Where the rain falls von Platan ================================================================================ Kapitel 1: Grau --------------- Murphy wusste sofort, dass es nur ein Traum war. Schon als er die Augen aufschlug und diese warme, cremefarbene Decke über sich ruhen sah, konnte ihm das einfach nur bewusst sein. Sie erdrückte einen nicht, so wie die im Gefängnis, sondern schien ihn freundlich zu begrüßen und in dieser Erinnerung willkommen zu heißen. Ja, es war nur ein Traum. Das musste er sich direkt von Anfang an einprägen, bevor er sich wieder zu sehr der Hoffnung hingab, hier wäre die Realität. Er durfte nicht zulassen, daran zu glauben, seinen schrecklichen Verlust nur geträumt zu haben, obwohl er sich gerade mittendrin befand. Zu oft hatte ihn die Enttäuschung bereits förmlich zerrissen, nachdem er doch als Gefangener wieder erwachen musste. Sein größter Reichtum beinhaltete gleichzeitig auch Schmerzen, aber das war ihm egal. Solange er wusste, nur zu träumen, konnte er das hier trotzdem genießen, und was wollte er auch tun. Also richtete er sich auf einem Bett auf, das viel zu groß war, um real sein zu können. Hier hätten locker mehr als fünf Personen Platz gefunden und doch war er jedes Mal der einzige, der es nutzte. Behutsam schob er die tiefrote Decke zur Seite, stand auf, strich sorgsam das schneeweiße Bettlaken glatt und richtete auch den Rest möglichst ordentlich her, so wie Carol es mochte. Ordnung war ihr sehr wichtig. Kaum dachte er an sie, stieg ihm ein vertrauter, köstlicher Duft in die Nase. Im selben Augenblick war ihm klar, dass es unmöglich sein sollte, weil es sich hierbei nur um einen Traum handelte. Dennoch erinnerte er sich genau daran, wie oft ihn morgens dieser Geruch aus dem Bett gelockt hatte, so auch jetzt. Zielstrebig begab er sich Richtung Tür, durch die er das Schlafzimmer verlassen wollte. Sogar der Raum an sich war viel zu groß und es dürften viele, viele Schritte nötig sein, bis er sein Ziel erreichen konnte. Anfangs zeigte er sich noch geduldig, doch bald schon wuchs die Nervosität, denn der Ausgang schien sich ihm kein Stück zu nähern, egal wie sehr er seine Füße bemühte. Deshalb versuchte er es mit rennen und streckte die Hand nach der Tür aus, in der Hoffnung, sie käme ihm dann vielleicht entgegen oder er könnte sie zu sich beschwören. Leider nützte es nichts, er rührte sich kein bisschen vom Fleck, obwohl er schon erschöpft keuchte. Der braune Teppich unter ihm verschluckte jeden Laut, den seine Füße verursachen sollten. „Komm schon!“, bat Murphy nachdrücklich, ohne damit jemanden oder etwas Bestimmtes anzusprechen. „Das ist alles, was ich noch habe!“ Gerade, als sich ein Hauch von Verzweiflung bilden wollte, bekam er die Türklinke zu fassen und stand plötzlich genau davor. Sein Körper prallte gegen dieses Hindernis, da er noch rannte, und löste dadurch einen Laut aus, der für Carol zu hören sein musste. Ihre Stimme ertönte leise von der anderen Seite der Tür. „Schatz? Was machst du da oben?“, wollte sie wissen. „Alles in Ordnung?“ Immer noch keuchend warf Murphy einen raschen Blick über die Schulter und stellte fest, dass der Raum noch genauso groß wirkte wie vorher, er aber nun wirklich vor der Tür stand. Sicherheitshalber umklammerte er die Klinke fest mit seiner Hand, um diese Position nicht mehr zu verlieren. „Alles in Ordnung“, beruhigte er seine Frau und atmete ein letztes Mal durch. „Nichts passiert.“ „Gut, dann komm runter. Das Frühstück ist fertig.“ Er nickte sich selbst zu. „Schon unterwegs.“ Langsam drückte er die Klinke runter und öffnete die Tür. Dahinter kam ein Flur mit hellgrüner Tapete und zahlreichen Fotos zum Vorschein, die in kunstvollen Bilderahmen an den Wänden hingen. Alles Momente mit seiner Familie, kostbare Erinnerungen. Sein größter Schatz. Durch das Grün gewannen sie noch mehr positive Energie und verströmten ein angenehm warmes Gefühl. Vergiss nicht, du träumst nur, Murphy. Leise schloss er die Schlafzimmertür hinter sich und ging den Flur entlang Richtung Treppe. Im Vergleich zum vorherigen Raum besaß jetzt alles normale Größenverhältnisse, was ihn beruhigte. Aufmerksam nahm er die Fotos in sich auf, die er auf seinem Weg hinter sich ließ. Ein leichtes Lächeln wagte sich auf seine Lippen. Auch die Holztreppe verschluckte den Klang seiner Schritte, als er von der oberen Etage nach unten stieg. Dort ging er schnell durch den Eingangsbereich des Hauses in die Küche, in der sich Violett zu dem Grün gesellte. Nein, Carol nannte es Beere. Angeblich war es trendig, grün mit violett zu mischen. Bestimmt hatte sie einfach nur eine Vorliebe für diese Farben, aber für Murphy war das in Ordnung. „Morgen, Daddy~“, begrüßte sein Sohn Charlie ihn munter, der bereits am Tisch saß und unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. „Du bist echt ein Langschläfer.“ Charlie. Er war so lebhaft wie immer und grinste ihm frech entgegen. Das braune, kurze Haar war von Carol ordentlich gekämmt worden und die ebenso braunen Augen sprühten vor Abenteuerlust. Außerdem trug er eine rote Kapuzenjacke, die er abgöttisch liebte. Sie sah noch gut aus, dabei hatte sie schon so viel mitgemacht. Diesmal war das Lächeln, das Murphy ihm schenkte, wesentlich offener. „Guten Morgen, Charlie. Seit wann tragen wir denn Jacken am Frühstückstisch?“ „Seit heute!“, erwiderte er gerissen. „Wir wollten doch nach dem Frühstück draußen spielen. Du hast es mir versprochen.“ „Ah“, gab Murphy verstehend von sich trat neben ihn, wo er Charlie mit der Hand über den Kopf fuhr. „Und damit wir sofort losgehen können, sobald wir fertig mit essen sind, hast du dich schon mal passend angezogen?“ „Genau~.“ „Das ist keine schlechte Idee. Lass es uns trotzdem langsam und entspannt angehen, okay?“ Immerhin wollte Murphy diese Zeit so lange wie möglich auskosten, bevor er zurück in diese trostlose Welt musste, in der es Charlie nicht mehr gab. Carol dagegen ... „Hier, die ersten Pfannkuchen sind fertig“, hörte er sie liebevoll sagen. „Esst ruhig schon mal. Ich mache noch ein paar.“ Murphy warf den Blick zu ihr. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen am Herd, wo sie gerade tatsächlich selbstgemachte Pfannkuchen zubereitete. Neben ihr auf der Ablage warteten schon zwei gefüllte Teller auf sie beide, die er auch gleich dankend an sich nahm und sie auf dem Küchentisch servierte – eine Vase mit bunten Blumen stand dort in der Mitte. „Endlich!“, rief Charlie begeistert und ertränkte seine Pfannkuchen gleich in Ahornsirup. Dagegen begnügte Murphy sich lieber mit etwas Honig, musste aber über seinen Sohn schmunzeln. „Sei nicht so gierig, sonst hast du keinen Sirup mehr für morgen.“ „Gar nicht wahr, im Lager haben wir noch ganz viel davon.“ „Du musst auch immer das letzte Wort haben, hm?“ „Das hat er von dir“, kam Carol ihm zuvor, ehe er diese Eigenart auf sie schieben konnte. Lachend gab Murphy sich geschlagen. Diskussionen mit seiner Frau und seinem Sohn verlor er grundsätzlich, das hatte er schon früh zu akzeptieren gelernt. Daher nahm er sich an Charlie ein Beispiel und widmete sich seinen Pfannkuchen. Sie schmeckten großartig, zumindest erinnerte er sich noch zu gut daran und das genügte, um dieses Essen genießen zu können. Summend bereitete Carol weitere Pfannkuchen zu. Viel zu viele, als dass sie drei alleine diesen Berg jemals essen könnten. Die Küche selbst war recht klein, aber daran störte Murphy sich nicht. So waren sie alle näher beisammen und das gefiel ihm. Warme Sonnenstrahlen drangen von außen durch die Fensterscheiben ins Innere des Hauses und machten diesen Morgen perfekt. Es war so friedlich. „Gehen wir, Daddy!“, drängte Charlie, kaum dass sie ihr Frühstück beendet hatten – Saßen sie nicht erst seit ein paar Sekunden am Tisch? – und sprang von seinem Platz auf. „Los, los~.“ „Geht nur“, stimmte Carol zu, die sich nicht vom Herd wegbewegt hatte. „Seid aber rechtzeitig zurück und passt auf euch auf. Übertreibt es nicht.“ Energiegeladen versprach Charlie ihr, was sie hören wollte, und lief eilig voraus zur Haustür. Diesen Jungen zu bändigen war alles andere als leicht, doch Murphy konnte nur wieder zufrieden darüber lächeln. Da er seinen Sohn nicht zu lange warten lassen wollte, stand auch er auf und schob beide Stühle ordentlich zurück an den Tisch, ehe er den Blick zu Carol lenkte. Sein Lächeln verblasste ein wenig. Nach wie vor blieb ihm nur die Sicht auf ihren Rücken. Warum durfte er in diesen Träumen nie ihr Gesicht sehen? „Daddy!“, drang Charlies Stimme aus dem Hausflur zu ihm. „Ich komme gleich, eine Sekunde noch.“ Murphy hielt den Blick eine Weile auf Carol gerichtet, darauf hoffend, sie könnte es spüren und sich doch noch umdrehen, leider geschah das nicht. So gern er Zeit mit Charlie verbringen wollte, wünschte er sich auch die Nähe zu ihr. Wie oft hatte sie über seine Fehler verständnisvoll hinweggesehen? Sie bedeutete ihm so viel und er hatte sie letztendlich bitter enttäuscht. „Carol“, sagte er ruhig. „Ich mache alles wieder gut, versprochen. Ich liebe dich.“ „Hm?“ Ohne sich umzudrehen, neigte sie leicht den Kopf und bereitete weiter Pfannkuchen zu. „Ich dich auch, Schatz. Nun geh schon. Du weißt doch, wie ungeduldig Charlie ist.“ Nickend wandte Murphy sich schweren Herzens ab und ging zu seinem Sohn, der schon an der Tür stand, mit einem roten Ball in den Händen. Aufgeregt lächelte er seinem Vater entgegen und beide riefen noch kurze Abschiedsworte zu Carol in die Küche, bevor der Junge hastig die Klinke runterdrückte und hinauslief. Zu schnell, für Murphys Empfinden. „Charlie, mach langsam“, wollte er ihn etwas bremsen und folgte ihm. Vor der Tür hielt er jedoch irritiert inne. Etwas stimmte nicht. Ein langer Tunnel erstreckte sich vor ihm in die Ferne, wo er ein schwaches Licht wahrnehmen konnte. Kälte ging von den grauen, trostlosen Wänden aus, genau wie im Gefängnis. Tropfgeräusche hallten unheilvoll durch diesen Ort, der nicht hier sein sollte. Normalerweise führte der Weg aus dem Haus ins Grüne, zu einem See hinunter. Das hier war falsch. Keine Realität. Nervös ging Murphy einige Schritte vorwärts und suchte mit den Augen nach Charlie, der schon viel zu weit vorgelaufen war. Auch seine Stimme hallte mehrmals von den Wänden wider und kam nur leise bei ihm an. Er war kaum noch zu sehen, nur ein kleiner, schwarzer Punkt im Licht am Ende dieses Tunnels. „Charlie! Charlie, bleib stehen!“ Hinter ihm war ein lauter Knall zu hören, was Murphy erschrocken herumfahren ließ. Soeben hatte sich die Haustür selbstständig geschlossen und war von Moos überwuchert, so stark, dass es unmöglich war, die Klinke zu finden. Carols Summen war nicht mehr zu hören, doch Murphy machte sich ohnehin mehr Sorgen um Charlie. Wenigstens im Traum wollte er ihn nicht auch noch verlieren. Deshalb drehte er sich wieder um, starrte in den dunklen, weiten Tunnel hinein und rannte Charlie ohne zu zögern hinterher. Innerlich betete er dafür, diesmal auch vorwärts zu kommen, nicht so wie vorhin im Schlafzimmer. Zum Glück schien er sich tatsächlich zu bewegen, zumindest entfernte sich die Haustür von ihm, wie er dank einigen Blicken über die Schulter feststellen konnte. „Charlie!“ Hin und wieder rief er nach ihm, damit er stehenblieb oder zu ihm zurückkam. So schnell konnte sein Sohn doch gar nicht sein, als Erwachsener müsste Murphy ihn eigentlich bald eingeholt haben. Schon früh fing er an zu keuchen, hielt jedoch nicht an und rannte weiter geradeaus. Nicht mal das Plätschern des Wassers unter seinen Füßen hielt ihn auf. Dafür aber etwas anderes. Je weiter er lief, desto dunkler wurde es. In dieser Dunkelheit leuchtete etwas rötlich an den Wänden: Es waren Wörter. Dort standen lauter Sätze an den steinernen Wänden des Tunnels, die er anfangs noch ignorierte und sich darauf konzentrierte Charlie einzuholen. Erst als er deutlich Flüsterstimmen wahrnahm, bremste er widerwillig ab und schnappte nach Luft. Irritiert huschte sein Blick über die endlos vielen Zeilen um ihn herum, die mit ihm zu reden versuchten. „Carol?“, hauchte er leise. Die Stimmen, sie gehörten eindeutig ihr. Ihm gefiel nur nicht, was sie sagten. Nachdem er angestrengt gelauscht und die ersten Sätze verstanden hatte, schüttelte er unruhig mit dem Kopf. So sollte sein Traum nicht aussehen. „Vergebung? Du wagst es, mich um VERGEBUNG zu bitten?“, flüsterten die Stimmen ihm zu. „Wie kann ich dir jemals vergeben, wo du doch alles zerstört hast, was ich in dieser Welt hatte?“ Carols Brief. Jemand oder etwas hatte den Brief in roter Schrift an die Wände verewigt, mehrmals, völlig wirr, ohne jegliche Reihenfolge. Unermüdlich redeten die Flüsterstimmen auf ihn ein, zitierten mehrfach verschiedene Textstellen aus dem Schriftstück, in dem Carol ihm deutlich gemacht hatte, dass er ein Versager war und die Schuld bei ihm lag. Und jetzt war er dabei, schon wieder zu versagen. „Nein“, sagte er zu sich selbst mit bebender Stimme. „Nein, Charlie. Charlie!“ Wie besessen stürmte Murphy weiter geradeaus und schrie atemlos den Namen seines Sohnes. Das Rot an den Wänden um ihn herum wirkte bedrohlich, wollte ihm die Luft abschnüren. Inzwischen war Charlie nicht mal mehr als kleiner Punkt im Licht auszumachen und als er es selbst endlich erreichte, warteten dahinter nur noch mehr Tunnel auf ihn, die sich vor ihm in etliche Richtungen abzweigten. Erschöpft ging Murphy einfach weiter, trotz der Seitenstiche. Sicher bildete er sie sich nur ein, denn das hier blieb ein Traum. Hier gab es weder Gerüche noch reale Schmerzen, das entsprang alles seinen eigenen Erinnerungen. Kurz vor der Stelle, an der sich die Wege in viele Richtungen trennten, hielt er an. Welchen Weg sollte er wählen? „Charlie ... wo bist du?“ „Du hast mich im Stich gelassen, Murphy“, verfolgten ihn die Stimmen seiner Frau hinter ihm. „Es tut mir leid, ich ...“ Auf einmal sprang ihm etwas entgegen: Ein roter Ball. Er flog aus einem der Tunnel auf ihn zu, prallte gegen seine Brust und huschte anschließend in die Richtung davon, aus der er gekommen war. Das machte ihm die Entscheidung leicht. Sofort nahm Murphy die Verfolgung auf und erblickte nach wenigen Schritten Charlie, was ihn erleichtert seufzen ließ. Sein Sohn öffnete gerade eine alte, morsch aussehende Holztür, hinter der ein mattes Licht zum Vorschein kam. „Hast du mich nicht nach dir rufen hören?“, fragte er Charlie besorgt und griff erst mal nach dessen Hand, während der Ball bereits eigenständig durch die geöffnete Tür rollte. „Daddy, wo warst du so lange?“ Statt ihm zu antworten, musterte er Murphy verwirrt. „Warum keuchst du so?“ „Ich habe nur eins von dir verlangt, und das war, ein guter Vater für deinen Sohn zu sein.“ „Bist du nervös?“, wollte Charlie wissen, als sein Vater nach hinten sah. „Ist da etwas?“ „Ich denke nicht“, antwortete Murphy unsicher, weil er ihn nicht unnötig beunruhigen wollte. „Komm, gehen wir. Sonst finden wir deinen Ball nicht wieder.“ Mit diesen Worten schob er Charlie sacht durch die Tür ins Licht und schloss sie hinter ihnen, was die Flüsterstimmen verstummen ließ. Wirklich beruhigen konnte Murphy sich allerdings nicht, denn dieser Traum wollte leider nicht in die Normalität zurückkehren, sondern führte sie zu einem Ort, den er zuvor noch nie gesehen hatte und der ganz sicher nicht in der Nähe seines Hauses lag. Eine Stadt, ebenso grau wie der Tunnel, aus dem sie gekommen waren. Verschiedene Grautöne kleideten die malerischen Häuser einer Kleinstadt ein, in der absolute Stille und Einsamkeit herrschte. Außer ihnen war sonst niemand zu sehen und er fragte sich allmählich, was dieser Traum ihm zu sagen versuchte. Auch ohne Hinweise wusste Murphy, was für Fehler er begangen hatte. Aus dem Grund plante er doch, sie wiedergutzumachen. Durfte er nicht mal mehr von einer besseren Welt träumen? „Da ist mein Ball!“, bemerkte Charlie und deutete mit der freien Hand geradeaus. Wieder war ein Plätschern zu hören, als sie die ersten Schritte auf den Ball zugingen, nur kamen sie diesmal schwerer voran. Der Boden war gut einen halben Meter von Wasser überflutet, überall in der Stadt. Tatsächlich schwamm der Ball vor ihnen gemächlich vorwärts und stach als einziges mit seiner roten Farbe in diesem Grau deutlich hervor. Es war unmöglich, ihn nicht zu sehen. Murphy drückte etwas fester Charlies Hand, bevor das Kind losrennen und sein Spielzeug einsammeln konnte. Ab jetzt passte er besser auf. „Bleib bei mir“, befahl Murphy ihm ruhig. „Wir bleiben zusammen, verstanden?“ „Aber mein Ball!“ „Den holen wir, aber zusammen.“ Gemeinsam kämpften sie sich voran, durch das Wasser hindurch Richtung Ball, doch der schien sich schneller zu bewegen, je näher sie kamen, und entfernte sich somit stets von ihnen, damit ein gewisser Abstand eingehalten wurde. Offenbar wollte er sie irgendwo hinlocken, nur wo waren sie überhaupt? Was war das für eine Stadt? Sie konnte kaum irgendwo in der Realität existieren. Zwar entdeckte Murphy ein Ortsschild, nachdem er nochmal den Blick hatte schweifen lassen, während sie dem Ball folgten, aber das brachte ihm nichts. Auch das war von Moos überwuchert und verdeckte die Schrift, einzig eine Stelle am unteren Rand war sichtbar. In weißer Schrift stand dort auch etwas geschrieben, dummerweise zu klein, weshalb er es nicht lesen konnte. „Mein Ball“, wiederholte Charlie quengelnd, der nun auch bemerkte, dass er vor ihnen weglief. „Wo will er hin?“ „Ich weiß es nicht, aber keine Sorge, irgendwann wird auch ihm die Puste ausgehen.“ „So wie dir vorhin?“ Murphy konnte ein wenig schmunzeln, obwohl ihm gerade nicht danach war. „Ja, so wie ich vorhin.“ „Dann dauert es bestimmt nicht lange~.“ Motiviert schob Charlie sich mit seiner kleinen Körpergröße weiter durch das Wasser, was für ihn sehr anstrengend sein musste. Die ganze Zeit über hielt Murphy ihn an der Hand fest und ließ ihn nicht mehr los, den Blick von nun an fest auf den Ball gerichtet, der unaufhaltsam weiter schwamm, mit einer Leichtigkeit, um die er zu beneiden war. Von dieser Stille und dem Grau fühlte Murphy sich mehr als erdrückt. Alles wirkte hoffnungslos und tot, ein Gedanke, der ihm nicht behagte. Dabei spürte er die Wärme, die Charlies Hand ausstrahlte und ihm sagte, dass er lebte. In seinen Erinnerungen lebte er noch. An den Tod wollte er nicht denken müssen und doch zwang man ihn dazu. Nach einer Weile führte der Ball sie nämlich zu einem eingezäunten Bereich, einem kleinen Vorgarten, wo ein offenes Grab zu finden war. Dort wurde das Rot erbarmungslos von dem schwarzen Schlund eingesaugt, der tief in den Boden hinein führte. Nur einen Wimpernschlag später war die Öffnung unter Wasser mit fester Erde verschlossen. Charlie wollte sich das Grab näher ansehen, aber davon hielt Murphy ihn ab und zog ihn an der Hand hinter sich. Erst jetzt bemerkte er, dass er sich nur sehr verschwommen im Wasser spiegelte und kaum zu erkennen war, bei seinem Sohn dagegen sah es normal aus und das gefiel ihm nicht. Besonders nicht, wenn Charlie direkt vor dem Grab stand und sich sein Bild über die Erde legte, wo eben noch die Öffnung gewesen war. „Wo ist mein Ball hin?“, wurde Charlie wieder ungeduldig. Statt zu antworten, las Murphy mit gerunzelter Stirn die Aufschrift auf dem Grabstein: Exit. Direkt daneben lehnte eine Schaufel gegen das Gestein und schien nur darauf zu warten, von jemandem geführt zu werden. Fordernd schüttelte Charlie seine Hand, damit er Aufmerksamkeit bekam. „Daddy, wo ist mein Ball?“ Unentschlossen warf Murphy den Blick zu ihm. Erwartungsvolle Augen starrten ihn an und hofften darauf, dass er die Antwort wusste. Die Antwort auf alle Rätsel in diesem Universum. Was auch immer hier vor sich ging oder wohin der Traum mit ihm wollte, konnte Murphy egal sein. Ihm war nur wichtig, Charlie nicht zu enttäuschen. „Ich hole ihn dir zurück“, versprach er und griff mit einer Hand nach der Schaufel, ohne seinen Sohn loszulassen. Angespannt atmete er durch und hob die Schaufel an, um sie mit Kraft in den Boden des Grabes vor sich zu stoßen – womit er eine unerwartete Reaktion provozierte. Plötzlich drehte sich die gesamte Welt ruckartig auf den Kopf und noch mehr Wasser brach mit einem Mal aus dem Grab hervor, stürzte wie ein Wasserfall ins Nichts herab. Auch Murphy und Charlie verloren den Halt unter ihren Füßen, sie fielen. Erschrocken ruderte Charlie mit den Armen und Murphy versuchte instinktiv, ihn näher zu sich zu ziehen, was ihm auch gelang. Fest drückte er ihn an sich, die Schaufel hatte er längst losgelassen. „Daddy!“ „Ich bin da!“, beruhigte Murphy ihn. Über ihnen wurde die graue Stadt schnell kleiner, so schnell fielen sie. Wasser regnete mit ihnen herab, scheinbar ins Bodenlose. Ein wenig fühlte es sich an, als würde etwas gewaltsam an ihnen zerren und sie zu sich holen wollen. So leicht ließ Murphy sich aber nicht von Charlie trennen, egal was sie da unten auch erwartete, sollten sie jemals irgendwo ankommen. „Ich bin da ... keine Angst, ich beschütze dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)