Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 23: Alptraum -------------------- KAPITEL 23 – ALPTRAUM Als er wieder aufwachte, war die Welt eine andere als zuvor. Er lag immer noch – oder schon wieder? - auf dieser Liege. Auch die OP-Beleuchtung brannte auf ihn nieder, immer noch, heiß und blendend hell. Er jedoch zitterte wie Espenlaub. Mühsam atmete er ein, merkte, wie seine Lungen sich nur zögerlich mit Luft füllten. Angst schnürte ihm immer noch die Kehle zu, trocknete seinen Mund aus, ließ seine Zunge am Gaumen kleben, so dass er nur mühsam schlucken konnte. Angst schien sein Hirn in einen wirren Salat aus Neuronen, Synapsen und Verbindungssträngen zu verwandeln, unfähig, auch nur noch einen sinnvollen Gedanken zu fassen oder ein lesbares Signal zu verschicken, während Schmerz und Verzweiflung mit beiden Händen in seiner Brust wühlten. Nur mit Mühe befreite er sich vom Rest der dunklen Schatten, denen er gerade entflohen war. Er sah sich um, erfasste nur langsam, dass auch das nur ein Traum gewesen war, eine Halluzination, nichts weiter. Und dennoch riss es ihm fast das Herz in Fetzen, buchstäblich. Shinichi hatte sie sterben sehen. >Ran.< Er schluckte, kniff die Augen zu, verbot sich, ihren Namen auch nur mit seinen Lippen zu formen. Nie durften sie von ihr erfahren. Niemals. Und erst jetzt fühlte er den Tropfen Wasser, der ihm aus dem Augenwinkel rann. Er wollte die Hand heben, um ihn sich weg zu wischen, ein aussichtsloses Unterfangen, war er doch immer noch festgebunden. Widerwillig fühlte er, wie in ihm die Scham schon wieder emporkriechen wollte; er wollte nicht, dass sie ihn hier weinen sahen, ganz sicher nicht – als er jedoch den schwarzen Umriss sah, der in den Lichtkegel tauchte, ahnte er, dass es dafür längst zu spät war. Er wand sein Handgelenk in dem ledernen Gurt, der es festhielt, und hörte auf, als er ihn leise lachen hörte. „Ermordet.“ Shinichi schloss die Augen, fühlte, wie sein Kopf erneut den Film, den er gerade eben schon nicht hatte sehen wollen, erneut ablaufen lassen wollte, vertrieb die Bilder, die Gedanken, die Geräusche mit Mühe. „Das ist es also… deine größte Angst. Sie zu verlieren.“ Er trat näher, langsam. „Sie nicht beschützen zu können. Ihr den Tod zu bringen. Zu versagen.“ Er griff ihm in die Haare, zog seinen Kopf nach hinten. Ein fast lautloses Stöhnen kroch über seine Lippen, als sein sich intensivierender Kopfschmerz ihm deutlich erklärte, dass er eine solch rüde Behandlung gar nicht schätzte. „Weißt du, deshalb liebe ich dieses Gift.“ Seine Stimme näherte sich seinem Ohr, züngelte in seinen Gehörgang wie die gespaltene Zunge einer Schlange. „Weil es mir alles verrät, was ich wissen muss, um in die Köpfe meiner Gefangenen einzudringen und ihren Willen zu brechen. Es verrät mir ihr größtes Glück – und ihre tiefste Angst.“ Er ließ ihn los, nicht ohne kurz an seinen Haaren zu zerren. Shinichi schrie leise auf; sein Kopf fühlte sich, als würde er explodieren wie eine Flasche Mineralwasser, die man vor dem Öffnen geschüttelt hatte. „Das träumen Sie doch. Woher wollen Sie wissen…“ Anokata stellte sich neben ihn, verschränkte die Arme vor der Brust, sah ihn ruhig an. „Ich bin nicht weniger ein Detektiv als du.“ Shinichi schluckte. „Ach, tatsächlich.“ Humorlos kroch ihm diese Bemerkung über die Lippen, kurz schloss er die Augen. Ein gemeines Lächeln kräuselte die Lippen des Bosses. „So, so. Deine Dreistigkeit ist dir also noch nicht vergangen, interessant. Aber wie ich weißt auch du, dass ich die Wahrheit spreche… dieses Gift schaltet deinen Verstand aus, blockiert deine Metakognition. Du kannst nicht mehr steuern, was du preisgeben willst, und was nicht – und damit zieht es den Vorhang beiseite, lässt mich hinter die Kulissen sehen, erleben, was in deinem Leben wirklich Bedeutung hat, hinter diesem Theaterstück des unerschrockenen Detektiven, das du so detailreich inszenierst.“ Er lachte hohl. „Ganz der Sohn deiner Frau Mama, nicht wahr?“ Shinichi schluckte trocken, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Dennoch. Woher wollen Sie wissen, dass nicht etwas ganz anderes…“ „Weil das doch der Grund ist, warum du hier bist, Shinichi Kudô.“ Shinichi erstarrte, blinzelte in das Licht. Die Schattengestalt kam näher, erneut ganz dicht an sein Ohr. „Erzähl mir nicht, du tust das nur für Sherry… Ich weiß nicht, wer dich gewarnt hat, aber dir war klar, genauso wie mir, vor dieser kleinen Mail warst du weitgehend uninteressant für uns – als Name kaum auf unserer Bildfläche. Es gab nichts, was du uns hättest geben können. Wir kannten das Geheimnis hinter APTX, wir kannten das Geheimnis deiner Jugend, und wir entwickelten ein Gegengift dagegen, wie du ja erfahren durftest. Wir forschen ein wenig daran herum, wie man sich diesen Verjüngungseffekt zu Nutze machen könnte – aber seien wir ehrlich – jede Laborratte erfüllt diesen Zweck besser als du, der du doch so ungleich anstrengender und nervenstrapazierender in der Haltung bist. Labortierchen sind da ungleich einfacher und billiger. Versteh das bitte nicht falsch.“ Er tätschelte ihm die Stirn, bis Shinichi seinen Kopf unter seiner Hand wegzog. „Mir imponierte dein Mut, um nicht zu sagen, deine Frechheit, mit der du mich ansprachst und mir so offen drohtest. Ich mag das… ich schätze Menschen, die vor mir nicht buckeln und zusammenfallen. Ich zerstöre sie trotzdem, das versteht sich von selber… aber der Vorgang ist so ungleich viel erfüllender. Ich liebe es, mit ihnen zu diskutieren. Aus ihnen herauszupressen, wie sie hinter meine Geheimnisse kommen konnten, oder warum sie überhaupt annahmen, es mit mir aufnehmen zu können…“ Er lachte. „Was aber den Beweis angeht, warum das Gift mir immer die Wahrheit über meine Delinquenten erzählt? Ganz einfach. Kein Mensch traut sich ohne gewichtigen Grund, mir in den Weg zu schreiten. Es geht ihnen um etwas, um etwas Persönliches – nicht um ein Abstraktum wie Wahrheit oder Gerechtigkeit oder sonstigen Nonsens. Dafür muss man sich nicht in die Höhle des Löwen begeben, mit etwas Geduld und besserer Planung hätte man vielleicht sogar mehr Erfolg. Das aber… hast du nicht getan. Du bist losgelaufen, fast noch bevor der Startschuss fiel… und du hast aber nicht dich in Sicherheit gebracht… sondern andere. Dir ging es immer um die anderen, nicht wahr? Und warum…“ Er lachte leise, selbstzufrieden. „Warum dann nicht vor allem um dieses eine Mädchen…“ Shinichi fing an zu schwitzen, presste die Lippen aufeinander. Er wollte etwas sagen, konnte jedoch kaum einen klaren Gedanken fassen – Schweiß perlte ihm auf die Stirn, und er wusste nicht, ob es diese vermaledeite Lampe war, oder etwas anderes, das diese Hitze verursachte. Der Boss schien sein Schweigen auf seine Weise zu deuten. „Sprachlos, Kudô? Es ist so einfach, einen Menschen zu manipulieren, ihn sich gefügig zu machen, man muss nur wissen, wie.“ Er ging um ihn herum, langsam, wie ein schwarzer Panther. „Früher folterte man die Gefangenen. Körperliche Schmerzen neigen dazu, die Zunge etwas zu lockern… Hunger, Durst, Hitze. Kälte. Atemnot. Krämpfe. Ausgerenkte Glieder,…“ „Tja. Nur sind wir leider nicht mehr im Mittelalter. Abgesehen davon wars doch immer ne ziemliche Sauerei.“, fiel Shinichi ihm ins Wort, in seiner Stimme, wenngleich heiser, doch eine deutlich hörbare Note beißenden Sarkasmusses. Shinichi schluckte, dann kniff er die Augen zu, um seine Sehnerven zu beruhigen, wandte dann den Kopf. Er erkannte nur schemenhaft, wo er sich befand; seine Augen tränten wegen des grellen Lichts, er konnte sie kaum öffnen, und wenn er es tat, bildete sich ein derart starkes Nachbild, dass er minutenlang schwarze Kreise sah. „Stimmt auffallend. Deshalb ging man irgendwann zu anderen Arten von Folter über. Sensorische Deprivation. Isolation…“ Aber ganz offensichtlich waren sie allein. „… psychologische Methoden.“, murmelte Shinichi leise. „Richtig.“ Der Boss blieb stehen. „Methoden, bei denen man sich die Hände nicht im Geringsten dreckig macht, die aber durchaus durchschlagenden Erfolg haben. Denn seien wir ehrlich – wer die Wirkung des Apoptoxins einmal oder zweimal…“ „… oder noch öfter…“ „… am eigenen Leib erlebt hat, den kann auch kaum mehr ein gebrochenes Bein oder eine ausgerenkte Schulter schocken, nicht wahr?“ Seine Stimme klang lauernd. „Deshalb bin ich größter Fan von psychologischen Tricks, um meine Gäste zum Plaudern zu bringen. Man wird dir kaum etwas ansehen, als die üblichen Auffälligkeiten eines Junkies, irgendwann… wenn du soweit überhaupt kommst.“ Er schwieg, machte eine Kunstpause, um einen Schritt zurückzutreten. „Der sehnsüchtigste Wunsch und die größte Angst - diese beiden Dinge sind die Schlüssel, um sich einen Menschen untertan zu machen. Bei manchen reicht es, ihm seinen größten Traum zu erfüllen. Bei vielen ist das Wohlstand, Macht, Reichtum, Luxus, gutes Aussehen. Gib ihnen genug Geld und sie werden alles für dich tun – diese Methode wähle ich bei Menschen, die ich mir nützlich machen will, für eine Zeitlang.“ Er lachte. „Nur für eine Zeitlang, immer, wohlgemerkt.“ Er blieb stehen, betrachtete den Oberschüler, der vor ihm auf dem Tisch lag, und stockend atmete, bemerkte mit Genugtuung dessen unfokussierten Blick, den Schweiß auf seiner Stirn, das Zittern, dass seine Hände bereits schüttelte. „Bei anderen, von denen ich, sagen wir es mal… diplomatisch… nur eine Auskunft haben möchte, bemühe ich mich eher darum, ihnen ihren Alptraum zu erfüllen. In der Regel reicht die Androhung der Wahrmachung desselben, und sie singen wie die Kanarienvögel.“ Er pausierte, um sich eine Zigarre anzuzünden. „Was Sie wahrscheinlich nicht davon abhält, ihnen diesen… Alptraum dennoch zu erfüllen.“ Shinichis Stimme klang heiser, und er redete leise. Sein Mund war seltsam wattig, fühlte sich an, als hätte er Pelz zwischen den Zähnen. „Nein, in der Tat. Ihnen bei ihren Wahnvorstellungen zuzusehen ist das eine Vergnügen, die Erfüllung derselben und die Reaktion darauf jedoch… mit nichts anderem zu vergleichen.“ Er setzte sich auf einen Stuhl neben Shinichis Kopf, paffte leise. Der Geruch von Rauch stieg in seine Nase, ließ ihn husten. „Und was… was machen Sie, wenn…“ „Ach.“ Er lachte leise. „Zuerst lasse ich das Gift ein wenig seine Arbeit tun, Shinichi Kudô. Du wirst das schon noch merken. Und dann reden wir weiter, was ich mache, wenn nichts wirkt…“ Erneut umwölkte ihn ein graublauer Dunstschleier. „Das ist nämlich nicht einfach ein Nervengift. Es ist eine halluzinogene Droge. Und ob du es willst oder nicht, du bist jetzt schon süchtig danach.“ Shinichi erstarrte unwillkürlich. Anokata drehte sich um, ein wenig nur, bemerkte amüsiert und zufrieden gleichermaßen, wie sich die Muskeln seines Gefangenen anspannten. „Das glaub ich nicht. Nach einer…“, brachte er schließlich hervor. „Glaub mir, der erste Kontakt reicht.“ Er stand auf, schaute ihn von oben herab an, spürten den Blick des jungen Detektiven auf sich und wusste doch, dass er außer seines Umrisses nichts sah – dafür sorgte die Beleuchtung. „Der erste Effekt ist immer der Rausch – dieses irre Glücksgefühl, diese Menge an Endorphinen, die deinen Körper überfluten, deinen Geist davontragen, dich in Glückseligkeit baden lassen… ein Erlebnis, das man gerne wiederholen würde. Nicht wahr?“ Anokata lächelte wissend. „Und streite es bloß nicht ab… du hättest sie so gerne wieder hier, wir konnten es alle sehen – dieses Lächeln auf deinen Lippen sagte alles. Die Erleichterung in deinen Gesichtszügen. Du willst sie in deinen Armen spüren, in deiner Nähe haben, willst den Geruch ihres Haars in deiner Nase, das Gefühl ihrer Haut unter deinen Fingern zurück, wer weiß, vielleicht schenkt sie dir das nächste Mal ihren ersten Kuss…“ „Hören Sie auf!“ Shinichis angeschlagene Stimme überschlug sich. „Was, was, was?“ Der Boss lachte, hob scheinbar entschuldigend die Hände. „Was regst du dich so auf…? Spreche ich etwa nicht die Wahrheit, Detektiv?“ Shinichi blinzelte ihn an, stöhnte auf, als das Licht seine Kopfschmerzen vervielfachte, sein Herz raste, seine Atmung wurde schnell, und verdammt flach. >Was ist das…?< Dann hörte er ihn erneut, drängte die Unruhe, die ihn erfüllte, zurück. „Und danach wird immer der Absturz kommen, Detektiv. Selten bezieht er sich auf den Rauschtraum… bei dir jedoch ist es das exakte Gegenteil, und scheint sich obendrein noch sehr plastisch darzustellen.“ Er grinste diabolisch. „Deine Erfahrungen als Ermittler scheinen dir hierbei nicht besonders gut zu tun… du kannst dir das alles einfach viel zu gut vorstellen.“ Shinichi schluckte trocken, hustete erstickt. „Diese Wahnvorstellungen wiederholen sich immer weiter, bis du die nächste Dosis bekommst. Und werden immer schlimmer, immer länger, immer intensiver. Und nicht zu vergessen… sie gehen mit nicht unerheblichen körperlichen Symptomen einher – denn wir reden hier bereits vom Entzug.“ Erneut streifte eine Rauchwolke Shinichis Gesicht – aber diesmal bekam er sie kaum mehr mit. „Taubheit in den Gliedmaßen, Kopfschmerzen, Schwindel. Herzrasen, niedriger Blutdruck, Hyperventilation. Du weißt, was danach kommt, wenn man hier nicht interveniert...“ Shinichi riss die Augen auf, schluckte hart. „Aufbrauchen der Energiereserven des Körpers, Absacken des Pulses, bis hin…“ Ein leises, paffendes Geräusch erklang an seinem Ohr. „Exitus.“ Shinichi fing an zu zittern. „Das glaub ich nicht.“ Er kniff die Augen zusammen, fluchte innerlich, als er seine wackelige Stimme hörte. Er spürte es doch bereits. Er fühlte kaum mehr etwas in den Fingern, fühlte, wie sein Herz seinen Takt beschleunigte. Und er konnte die nahende Ohmacht fühlen, die sich anschlich, leise und tückisch, um ihn dann rücklings mit sich in die Dunkelheit zu reißen. „Wir können ja mal sehen, wie lang du das aushältst, Kudô. Vielleicht glaubst du mir ja morgen.“ Und auf einmal spürte er, wie er losgeschnallt wurde, man ihn vom Tisch stieß – er fühlte, wie langsam er reagierte, konnte den Sturz kaum abfangen, krallte seine tauben Finger mit Mühe um die Tischkante. Shinichi keuchte, wollte sich aufrichten, aufstehen, und fühlte, wie wenig Kontrolle er jetzt schon über sich hatte. Er zitterte am ganzen Körper, focht gegen die immer dickere Schwärze an, die ihn einhüllte. Unsicher klammerte er sich mit schwitzigen, kalten, gefühllosen Fingern an der Tischplatte fest, zog sich hoch, fand mit seinen Beinen kaum Halt, weil sie wie taub zu sein schiehen. Feindselig starrte er den Boss an – und sah zum ersten Mal im schwarzen Flimmern des Nachbilds dieser Lampe ein Gesicht. Oder zumindest das, was ein Gesicht hätte sein sollen. Er trug eine Maske, die sein Gesicht bedeckte. Sie war fast weiß, ähnlich wie aus einem Nô-Theater, aber keine, die Shinichi hätte zuordnen können. Er blickte ihn nur an, unbeweglich, wie schockgefroren. „Was hast du erwartet, Detektiv? Keiner sieht den Boss. Keiner kennt ihn…“ Die Maske lachte. Und auf einmal schnellten seine Hände über den Tisch, griffen nach Shinichis Handgelenken und rissen sie zu sich, zogen den jungen Detektiv halb über die Tischplatte. Shinichi japste nach Luft, als die Tischkante seine Magengegend traf – er konnte sich kaum bewegen, das Gesicht des Bosses zum Greifen nah. „Was wolltest du hier? Weshalb tust du dir das an… warum hast du diesen Krieg angefangen, den du nicht gewinnen kannst, Kudô? Das FBI wird dich nicht finden, hier nicht – dieser Ort hier ist nirgends erwähnt und nicht verzeichnet. Warum glaubt so ein Bürschchen wie du, es mit mir und meiner Organisation aufnehmen zu können? Oder wusstest du nicht, worauf du dich einließest…?“ Shinichi schluckte. „Am Anfang wohl nicht, nein. Als ich diese Entscheidung gefällt habe, die mich in diese Lage gebracht hat, allerdings sehr wohl.“ Dann lächelte er, schaute geradewegs in die Augen der Maske. „Und Ihre Frage sollte doch wohl viel eher lauten – warum gerade nicht ich? Oder wenn nicht ich… wer sonst?“ Shinichi schluckte. „Was dachten Sie denn? Dass ich mein Leben lang als Grundschulknirps herumlaufen will…? Sicher nicht.“ Er lachte leise, erstickt. Shinichi merkte, wie ihm das Stehen zunehmend schwerer fiel, weil seine Beine zu zittern angefangen hatten – aber der Boss hielt seine Hände fest umklammert wie eingezwängt in zwei Schraubstöcke. „Und ich hatte doch gehofft, Sie hätten die Zeit, bis ich hier ankam, oder seit Ihrer letzten Bemühung um mein Wohlbefinden genutzt, um ein wenig mehr über mich herauszufinden.“ Er atmete mühsam ein, als seine Beine nachgeben wollten, sein Gewicht ihn nach hinten zog. „Ich bin Detektiv.“ Trotzig hob er den Kopf, starrte in die ausdruckslose Maske, sah dahinter das gefährliche Glitzern zweier eisgrauer Augen. „Ich habe ihre Leute beobachtet bei einem Verbrechen, ich sah sie weitere begehen, wie hätte ich die Augen zumachen können und die Hände in den Schoß legen, egal ob als Grundschüler oder nicht. Und ich habe Sherry kennengelernt, oder Shiho, wie ich sie lieber nenne, ich habe ihre Schwester sterben sehen, ich weiß, sie haben ihre Eltern ermordet, wie hätte ich mich nicht mit allem, was ich habe, in diesen Kampf stürzen wollen?“ Er schluckte hart. „Sie sind das Böse, und das gilt es auszumerzen. Mir war klar, wenn ich wollte, dass alle, die mir etwas bedeuten, sicher sein sollen, wenn ich wollte, das Shiho endlich frei war, wenn ich wollte, dass ich… irgendwann wieder mein Leben zurückbekäme, dann…“ Er stöhnte auf, schmerzerfüllt, als sein bisher nur dumpfer Kopfschmerz an Intensität gewann. „… dann müsste ich aufstehen und Ihnen die Maske von ihrer hässlichen Visage reißen…“ Shinichi schnappte nach Luft, lächelte bitter. „Und wie sie wissen, das habe ich getan. Egal was mit mir hier passiert – Ihre Organisation hat keine Zukunft.“ Der Boss ließ ihn los, starrte ihn nur an, ausdruckslos, als zwei Hände Shinichi von hinten packten. „Du wirst sehen, was du von deinem schlauen Gerede hast, Kudô. Glaub mir, bereits in ein paar Stunden liegst du um Gnade bettelnd vor meinen Füßen. Diese Organisation wird niemand zerstören – du nicht, und auch nicht deine Freunde vom FBI. Niemand.“ Er drehte sich um, aber Shinichis Stimme hielt ihn zurück. „Vertrauen Sie darauf, dass ich das tun werde… und wenn es das Letzte ist was ich tue, was ja laut Ihrer Aussage nicht ganz unwahrscheinlich ist. Ich habe, im Gegensatz zu ihnen also nichts mehr zu verlieren, wenn ich hier ohnehin nicht lebend rauskomme…“ Kurz schluckte er. Anokata drehte sich um. „Da sei dir mal nicht so sicher, junger Freund. Sei dir nicht so sicher…“ >Ran!< Er fuhr hoch, heftig atmend, blickte um sich. Langsam fand seine Hand an seine Stirn, strich sich über die feuchte Haut, rieb den Schweiß in seine Haare, als er seine Hand über seinen Kopf weiterwandern ließ. Sein Puls raste, beruhigte sich nur langsam, selbst als er merkte, dass er wieder nur geträumt hatte. Lauf seufzend ließ er sich nach hinten fallen, hörte das dumpfe Rascheln der Federn seines Kopfkissens. Automatisch griff er nach dem Smartphone neben seinem Wecker, checkte die Nachrichten. Nichts. Offenbar war alles in Ordnung. Müde ließ er seinen Arm zurück sinken, legte das Telefon zurück. „Was ist das nur…“ Leise und heiser erklang seine Stimme in der Dunkelheit, fast fremd in seinen Ohren. Ihm war klar, er träumte von seiner Zeit in der Organisation; nichts anderes war es, was er sah. Gestern der erste Rausch, den dieses Halluzinogen ihm verschafft hatte, und er vermutete stark, dass der Auslöser dafür ihr Treffen auf dieser Brücke gewesen war. Es ist doch oft so, dass man in seinen Träumen die Geschehnisse des Tages verarbeitet. Und wenn sie dann so eng verknüpft sind mit anderen Erlebnissen… braucht es einen nicht wundern, dass das Hirn das alles mal hübsch durcheinanderbringt. Auch wenns ein ansonsten so gut organisiertes Hirn ist wie meins. Shinichi seufzte. Und heute? Was war der Grund dafür, dass ihn seine kleinen grauen Zellen an den schlimmsten Fieberwahn erinnerten, den er da drin hatte erleben dürfen? Der schwarze Umschlag. Klar, Kudô, Dummkopf. Natürlich. Das musste es sein. Die greifbare Nähe der Organisation musste der Auslöser gewesen sein, der Grund dafür, dass die Jukebox in seinem Kopf aus all den schönen Titeln gerade diesen herausgesucht hatte, um ihn für ihn abzuspielen. Shinichi setzte sich wieder auf, schluckte trocken. Langsam war sein Puls wieder im Normalbereich angekommen, sein Atem hatte sich schon längst wieder beruhigt. Tatsächlich dachte er auf einmal völlig klar. Und ihm fiel etwas auf, woran er noch nie einen Gedanken verschwendet hatte. Der Traum von Ran wegen der Brücke. Wegen unseres Treffens in London vor Jahren, wegen des ersten Traums unter dem Einfluss dieser Droge. Der Traum von… Anokata… heute wegen der Präsenz der Organisation, wegen meiner Angst – seien wir ehrlich, seit ich das Zeitungsfoto und dem Umschlag gesehen habe, spukt mir nur diese Szene im Kopf herum. Hat das vielleicht noch ganz andere Zusammenhänge, die mir damals einfach nicht klar waren? Arbeitete diese Droge mit Auslösereiz? Kaum vorstellbar… aber was, wenn doch? Shinichi seufzte, schüttelte den Kopf. Selbst wenn, es ist jetzt auch egal. Diesmal ist es etwas ganz anderes, das mich schlecht schlafen lässt… Er lächelte bitter, schwang seine Beine aus dem Bett, starrte kurz in die Luft, dachte nach. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken – genauso gut konnte er sich an die Recherchen zu dieser Blümchennummer machen, morgen ließ ihm bestimmt wieder irgendetwas keine Zeit dazu. Und so stand er auf, ließ den Kopf kurz in den Nacken sinken und die Schultern kreisen, ehe er wieder einmal frühmorgens in seine kleine Küche wankte, dieses Mal allerdings, um sich Kaffee zu kochen. Ein paar Minuten später, nachdem ihm seine uralte Kaffeemaschine, die er vom Vormieter übernommen hatte, weil er sie einfach hatte stehen lassen, schon fast beleidigt über die nächtliche Ruhestörung und sehr widerwillig eine Tasse Kaffee sehr stark aufgebrüht hatte, saß er mit untergeschlagenen Beinen und seinem Laptop auf den Knien auf seinem Sofa und warf das Ding an, während er einen Schluck trank. Wann saß ich das letzte Mal nachts an einem Fall? Muss ewig her sein… Ansonsten liege ich ja nur wach im Bett und wünsch mir den Schlaf… Eigentlich ist das hier direkt erfrischend. Er tippte mit einer Hand sein Passwort ein, als das Eingabefeld endlich auftauchte und startete den Internetexplorer seines Vertrauens. „Also. Versuchen wir mal das Offensichtliche.“ Kurz stellte Shinichi seine Kaffeetasse sehr vorsichtig neben sich auf der Couch ab, um fast ohne sich zu bewegen mit beiden Händen die drei Blumensorten einzutippen. Zuerst probierte er es in seiner Muttersprache, und verdrehte gleich darauf genervt die Augen – was ihm entgegensprang waren tausende Treffer zu Seiten, die Heilpflanzen und Kräuterkochrezepte behandelten. Er schüttelte den Kopf. Sie waren hier in Großbritannien. Er sollte es auf Englisch versuchen. Kaum hatte er die ersten beiden Namen eingetippt, vervollständigte ihm die Suchmaschine die Zeile automatisch mit „columbine“. Er stutzte, ließ sich das Wort übersetzen und fand heraus, dass columbine auch eine Blume war – eine Akelei. Langsam stieß er die Luft aus. Öffnete ein Worddokument und notierte sich das, ehe er seine Suche manuell vervollständigte. Auf die Akelei würde er zurückkommen. Und das schneller, als er dachte. Die Kinnlade fiel ihm ordentlich nach unten, als er sich die ersten drei Treffer ansah. Shakespeare?! „Was zur Hölle?!“, flüsterte er leise. Verwirrung machte sich in ihm breit. Tatsache, Shakespeare. Hamlet, um genau zu sein, und die Pflanzen waren einfach zu speziell, die Treffer zu passend, als dass es Zufall sein konnte. Die Auswahl der Pflanzen hatten irgendetwas mit Hamlet oder Shakespeare zu tun, nur was, war ihm völlig schleierhaft. Shakespeare. Er schüttelte den Kopf, kurz, dann suchte er sich eine Internetseite, die sich mit Shakespeare befasste und seine Werke online führte. Die Blumen, fand er heraus, wurden von einer weiblichen Figur namens Ophelia verteilt, ein armes Mädchen, dass sich unter Wahnvorstellungen leidend, im Fluss ertränkte – vorher jedoch übergab sie diese Blumen an verschiedene Personen und mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Er kopierte sich die Abschnitte großzügig heraus, schickte das Dokument übers W-Lan seiner Wohnung an seinen Drucker, der im Nebenraum zum Leben erwachte und im Gegensatz zu seinem Bürogerät die Blätter ausgesprochen leise und sehr schnell für ihn zur Verfügung stellte. Neben den Stiefmütterchen, die bei Shakespeare als Symbol für die Erinnerung standen (neben der Tatsache, dass sie als Wappenblume für Osaka einfach am Besten zu Ayako passten), fand er auch den Rosmarin als Blume für Liebe und Treue (Erin hatte den Verlobungsring am Finger getragen, erinnerte er sich) und den Fenchel als Zeichen für Schmeichelei und Erfolg standen. Er fragte sich, was das dritte Mädchen an sich hatte, dass es dieses Symbol verdiente. Vielleicht half ihm das, herauszufinden, wer sie sein könnte – er würde morgen unbedingt die Vermisstenanzeigen durchgehen müssen. Schmeichelei und Erfolg sprachen eventuell von einem Model oder ähnlichem – der Gedanke an Schönheit und das Geld, das man mit ihr verdienen konnte, drängte sich ihm unwillkürlich auf. Es blieben noch übrig die erwähnte Akelei als Symbol für Untreue und Verrat, Gänseblümchen als Zeichen für Betrug und Lüge, Weinkraut - und das Vergissmeinnicht. Hoffnung und Glaube. Shinichi schluckte. Ich muss herausfinden, was das zu bedeuten hat. Er wollte seinen Kaffee an die Lippen setzen, merkte, dass er ihn bereits ausgetrunken hatte, seufzte in die leere Tasse. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, er versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Der Tag würde anstrengend werden, so oder so. ____________________________________________________________________________ Hier mal etwas kürzer – vielleicht ist das auch einfacher für euch, ich merke, die Kommentare gehen schon wieder zurück… *seufz* Ist der Wochenrhythmus doch zu heftig für euch? Einfach Bescheid geben, ich richte mich nach euch, aber ehrlich – auf euer Feedback möchte ich ungern verzichten. Ich danke an der Stelle schon einmal herzlich an alle Kommentarschreiber, Liebe Grüße, eure Leira Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)