Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 2: Alpträume... ----------------------- Hallo ihr Lieben! Ich möchte mich an der Stelle sehr herzlich bei euch für die Kommentare zum ersten Kapitel bedanken; ich freu mich sehr, dass ihr, auch wenn ihr momentan nicht so aktiv im Fandom unterwegs seid (was bei der Flaute im Fernsehen und den langen Pausen zwischen den Bänden niemanden wundert)! Es stimmt – Shinichis Situation ist momentan nicht die netteste; und zum Teil auch selbst verschuldet. Allerdings werdet ihr bald erfahren, warum es so kam, wie es gekommen ist. An der Stelle möchte ich auch daraufhinweisen, dass die Tatsache, euch im Vorwort zu sagen, dass Ran doch nicht tot ist, den Grund hatte, keinen hier zu verschrecken. Für den Lauf der Geschichte an sich ist es jedoch essenziell im Kopf zu behalten, dass er es nicht weiß. Wie er damit umgeht, werdet ihr relativ schnell erfahren :) Ich wünsche euch an dieser Stelle viel Vergnügen mit dem zweiten Kapitel – soweit man von Vergnügen reden kann – und würde mich auch diesmal wieder sehr über Kommentare freuen! Nun denn Viel Spaß! _______________________________________________________________________ KAPITEL 2 – ALPTRÄUME… Er hatte sich immerhin aufraffen können, das Telefon wieder in seine Miniaturausgabe von einem Flur zu tragen, allerdings - den Hörer hatte er fein daneben liegen lassen. Heute wollte er keine Störung mehr, von keinem. Shinichi ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen, fuhr sich müde durch die Haare. Vor seinem Fenster drehte sich, in einiger Entfernung aber durch seine aufwändige Beleuchtung gut erkennbar, das London Eye. Er stand auf, langsam, trat ans Fenster und lehnte seine Stirn gegen die kühle Scheibe, sah dem großen Rad bei seinen langsamen Umdrehungen zu. Er war noch nie in einer dieser Kabinen gewesen; dabei musste die Aussicht wahrlich herrlich sein, selbst jetzt noch, nachts. Sicherlich sah man von dort oben ein einziges Lichtermeer und der Anblick war bestimmt atemberaubend. Im nachtschwarzen Wasser der Themse spiegelten sich bestimmt die Lichter der beleuchteten Kabinen, würden tanzen und hüpfen, wenn ein Boot langsam stromabwärts fuhr. Tatsache war, er hatte sich London nicht als Tourist angesehen, seit er hier war; an keinem Tag in den letzten fünf Jahren hatte er jemals eine Auszeit genommen, um sich all das anzusehen, was ihn an dieser Stadt schon immer fasziniert hatte. Die ganzen schönen Seiten hatte er ausgeblendet, sich selbst verboten. Er war nur für Vorlesungen und Seminare an der Universität gewesen, sowie im Yard, für seine Ausbildung zum Polizeibeamten – beim Einkaufen im Supermarkt um die Ecke. Und nicht zu vergessen… an den mittlerweile ungezählten Mordschauplätzen. Er war nie wieder ins Sherlock-Holmes-Museum gegangen, seit diesem einen Mal, als er mit ihr und Kogorô hier gewesen war; er hatte sich nie die Kronjuwelen im Tower angeschaut. An den Toren von Madame Toussaud’s war er bislang immer vorbei gegangen, genauso wie er nie wieder in einem der Sportstadien gewesen war. Nur am Big Ben blieb er stehen, so ihn sein Weg schon dahin führte. Er entging den Bildern in seinem Kopf niemals, die ihm seine Erinnerung vorspielte, jedes Mal wenn er auf der Brücke stand, vor den Houses of Parliament. Immer und immer wieder sah Shinichi sie vor sich, diesen anklagenden, fragenden Blick in ihren Augen, ihre Tränen, weil sie es nicht verstand – ihn nicht verstand. Hörte immer wieder seine Antwort. Wie kann jemand jemals herausfinden, was in dem Herz der Frau vorgeht, die er liebt?! Damals, vor dieser Uhr, hatte er es ihr gesagt – anders, ganz anders, als er es ihr hatte sagen wollen. Anders, als er sich das jemals vorgestellt hatte, und dennoch – so war es passiert. Und nun… war es egal. Einzig die Stelle erinnerte ihn beständig daran, dass es dieser Ort und diese Worte gewesen waren, an dem und mit denen er ihr seine Liebe gestanden hatte. Und mit denen er sie wohl endgültig mit in den Abgrund gerissen hatte, in den er schon so lange fiel - in diesen schwarzen Abgrund. Deshalb machte er einen Bogen um den Big Ben, wenn es ging. Leider ging das nicht so oft, wie er gern wollte. Er wollte nicht daran denken, nicht daran erinnert werden; aber es gab für ihn sonst keinen Ort auf dieser Welt, wo er sich ein Leben halbwegs vorstellen konnte. Amerika mochte er nicht, die Art des Lebens und die Arbeitsweise der Polizei dort sagten ihm nicht zu; und nach Japan konnte er nicht zurück. Es blieb nur die Stadt seines Idols, schon allein weil er die Sprache beherrschte und anspruchsvolle Polizeiarbeit tun wollte, die ihn beschäftigte - und er tat alles, um den Aufenthalt und sein Leben hier nicht zu genießen und beschäftigt zu sein. Er sah nur die Schattenseiten dieser Stadt, und derer gab es viele; alles andere wollte er nicht sehen, denn alles andere hatte er nicht verdient. Langsam wandte er sich ab von der atemberaubenden Skyline und ließ mit einer Hand den Rollladen herab; das Band sauste durch seine Finger, die Reibung verbrannte fast seine Haut. Er spürte die Hitze, den damit verbundenen Schmerz, aber es interessierte ihn nicht. Nachdenklich ließ er seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Sein Appartement bestand aus drei kleinen Zimmern, einem noch kleineren Bad, den genannten handtuchgroßen Flur und einer winzigen Küche. Eins dieser kleinen Zimmer war das Wohnzimmer, das größte von allen, in dem neben seiner Couch und dem Fernseher ein Regal neben dem anderen stand, weil er seine Bibliothek aus der Besenkammer, die sein Arbeitszimmer war, hatte expandieren lassen müssen. Im Arbeitszimmer befand sich der Rest seiner Bücher sowie seine Fallnotizen, sein Arbeitstisch, sein Computer, ein Stuhl, ein Sessel. Im Schlafzimmer stand einzig und allein ein Bett – Kingsize, das einzige Möbelstück, das schon hier gestanden hatte. Er hatte es übernommen und sich eine neue Matratze dafür gekauft; allerdings passte sonst nichts in das Zimmer, es schien ohnehin schon zu platzen. In der Küche stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und eine Küchenzeile – da er kein passionierter Koch war, reichte sie ihm. Und so hauste er nun seit fünf Jahren. Und nun stand er da, schaute sich um, und seufzte. Gedankenverloren starrte er in die Deckenlampe, bis sich das Nachbild vor seinen Augen bildete und als dunkler Fleck durch den Raum tanzte. Eigentlich sollte er noch etwas zu Abend essen, aber er hatte keinen Hunger. Der Fall heute lag ihm im Magen, und füllte ihn, so schien es ihm, vollständig aus. Und wieder flimmerte das Bild vor seinen Augen, das Bild, das ihn so sehr an diese Katastrophe von vor fünf Jahren erinnerte. Er wurde etwas bleicher, schluckte hart, wischte sich über die Stirn. Damals. Dann verscheuchte er den Gedanken. Genug davon, das ist Vergangenheit… Morgen würde er einen langen Tag vor sich haben, auf der Suche nach diesem Mörder… Auf der Suche nach seinem Mörder. Dies war sein erster Fall, seine erster eigener Fall als Detective Superintendent – ein Dienstgrad, den nie vor ihm jemand in so jungen Jahren erlangt hatte. Er hatte ihn seit knapp einer Woche. Er lächelte bitter. Detective Superintendent… den Dienstgrad bin ich schneller wieder los bin, als ich „Sherlock“ sagen kann, wenn dieser Fall nicht zügig einen Abschluss findet. Also stieg er über einen Stapel Bücher, wankte durch die Tür ins Schlafzimmer und fiel aufs Bett ohne sich auszuziehen oder den Vorhang zuzumachen. Blicklos starrte er an die Decke, merkte, wie ihn die Erschöpfung langsam übermannte, wie ihn Morpheus in seine Arme zog – und er ließ es geschehen, willenlos, nicht ahnend, wohin ihn der Gott der Träume diesmal führte. Und ehe er es sich versah, fand er sich dort wieder, wo er gerade eben unbedingt nicht hatte sein wollen. In der Vergangenheit. In seiner Vergangenheit. Die Luft war stickig und heiß, ein aufziehendes Gewitter lag in der Luft, lud sie fast schon statisch auf. Shinichi war gelaufen, raus aus dem Gebäude, die Straße entlang und um die Ecke; der Knall der Explosion dröhnte noch in seinen Ohren, die Hitze des Feuers schien immer noch an seiner Haut zu lecken, und er war sich nicht ganz sicher, ob er sich nicht doch irgendwo verbrannt hatte – oder ob dieser Gestank nur einfach in seiner Nase festsaß. Er hatte die Beweise, und wenn die Verstärkung der Polizei schnell genug war… wenn sie schnell genug war, dann würden sie sie alle kriegen. Alle. Atemlos schaute er sich um, sah niemanden. Anscheinend hatte er sie wirklich abgehängt. Zu schön, um wahr zu sein. Gerade, als er weitereilen wollte, durchzuckte ihn der Schmerz wie ein Blitz. Und wie als ob er darauf gewartet hatte, grollte in der Ferne der erste Donner. Shinichi erstickte einen Schrei mit seiner Hand, ging kurz in die Knie, keuchte. Unwillig kniff er die Augen zusammen, lehnte sich gegen eine Hauswand, versuchte, ruhig zu atmen. Erschrocken starrte er den Weg zurück, den er gelaufen war. Sein Herz raste. >Nicht doch… ich dachte, ein wenig Zeit habe ich noch…< Er strich sich mit zitternden Fingern über die Stirn, betrachtete seine Hand, die im Mondlicht feucht schimmerte, schluckte hart. >Das… das darf doch nicht wahr sein…!< Im gleichen Moment fragte er sich, warum es ihn eigentlich noch wunderte. Es hätte ihm klar sein müssen, dass sie ihn übers Ohr hauen würden, dass sie genau kalkuliert hatten, wie weit er kommen würde. Nach allem, was er hinter sich gebracht hatte, in den letzten Tagen… hätte er es wissen müssen. Dennoch… die, die ihm zur Flucht verholfen hatte, war Vermouth gewesen. Und er hatte geglaubt, eigentlich, dass sie auf seiner Seite stand. >Nicht doch… Sharon, ich dachte wirklich, du…< Er wollte weitergehen, nichtsdestotrotz; wollte er die anderen retten und diese Organisation auffliegen lassen, brauchte die Polizei die Beweise, die er hatte, damit sie sie dingfest machen konnten. Er musste sich einfach zusammennehmen. Und er musste Ran finden. >Also beeile ich mich besser…< Von „beeilien“ konnte allerdings keine Rede sein. Gerade als er den nächsten Schritt machen wollte, sich an der Hausmauer vorwärtstastete, zwang ihn der nächste Krampf zu Boden. Er schrie auf, krallte seine Finger in den Asphalt, spürte, wie die Haut auf seinen Fingerkuppen aufriss. Plötzlich hörte er sie; eine Stimme, die ihm eine Gänsehaut verursachte. „Shinichi?“ >Ran!< Shinichi drehte sich herum, dann sah er sie. Langsam tauchte sie auf, hinter einem Wagen auf dem Parkplatz, wo sie sich offenbar versteckt hatte. Sie stand auf, näherte sich ihm, langsam. Er zog sich hoch, mühsam, hielt sich an einer Regenrinne fest, um nicht in die Knie zu gehen. Er hasste es, dass sie ihn so sah. „Ran, verdammt – warum hast du gewartet? Warum bist du nicht schon längst weg, oder zu einem der Polizisten…?“ Er brach ab, als ihr Blick ihn traf, sie ihm die Antwort auf seine Frage auch ohne Worte gab. >Doofe Frage, Kudô. Sie sucht dich, wen sonst… du wärst doch auch nicht abgehauen, bevor du sie hier wieder gefunden hast. Abgesehen davon, wärst du nicht nochmal rein und hättest nach diesem Phantom gesucht, nach Antworten gefragt, die er dir eh nie gegeben hätte, wärst du mit ihr schon längst über alle Berge… selbst Schuld, Idiot. Du lernst es nie.< Ran schaute ihn an, ihre blauen Augen vor Sorge dunkel. Er schluckte hart, konnte sich ihrem Blick kaum entziehen. Dann riss ein weiterer Donnerschlag aus seiner Paralyse, ließ ihn sich hektisch umblicken. „Wir sollten weg…“ Sie sah ihn nur an, antwortete nicht, in ihren Augen, auf ihrem ganzen Gesicht ein Ausdruck unsäglicher Erleichterung. „Ich… ich dachte, ich seh dich nie mehr wieder! Als du zurückgelaufen bist und dann auf einmal dieser Knall – die Explosion – war das eine Bombe…? Auf einmal…“ Sie schluckte schwer, griff sich an den Hals. Er sah, wie ihre Lippen bebten, wie sehr sie sich zusammennahm, um nicht einfach loszuheulen. Dann riss sie plötzlich ihre Augen auf, sah ihn beinah schuldbewusst an. „Sharon hat mir rausgeholfen. Sie meinte, ich soll hier auf dich warten, weil du vielleicht meine Hilfe brauchst...“ Ihre Stimme zitterte, ihre Augen huschten über sein Gesicht, seinen Körper, Unruhe lag in ihrem Blick – wohl aber versteckte die Dunkelheit das meiste. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er wusste genau warum. Nicht etwa, weil er gerannt war. „Bist du verletzt? Ich… ich hab dich schreien gehört…“ „Nein.“, beeilte er sich zu sagen. „Nein, alles in Ordnung. Ich bin gestolpert, hab mir den Fuß…“ Er brach ab, als er den Zweifel in ihrem Gesicht sah. „Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst, Ran.“ Langsam trat er einen Schritt näher. „Überhaupt, was hast du hier gesucht, was meinst du, warum wart du und dein Vater im Urlaub, ich …“ Er keuchte. Ran hielt ihm den Mund zu, schüttelte den Kopf. „Idiot. Sie… haben mir geschrieben. Dass du hier bist.“ Er sah, wie sie schluckte. „Nicht mehr, Ran? Sie schreiben dir, wo ich bin, und du kommst gelaufen… dachtest du, du könntest mir helfen…? Wie…“ Shinichi wand sich frei, schüttelte den Kopf. „… verzeih mir, Ran, wie… dumm von dir war das, bitte… du hättest tot sein können. Tot…“ „Da redet ja der Richtige.“ Sie schaute ihn aus Halbmondaugen an, hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Er schluckte hart, schaute sie an. „Und überhaupt, anstatt Kopf und Kragen für mich zu riskieren, sollest du mich doch hassen, ich nehme an, sie haben dir doch gesagt, wer ich war… warum hältst du immer noch zu mir? Ich…“ Sie schüttelte den Kopf. „Weil ich…“ Shinichi verzog das Gesicht, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie waren deutlich zu spüren, die ersten Ansätze dieser stechenden Schmerzen, wenn dieses Gift ihn in die Knie zwang, sich seinen Körper und seinen Geist untertan machen wollte. Nur mit Mühe hielt er sich aufrecht. Langsam atmete er aus, holte tief Luft, versuchte, sich zu entspannen. Er sah auf, sah in Rans Gesicht, die ihn zögernd ansah. Er merkte, wie sie zitterte, wie sie mit sich kämpfte, um die nächsten Worte auszusprechen. „Weil ich dich… liebe. Ich liebe dich.“ Ungläubig starrte er sie an. „Ich sagte doch, du sollst mich hassen, jetzt wo du weißt, wer ich…“ Das Mädchen schüttelte den Kopf, sacht, die Lippen fest aufeinandergepresst, in ihren Augen blanke Entschlossenheit. „Ich meine das ernst.“ Shinichi seufzte, merkte, wie ihm unbehaglich wurde. „Du weißt, dass ich Conan war, ich hab dich dreist angelogen, ich…“ „Halt die Klappe, Shinichi.“, unterbrach ihn Ran schlicht, trat dann näher, langsam, streckte ihre Hände aus, berührte seine Wangen. Shinichi schluckte, merkte, wie ihm auf einmal doch wieder heiß wurde, ahnte aber, dass diesmal der Grund dafür ein gänzlich anderer war. Er hob die Hände, legte sie zögernd um ihre Taille, spürte, wie sie ihren Körper gegen seinen lehnte, zog sie an sich. Als er versuchte zu schlucken, merkte er erst, wie entsetzlich trocken sein Mund auf einmal geworden war. Er seufzte, schaute sie an, sah ihr in die Augen und konnte seinen Blick unmöglich abwenden. Sie lächelte immer noch. „Du solltest mich wirklich hassen. Ich bin kein guter Mensch…“ „Idiot.“, murmelte sie leise. „Ich weiß doch, warum du das getan hast… warum du…“ Sie seufzte leise, wandte nun ihrerseits den Blick ab, auf ihrem Gesicht flackerte kurz ein Ausdruck von Kummer und Sorge. „Ich liebe dich.“, murmelte er leise. Seine Stimme klang heiser und rau, und er schämte sich fast, ihr dieses Geständnis nicht mit festeren Worten machen zu können; ihr jedoch schien das egal zu sein, während er sich kurz irritiert an den Hals fasste. „Das weiß ich.“ Sie sah wieder auf, lächelte erneut; das Strahlen kehrte in ihre Augen zurück. „Du sagtest es bereits, in London. Damals war ich etwas…“ „Überrascht?“ „Überfahren, wohl eher.“ Sie lachte leise. „Aber ich war dir noch die Antwort schuldig…“ Er atmete leise aus, sagte nichts. „Ich… ich liebe dich auch, Shinichi Kudô. Ich liebe dich. Und ich…“ Was sie noch sagen wollte, sollte er nicht erfahren. Er wollte es auch gar nicht – er hatte eine Hand von ihrer Taille gelöst, und ihr den Finger auf die Lippen gelegt, kurzerhand. Ran lächelte, schloss die Augen, merkte, wie eine wohlige Wärme sich in ihr ausbreitete. Sie löste ihre Hände, legte sie um seinen Nacken, zog ihn noch näher an sich bis seine Stirn die ihre berührte, sein warmer Atem über ihre Wangen strich, und genoss die Nähe, die sie teilten. Shinichi schluckte – nie war er ihr so nah gewesen. Und nie hatte er geahnt, dass es sich so derart gut anfühlen könnte. „Ich nehm dich jetzt mit nach Hause, Shinichi Kudô… und du kannst vergessen, dass…“, begann sie mit leiser Stimme, ihre Lippen so nah an seinem Mund, das sie ihn schon fast berührte, jagte ihm damit einen wohligen Schauer über den Rücken, der ihn alles andere ausblenden ließ. Doch auch diesen Satz sollte sie nicht beenden. Gelächter hallte von den Mauern der Häuser wieder. Ein eisiges, grausames Lachen. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Shinichi fuhr herum, sah ihn in der Gasse stehen – nie mehr würde er diese Silhouette vergessen. Er merkte, wie sein Herz aussetzte, einen ganzen Schlag lang, um danach umso heftiger gegen seinen Brustkorb zu hämmern. Schweiß brach ihm aus allen Poren, und diesmal war es kein Gift, das seinen Körper zu dieser Reaktion trieb; es war die nackte Angst. Unfähig zu irgendeiner Bewegung blickte er ins Gegenlicht der Scheinwerfer eines schwarzen Porsches, vor dem er stand – Gin. Hinter ihm türmten sich die dunklen Gewitterwolken voller Unheil über Tokio auf. Strähnen seines hellen Haars leuchteten auf wie Spinnweben, als der Wind sie streifte, mit ihnen spielte. Mit seinen langen, schlanken Fingern umgriff er locker den Griff seiner Waffe; kein Gewehr, keine Pistole. Ein Katana. >Das ist doch das Schmuckstück vom Boss…? Die ganze Zeit hat er damit angegeben… wie kommt es in deine Hände? Dennoch. Irgendwie… passend. Das hätte kein Hollywood-Regisseur besser inszenieren können…< Ran krallte ihre Finger in seine Hand; sie waren von einem Moment auf den anderen schlagartig eiskalt geworden. Er merkte, wie sie zu zittern anfing, stellte sich schützend vor sie, und wusste doch… dass sie keine Chance hatten. >Nein!< Shinichi schluckte hart, überlegte fieberhaft. „Du musst versuchen, wegzulaufen, Ran. Ich versuch, ihn aufzuhalten.“ Seine Stimme war kaum zu verstehen; er hatte den Kopf nur wenig gedreht, sie aus den Augenwinkeln heraus angesehen. Sie starrte ihn an mit aufgerissenen blauen Augen, unfähig zu sprechen, schüttelte nur den Kopf. „Bitte!“ Er sah sie flehend an. Jegliche Fluchtpläne wurden im nächsten Moment allerdings ohnehin vereitelt. Der Kies auf dem Asphalt knirschte ein wenig, ein leises Geräusch eigentlich; in der kleinen Gasse hallte es jedoch gespenstisch laut wieder. Shinichi wandte sich um. Chianti, Bourbon und Wodka waren hinter sie getreten. In Chiantis Hand leuchteten die goldenen Haare einer blonden Perücke; auf ihrer Nase über den rot geschminkten Lippen saß eine Sonnenbrille, verdeckte das markante Tattoo. Shinichi musste nicht fragen, um zu wissen, wer Ran geraten hatte, sich hier zu verstecken. Ihre Flucht… war von vorneherein eine Falle gewesen. „Du dachtest wohl, du kommst davon, Kudô?“ Shinichi sparte sich die Antwort; er überlegte, wie groß ihre Chancen waren, wenn sie einfach loslaufen würden; allerdings war er immer noch etwas angeschlagen, und Ran… stand hinter ihm, ihre Hände mittlerweile um seinen Bauch gekrallt, wie zur Salzsäule erstarrt. Ihr war Chianti ebenfalls aufgefallen und er ahnte, dass sie mit ihren Gedanken gerade wo ganz anders war. Shinichi löste sich von Ran, als Gin das Schwert aus seiner Scheide zog, mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Er griff nach dem nächsten, das er greifen konnte, in diesem Fall eine halbleere kleine Blechmülltone, und warf sie mit voller Wucht gegen den Mann, der sich ihm näherte, mit langsamen Schritten und einem eiskalten, siegessicheren Lächeln auf den Lippen. Gin wich dem Geschoss mühelos aus, wischte es mit einer lässigen Handbewegung zur Seite, lachte. „Na, wer wird denn?“ Die Mülltonne knallte gegen die Wand, fiel mit ohrenbetäubendem Krachen zu Boden, wobei sie ihren Inhalt wild in der Gegend verteilte. Shinichi presste seine Lippen zusammen, merkte, wie seine Kiefer vor Anspannung schmerzten, als Gin keine zwei Meter vor ihnen stehenblieb, versuchte, herauszufinden, wie der Mann seinen Angriff führen würde. Dem ersten Hieb wich er aus und stutzte; er hätte nicht gedacht, dass er auch nur den Hauch einer Chance hatte. Wie recht er damit gehabt hatte, bewies ihm der Tritt in die Magengegend, der ihn im nächsten Moment auf den Asphalt schickte; er prallte hart auf, schlug sich den Kopf am Boden an, sah kurz schwarze Kreise vor seinen Augen tanzen. Gin unterdessen wandte sich Ran zu, versuchte, sie zu fassen zu kriegen. Sie wich ihm aus, so gut sie konnte; zumindest war es das, was er mitbekam, solange sein Schädel noch benebelt war. Dann fiel ihm auf, dass er sie eigentlich gar nicht angriff; er wollte sie festhalten. >Warum? Warum nutzt er die Chance nicht und bringt mich um, wenn er mich schon zu Boden geschickt hat? Und was will er von ihr?< Er wischte sich über die Augen, stemmte sich hoch, nahm all seinen Willen zusammen, sein Denken wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Gerade, als er sich dann soweit aufgerappelt hatte, um sich wieder einzumischen, fühlte er, wie er von hinten gepackt wurde, ihm die Luft wegblieb, als sich ein Unterarm um seinen Hals legte und zudrückte. >Nicht schon wieder…! Ich hab schon wieder nicht aufgepasst, dabei hätte ich doch aus dem ersten Mal lernen können… Andererseits, sie sind zu viert, wir zu zweit, wahrscheinlich spielt es kaum eine Rolle…< Shinichi würgte, schnappte nach Luft, versuchte sich zu befreien, wand sich, schlug und trat um sich, und merkte doch nur, wie er immer kraftloser wurde, seine Lungen nach Sauerstoff schrien und bettelten, als Vodka eisern mit seiner freien linken Hand den Unterarm seiner rechten gegen Shinichis Kehlkopf drückte. Ran bemerkte es aus den Augenwinkeln – ein Moment der Unachtsamkeit, den Gin ausnutzte. Er packte sie an der Hand, hielt sie eisern fest, als sie sich wand, nach ihm trat, um sich zu befreien. Shinichi, der bis eben noch versucht hatte, sich zu befreien, hielt auf einmal völlig still. Seine Augen starrten auf das rasiermesserscharfe Schwert, das Gin in der Hand hielt, und auf Ran, die keine Chance hatte, sich loszureißen, so sehr sie sich auch wehrte. Dann spürte er, wie Vodka auf einmal fester zudrückte, schrie auf, als sein Kehlkopf schmerzhaft gequetscht wurde. Ran fuhr herum, starrte in Shinichis Gesicht, merkte, wie sie alle Kraft schlagartig verließ. Eine Träne begann ihr über die Wange zu rollen. „Ein Mucks von dir und er bricht ihm den Hals.“ Gins Stimme war leise, aber die Drohung in ihr unüberhörbar. Rans Gesicht verzerrte sich vor Qual. Shinichi starrte sie an, schnappte nach Luft. >Ran…< Gin lächelte sie nur an, beugte sich nach vorn, um ihr ins Ohr zu flüstern. „Weißt du, es ist wirklich schade um dich. Du bist so ein hübsches, junges Ding...“ Sein Gesicht entfernte sich wieder etwas von ihrem; der Blickkontakt jedoch riss jedoch nicht ab. „Du kannst dich bei ihm dafür bedanken, meine Schöne.“ Er hob sein Schwert, setzte es ihr zart an die Kehle. Die scharfe Klinge ritzte einen feinen Strich in ihre Haut. Seine Augen wanderten zu Shinichi, den er endlich da hatte, wo er ihn schon so lange hatte haben wollen. In der Falle. „Na, wie fühlst du dich jetzt, Kudô? Hast du Angst?“ Shinichi antwortete nichts darauf; ihm fehlte schlicht und ergreifend die Luft dazu. Er war blass geworden, bleicher als er es jemals gewesen war, und eine namenlose Kälte hatte von ihm Besitz ergriffen. Sein Herz raste, schlug unglaublich schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, als sie ihn langsam übermannte, seine Gedanken vollends zum Stillstand brachte – diese unsägliche Angst um Rans Leben. Er wusste, dass Gin sie nicht gehen lassen würde. Unwillig blinzelte er, als seine Augen zu brennen anfingen, als er Ran ins Gesicht sah; Panik und Verzweiflung standen ihr in Großbuchstaben quer übers Gesicht gemalt. „Du hast uns lange genug zum Narren gehalten, es musste dir doch klar sein, dass du am Ende dafür bezahlst…“ Er lachte leise. Der Oberschüler biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut. „Schön, ja, du hast Recht! Ihr habt mich. Also bitte…“, presste er hervor, rang nach Luft. Erschöpft schloss er die Augen, schluckte hart, schmeckte noch mehr Blut. Er fühlte, wie sein Körper langsam in die Knie ging, sich sein Verstand verabschieden wollte – er wehrte sich mit Händen und Füßen, kämpfte verbissen um die Kontrolle über sich. „…bitte, bitte, lass sie gehen, sie hat dir nichts getan…“ Seine Stimme klang erstickt, man sah ihm an, wie mühsam ihm das Sprechen fiel. Ran schauderte, merkte, wie jetzt die Furcht erst so richtig losbrach in ihr; wenn Shinichi zu verhandeln anfing, nicht einmal mehr versuchte, sich zu befreien, musste ihre Situation aussichtslos sein. Gin schien das ähnlich zu sehen; ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Chianti trat neben ihn, lächelte ebenfalls, nahm ihre Sonnenbrille ab. „Warum sollten wir, Kudô? Sag mir… warum sollten wir…?“ Er lachte verächtlich. „Du hast heute Abend unsere Organisation zerstört. Du hast alles kaputt gemacht, wofür wir gearbeitet haben. Du hast uns an die Öffentlichkeit gezerrt, wegen dir kennen die Behörden nun unsere Gesichter und unsere Namen… dafür wirst du bezahlen.“ Shinichi war blass geworden. „Mach doch mit mir, was du willst, aber lass sie gehen…!“ Seine Stimme hallte verhältnismäßig laut von den Wänden. Ran wunderte sich schon fast, woher er die Luft dazu nahm, hielt Wodka ihn doch noch immer fest im Griff. Gin lachte spöttisch. „Auf ersteres kannst du dich verlassen.“ Der Blonde starrte ihn triumphierend an; in seinen Augen funkelte ein irrer Glanz, der Shinichi schaudern machte. „Letzteres ist leider ganz und gar unmöglich, Kudô.“ Sein Lächeln wurde noch einen Tick kälter. Dann riss er an Rans Hand, zog sie zu sich; Ran, die gerade wie paralysiert in Gins Augen gestarrt hatte, schrie auf, als sie es spürte; in ihren Ohren jedoch hörte sie nicht ihren Schrei, sondern seinen. Sie hatte ihn nie so schreien gehört. So markerschütternd, gellend, schmerzerfüllt schreien gehört. „NEIN! Ran, nein!!!“ Shinichi ging in die Knie, fiel haltlos auf den Boden, weil ihm seine Beine den Dienst versagten, als Vodka seinen Griff lockerte. Er sah, wie Ran das Gefühl in ihren Gliedmaßen verlor, zusammensackte, und hatte das Gefühl, dass die Welt auf ihn herniederstürzte. Ran rang um Atem, glaubte, unmöglich wieder einatmen zu können. Schmerz breitete sich von ihrer Taille aus in ihrem Körper aus, benebelte ihr Denken, ließ neben Angst und Panik keine anderen Gefühle mehr zu. Sie fühlte, wie es warm an ihrer Seite hinunter rann, und musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass ihr Blut in den Stoff ihres Kleids sickerte. Nur am Rande bekam sie mit, wie Gin ihr Kinn umfasste, ihr einen Kuss auf die Lippen drückte. „Leb wohl,… Ran.“ Damit ließ er sie los, zog das Schwert aus ihrem Körper. Ran stöhnte auf, sank leblos zusammen, blieb auf dem Boden liegen, ihre Hand gegen die Wunde in ihrem Bauch gepresst. Über ihr schienen die Sterne auf einmal zu flackern. „Nein! Ran!“ Shinichi brüllte, seine Stimme überschlug sich, als er näher taumelte, weder Gin noch Vodka, Bourbon oder Chianti Beachtung schenkte. Vor ihm lag Ran und blutete aus einer Wunde an der Seite. Sie starrte in den Himmel, in ihren Augen stand der Schock. Gin lächelte breit. Shinichi hob den Kopf, starrte ihn an, in seinen Augen eine Mischung aus Wut, Angst, Hass und Verzweiflung. „Nein, Kudô. Du nicht. Es reicht einfach nicht, dich nur umzubringen, weißt du…“ Er winkte seinen drei Mitstreitern, bedeutete ihnen, in den Wagen zu steigen, hob die Spitze seines Schwerts an, drückte sie zart unter Shinichis Kinn, zwang ihn, aufzusehen. „Du wirst leben, mein Freund… bis wir uns wiedersehen. Du wirst leben mit der Schuld, dass dein Mädchen wegen dir sterben musste. Es sei denn, du bist feige genug, um deinem jämmerlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen.“ Er zog die Klinge sanft über Shinichis Haut, hinterließ einen dünnen, blutig-roten Strich. Shinichi starrte ihn nur an, in ihm loderten Wut und Hass. Gleichzeitig fühlte er Ran in seinen Armen, spürte ihr Gewicht, das gegen ihn drückte, schwer, reglos. Er schluckte, sagte nichts, wartete, bis Gin in den Wagen gestiegen war und der Porsche mit brüllendem Motor durch die Straßen Tokios raste. Dann hob er Ran hoch, die heiser aufschrie vor Schmerz, trug sie ein paar Meter weiter, nach vorne an die Straße unter eine der Straßenlaternen, zog sein Mobiltelefon, das ihm Sharon während ihrer Flucht in die Hand gedrückt hatte, mit von ihrem Blut klebrigen Fingern aus seiner Jackentasche, wählte die Nummer der Polizei. Er fragte sich nachher immer noch, wie er es geschafft hatte, zu beschreiben, wo er sich befand. Oder die Polizei es geschafft hatte, sie zu finden, aus den Bruchstücken von Information, die zu äußern er imstande gewesen war. Ran sah ihn an, in ihren Augen Furcht und Schmerz – und unendliche Erschöpfung. Er zog sie fester an sich, hielt sie, fühlte, wie ihm immer kälter wurde, als das Entsetzen ihn mit eisigen Klauen packte und ihn nicht mehr losließ– im Gegenteil, immer fester zudrückte, ihm die Luft zum Atmen nahm, schlimmer, fester, endgültiger und entschiedener, als es Vodkas Griff gekonnt hatte – und sein Herz am Schlagen hindern wollte. Er starrte sie an, als er begriff, was hier passiert war, sah in ihre Augen, die langsam wässrig wurden, sah diese Schmerzen, und Angst, Angst… Todesangst. Stur versuchte er ihr gut zuzureden, sie zu beruhigen; versprach ihr, dass alles wieder gut würde und wusste doch, dass er log. Mit jedem einzelnen Wort, das er ihr sagte, mit jedem Versprechen, das er ihr gab, immer mehr log. >Was hab ich getan… Ran…< Er fühlte, wie sie starb, flehte sie an, durchzuhalten, als alles beruhigen und gut zureden nichts brachte. Presste sie an sich, wickelte sie in seine Jacke, fühlte, wie sie zitterte, und doch immer ruhiger wurde, sah, wie die Angst aus ihren Augen wich und wusste… wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Er wollte schreien, vor Wut, vor Frustration, Verzweiflung… und brachte doch kein Wort über seine Lippen. Er wollte sterben, hier mit ihr, und merkte doch, wie sein Herz immer weiter schlug. Immer und immer weiter schlug, fast mit Gewalt, starrsinnig und schnell, pumpte Blut durch seinen Körper, während ihr Puls immer schwächer wurde – wie als ob es beweisen wolle, dass sich Gins Worte bewahrheiten würden. Er lebte. Sekunde um Sekunde, Minute um Minute lebte er. Und Sekunde um Sekunde, Minute um Minute wuchs der Schmerz, brachen Dunkelheit und Kälte über ihn herein. In seinem Kopf hallten seine Worte nach, brannten sich ein in sein Gedächtnis. >… Du wirst leben, mein Freund… bis wir uns wiedersehen. Es sein denn, du bist feige genug, um deinem jämmerlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen…< Er fand sich neben seinem Bett liegend, in totaler Finsternis, rappelte sich hoch und schaute sich hektisch um, völlig desorientiert, merkte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte, ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Er räusperte sich, fühlte seinen eigenen, heiseren Schrei noch immer in seiner Kehle kratzen, schauderte. Von draußen drang leise das Martinshorn eines Krankenwagens ins Zimmer, führte einen einwandfreien Dopplereffekt vor, aber er hörte es gar nicht. Seine Finger waren eiskalt und nass, seine Knie zitterten. Vor seinen Augen sah er immer noch ihr Gesicht. Rans Gesicht, ihre Augen kurz davor, zu brechen, Blut, das aus einer Verletzung in ihrem Oberkörper rann. Blut. Ihr Blut. Er ging in die Knie, langsam, keuchte, kniff die Augen zusammen, sackte weiter zusammen, bis er mit seinen Unterarmen auf dem kalten Parkettboden aufstützte, seine Stirn gegen den Boden sank. Die Schuld erschlug ihn fast, wie sie es immer tat, kurz davor, ihn einfach zu zerquetschen wie einen Wurm unter ihrem Schuh – um ihn zertreten, aber noch lebend liegen zu lassen, genauso wie sie es getan hatten. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu töten. Sie hatten sich damit begnügt, sie zu töten und zuzusehen, wie es ihn zugrunde richtete. Warum…? Und wann kommt ihr, um euer Versprechen endlich warzumachen…? Und wie damals merkte Shinichi nicht, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, wie seine Schultern zu zucken begannen, sich seine Fäuste ballten, so fest, dass sich seine Fingernägel in seine Handballen gruben… eigentlich… merkte er in diesem Moment gar nichts mehr, er sah nur dieses eine Bild, dass sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte für die Ewigkeit. Ran, mit einem unendlich müden Lächeln auf den Lippen, halbgeschlossenen, unfokussierten Augen, und so wenig Leben in ihrem Körper. So ungeheuer wenig Leben. Und es war aus ihr herausgetröpfelt mit jedem Tropfen Blut, den sie verlor, es war aus ihrem Körper entflohen, mit jedem Atemzug, den sie gemacht hatte, ein wenig mehr. Er hatte ihr die Wunde zugedrückt, die das Katana in ihrer Seite hinterlassen hatte, hatte seine Umwelt total vergessen, hatte zu jedem Gott gebetet, den er kannte, sie nicht zu holen, ihr das Leben zu lassen, als er sie in den Armen hielt, und ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken gelaufen war, weil er es spürte… spürte, wie sie starb. Es war so ungeheuerlich gewesen, hatte an ihm gerissen und gezerrt - dieses Gefühl, sie zu verlieren, und nichts tun zu können, gar nichts. Der Hauch des Todes war so deutlich gewesen, dass er geglaubt hatte, wenn er den Mut aufgebracht hätte aufzusehen, dann hätte er ihn hinter sich warten gesehen - den Tod. Er hatte nicht aufgeschaut. Alles was in seiner Macht gestanden hatte, war, sie festzuhalten, und sie anzuflehen, durchzuhalten. Durchzuhalten, bis der Krankenwagen kam, durchzuhalten, für ihn. Einfach durchzuhalten. Er hatte umsonst gefleht. Shinichi wusste nicht mehr, was er ihr alles gesagt hatte, in diesen Minuten, bevor der Krankenwagen gekommen war. Aber er wusste genau, was sie gesagt hatte, ihre letzten Worte hatten sich in seinem Kopf verewigt, eingebrannt. Ich liebe dich. Das waren die Worte gewesen, die sie ihm zugeflüstert hatte, bevor sie gestorben war. Verdammt, wie konntest du das zu mir sagen… du starbst wegen mir, und du wusstest das, er hat‘s dir gesagt… aber das letzte, was du zu mir sagtest, ist… dass du mich liebst… Und du lächeltest dabei… Seither… hasste er diese drei simplen Wörter wie nichts anderes auf der Welt, außer der Organisation. Seither… lächelte er nicht mehr. Sie war in seinen Armen gestorben. Ich habe versagt… Dieser Moment verfolgte ihn beständig in seinen Träumen, ließ ihn nicht los, ganz im Gegenteil… es war jedes Mal der realste Teil dieses ohnehin sehr realen Alptraums. Immer wieder fühlte er ihren Körper erschlaffen, gegen seine Brust sinken, merkte, wie er sie fester halten musste, damit sie ihm nicht entglitt, sah, wie der Glanz aus ihren Augen wich, roch diesen ekelhaft metallischen Geruch ihres Blutes, den er immer ertragen hatte, aber von dem ihm heute schlecht wurde, hörte, wie sie leise seufzend ausatmete… und jedes Mal, wenn ihn die Bilder einholten, spürte er, wie etwas in ihm mit ihr starb. Jedes Mal ein Stückchen mehr, und er fragte sich langsam, wie viel noch in ihm war, das sterben konnte. Was Kogorô ihm ins Ohr gebrüllt hatte, der irgendwann hinter ihm erschienen war, wusste er auch nicht mehr, allerdings, das dachte er sich, konnte es wohl nicht so unterschiedlich zu dem gewesen sein, was er sich hinterher noch anhören hatte dürfen, von ihm. Dann war der Notarzt gekommen und man hatte sie ihm weggenommen, und erst da hatte er gemerkt, dass er weinte. Genauso wie er es jetzt erst merkte. Er ließ sich zur Seite sinken, drehte sich auf den Rücken, starrte in der Dunkelheit an die Decke über sich, wischte sich unwillig mit seinen Fingern über die Wangen. Er spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, hörte seinen eigenen Atem und wurde sich einmal mehr bewusst, was ihr Tod ihm bedeutete. Der Verlust war immer noch immens, keinen Deut kleiner geworden, all die Jahre. Die Sehnsucht nach ihr, die Reue, ihr den Tod gebracht zu haben, dieses nicht in Worte zu fassende Gefühl von Schuld schienen jeden Tag eher zu wachsen, als kleiner zu werden. Er ließ das auch gar nicht zu. Er würde sich nie vergeben. Ran… Automatisch fand seine Hand den Griff der untersten Nachttischschublade, zog sie auf. Er griff blind hinein, ertastete, wonach er suchte, zog es heraus, das Foto. Ihr Bild. Er biss sich auf die Lippen, merkte, wie sein Brustkorb zusammengequetscht wurde, weil sein Schuldgefühl sich darauf breit- und irrsinnig schwermachte, ihn einmal aus- und nicht mehr einatmen ließ und ihm die Luft zum Atmen raubte… und er fühlte diese unglaublichen Gewissensbisse, wie immer. Und dennoch sah er sie an, konnte kaum seinen Blick von ihrem Gesicht wenden, schluckte schwer. Sie lächelte, schaute ihn aus blauen Augen wach an, ihre Haare flatterten leicht im Wind, mit einer Hand strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, für das Foto. Es war das einzige, das er mitgenommen hatte. Ran. Hör zu, ich… Er seufzte, legte es zurück, schob die Schublade zu. Seiner Dummheit war er sich durchaus bewusst; Ran war… tot, das wusste er. Und sich dieses Bild immer wieder vor Augen zu halten, tat ihm weder gut, noch änderte es etwas an dieser Tatsache. Aber jedes Mal, wenn er sie ansah, dann fühlte er es – dieses unglaubliche, kaum in Worte zu fassende Gefühl, dass sie bei ihm wachrief. Ich liebe dich. Jedes Mal, wenn er es spürte, dieses Gefühl, Liebe… auch wenn es nur in Begleitung dieser kaum erträglichen Schuldgefühle kam, dann fühlte er sich etwas… menschlicher. Dann spürte er, dass er noch am Leben war, und bedauerte es manchmal. Aber es hatte etwas Tröstliches an sich, zu wissen, dass er so noch fühlen konnte. Und dass diese Gefühle immer noch ihr galten. Allerdings, und das musste er sich eingestehen, konnte er nicht mehr leugnen, dass genau das der Grund war, warum dieser Mord an dem Mädchen heute ihn so mitgenommen hatte. Dieses Mädchen heute war ihr so ähnlich gewesen. Sie hatte fast so ausgesehen wie Ran. Und das war er gewesen… der Auslöser. Na wunderbar. Shinichi verzog das Gesicht, zog sich dann an seiner Bettkante hoch, stellte fest, dass er fast noch vollständig angezogen war, und entledigte sich seiner Hose und der Socken, ehe er wieder unter die Decke kroch und mit wachen Augen in die Finsternis stierte. Und das tat, was er immer tat, wenn er schlecht geträumt hatte. Tat das, was immer half. Arbeiten. Die Erinnerungen waren es, weswegen er die Freizeit so fürchtete und sich in seine Arbeit flüchtete… denn wenn er Zeit zu denken hatte, wenn sein Hirn einen Freiflug machen konnte, dann wusste er, er landete immer in Tokio, immer an jenen Abend, an dem sie gestorben war, in seinen Armen. Dann kehrte er zurück zu diesem Moment seligen Glücks, den sie geteilt hatten… Die wenigen Minuten, in denen er sich zu sicher gefühlt und einmal… nein, zum zweiten Mal in seinem Leben nicht aufgepasst hatte. Sie hatten gewartet, bis er verletzlich war, bis er seine Tarnung aufgegeben hatte, seine Wachsamkeit fahren hatte lassen, blind und taub geworden war für alles andere, berauscht von diesem irren Gefühl, zu wissen, dass sie ihn liebte, so wie er sie, und dass sie ihm verzieh…, als er sie endlich hatte haben dürfen, hatten sie sie ihm weggenommen. Für immer. Sie hatten sie umgebracht und ihn am Leben gelassen. Shinichi schluckte hart. Sie hatten genau gewusst, was sie ihm damit angetan hatten. Es war eine Falle gewesen für sie, die sie ihn retten hatte wollen. Er hätte es wissen müssen. Allerdings, das ahnte er, hätte ihm all dieses Wissen nichts gebracht. Du hättest mich nicht lieben dürfen, Ran, dann wärst du noch am Leben… Und deshalb… nahm er nie Urlaub, fuhr auch am Wochenende ins Yard, grübelte er über seine Fälle oder Probleme anderer Leute, und wie immer funktionierte es auch heute… der Traum verflog fast vollständig, stattdessen übernahm sein analytischer Geist wieder die Führung. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, als er unwillkürlich die Bilder der beiden Fälle miteinander abglich. Es war einfach die Ähnlichkeit, das war alles… sie sahen sich ähnlich. Sonst nichts. Das gleiche Alter, in etwa, die gleiche Frisur, die gleiche Figur, ein frappierend ähnliches Gesicht. Aber das hier war ein gänzlich anderer Fall. Ein schlimmes Verbrechen, ein grausamer Mord, aber dahinter steckte irgendein kranker Irrer… keinesfalls sie. Ihr schwarzen Schatten… sagt, wo treibt ihr euch rum? Wo versteckt ihr euch? Und wann kriecht ihr heraus aus euren dunklen Ecken, um euch endlich noch zu holen, was ihr so lange schon begehrt… Ist es nicht langsam an der Zeit? Wie lange wollt ihr mir denn noch zusehen? Wird euch das nicht langweilig, langsam? Ein zynisches Lächeln glitt über seine Lippen. Es war bestimmt nur Zufall. Diese Verletzungsart war nicht alltäglich, aber auch nicht ungewöhnlich; erstochen mit einer länglichen, einschneidigen, scharfen Waffe. Außerdem war sie schon tot gewesen, als man sie fand, ihre Tötung hatte keinen weiteren Zweck… zumindest keinen, der ihn persönlich betraf. Und dann war da noch die Inszenierung; denn Inszenierung konnte man das durchaus nennen. Shinichi setzte sich auf seine Bettkante, legte eine Hand grübelnd an sein Kinn, stützte sich auf seinen Knien ab und starrte auf das hellbraune Laminat. Der Mond warf einen hellsilbernen Streifen durchs Fenster. Ein junges Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig… etwa ein Meter siebzig groß, etwa sechzig Kilo schwer. Lange, dunkelbraune Haare, blaue Augen, asiatische Gesichtszüge. Ihr Name ist noch unbekannt, sie trug keine Papiere bei sich; solange heißt sie Jane Doe… Jane Doe… Warum musstest du sterben? Und wo sind deine Kleider? Du kannst unmöglich den ganzen Tag schon dieses Seidenkleid getragen haben, es sieht aus, als wäre es handgenäht. Ein Einzelstück, ein Unikat, wie auch das Bild von dir. Ein schönes Bild, das muss man sagen, es war ein Könner, der das gemalt hat. Du hast das Kleid an, das du auch getragen hast, und ein Stiefmütterchen in den Fingern. Es muss ihm das Herz gebrochen haben, es zurückzulassen, noch nass, noch duftend nach Ölfarbe und Farbverdünner… Er wusste doch, dass Tau es überziehen würde, Wasser in die Fasern der Leinwand dringt. Feuchtigkeit schadet Bildern, auch wenn sie die Farbe nicht abwäscht. Es war ein echter Könner, der das getan hat. Ein Könner, auf jedem Gebiet… Ein meisterhafter Designer, ein hervorragender Schneider, ein Malerkönig, und ein perfekter Mörder, ein… teuflisches Genie. Oder war es am Ende gar nicht nur eine Person? War es eine Gruppe, ein diabolisches Duo? In der Regel sind Designer auch Schneider, aber solche Porträts malen sie nicht. Also mindestens zwei, wenn entweder Designer und Mörder oder Maler und Mörder eine Person sind. Ansonsten drei, ein Trio. Oder eine Einzelperson, der die anderen dazu benutzte, ihm seine Requisiten zu liefern? Was treibt ihn an, ihn… oder sie? Und warum wählte er dich? Und wo… wo geschah es? Wo ließest du dein Leben, Jane Doe...? Und was ist mit der Blume? Warum hält sie auf dem Bild ein Stiefmütterchen…? Er seufzte, versuchte, sein Hirn nun doch leer zu fegen, um wieder einzuschlafen, aber egal was er tat… jedes Mal sobald er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich, so deutlich, dass er fast glaubte, es anfassen zu können. Der Morgen dämmerte bereits, das London Eye stand schon seit Stunden still, ehe er endlich wieder einschlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)