ seinen Blick über die Tischplatte schweifen. Eine Flasche Bourbon, von der die Fingerabdrücke genommen worden waren stand da, daneben ein Satz Gläser. Shinichi runzelte die Stirn – sollten sie wirklich so leichtsinnig sein? Langsam schüttelte er den Kopf. So wie es aussah, hatten die Kollegen zumindest von der Flasche etwas nehmen können. Die Tischplatte schien sauber, genauso wie die Lehnen des Stuhls. Kein Computer, kein Handy. Nicht einmal ein Kugelschreiber. Ihr seid doch nicht einfach gegangen, ohne mir was da zu lassen, oder, Gin? Das sähe dir doch so gar nicht ähnlich… mir einmal nicht deine Überlegenheit unter die Nase zu reiben… Ein schmales Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Dass er daran heute Nachmittag nicht gedacht hatte, wunderte ihn im Nachhinein. Wenn er dieses Katz- und Maus-Spiel spielen wollte, hatte er ihm auch sicherlich ein weiteres Bröckchen hingeworfen – er konnte sich kaum vorstellen, dass ihn sein Widersacher wirklich ohne ein weiteres Zeichen seiner Verachtung, seines Hohns oder seiner Rache hier zurückgelassen hatte. Shinichi kniff die Augen zusammen. Dann stand er auf, ging in die Ecke mit der Kochnische, zog die Schubläden auf, schaute in die Schränke – die Küche schien wie leergefegt. Bis auf eine Vase mit Fenchelblüten (Was auch sonst?, dachte Shinichi zynisch lächelnd) war die Küche fast fabrikneu und unangetastet. Es wunderte ihn kaum – er konnte sich Gin eher weniger gut als Küchenteufel vorstellen – ihn nicht, und niemanden sonst aus der Organisation. Wahrscheinlich waren sie auswärts essen gewesen oder hatten einen Lieferdienst bemüht. Sie hatten einfach nie Spuren hinterlassen. Er wanderte zurück in die Mitte des Raums, blieb bei den kleinen Schildchen stehen, die verschiedene Spuren markierten und bemerkte erst jetzt Reste von Farbe auf dem Boden. Es schien, als wären beschmutzte Pinsel zu Boden gefallen, und er fand drei Stellen, an denen der Boden leicht zerkratzt war. Shinichi stutzte. Farbe? Hier? Und die drei Kratzer… Er ging in die Hocke, nahm die Abstände und Winkel der Stellen in Augenmaß. Könnten die drei Beine einer Staffelei gewesen sein, unsachgemäß aufgestellt, sonst wäre der Boden nicht zerkratzt. Er hat also hier gemalt? Kein Wunder, dass wir ihn in der Akademie nicht mehr angetroffen haben, und auch bei sich zu Hause nicht… Sie haben ihn hierher gebracht. Und nicht nur ihn. Er erinnerte sich an ein Büschel langer, gewellter, weißblonder Haare, das mit in die Beweismittelakten gewandert war. Langsam ließ er sich nach hinten auf den Boden sinken. Die haben seine Freundin bereits. Wie wir vermutet hatten. Er sah sich um, bemerkte einen großen Kratzer, fast einen Sprung auf den Marmorfliesen, stand auf und ging näher. Etwas Schweres war hier runter gefallen, in unmittelbarer Nähe des Blutflecks. Als sein Blick nach oben wanderte, sah er die zwei Haken in der Wand, die in gewissen Abstand auf gleicher Höhe angebracht waren. Er trat näher, berührte sie, lächelte schmal. Und hier lag es… und offenbar hat es jemand fallen gelassen. Allerdings… Gin bestimmt nicht. Also bleibt wohl nur Brady… aber wie kommt er dazu, es überhaupt in die Finger zu kriegen? Wollte er Gin angreifen? Kaum. Ein fast spöttisches Lächeln glitt über Shinichis Lippen. Tapferere Männer als Brady waren vor Gins hämischem Grinsen und unter seinen eiskalten Blicken bereits zusammengefallen wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen genommen hatte. Offenbar hatte Brady das Schwert zu anderen Zwecken in der Hand gehalten. Dieses Mal solltest du sie töten, unter den Blicken deiner Freundin, Eduard. Und so wie das hier aussieht, hast du es getan. Ich hätte… dich doch einsperren sollen, dann wäre dir zumindest diese Tat erspart geblieben, wenn auch dem Mädchen wohl ihr Leben nicht dadurch gerettet worden wäre. So gern ich das glauben will… er hätte sie getötet. So oder so. Gin… Dennoch, das wusste er - sollte sich seine Vermutung bewahrheiten und Brady der Mörder ihres nächsten Opfers sein, würde man ihm die Schuld dafür geben. Denn im Gegensatz zu ihm glaubte man im Yard immer noch nicht an die Art von Hintermännern, die er in Verdacht hatte – wenn auch wohl die Identifikation der Tatwaffe ihm langsam Recht geben dürfte, denn warum sollte ein so kleines Licht wie Brady, wenn er schon Morde begehen wollte aus welchem Motiv auch immer, ausgerechnet ein Samuraischwert benutzen – und wie käme er an ein solches ran? Wo, außerdem, hätte er es versteckt… in seiner Wohnung hatte man schließlich nichts gefunden. Shinichi seufzte still. Tja… Wenn ich nur den endgültigen, unumstößlichen Beweis hätte… aber Gin ist nicht dumm. Den wird er mir nicht liefern. Dann wandte er sich um, ließ seinen Blick weiter durch die Wohnung schweifen, blieb an einem Stuhl hängen, der scheinbar wie bestellt und nicht abgeholt an der Wand stand. Ein zweiter lag in der Nähe der Blutlache. Ein Platz für sein Modell… der andere für sein Publikum. Langsam trat er an die Wand heran, blieb vor der Glasscheibe stehen und wollte gerade sehen, welche Aussicht Gin von hier drinnen aus gehabt hatte, als er stutzte. Unter dem Regal, das neben dem Fenster stand, spitzte etwas Helles hervor. Er trat näher, bückte sich, griff danach und stutzte, als er erkannte, was es war. Es war ein Ticket. Für eine Vorstellung von „Hamlet“ im Globe Theatre in vier Tagen. Hamlet?! War dieser Kunststudent ein so großer Shakespearefan, dass er nicht nur in seinen Bildern seine Blumensymbolik aufgreift, sondern außerdem ins Theater gehen wollte? Warum liegt die hier? Hat er sie nur verloren, oder wurde sie hier bewusst platziert? Sind diese Blumen nur ein… Gimmick des Künstlers, ein Tick, oder will er damit etwas sagen – oder Gin? Weiß Gin um die Bedeutung dieser Blumen oder… Sein Mund wurde trocken, als sein Gehirn ihm zögernd eine vage Schlussfolgerung unterbreitete, wagte kaum, sie zuende zu denken. Wenn das stimmt… Sie mussten Brady finden; dann würden sie auch dieses Mysterium lösen; fraglich war allein, wo der Kerl gerade steckte. Er seufzte, steckte das Ticket gedankenverloren in seine Innentasche, grübelnd, kaum an die Erkenntnis glaubend, die sich ihm aufgedrängt hatte, als seine Finger dort ein anderes Stück Papier berührten. Langsam zog er das Foto aus der Zeitung von Ran auf der Westminster Bridge heraus, das, das sie ihm hatten zukommen lassen. Sein Kopf war auf einmal wie leergefegt. Er schluckte hart, merkte, wie sein Mund trotzdem immer trockener wurde, als er das Bild anschaute. Kalt, eisig rieselte ihm ein Schauer vom Nacken aus über den Rücken, stellte jedes einzelne Härchen auf, das ihm dabei im Weg stand, als vor seinem inneren Auge der Film abzulaufen begann. „Das ist sie, nicht wahr?“ Müde richtete Shinichi seinen Kopf auf, versuchte auf das Foto zu fokussieren, das man ihm unter die Nase hielt. Heiße Asche der Zigarette, die in seinem Mundwinkel hing, bröckelte auf ihn nieder, als der silberblonde Hüne sprach, den hämischen Ton in seiner Stimme dabei kultivierte. Er saß, oder besser kauerte, auf dem Boden, hing an einer Handschelle fest, die seinen Arm nach oben zog – in seinen Fingerspitzen hatte er schon lange kein Gefühl mehr, sein ganzer Arm schien ihm nicht mehr zu gehören, seine Schulter war steif und schmerzte, fühlte sich an, als hätte sich sein Oberarm schon längst aus der Gelenkpfanne gelöst. „Ein sehr hübsches Ding. Wirklich. Du hast Geschmack…“ Shinichi merkte, wie die Worte langsam in sein Gehirn einsanken wie Rosinen in einen frisch angerührten Kuchenteig, sein Denkapparat langsam erarbeitete, was dieser Satz bedeutete. Und endlich wurde das Bild vor seinen Augen klarer. Sein Herz fing an zu rasen, und gleichzeitig bemühte er sich, ruhig zu bleiben. Er durfte nicht zeigen, was sie ihm bedeutete, das brachte sie nur in Gefahr. Wenn er schon ihren Namen genannt hatte, dann durfte er nicht zeigen, dass sie das Mädchen war, welches… Dennoch befahl er seiner freien Hand, sich zu heben und nach dem Bild zu greifen- er versuchte es zumindest. Tatsache war, dass er ihr zusehen konnte, wie sie sich in Zeitlupe bewegte, wurde sich bewusst, wie viel Willen er aufbringen musste, um auch nur einen Muskel zu bewegen, weil die drohende Ohnmacht sein Bewusstsein umwölkte. Er hörte Gin lachen, als er seine Bemühungen bemerkte, schämte sich und wollte doch gleichzeitig vor Wut und Frust schreien – er konnte nicht. Sein Kiefer war zu verkrampft, als dass er einen Laut von sich geben konnte. Gin lachte weiter, als er das unterdrückte Stöhnen hörte, das seinem Gefangenen von den Lippen wich. Kurz wedelte er mit dem Bild vor seinen Augen, als er sich ihm näherte. „Ein süßes Mädchen. Und sie liebt dich so… macht sich Sorgen um dich, Kudô…“ „Ich hab sie beobachtet, weißt du. Deine Eltern. Das FBI. Und deine Freundin… sie lungerte vor deinem Haus herum, ließ sich von niemandem abwimmeln. Sie alle sind rührend besorgt um dich… haben Angst um dich… aber sie…“ Er lachte heiser. Shinichi schloss die Augen, als sich der latente Kopfschmerz, der ihn seit seiner ersten Dosis plagte, seinen Kopf zum Platzen zu bringen wollen schien. „Sie setzt dem Ganzen die Krone auf. Das bittende Flehen. Dieser Ausdruck in ihren Augen, ihre zitternden Lippen, ihr blasses Gesicht… sie weiß nicht, in welcher Gefahr du schwebst. Man hat es ihr nicht gesagt. Aber sie scheint es zu ahnen, weißt du…“ Er streckte die Hand aus, berührte Shinichis Brustkorb an der Stelle, unter der sein Herz schlug – und momentan schlug es ihm bis zum Hals. Eine Schweißperle rann ihm die Schläfe entlang über den Hals, als er ihn weiterreden hörte. „Sie spürt es… tief in ihr drin, da weiß sie, dass deine Tage sich zählen, dass du leidest, dass man dir etwas antut…“ Seine Stimme zischte wie eine Schlange, wütend und kurz vor dem giftigen, todbringenden Biss. Er packte ihn am Kinn, und der harte Druck an seinem Kiefer riss ihn ein wenig mehr in die Realität zurück, ließ ihn seine Augen halb öffnen, nur um direkt ins ewige Eis von Gins Blick zu schauen, der ihn frösteln ließ. „Was meinst du, wie weit würde sie gehen für dich? Würde sie kommen, um dich zu retten…? Wollen wir das ausprobieren?“ Er winkte die junge Frau näher, die mit einer Spritze im Hintergrund bereits gewartet hatte. Shinichis Reaktion war viel zu langsam, als dass er sich hätte wehren oder sträuben können, als sich die kalte Nadel einmal mehr in sein Fleisch bohrte um diese teuflische Substanz in seinen Organismus zu impfen, die seinen Geist wie seinen Körper gleichermaßen zersetzte, degenerierte… Nur ein Gutes hatte es diesmal… Seine Gedanken klärten sich auf. Endlich. Leise stöhnte er auf, erleichtert, als die Entzugserscheinungen abebbten, seine Muskeln sich etwas entspannten, die Schmerzen sich verabschiedeten – für den Moment, das wusste er. Er schaute auf, sah, wie Gin langsam in seinen Fokus rückte, das Bild von Ran vor seinen Augen scharf wurde. Er wusste, viel Zeit blieb ihm nicht, bis die Droge wirkte. „Ich habe keine Ahnung, wer das ist.“ Er versuchte, ruhig zu klingen, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. Hörte Gin lachen und ahnte, dass es zu spät war, um irgendetwas zu leugnen. Der Beweis für seine Ahnung folgte auf dem Fuße und in zweierlei Manifestationen. Erstere war ein ungebremster Schlag einer Faust in sein Gesicht. Shinichi keuchte, verkniff sich den Schmerzensschrei, fühlte, wie etwas Warmes seine Nase runter lief, hustete. Letztere kam in Form seines Smartphones, auf dem eine Audioplayer-App geöffnet war. Die Stimme, die an seine Ohren klang, hätte er fast nicht wiedererkannt und ließ ihn jeden Schmerz sofort vergessen. „Bist du dir da sicher?“ Gin beugte sich vor, hielt das Gerät zwischen sich und ihn, tippte genussvoll auf das Touchdisplay. >Ich… ich liebe dich, Ran… Das… das ist es, was ich dir unbedingt noch sagen wollte… Egal wie das hier endet, ich… liebe dich…< Er schnappte nach Luft, seine Augen starrten voll purem Entsetzen auf das Aufnahmegerät, aus dem ihm seine eigene Stimme entgegenquoll – heiser, zitternd, rau, im Rausch. Ihm wurde fast schlecht, als er sich selbst dieses Geständnis an eine Illusion machen hörte, weil er wusste… dass es für ihn real gewesen war. Jeder dieser verdammten Träume war so echt. Und das Wissen darum, dass sie ihm zuhörten, sich daran ergötzten, wie er halluzinierte, ihnen seine innersten Wünsche und Gefühle offenbarte, ließ ihn sich entsetzlich nackt fühlen – und ungeheuerlich verletzbar. Blut schoss ihm ins Gesicht. „Ich weiß nicht…“ Gin steckte das Gerät weg, ruhig, lächelte immer noch, ein immer eisiger werdendes Lächeln. „Gut, hör zu, ich formuliere es so, dass es auch dein lädiertes Hirn noch hinkriegt, mir zu folgen. Du kannst weiter abstreiten, sie zu kennen, und ich hol sie her, um das nachzuprüfen, auf eine Weise, die dir nicht gefallen dürfte. Oder du überlegst es dir mal… und solltest du dazu kommen, dass diese Ran hier doch dein Herzblatt ist, die Ran, von der du träumst, Detektiv, deren Namen du uns genannt hast… dann solltest du, um ihrer Gesundheit Willen, deine Kooperationsbereitschaft etwas überdenken. Nicht wahr, Anokata?“ Shinichis Kopf fuhr hoch. Er hatte ihn nicht kommen gehört, nicht kommen sehen. Und zu sehen gab es auch jetzt nicht viel. Im hellen Rechteck des Türrahmens stand der schattenhafte Umriss des Bosses, wie immer im Gegenlicht und von ihm nicht zu erkennen, doch sein Lachen drang unverkennbar an seine Ohren. „Allerdings.“ Shinichi fuhr zusammen, als die Turmglocke des Big Ben an seine Ohren drang. Er hielt das Foto immer noch in seiner Hand, starrte es an, ehe er es einsteckte, schluckte hart. Er hasste diese Flashbacks, die ihn seit ein paar Tagen überfielen, heimtückisch, ohne Vorankündigung. Und er fragte sich, was er heute Abend wohl zu sehen kriegte – denn irgendetwas sagte ihm, dass auch heute Nacht sein Schlaf nicht wirklich erholsam sein würde. Aber warum… Warum jetzt? Dieser eine Traum kehrte immer wieder, das war ich gewohnt, aber nicht diese… ganzen Erinnerungen an diese Zeit, damals. Er kniff die Lippen zusammen, nachdenklich, als ihm das Ticket einfiel. Falls die Spurensicherung doch noch einmal wieder kam, war es besser, sie fanden hier etwas adäquates, falls man auf einem der Tatortfotos das kleine weiße Zettelchen sehen konnte, so wie er es auch bemerkt hatte. Er zog ein Notizpapier aus seiner Sakkotasche und steckte es stattdessen unters Regal. Es sah ungefähr gleich aus, und die Karte war mit der bedruckten Seite nach unten gelegen, also würde der Unterschied nicht auffallen. Ein sarkastisches Grinsen huschte ihm über die Lippen, als er daran dachte, was er hier eigentlich tat. Dafür könntest du suspendiert werden. Du verunreinigst einen Tatort… herzlichen Glückwunsch. Dann drehte er sich um, langsam, schaute aus dem Fenster. Ihm fehlte immer noch ein Hinweis darauf, wo er sie finden konnte. Wo sie sich aufhielten. Sie hatten Meredith und sie mussten wohl die Kleider haben. Eduard befand sich wohl auf freiem Fuß und deponierte die Leiche irgendwo. Sie mussten sich eine zweite Wohnung angemietet haben, aber er bezweifelte, dass Gin das unter dem gleichen Namen gemacht hatte wie hier. Also, wo kam man möglichst schnell und möglichst unauffällig unter? Er fuhr sich durch die Haare, langsam. Fakt war, der dritte Mord war passiert. Sie hatten nun Meredith. Außerdem hatten sie nachweislich ein Bild von Ran, das Zeitungsfoto… was bedeutete, dass er in seiner Vermutung mehr als Recht haben könnte, wenn er annahm, dass sie wieder hinter ihr her sein würden. Wenn er nun also Meredith retten wollte und verhindern, dass Ran etwas passierte, musste er den nächsten Mord verhindern. Ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass sie das nächste Opfer schon längst hatten… und dass er nicht viel Zeit hatte, um es zu retten. Er konnte nicht wieder die Immobilienmakler durchtelefonieren. Er wagte sogar zu glauben, dass sie für ihren Schlupfwinkel diesmal keinen benötigt hatten. Allerdings - Eduards Wohnung konnte es nicht sein. Shinichi stierte in den Nachthimmel. Wo treibt ihr euch diesmal rum? Ein leerstehendes Gebäude. Ein geschlossenes Gebäude… Irgendetwas in der Richtung musste es sein. Keine Nachbarn, die Fragen stellen oder Beobachtungen machen konnten. Er schluckte. Oder halluziniere ich am Ende doch und seh Gespenster? Ich hab keinen Beweis für sie… Das mit Ran kann Zufall sein… bei der Presse, die ich momentan kriege, ist alles möglich. Aber andererseits… das hier lacht einem doch böse ins Gesicht... Unwillig zerfurchte er sich mit seinen Fingern sein ohnehin wirres Haar, ließ seine Augen über das nächtliche London schweifen. Die Aussicht über die Stadt und den Hafen war atemberaubend - ein Lichtermeer erstreckte sich unter ihm, gekrönt von dem leuchtenden, sich langsam drehenden Rad des London Eye, das tatsächlich niemals stillstand. Für heute würde er es gut sein lassen müssen. Seinen Gespenstern würde er morgen weiter nachjagen. Damit drehte er um, verließ das Loft, brachte hinter sich das Siegel wieder an, fuhr mit dem Aufzug nach unten. Er trat auf den Gehsteig und wollte sich gerade ein Taxi rufen, als er sie bemerkte. Und sie tat nichts, um sich zu verstecken, im Gegenteil. „Are you shadowing me, Miss Shelley?“ „Of course.“ Sie lächelte. „And I must confess, you are definitely worth the labour. So much love, so much pain, so much drama.“ Sie grinste. „Hah – don’t you dare kidding me ever again. You and not knowing that Japanese girl. That looked pretty different today.“ Shinichi schaute sie sachlich an, versuchte mit keiner Regung seines Gesichtes zu zeigen, wie die Unruhe in ihm wuchs. “I am impressed. Almost no one achieves to shadow me without my notice. Or do you use other means?“ „I am not telling my secrets, Mr. Holmes. As you don’t reveal yours, I guess…?” Shinichi lächelte schmal. “You know, I cannot tell you about the case. I can do nothing but implore you not to mention her again. She’ll be in grave danger, if…” “If what?” Sensationslust glomm in ihren Augen. Shinichi seufzte leise. “Just don’t. Please.” “Ah.” Sie seufzte, zuckte mit den Schultern. „I am so sorry, really, I am…”, sie lächelte süffisant, ließ ihre perlweißen Zähne aufblitzen, “… but you must understand me, too. How shall I earn my living without writing stories? And how shall I write my story without you giving me a decent topic? I am not allowed to write about the case – though I see, that this house must have something to do with it and when I’d go in, I for sure would finde a police seal, wouldn’t I? Perhaps this is a crime scene… perhaps here the murder happened…” Sie lachte leise, und kalt. „And I got to know that this painter Brady and his girlfriend are missing. I’ve been at that university today, questioning the students – they are much more willing to give me information than you are.” Shinichi erwiderte nichts. Er hatte ihr wortlos zugehört, gefühlt, wie sein Körper auf all das reagierte – Schweiß war ihm aus allen Poren gebrochen und eine Hitze war in seinen Kopf gestiegen, die seinen Schädel fast zum Bersten bringen wollte. Er fragte sich, warum sein Hirn nicht schon längst zu Brei zerkocht war. Das würde zumindest einige Probleme schlagartig lösen. Unbewusst griff er sich an die Stirn, schloss kurz die Augen. „Oh. Are you not well?“ Die zunehmend unangenehm klingende Stimme Victoria Shelleys klang in sein Ohr – er ließ die Hand sinken, schüttelte den Kopf, lächelte unverbindlich. „No. Just tired. And getting a headache by the thought of so much foolishness and lack of understanding.” Sie starrte ihn an, merkte, wie Wut in ihr hochkochte – und sie sah ihm an, dass es ihm ähnlich ging. „Honestly, Miss Shelley, are you aware of what you are dealing with? This is not just a story! There are humans involved, lifes threatened, and all that you can do is to interfere the investigation and my own life by gathering information that is not meant for you, by sticking your nose into things that are none of your business and by dragging that all out to the public, no matter if you harm her, harm me, harm one of those poor students, or… harm yourself.” Er atmete durch, sichtlich verärgert und erregt. “By all respect, you have no idea at all of what kind of fire you are playing with!” Sie starrte ihn an – auf ihre Lippen war ein gefährliches Lächeln getreten. “Oh. That may be the truth, but I’ll find out, rest assured. And not only this; you know I really am disturbed about your latest appearance, and not only me, the whole city of London is worrying about the reason for your latest look. Ill-looking is not really the new sexy, Sherlock… have you had a glance at the mirror, lately…?” Und sie sah, das hatte gesessen. Ihm blieb die Spucke sichtlich weg, seine Gedanken rasten und überschlugen sich – er dachte nach, was er darauf entgegnen konnte und beschloss, dazu gar nichts zu sagen. Er wusste nicht, wieviel sie wusste und woher, und er wollte ihr kein Feuer geben, keine Neugier entfachen und nichts bestätigen, durch eine unbedachte Äußerung. „Do your work and I’ll do mine.“, flüsterte er nur leise. Damit wandte er sich um, winkte sich ein Taxi heran. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er wirklich Angst davor, was er morgen in der Zeitung lesen würde. Er merkte nicht, dass ihn noch jemand beobachtete, als er das Gebäude verließ. Gin saß in der Finsternis seines Porsches, und studierte die nur mäßig vom Mond beleuchtete Gestalt seines Gegenübers. Er konnte kaum lesen, welcher Ausdruck auf seinen Zügen lag – seine Haltung jedoch verriet ihm ohnehin alles, was er wissen musste. Die Arme vor der Brust verschränkt, der Rücken durchgedrückt und gerade, den Kopf nach unten gewandt, sein Blick fest auf den Boden gerichtet sprach alles an ihm von Nachdenklichkeit, Grübelei und wilder Entschlossenheit. Ein feines Lächeln kräuselte seine Lippen, als er ihm dabei zusah, wie er in ein Taxi stieg, dass die Straße heraufgefahren kam und vor ihm stehen blieb. Und er sah die junge Frau, diese Reporterin, die nur zu gern alles daran setzte, auf seinem Rücken die Karriereleiter weiter zu erklimmen. Es lief, wie es schien, alles nach Plan. Und er hatte eine gute Ahnung, wie das alles noch etwas mehr Spaß machen könnte. Er stieg aus, ohne Hast, näherte sich der jungen Frau, die gerade in ihrer Handtasche wühlte, offenbar nach ihrem Handy suchte, um sich ebenfalls ein Taxi zu rufen. Breit grinsend trat er ihr gegenüber, genoss sichtlich den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihn anstarrte, scharf nach Luft schnappte und als ersten Reflex sich umdrehen und weglaufen wollte. „Na, na.“, lachte er heiser. Sie erstarrte, blinzelte ihn an. „I know, I don’t have what you would call a trustworthy appearance. But I had the chance to follow your little discussion with DS Kudô, and I wondered, if I could lend you a helping hand…” Victoria schluckte, entspannte sich ein wenig – ein wenig nur. Allerdings, die Neugier in ihr war bei seinen Worten fast augenblicklich entfacht, drängte die Angst und das ungute Gefühl, das der Fremde bei ihr auslöste, in den Hintergrund. „You know Sherlock?“ Gin grinste breit. „Know? Better than you might guess, darling. I know him from his times in Tokyo…” Er setzte eine Kunstpause, bemerkte mit diebischer Genugtuung, wie sie vor Aufregung zu zittern anfing. Ihr Reporter seid in jedem Land der Erde gleich… „You worked together?“, brach es aus ihr hervor. In ihr überschlugen sich ihre Gedanken – sie hatte hier tatsächlich jemanden gefunden, der ihr aus erster Hand exklusive Details über Kudôs Leben erzählen konnte – das war IHRE Chance! „Kind of.“ Er lächelte schmal. „But this does not matter. I heard you wonder about his haggard look. Did you ever think about…” “Of course!” Er sah ihr an, sie hatte Blut geleckt. Der Speichel troff ihr fast aus den leicht geöffneten Lippen, ihr Blick hing glühend an ihm. Nun wirst du sehen, was du davon hattest, uns an die Öffentlichkeit zu zerren, Kudô… „But there are so many reasons for this…“ Sie schluckte, merkte, wie sie zu zittern anfing. „Now, Miss Shelley… think a little bit. Let’s compile what we have found out yet. There is the pale teint, the tiredness, the very slim figure, the restlessness, the headache… a slight tremor in his hands. What could…” “Some kind of illness?”, murmelte sie fragend. „Not that kind of illness, you might suspect. You are much too… friendly. Go, think further…” “Some sort of burnout or nervous breakdown…?” “Will follow up.” Gin lachte. “I give you a hint. Think about your all-time hero… Think about Sherlock Holmes…” Damit drehte er sich um, ließ sie hinter sich stehen, noch bevor sie ihm die Antwort sagen konnte, oder fragen, warum er ihr das erzählte – er blieb lieber der Unbekannte in ihren Augen, als der erklärte Feind ihres neuen Opfers. Victoria Shelley unterdessen stockte der Atem, als sich das Puzzle in ihrem Kopf zusammenfügte, Teil für Teil. Der übermüdete Anschein, den er machte, gepaart mit dieser ganz offensichtlichen Unruhe… das leichte Zittern seiner Finger, das er versucht hatte, in seinen Hosentaschen zu verstecken… Die Kopfschmerzen. Die blasse Gesichtsfarbe. Seine hagere Statur. Es passte einfach alles. Alles! Drugs. Good lord, this is… Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, musste an sich halten, um nicht laut zu jubeln – das war tatsächlich DIE GESCHICHTE ihres Lebens. Sie würde ihn ausziehen bis auf die Knochen. Allerdings, dafür brauchte sie noch einen Beweis. Und sie ahnte, wen sie würde fragen können – einen seiner früheren Kollegen, denn die hatten Einsicht in seine Akten gehabt. Nicht die kleine Rothaarige, sie würde, das ahnte Victoria, für ihren Partner in die Bresche springen. Nein, sie brauchte… einen Mann. Ein überlegendes Grinsen zeichnete sich auf ihren sinnlichen Lippen ab, als sie versuchte, durchzuatmen. In ihren Fingern kribbelte es. Sie wusste, mit wem Kudô zusammengearbeitet hatte, sie arbeitete schließlich bei der Zeitung. Und sie wusste von einem, der weder über ihre damalige Zusammenarbeit noch über seine Beförderung glücklich gewesen war. Sein letzter Partner. DI Henderson. Ja, dieser schmierige Lackaffe würde ihr bestimmt gern alles erzählen, was er über seinen verehrten Ex-Partner wusste. Und bestimmt würde er mit Freuden nachschnüffeln und ihr jedes Detail liefern, das sie brauchte, um den Reißer ihres Lebens zu schreiben. Der letzte Nachtschwärmer, der unruhig durch die Straßen Londons wanderte, war Eduard. Er hatte eine sehr unruhige Zeit im Auto verbracht, nachdem er es nicht gewagt hatte, in seine Wohnung zurückzukehren. Er konnte sich denken, dass man bereits den Tatort in diesem vermaledeiten Loft gefunden hatte, und er ahnte auch, dass dieser Superintendent eins und eins zusammengezählt hatte – und vielleicht schon bereute, ihn laufen gelassen zu haben. Er war sich sicher, dass er ihn verdächtigte. Sie alle hatten ihn verdächtigt. Es dämmerte, als er auf den Parkplatz fuhr. Die ersten Angestellten schwärmten bereits aus und in die Eingänge wie in Bienen in ihren Bienenstock. Er stieg aus, unauffällig, griff die Schachtel von der Beifahrerseite, in der das Chloroform und die Handschellen versteckte, zog sich die Jacke und Mütze der Speditionsfirma an, mit deren Hilfe er ins Gebäude zu kommen hoffte, setzte sich eine Brille auf, um sein Aussehen wenigstens ein wenig zu verändern und ging los. Eduard musste nicht lange suchen, bis er dem ersten Mitarbeiter in die Arme lief, der ihm geeignet erschien. „I am looking for your post office. I have a package for you.“ Er setzte ein harmloses Lächeln auf, hielt das Paket in die Höhe. Der junge Mitarbeiter schaute ihn nachdenklich an, sichtlich ratlos über die unerwartete Aufgabe. Wütend rote Pickel überall in seinem ansonsten käsig-weißen Gesicht, besonders aber auf Stirn und Kinn dokumentierten seine Jugendlichkeit nur allzu deutlich. Wirr standen seine dunklen, fast schwarzen Haare ab, buschige Augenbrauen wucherten über einem paar dunkelbrauner Augen, die hinter einer Brille fast ein wenig träge in die Welt blickten – in ihnen stand die Müdigkeit noch deutlich zu sehen, offenbar war er das frühe Aufstehen nicht gewohnt. Und obwohl Eduard eigentlich kein Verbrecher war, wusste er sofort, dass dies der Mann war, den er gesucht hatte. Das ideale Opfer. Das kleine Schildchen „Praktikant“ auf seiner Brust bestätigte ihn umso mehr. „It’s my first day here, I don’t know, either… but I’ll take you to Karen, she can help you for sure.“ Damit drehte er sich um, um sie zu dieser mysteriösen Karen zu bringen, und Eduard folgte ihm hinein in den verschachtelten Bau, in dem die größte Wachsfigurenausstellung Europas aufgebaut war. Eduard wartete, bis er allein mit dem pickelgesichtigen Praktikanten war, ehe er flugs und lautlos in sein Paket griff, den feuchten Lappen herausfischte, das Päckchen fallen ließ und den nichtsahnenden Jungen von hinten packte, sein Überraschungsmoment ausnutzend, und ihm den Lappen auf Mund und Nase drückte. Er spürte, wie sich der Körper des Jungen verspannte, als er versuchte, sich loszuwinden, fühlte, wie seine Atemfrequenz nach oben schnellte – ein fataler Fehler, denn so gelangte das Betäubungsmittel nur noch schneller in sein Hirn, wo es die Lichter fürs erste ausschaltete. Als er merkte, wie der junge Kerl schlaff und schwer gegen ihn sank, steckte er den chloroformgetränkten Lappen wieder ein und zerrte ihn in einen Nebengang hinter die Kulissen. Schnell zog er ihm sein Mitarbeitershirt aus, dafür die Mütze und Jacke des Speditionsdienstes an, und sperrte ihn in einen Requisitenschrank, warf ihm den Lappen auf den Bauch, von wo er noch ein Weilchen sein Schlummergas verbreiten würde. Dann trat er heraus, räumte die Schachtel beiseite und ging, wie als ob nichts gewesen wäre, wieder hinaus zu seinem Auto, wo er die sorgsam in Folie verpackte Leiche Junipers aus dem Kofferraum und die flache Schachtel mit dem Bild, an der ein Trageriemen hing, heraus hob. Er hängte sich die Schachtel um und nahm das Mädchen auf die Arme, straffte die Schultern und ging so entschlossen, wie er zustandebrachte, wieder in das Gebäude. Und Gins Plan ging, wie immer, auf. Er mischte sich unters Volk der emsig hin und herräumenden Arbeiter und machte sich auf den Weg zu seinem Bestimmungsort – dem Areal, in dem Madame Toussaud’s die Ausstellung „Scream“ präsentierte – eine anschaulich inszenierte Geschichte der gefährlichsten Kriminellen der Stadt, sowie ihren plastisch nachempfundenen Verbrechen. Sorgfältig schaute er sich um, stieg dann umsichtig über die Gleise, auf denen ein Bummelzug fuhr, der die Zuschauer den letzten Weg nach draußen fahren würde, als er den Ort fand, der für Juniper wie gemacht schien – ein Opfer von vielen des gefürchtetsten Serienmörders der Stadt – Jack the Ripper. Er legte den Plastiksack ab, zog ihn auf, drapierte das Mädchen möglichst stilecht in die Szene, stellte das Bild daneben ab, wo es etwas versteckt und nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar, auf seinen Finder wartete. Dann nahm er die Puppe, die nun überflüssig geworden war, packte sie in den Plastiksack und trug sie durch einen der Gänge, die um diese Tageszeit noch nicht versteckt in den Kulissen waren, sondern noch offenstanden, aus dem Set. Die wenigen Mitarbeiter, die an ihm vorbeigingen, beachteten ihn gar nicht. Offenbar tauschte man diese Puppen ohnehin öfter mal aus. Ein Gong verkündete, dass es nun Zeit war für sie alle aus dem Ausstellungsraum zu verschwinden – und während er durch die Tür schlüpfte, fiel sie hinter ihm auch schon zu. In ein paar Minuten würden die ersten Besucher hereinströmen. In ein paar Minuten würde man die Leiche von Juniper Torres finden. ______________________________________________________________________ Hallo Leute – Bitte entschuldigt die lange Wartezeit. Momentan ist bei mir einfach höllisch viel los. Ich hoffe dennoch, das Kapitel hat euch gefallen! Vielen Dank an die Kommentatoren des letzten Kapitels! Beste Grüße, Eure Leira Hosted by Animexx e.V. 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