Last Desire 13 von Sky- ================================================================================ Prolog: Ein letzter Traum ------------------------- „Wie bitte was?“ Alice hatte sich fast an ihrem Kaffee verschluckt und musste husten. Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben, als sie Josephs Vorschlag hörte und nachdem sie ihre Lunge einigermaßen gereinigt hatte, sah sie ihn ungläubig an. „Das kann doch nicht wirklich dein Ernst sein, Joseph. Was du da vorhast, ist doch völlig unmöglich.“ Der 32-jährige Neurologe lachte amüsiert über Alices Reaktion und schien da ganz offensichtlich anderer Ansicht zu sein. „Glaub mir, ich habe lange genug nachgeforscht und ich bin mir sicher, dass wir es gemeinsam schaffen können. Überlege doch mal, welche Möglichkeiten wir haben! Wir wären in der Lage, der ganzen Welt den Frieden zu bringen. Wir beide… wir könnten in einer glücklichen Welt leben, in der wir all die Dinge vergessen können, die uns widerfahren sind.“ Und damit ergriff er ihre Hände und hielt sie fest. „Glaub mir, ich habe mein ganzes Leben nach einer Antwort auf diese Frage gesucht, ob es jemals ein Leben ohne all diese Zerstörung und diese Kriege gab. Auch wenn es verrückt klingt, aber es gab dieses Leben vor langer Zeit. Nämlich, als es noch nichts Vergängliches gab. Denn all diese negativen Gedanken wie Machthunger, Neid, Hass oder Eifersucht existierten da noch nicht. Es war die perfekte Harmonie und wir können diese Welt zurückholen. Wir können ein Teil davon sein und dieses Elend in dieser Welt beenden. Und vor allem das Elend, in welchem du gefangen bist. Wenn wir die Entitäten Ain Soph und Elohim und ihre Kinder zurückholen, dann werden wir gemeinsam eine neue Welt schaffen, Alice. Eine bessere Welt. Auch für dich, deinen Vater und deine Freunde.“ Und damit strich er sanft über ihre blasse Wange und sah, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Ihre kristallklaren Augen wirkten so wunderschön und doch so unergründlich. Ihr Wesen besaß eine kühle Schönheit, die einem Rätsel aufgeben konnte. Schwach lächelte sie und schüttelte den Kopf. „Machen wir uns doch nichts vor, Joseph. Es wird immer Unglück in dieser Welt geben. Ebenso wird es immer Leid geben, wo es auch Glück gibt. So eine Welt ist nur ein Wunschtraum und existiert nicht. Und dieses Gerede von Unvergänglichen ist doch nur Aberglaube oder irgendeine Form von Religion.“ „Alice, ich bin Wissenschaftler. Ich glaube nicht an Religionen oder Märchen und Legenden. Aber es gibt Beweise, dass es weit vor unserer Zeit mal eine solche Welt gab. Und ich glaube daran, dass wir gemeinsam diese Welt zurückholen können.“ „Ich habe schon lange den Glauben aufgegeben“, sagte Alice und zog ihre Hände wieder zurück. „Wir leben in einer Welt, in der es keine Hoffnung mehr gibt. Glaub mir, sie wird irgendwann zugrunde gehen und wir mit ihr. So sieht die Realität nun mal aus und daran kann keiner von uns etwas ändern.“ Niedergeschlagen ließ sie den Kopf sinken und spürte, wie ihre Magenbeschwerden zurückkamen. Sie presste eine Hand gegen ihren Bauch und bestellte sich beim Kellner sogleich ein Glas Wasser, während sie aus ihrer Tasche Magentabletten herausholte. Joseph sah dies und fragte auch gleich „Wie sieht es eigentlich mit deinem Rohypnolkonsum aus?“ „Besser“, log sie und nahm sich eine Tablette, die sie unzerkaut schluckte. „Ich kriege das schon in den Griff, keine Sorge.“ „Alice… was deine Sucht betrifft, bist du eine schlechte Lügnerin. Hör mal, du musst endlich damit aufhören. Die Arbeit im Krankenhaus macht dich kaputt. Du willst doch gar nicht Chefärztin sein. Und dann das Mobbing… diese Panikattacken und diese Erschöpfungszustände… wenn du so weiter machst, brichst du noch zusammen. Einen Nervenzusammenbruch und einen Suizidversuch hattest du doch schon und die Medikamente werden dich nur noch weiter runterziehen. Und deine Magenbeschwerden sind wahrscheinlich auch ein Symptom.“ „Ach Unsinn“, sagte sie sofort und winkte ab. „Das ist nur ein kleines Magengeschwür, mehr nicht.“ „Was glaubst du wohl, woher so etwas kommt? Du quälst dich selbst und wofür? Allein aus dem Gedanken, du müsstest das unbedingt für deinen Vater tun. Das ist Unsinn. Du solltest ihm endlich sagen, dass du es hasst, Ärztin zu sein und dass du viel lieber Schriftstellerin sein willst. Du hast doch das Potential dazu. Deine Bücher verkaufen sich wunderbar und ich habe doch gesehen, wie glücklich du bist, wenn du sie geschrieben hast. Wenn du es ihm sagst, dann wird er es verstehen.“ Doch Alice schüttelte nur den Kopf und ihr Blick wirkte mit einem Male trüb und hoffnungslos. In ihren Augen zeichneten sich Schmerz und Verzweiflung ab. „Er wird es nie verstehen. Er sagte, dass Schriftstellerei zwar ein nettes Hobby sei, aber mehr auch nicht. Seiner Meinung nach müsste man das größtmögliche aus seiner Hochbegabung herausholen und nach den größtmöglichen Zielen streben. Aber ich hasse das. Ich will gar nicht hochintelligent oder gut aussehend sein. Ich will ein normales Leben als einfache Frau. Lieber bin ich dumm und hässlich, dann wären die Erwartungen wenigstens nicht so groß. Egal was ich auch mache, ich muss immer nach mehr streben, muss mehr als alle anderen erreichen, weil ich das Zeug dazu habe. Aber ich will das einfach nicht, Joseph. Ich würde mich sogar mit einem einfachen Job als Sekretärin oder Verkäuferin zufrieden geben, dann wären auch die Erwartungshaltungen nicht so groß. Aber… dafür wäre die Enttäuschung umso größer…“ Nun stand Joseph auf und setzte sich neben sie. Dann nahm er sie in den Arm und Alice ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie sich an ihn klammerte. „Warum nur muss ich so sein, Joseph? Wieso musste ich so geboren werden?“ „Jetzt sag doch so etwas nicht. Ohne deine Intelligenz und deine Bildung hättest du mit Sicherheit nicht so wunderbare Bücher schreiben können. Und glaub mir: wenn dein Vater erst diese Bücher gelesen hat, dann wird er verstehen, was du wirklich willst und er wird dann garantiert deinen Wunsch akzeptieren.“ „Du verstehst das nicht. Ich bin alles, was er hat, nachdem meine Mutter bei meiner Geburt verstorben ist. Wenn er erfährt, was wirklich los ist und dass ich ein Medikamentenproblem habe, dann wird für ihn eine Welt zusammenbrechen. Er hat sich so sehr für mich gewünscht, dass ich Ärztin werde und was ist? Ich bin die jüngste Chefärztin und soll bald Mitglied des Vorstands werden. Er hat so viel getan, um mich so weit zu bringen und er ist so stolz darauf, dass ich es endlich geschafft habe. Es wird ihm das Herz brechen, wenn er die Wahrheit erfährt. Er wird so furchtbar enttäuscht sein, dass all diese Bemühungen völlig umsonst gewesen waren und das kann ich ihm doch nicht antun.“ Mag ja sein, dachte Joseph, während er Alice im Arm hielt und sie tröstete. Aber das ist doch auch keine Lösung. Du machst dich nur selbst kaputt und davon wird sich auch nichts ändern. Stattdessen wirst du irgendwann daran zerbrechen und das kann und darf ich nicht zulassen. Dafür liebe ich dich einfach zu sehr. „Alice, kannst du nicht versuchen, dir zumindest einen kleinen Funken Hoffnung an eine bessere Welt zu bewahren? Wenn du schon nicht an Gott glaubst, dann doch wenigstens daran, dass es eines Tages besser werden könnte.“ „Ach, diese Welt wird es doch niemals geben…“, murmelte sie hoffnungslos und legte ihren Kopf auf seine Schulter ab. Immer noch glänzten Tränen auf ihrer blassen Wange. „Aber… solange du da bist, fühle ich mich besser und das reicht mir auch. Und ich glaube auch daran, dass du erreichst, was du dir vornimmst.“ Und das schien ihm zu genügen. Er gab ihr einen Kuss, den sie erwiderte und umarmte sie noch einmal. „Ich verspreche dir, dass ich alles dafür tun werde, damit du deine Hoffnung wiederfindest. Egal wie schwer es auch werden wird und egal wie lange es dauern mag und was ich dafür tun muss. Für dich werde ich diese Welt wieder zurückholen und dafür sorgen, dass du wieder lachen kannst. Alice, du verdienst es, in solch einer Welt zu leben und deshalb werde ich nicht aufgeben. Ganz egal wie oft du mir auch sagst, dass es unmöglich ist. Für dich werde ich es möglich machen. Dass du die Einzige bist, die einen so starken Wert erreichen konnte, ist doch kein Zufall. Niemand anderes hatte einen so hohen Prozentsatz und das kann nur eines bedeuten: du bist der Schlüssel zu dieser Welt. Mit deiner Hilfe werden wir es schaffen, Ain Soph und Elohim zurückzuholen und mit ihnen eine Welt ohne Leid und Kummer zu erschaffen. Eine glückliche Welt, wo du endlich der Mensch sein kannst, der du so gerne sein würdest und wo du nie wieder so traurig sein musst wie jetzt.“ Eine Welt, in der sie zusammen mit Joseph und ihrem Vater und ihren Freunden glücklich werden konnte? Konnte es wirklich so etwas wirklich geben? Wie gerne würde sie doch glauben, dass es so eine Welt gab. Eine Welt, wo sie zusammen mit Joseph, Nastasja, Henry und ihrem Vater glücklich werden konnte. Ja, das wäre wirklich schön, wenn es irgendwann mal so etwas wirklich wahr werden könnte. Und als sie so darüber nachdachte, kamen ihr wieder Tränen und sie lächelte. „Siehst du?“ sagte Joseph schließlich und strich ihr sanft die Tränen weg. „Wir haben alle Möglichkeiten der Welt, wir dürfen uns eben durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Alice, ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit du endlich ein Mal in deinem Leben von Herzen lachen kannst und in der Lage bist, das Licht in dieser Welt zu sehen. Ganz egal, was ich dafür tun muss und wie lange es dafür dauert. Ich werde nicht aufgeben.“ „Das musst du nicht tun, Joseph. Wirklich nicht.“ Doch er blieb dabei und legte eine Hand auf ihre. „Doch, Alice. Ich will, dass du von Herzen glücklich bist und dass du endlich frei bist. Frei von deinen Ängsten, deiner Sucht und deinem Vater. Ich liebe dich und ich will mit dir zusammen glücklich werden. Mit niemand anderem sonst. Und bis es soweit ist, lass uns wenigstens gemeinsam von einer Welt träumen, wo wir glücklich sein können.“ „Ja“, sagte Alice und schloss die Augen, während sie ihren Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ. „Das wäre wirklich schön… Joseph?“ „Ja, was ist?“ „Bleib noch so einen Augenblick. Wenigstens noch ein kleines bisschen, bevor ich wieder ins Krankenhaus muss.“ „Kein Problem. Ich hol dich nach der Schicht ab und dann können wir zusammen was essen gehen. Du kannst ja deinem Vater erzählen, du triffst dich mit Kollegen, wenn du ihm noch nichts von uns erzählen willst.“ So saßen sie noch eine Weile zusammen, bis sich Alices Mittagspause langsam dem Ende zuneigte. Es fiel Joseph schwer, sie wieder gehen zu lassen, vor allem weil er wusste, wie sehr Alice darunter litt, dort zu arbeiten. Aber er war fest entschlossen, alles daran zu setzen, ihr dabei zu helfen, sich von all dem hier zu lösen und damit auch ihren Posten als Chefärztin aufzugeben. Schließlich, als sie sich voneinander verabschiedet hatten und Alice gehen wollte, erinnerte er sich an etwas Wichtiges und eilte ihr hinterher. „Warte kurz!“ rief er und bekam sie noch am Arm zu fassen. „Was ist?“ fragte sie und war verwundert, was Joseph denn noch wollte. Aber da drückte er ihr auch schon ein Buch in die Hand. Es war ein lateinisches Buch mit dem Titel „Utopia“ von Thomas Morus. „Lies es dir durch und gib mir dann deine Antwort, ja?“ Alice versprach es und gab ihm noch einen Kuss zum Abschied, bevor sie ging. Da das Buch weniger als 200 Seiten besaß, hatte Alice es schon in zwei Tagen durchgelesen. Und auf der letzten Seite fand sie schließlich eine Widmung von Joseph, die sie schmunzeln ließ: „Willst du mich heiraten und gemeinsam mit mir diesen Traum von Utopia träumen?“ Und ihre Antwort darauf war „ja“. Kapitel 1: Melancholie ---------------------- Es regnete in Strömen und in der Ferne hörte man es donnern. Und obwohl es kalt war, stand Lacie auf dem Dach im strömenden Regen und hatte die Augen geschlossen, während sie ihr Gesicht zum Himmel wandte. Sie war vollkommen durchnässt und machte dennoch keine Anstalten, das Dach zu verlassen. In diesem Moment sah sie fast so aus, als würde sie beten oder meditieren. Die Tür öffnete sich und L kam raus und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, als er näher kam. „Lacie, was machst du da?“ „Kannst du sie hören?“ Schon seit sie gestern erfahren hatte, dass sie ein Proxy war, wirkte sie irgendwie verändert und noch nachdenklicher als sonst. Wahrscheinlich hatte sie noch an der Tatsache zu knabbern, dass ihr Leben bislang nur eine Lüge gewesen war. Verdenken konnte man es ihr nicht wirklich. „Was meinst du damit?“ fragte L und trat näher und versuchte bei dem lauten Regen etwas herauszuhören. „Die Glocken. Kannst du sie nicht läuten hören?“ Nun hörte er genauer hin und tatsächlich… er konnte irgendwo in der Ferne das Läuten von Glocken hören. Die Glocken der St. Michael Kirche, die ihm aus seiner frühen Kindheit in Erinnerung geblieben waren. Merkwürdig. Irgendwie kam ihm diese Szene vertraut vor. Hatte er vielleicht eine Art umgekehrtes Deja-vu? Er hatte schon mal so ein Erlebnis auf einem Dach bei strömendem Regen gehabt, wo er dem fernen klang der Glocken von St. Michael gelauscht hatte. Nämlich mit einem guten Freund, den er verloren hatte und mit seinem Feind, der ihn fast getötet hatte. „Lacie, wir sollten besser…“ „Ich frage mich gerade“, begann sie weiterzureden, „wie es wohl weitergehen wird, wenn das alles hier vorbei ist. Immerhin haben wir alle durch dieses eine Projekt zusammengefunden und es ist das, was uns zusammenhält. Wenn es vorbei ist, gibt es diesen Zusammenhalt nicht mehr.“ „Man entwickelt sich eben weiter“, erklärte L und schien noch nicht einmal großartig zu bemerken, dass er klatschnass wurde. „Selbst Familien gehen irgendwann auseinander, wenn die Kinder erwachsen werden.“ „Ich weiß“, sagte Lacie und für einen Moment hätte L schwören können, dass sie weinte, aber es konnte auch der Regen sein. „Ihr habt wirklich großes Glück, eine solche Familie zu haben. Aber… meinst du nicht, dass es trotzdem einsam werden könnte?“ Einsam? Hatte er diese Worte nicht auch einmal gesagt? Damals, als er… als er davon ausgegangen war, dass er sterben würde? Ja, er hatte den eigenen Tod vor Augen gehabt und sich auf sein Ende vorbereitet. Aber dann wurde dieses Schicksal wie durch ein Wunder im letzten Moment abgewandt, weil nicht er, sondern Light durch den Shinigami getötet worden war. „Worüber denkst du nach?“ „Wie es wohl sein wird, wenn es vorbei ist und wie es mit mir weitergeht. Im Grunde gibt es doch nichts, was mich mit euch verbindet und was mich zu einem Teil dieser Familie macht. Keine Verwandtschaft, nur die Freundschaft zu Dathan und er hat jetzt deine Mutter. Er braucht mich nicht mehr und Elohim ist streng genommen auch kein fester Teil dieser Familie. Zwar existiert auch noch die Freundschaft mit Frederica, aber das auch erst seit kurzem. Also macht es doch nichts aus, wenn ich nicht mehr da bin, oder?“ Ach darum geht es also, dachte L und atmete geräuschvoll aus. Offenbar fühlt sie sich nicht dazugehörig und hat Angst, ganz alleine zu sein, wenn das alles hier vorbei ist. Na wenn dies das einzige Problem ist… „Du gehörst zur Familie dazu, da mach dir keine Sorgen. Jeder war in dieser Familie mal ein Fremder und ist dann schließlich doch zu einem festen Teil davon geworden. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Lass uns wieder…“ „Hey, was macht ihr beiden da für einen Blödsinn?“ Nastasja und Beyond waren dazugekommen und ergriffen schließlich Lacie und L am Arm, woraufhin sie die beiden ins Trockene brachten. „Ihr seid doch komplett verrückt. Es reicht doch schon, wenn Ezra krank ist und Sheol sich bei ihm auch noch angesteckt hat. Ab mit euch ins Warme, aber dalli!“ Nachdem sie wieder drin waren, warf die Russin ihnen Handtücher zu, denn sie waren komplett durchnässt und das Wasser tropfte ihnen von der Kleidung und von den Haarspitzen. Der Serienmörder begann nun damit, L die Haare zu trocknen und schüttelte den Kopf. „Und du sagst mir, ich mache immer Unsinn… na komm, du musst erst mal aus den nassen Klamotten raus und dann am besten ab ins Bad. Ansonsten wirst du noch krank und das können wir im Moment nicht gebrauchen.“ Während sich Nastasja um Lacie kümmerte, brachte Beyond den Detektiv ins Bad und setzte seine kleine Standpauke noch eine Zeit lang fort. Er ließ ihm ein heißes Bad ein und nahm sich im Anschluss die Freiheit, L Gesellschaft zu leisten und ihm den Rücken zu waschen. „Was sollte die Aktion auf dem Dach eigentlich, kannst du mir das mal erklären?“ „Ich hatte da ein Deja-vu gehabt, das ist alles.“ Beyond schüttelte den Kopf und verstand es nicht wirklich, dass der Meisterdetektiv solche bescheuerten Aktionen machte. Das sah ihm doch gar nicht ähnlich. Naja, zumindest nicht allzu sehr… „Du bist doch verrückt, bei solch einem Sauwetter rauszugehen. Willst du etwa schon wieder krank werden? Mensch, wenn du irgendwelche Sorgen hast, dann sag es mir doch. Dafür bin ich ja auch da.“ L schwieg einen Moment, während Beyond ihm die Haare wusch und lehnte sich dann zurück, woraufhin der Serienmörder seine Arme um ihn legte. „Es ist eben so gut wie vorbei“, sagte er schließlich und wirkte irgendwie sehr nachdenklich. „Wenn wir den Alpha-Proxy und Elohims dunkle Seite aufgehalten haben, dann ist eigentlich genau das fort, was uns alle erst zusammengeschweißt hat. Und da hat Lacie nicht ganz Unrecht. Jetzt im Moment halten wir alle zusammen, aber auch hauptsächlich deshalb, weil wir aufeinander angewiesen sind und die Hilfe des anderen brauchen. Wie wird es denn weitergehen, wenn das hier vorbei ist? Meine Mutter hat ihre eigene Familie, um die sie sich kümmern muss und Dathan wird ihr wahrscheinlich nach Amerika folgen. Frederica wird als Assistentin bei uns beiden bleiben, aber Jeremiel wird sein Leben wohl oder übel mit Liam verbringen. Da lässt er sich leider auch nichts mehr sagen. Ich kann ihn nicht daran hindern und Mum sieht das alles viel entspannter als ich. Oliver und Andrew haben ihr eigenes Leben und Rumiko hat ebenso ihre Familie. Es wird nicht mehr wie vorher sein und da ist auch die Sorge da, dass wir uns immer weiter auseinander entwickeln.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Beyond schließlich und hielt L fest im Arm. Es war so angenehm, seine Körperwärme zu spüren und von ihm im Arm gehalten zu werden. So angenehm warm und beruhigend. „Jetzt denk doch mal nach: in dem halben Jahr, wo wir nichts von dem Alpha-Proxy gehört haben, da hat die Familie doch trotzdem zusammengehalten. Nun gut, es mag sein, dass sich diese große Gemeinschaft in ihre Grüppchen aufteilt. Aber wir stehen doch trotzdem allesamt in Kontakt und wir werden einander doch nicht gänzlich aus den Augen verlieren. Nastasja ist deine Mutter und Jeremiel dein Bruder. Andrew und Oliver sind unsere besten Freunde und Rumiko wohnt direkt nebenan. Sheol und Ezra sind deine Adoptivbrüder und Frederica ist quasi deine große Schwester und ist jetzt Wataris Nachfolgerin. Daran wird sich nichts ändern, auch wenn man sich vielleicht nicht mehr so oft sieht. Aber wieso machst du dir Gedanken über so etwas?“ Unsicher zuckte L mit den Achseln und dachte nach. „Vielleicht ist es die Sorge, dass es nie wieder so sein wird wie vorher und dass diese Bindungen auseinanderbrechen.“ „Ach L, du machst dir zu viele Gedanken. Mag sein, dass es vielleicht nicht mehr so ganz wie vorher sein wird, aber wir werden einander bestimmt nicht vergessen und außerdem: wir haben alle dann wenigstens die Chance endlich unser Glück zu genießen, ohne irgendwie Angst haben zu müssen, dass irgendetwas sein könnte und dass wir Gefahr laufen, von Proxys angegriffen zu werden. Irgendwie bist du echt ganz schön deprimiert geworden und das macht mir Sorgen. Vielleicht sag ich das nicht oft genug, aber so langsam erinnerst du mich immer mehr an Alice Wammy.“ L schwieg, denn er wusste ja selbst, dass er dabei war, ihr immer ähnlicher zu werden und dass sich Beyond deswegen große Sorgen um ihn machte. Vielleicht lag es daran, weil er so viele Kontakte geknüpft hatte, dass er nicht mehr derselbe war, oder eben weil die Angst groß wurde, das alles vielleicht zu verlieren. „Lass mich dir eines sagen, L: es wird nicht dazu kommen, dass wir gänzlich auseinandergehen. Jeremiel wird immer dein Bruder sein und deine Mutter wird auch für dich da sein, wenn du sie brauchst. Rumiko und Jamie werden weiterhin nebenan bei uns wohnen und selbst zu Andrew und Oliver werden wir sicher nicht den Kontakt verlieren. Die beiden verreisen ja inzwischen nicht mehr allzu oft, seit Rumiko schwanger ist und danach werden die beiden erst mal genug damit zu tun haben, der kleinen Charity gute Väter zu sein. Hey, es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Versuch dir mal etwas von Lacies Optimismus abzuschauen. Die glaubt ja genauso felsenfest wie Frederica daran, dass wir es alle schaffen werden und dass alles gut wird. Oder… brauchst du vielleicht wieder eine kleine Ablenkung?“ Damit wanderte Beyonds Hand langsam zu L’s Körper herunter und normalerweise hätte L vielleicht protestiert und ihm irgendetwas an den Kopf geworden und sich gewehrt, aber er ließ es einfach zu und spürte die sanften Berührung an seinem Körper. Eine Ablenkung… das alles vergessen… zumindest für einen Augenblick… das Glück genießen… ja, vielleicht hatte Beyond Recht. Er sollte endlich damit aufhören, alles so negativ zu sehen und sich Sorgen zu machen. „Deine Augenringe sind auch wieder dunkler geworden. Kann es sein, dass du wieder die Nächte durchmachst?“ „Vielleicht…“ Als L eine Berührung zwischen seinen Beinen spürte, spürte er, wie sein Herz langsam schneller schlug und diese wohlige Wärme in ihm wuchs. Sanft küsste Beyond seinen Nacken und seine Schulter, bevor er seine Zähne darin vergrub. „Tja, was soll ich nur mit dir machen? Hm?“ In L wuchs die Aufregung. Er wollte es ja auch, aber gleichzeitig hatte er irgendwie das Gefühl, als könne er dafür einfach nicht die Konzentration aufbringen. So viele andere Sachen beschäftigten ihn, dass er einfach nicht so richtig in Stimmung kam. Und das blieb auch dem BB-Mörder nicht verborgen. Und mit ruhiger und fast schon besorgt klingender Stimme bemerkte er „Offenbar lässt dich das einfach nicht los, oder?“ „Irgendwie schon. Weißt du, es neigt sich so langsam dem Ende zu und ich habe das Gefühl, dass irgendetwas Schlimmes passieren wird. Ich mach mir einfach Sorgen, dass einer von uns es vielleicht nicht schaffen könnte. Deshalb wäre es mir lieber, Mum, Sheol, Ezra und du bleiben besser hier.“ „Ich lasse dich doch nicht alleine gehen“, protestierte Beyond sofort, als er das hörte. „Du kriegst es doch nie und nimmer zustande, einen Menschen umzubringen oder eine Waffe zu bedienen. Und jetzt denk doch mal nach: wir haben Liam, Frederica, Dathan und dann noch Elohim. Das sind zwei Entitäten, ein Sefira und dann als letzter ein Seraph. Und wenn ich das richtig verstanden habe, sind die Entitäten nach Ajin Gamur die allermächtigsten Wesen, sogar noch stärker als die Sefirot. Und Lacie kennt den genauen Aufbau der Anlage. Es kann also nichts schief gehen. Na komm, versuch doch mal etwas positiv zu denken.“ Beyond küsste ihn noch mal und wollte gerade schon mit seinen Annäherungsversuch weitermachen, doch da hämmerte irgendjemand gegen die Tür und sie hörten, dass es Sheol war. „Scheiße Mann, was macht ihr da schon wieder drin? Wollt ihr euch etwa mal wieder gegenseitig die Poperze pudern oder was?“ „Verzieh dich, Giftzwerg“, rief Beyond genervt und wandte sich zur Tür. „Es gibt mehr als nur ein Bad hier im Haus.“ „Ezra blockiert aber gerade das andere, weil er damit beschäftigt ist, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen.“ „Dann warte wenigstens noch einen Augenblick. Und wenn’s nicht geht, dann mach nen Knoten rein!“ Genervt seufzte der Serienmörder und gemeinsam stiegen sie aus der Badewanne. Nachdem sie sich abgetrocknet und je ein Handtuch um die Hüften gewickelt hatten, wurden sie auch schon von Sheol rausgeschmissen. „Ernsthaft“, murmelte Beyond, als sie zurück in ihr Zimmer gingen, um sich anzuziehen. „Der Kleine ist manchmal echt eine Plage…“ Er wirkte schon recht mies gelaunt, weil er sich von dem gemeinsamen Bad schon etwas mehr versprochen hatte. Und eines stand fest: er würde schon dafür sorgen, dass dieser laufende Meter noch sein blaues Wunder erleben würde. „Ich sag dir eines, L: sollte jemals der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass wir beide mal ein Kind haben werden so wie Andy und Oliver, dann hoffe ich, dass es nicht ganz so nervtötend wird.“ „Wie kommst du jetzt auf dieses Thema?“ „Weiß nicht… einfach so.“ Als sie sich fertig angezogen hatten, gingen sie in Richtung Salon und stießen beinahe mit Nastasja zusammen. „Hey ihr beiden, alles in Ordnung?“ „Ja, soweit schon“, antwortete L und sah die Medikamente in ihrer Hand. „Wolltest du zu Ezra?“ Die gebürtige Russin nickte und erzählte, dass sich ihr jüngster Schützling wohl endgültig die Grippe geholt hatte und zudem unter starken Magenbeschwerden litt. „Sheol hat auch schon Fieber und Magenbeschwerden. Bei dem Wetter ist es ja eh kein Wunder. Ich würde euch deshalb raten, den beiden erst mal fern zu bleiben. Ich hab sowieso ein gutes Immunsystem und Elion bzw. Elohim kann nicht krank werden, da sich der Körper automatisch um Mitternacht komplett zurücksetzt. Bei Liam machen die Bazillen freiwillig wieder einen Abgang und die Unvergänglichen können sich sowieso vor Krankheiten schützen.“ Irgendwie schon beneidenswert… Nastasja ging hoch, um die beiden Kranken zu versorgen und als L und Beyond den Salon betraten, fanden sie auch schon Liam und die anderen. Lacie hatte inzwischen ihre Haare getrocknet und frische Kleidung angezogen und sah sich zusammen mit Elohim Dathan und Liam an, die wieder einen Übungskampf durchführten. „Du musst mehr auf deine Beinarbeit achten und nicht gleich bei jedem Angriff das Weite suchen. Manchmal muss man auch abblocken und parieren, hast du verstanden?“ Der Mafiaboss nahm den Ärmsten ziemlich in die Mangel, da er ein ziemlich strenger Lehrmeister war. Und er ging unerbittlich vor, was den armen Dathan nur noch mehr einschüchterte und es ihm unmöglich machte, gegen ihn anzukommen. Schließlich aber ging Elohim dazwischen, da er sich das nicht mit ansehen konnte. „Liam, das hat doch so keinen Sinn. Wenn du ihn noch mehr unter Druck setzt, wird sich doch nichts ändern.“ „Glaubst du etwa, der Alpha-Proxy und dein anderes Ich werden ihn mit Samthandschuhen anfassen? Es geht hier um weitaus mehr als nur um ein bisschen Säbelrasseln und das soll er sich auch mal vor Augen führen. Es geht hier ums Überleben und darum, Jeremiel zu retten und dieses verdammte Projekt zu stoppen, welches schon genug angerichtet hat.“ Doch Elohim blieb bei seiner Meinung und ließ sich von Liam Evas Schwert geben, welches der Mafiaboss in Verwahrung hatte, solange sie noch im Koma lag. Er nahm nun dessen Platz ein und wirkte in diesem Moment wie ein Fels in der Brandung. Von ihm ging eine solche Ruhe aus, dass man meinen konnte, er könnte damit die schwersten Stürme zähmen. „Nivkha, atme tief durch und versuch dich zu entspannen.“ Dathan ließ das Schwert sinken und so langsam schwand auch seine Nervosität, während er die Worte seines Vaters hörte. „Richte den Blick in die Ferne, weit über das Unendliche hinaus und schau nicht nach rechts, oder nach links. Beruhige dein Herz, atme tief durch und lass deinen Körper frei und völlig unverkrampft sein. Entfalte deinen Geist und löse dich von der Vergangenheit und der Zukunft und konzentriere dich einzig und allein auf das Hier und Jetzt. Vergiss dein menschliches Selbst und erinnere dich einfach daran, wie es war, als du dich mit Liams Seele verbunden hast und was du da gefühlt hast. Und lass dieses Ich wieder hervortreten.“ Elohims Worte klangen beinahe hypnotisch und es ging etwas so Beruhigendes von ihm aus. Und tatsächlich schaffte es Dathan, seine Angst abzulegen und als sein Vater zum Angriff ansetzte, konnte er den Schlag parieren. Es entstand ein kleiner Kampf zwischen ihnen und das Klirren von aufeinanderschlagendem Metall erfüllte den Raum. Sie beobachteten den Kampf und waren erstaunt, wie selbstsicher Dathan auf einmal geworden war. Wirkte er vorher noch völlig verkrampft und unsicherer, schien er jetzt viel lockerer und entschlossener zu sein. Es war so, als hätte er nie etwas anderes getan und war gar nicht mehr wiederzuerkennen. Lacie lächelte, als sie diese Szene sah und wandte sich an Liam. „Eine jüdisches Sprichwort besagt: strafe einen Mann mit einer Peitsche und ein Kind mit einem Schnürsenkel. Für einen solchen Charakter wie Dathan braucht es schon mehr Feingefühl. Darum kannst du ihn auch nicht mit einer Peitsche erziehen.“ Liam schwieg und setzte sich erst mal, wobei sein Blick so finster war, dass er damit wirklich jeden in die Flucht geschlagen hätte. Er wusste ja selbst, dass er nicht das nötige Feingefühl für solch einen sensiblen Charakter wie Dathan besaß. Er hatte angenommen, dass der Junge eine starke Hand brauchte, um etwas härter zu werden, aber offenbar war er da auf den Holzweg gewesen. Er war eindeutig der falsche Lehrer für ihn, das ließ sich nicht leugnen. „Die Entitäten sind auch eigentlich keine Kämpfer“, fügte Lacie hinzu und ließ sich von Frederica, mit der sie sich inzwischen angefreundet hatte, einen Earl Grey Tea einschenken. „Und wenn sie kämpfen, dann nur aus dem Grund, weil alles auf dem Spiel steht. Deine Unterrichtsmethode ist nicht verkehrt, aber sie ist nicht für jemanden wie Dathan geeignet. Das Problem bei ihm ist, dass er immer noch viel zu „menschlich“ ist. Er kennt es nicht, wie es sich anfühlt, mehr zu sein als nur ein Mensch und deshalb muss er erst einmal lernen, was es bedeutet, ein Teil der Unendlichkeit zu sein. So zumindest hat Elohim mir das gesagt.“ Sie sahen den beiden noch eine Weile zu, bis Nastasja zurückkam und den Kampf unterbrach. Erschöpft setzte Dathan sich und bekam von Lacie ein Handtuch gereicht. Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter und sagte „Du hast eine sehr gute Grundhaltung und Technik. Einzig an deinem Selbstvertrauen müsstest du arbeiten, dann könntest du mir eines Tages wirklich Konkurrenz machen.“ „Danke, Dad.“ Nastasja räusperte sich und klärte alle über den Grund für ihre Unterbrechung auf. „Also folgendes Problem stellt sich: Ezra hat Grippe und 40°C Fieber und Sheol hat jetzt auch 38,6°C. Leider steht Ezras Zustand nicht zum Besten und sein Fieber steigt noch weiter. Ich versuche es zurzeit noch, mit Medikamenten zu behandeln, aber Fakt ist, dass ich die beiden unmöglich alleine lassen kann. Das Dumme ist nur, dass es sich um eine sehr ansteckende Krankheit handelt…“ „Ich könnte mich um die beiden kümmern“, schlug Frederica vor und hob etwas zögerlich die Hand, um sich zu melden. „Ich kann mich gegen eine Ansteckung besser schützen und ich weiß auch, wie ich mit solchen Fällen umzugehen habe. Immerhin habe ich mich ja auch damals um L gekümmert, als er als Kind hohes Fieber hatte.“ „Wir brauchen aber jede erdenkliche Unterstützung, wenn wir das Institut stürmen wollen“, wandte L ein, der so seine Bedenken hatte. „Vielleicht wäre es besser, wenn du hier bleibst, Mum.“ „Aber im Institut werdet ihr vielleicht ihre Hilfe brauchen. Nastasja ist im Nahkampf besser als ich und sie kennt sich mit den Proxys und den ganzen Experimenten ebenfalls besser aus. Ich habe keinerlei Chancen gegen den Alpha-Proxy und wir dürfen auch nicht die Möglichkeit außer Acht lassen, dass sie weitere Proxys herschicken, um Ezra und Sheol gefangenzunehmen und als Druckmittel gegen uns einzusetzen. Schlimmstenfalls werden sie sie sogar töten. Und in dem Fall ist es besser, wenn ich hier bleibe. Du und Beyond, ihr steckt euch nur an und es nützt nichts, wenn ihr auch krank werdet. Liam ist für den Kampf genauso unersetzlich wie Elohim und Dathan ist stärker als Liam und ich zusammen. Lacie weiß, wie das Institut aufgebaut ist und Nastasja ist mit den Projekten gut vertraut und kennt sich mit allem besser aus. Also ist es die vernünftigste Entscheidung, wenn ich hier bleibe und mich um Sheol und Ezra kümmere. Und sollten uns neue Proxys angreifen, kann ich sie besser bekämpfen und mich auch gegen die Resonanzkatastrophe abschirmen. Menschen können das leider nicht.“ L dachte darüber nach und begann bedächtig auf seiner Daumenkuppe zu kauen. Er wog alle Möglichkeiten ab und versuchte, die bestmögliche Lösung zu finden, aber schlussendlich lief es darauf hinaus, dass Frederica wohl die Einzige war, die dafür infrage kam. Auch wenn es ihm selbst nicht wirklich gefiel, aber es war die beste Entscheidung, wenn sie da blieb, um die anderen zu beschützen. „Also gut“, sagte L nach einer Weile. „Dann wird Frederica also hier bleiben. Und du meinst, du bekommst das wirklich hin?“ „Oh glaub mir, L. Wenn jemand meine Familie bedroht, dann kann ich noch richtig gefährlich werden! Und solange Eva im Koma liegt, werde ich an ihrer Stelle die Familie mit meinem Leben beschützen.“ Frederica war wirklich wild entschlossen und sie glaubten ihr auch, dass sie keine Gnade kennen würde, wenn es jemand wagen sollte, Sheol oder Ezra etwas anzutun. „Okay“, sagte der Detektiv mit den Pandaaugen, nachdem er alles noch mal durchdacht hatte. „Dann bleibt Frederica hier bei den beiden und wir gehen ins Institut. Nachher besprechen wir uns, wie wir dabei vorgehen wollen.“ Kapitel 2: Ein Plan wird geschmiedet ------------------------------------ Während Nastasja Frederica erklärte, was sie zu tun hatte, blieb Dathan eine Weile im Salon sitzen und ruhte sich noch ein wenig vom Training aus. Elohim setzte sich schließlich neben ihn und bemerkte, dass seinem Sprössling etwas auf dem Herzen lastete und fragte nach. Mit einem niedergeschlagenen Seufzer erklärte dieser „Ich würde ja gerne so entschlossen kämpfen können wie du und die anderen, aber… immer wieder bekomme ich es mit der Angst zu tun.“ „Das liegt daran, weil du zu lange ein Leben als Mensch geführt hast“, erklärte Elohim. „Angst zu haben ist nicht schlimm. Ich habe sie ebenso wie du, weil ich nicht will, dass ich jene verliere, die mir wichtig sind und alles wieder von Neuem beginnt. Das Leben als Mensch ist zwar angenehm und diese Welt hier ist im Grunde genommen wie eine Art willkommene Zufluchtsstätte für jene, die nicht in diesem derzeitigen System leben wollen, welches die großen Alten führen. Aber es sperrt dich auch ein. Nicht nur körperlich, weil du als Entität in einem so vergänglichen Körper lebst, sondern auch geistig bist du eingesperrt, weil du vergessen hast, wie es ist, mehr zu sein als nur ein Mensch.“ Nun, da hatte er vielleicht nicht ganz Unrecht, aber Dathan war sich einfach nicht sicher, ob er es überhaupt jemals schaffen würde. Immer wieder, wenn er sich ganz fest vornahm, etwas zu tun und zu schaffen, dann kamen immer diese ganzen Zweifel. „Du blockierst dich selbst in deinem Tun“, erklärte sein Vater und legte einen Arm um ihn. „Indem du mit aller Macht versuchen willst, die Erwartungen der anderen zu erfüllen, werden auch deine Zweifel immer größer. Du blockierst dich dann selbst und dann erstarrst du. Weißt du, wenn man sich diese Welt hier genauer ansieht, dann findest du drei Möglichkeiten, wie Lebewesen einer schwierigen Situation begegnen: 1. sie holen zum Gegenschlag aus, 2. sie ergreifen die Flucht und 3. sie stellen sich tot. Es liegt in ihren Genen. Du gehörst zu der Sorte, die erstarrt, wirklich alles vergisst und kein Wort mehr hervorbringt. Dann bist du so verunsichert, dass du rein gar nichts mehr zustande bringst. Du stellst dich dann ganz einfach tot. Was dir fehlt, ist Gelassenheit und der Blick für das, was dahinter liegt. Als du diese Verbindung zu Liam aufgebaut hast, da warst du furchtlos, ruhig und gelassen, weil du dir in diesem Augenblick deiner Stärken bewusst warst und du den Blick auf das Wesentliche richten konntest. Und das musst du dir einfach wieder bewusst machen. Als ich noch nicht den Blick dafür hatte, da hatte mich Ain unterrichtet und als sie mich dies gelehrt hat, sagte sie „Meine Augen sind die Spiegel der Unendlichkeit. Blicke hindurch und versuche zu erkennen, was weit dahinter liegt. Und wenn du es erfassen kannst, dann wirst du die Antwort auf alle Fragen des Seins beantworten können.“ Deine Mutter war sehr weise und hat mir alles gezeigt, was ich wissen musste. Und eines Tages werde ich mein Wissen an dich weitergeben.“ Dathan schwieg und nahm sich einen Schluck aus der Wasserflasche. Jetzt im Moment erschien es ihm so gut wie unmöglich, das alles jemals wirklich zu begreifen und zu verstehen. Er dachte darüber nach, wie er sich sein weiteres Leben vorgestellt hatte. Er wollte bei Nastasja bleiben und vielleicht auch mal eigene Kinder haben. Ja, er wollte eine Familie gründen und einen Job als Bibliothekar annehmen. Mehr brauchte er auch nicht wirklich. Doch was würde sein Vater dazu sagen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. „Dad…“, begann er nach einigem Zögern. „Es gibt da etwas, was ich dich mal fragen wollte. Weißt du, es gibt da jemanden, den ich sehr mag und… naja…“ „Ich kann es mir schon denken. Es geht um Nastasja, nicht wahr?“ Nun war Dathan überrascht und sah seinen Vater mit seinen rubinroten Augen an. „Du… du weißt es schon?“ Der Unvergängliche musste über die Reaktion seines Sohnes schmunzeln und erklärte „Ich lebe bereit sehr lange. Lange bevor das Universum überhaupt im Begriff war zu entstehen. Und da werde ich doch wohl genug Erfahrung haben, um zu erkennen, wann mein Sohn verliebt ist. Natürlich wusste ich es schon längst und habe mir diesbezüglich auch schon so meine Gedanken gemacht. Weißt du, eine Beziehung zwischen Vergänglichen und Unvergänglichen ist nicht einfach. Im Grunde ist sie auf Dauer kaum möglich, denn du wirst dir immer der Tatsache bewusst sein, dass sie sterben wird und du weiterexistierst. Wie sehr liebst du diese Frau?“ „Mehr als alles andere auf der Welt! Ich will mit ihr für immer zusammenbleiben.“ „Und darin liegt die Problematik“, erklärte Elohim und faltete die Hände. „Du weißt selbst, dass das Leben der Menschen fürchterlich kurz ist. Selbst mit ihrer modernen Medizin werden sie allerhöchstens 100 Jahre alt, vielleicht noch ein paar wenige Jahre darüber hinweg. Aber mehr auch nicht. Nastasja wird in knapp 50 alt und gebrechlich werden. Sie wird nicht immer so jung und vital bleiben können und dann wird der Zeitpunkt kommen, wo du dich um sie kümmern musst. Und was sind denn 50 Jahre für unsere Verhältnisse? Hunderttausend Jahre sind für uns ein kurzer Augenblick, mehr nicht. Die Zeit vergeht sehr schnell, insbesondere in dieser Welt. Sie rast schnell voran und ehe du dich versiehst, werden die Menschen, die du ins Herz geschlossen hast, verstorben sein. Das macht uns eben einsam. Aber das ist noch nicht die einzige Tragödie, die euch erwarten wird. Wenn Menschen alt werden und letztendlich ans Bett gefesselt sind, dann ist es für sie kein Leben mehr, sondern nur noch eine Qual. Das Leben als Mensch ist mit Sicherheit schön, aber das Alter, die Krankheiten und der Tod sind für sie auch eine Strafe und sie haben Angst davor. Alles, was geboren wird, muss sterben. Es wächst und zerfällt dann wieder. Das ist das oberste Gesetz der Vergänglichkeit. Es ist unumstößlich und endgültig, weil Ajin Gamur es selbst so festgelegt hat. Keiner entkommt diesem Gesetz, egal wie viel er kämpft.“ Niedergeschlagen ließ Dathan den Kopf sinken, als er das hörte. So wie es sich anhörte, war ein Glück für ihn zusammen mit Nastasja also unmöglich? Als Elohim die Stimmung bei seinem Sohn bemerkte, lächelte er und erklärte „Nun verliere nicht gleich den Mut. Es gibt Möglichkeiten, wie ihr euer Glück findet.“ „Und wie?“ „Du selbst wirst niemals ein einfacher Mensch werden können, das geht nicht. Also kommen folgende Möglichkeiten in Betracht: 1. Nastasja wird direkt eine von uns, 2. dein Leben verläuft wie bisher, nämlich dass du mit jedem Tod deine Erinnerungen verlierst und auf diese Weise ein Leben als Mensch führen kannst. Oder 3. du bittest Ajin Gamur darum, dir nach Nastasjas Tod ihre Seele zu überlassen. Somit hätte ihr ein Leben als Mensch und würde danach als ein neues Wesen beginnen. Diese Möglichkeiten stehen offen.“ Ajin Gamur? Etwa jener Ajin Gamur, der das höchste aller Wesen war? Dathan musste schlucken, denn er hatte von Nabi einige Geschichten über ihn gehört. Und es waren keine sonderlich angenehmen. Er hatte jetzt schon Schiss davor, ihn darum zu bitten. „Würde er so etwas wirklich tun?“ „Wenn du weißt, wie du ihn darum bitten musst, dann ja. Es empfiehlt sich immer, jemanden mitzunehmen, der einen guten Draht zu ihm hat. Ajin kann sehr… launisch sein. Er ist nicht durch und durch böse, obwohl er es manchmal erscheint, aber er zählt auch nicht zu den Guten. Er steht auf seiner eigenen Seite und lebt nach seinen eigenen Regeln und Gesetzen, weil er sich nach niemandem richten muss. Und auch wenn er sehr stolz, gemütlich und auch manchmal etwas jähzornig ist, so vergisst er niemals, wenn man ihm einen guten Dienst erweist und ihm einen Gefallen tut. Samajim zum Beispiel ist einer von seinen wichtigsten Beratern und genießt sein vollstes Vertrauen, weil er geholfen hat, die angespannte Lage in der Shinigami-Welt zu klären, indem er das Death Note System entwickelt hat. Außerdem hat er den Krieg beendet und Ajin damit eine Menge unangenehmer Arbeit erspart. Und ich habe mich lange Zeit um die Bittsteller gekümmert, damit Ajin seine Ruhe hat. Außerdem stehen wir in einem ganz anderen Verhältnis zueinander, weil ich eine direkte Schöpfung von Ain Soph bin und auch ihr Mann war. Da Ain Soph eine Art Selbstschöpfung aus Ajin war, stehen wir in einer Art Verwandtschaftsverhältnis zueinander. Ain war für ihn so etwas wie sein eigenes Kind und auch sein Augenstern.“ „Wie kann Ain Soph sich selbst erschaffen haben? Das verstehe ich nicht…“ „Das ist ganz einfach. Du hast dieses Phänomen ja auch bei Liam beobachten können. Zu Anfang verkörperte Ajin Gamur das Nichts, die absolute Endgültigkeit. Aber irgendwann begann etwas in ihm zu wachsen. Nämlich der Gedanke daran, dass es vielleicht auch etwas anderes geben könnte als das Nichts. Nämlich das „Alles“. Dieser Gedanke wuchs immer stärker heran, bis er ein Eigenleben entwickelte und sich schließlich von ihm abspaltete. So erschuf Ain Soph sich selbst, oder zumindest indirekt, denn es war Ajin gewesen, der mit diesem Gedanken alles weitere in Bewegung gebracht hatte. Und letztendlich ist aus diesem einfachen Gedanken all das hier nach und nach entstanden. Das ist eben das Geheimnis der Dinge. Ain hatte schon immer eine besondere Stellung bei Ajin gehabt und er konnte die Sefirot noch nie sonderlich ausstehen, weil sie Ains Erbe, nämlich unsere Kinder und mich, mit Füßen treten und sich selbst über alles stellen.“ Dann ist Ajin also so etwas wie mein Urgroßvater? Irgendwie ist das schon recht kompliziert oder ich denke einfach zu eingeschränkt, dachte Dathan und versuchte sich das irgendwie sinnbildlich vorzustellen. Aber dann fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. „Wenn Ain dich doch erschaffen hat, macht dich das irgendwie nicht zu ihrem Sohn?“ „Nicht direkt. Du musst wissen, dass unsere ursprüngliche Form körperlos ist. Wir nahmen nur deshalb eine körperliche Form an, um ein natürliches und funktionierendes Gemeinschaftsleben zu ermöglichen. Im Grunde stehen alle Sefirot, Seraphim und Entitäten lediglich im Schöpfer-und-Schöpfung-Verhältnis zueinander. So wie im Christentum Gott Adam und Eva geschaffen hat und nicht mit ihnen verwandt ist. Deshalb ist es auch möglich, dass wir uns untereinander fortpflanzen können, wenn wir eine körperliche Gestalt annehmen, ohne dass ein direktes Verwandtschaftsverhältnis besteht. Es gibt aber gewisse Ausnahmen, wie zum Beispiel bei Liam und Eva. Nun, ich habe mich sowieso nie großartig damit beschäftigt, weil es für mich keinen Unterschied macht, wer ein Sefirot oder ein Seraphim ist. Aber darum brauchst du dir im Moment keine Gedanken zu machen. Du wirst das alles noch früh genug lernen und verstehen, wenn wir die Zeit dazu haben. Jetzt im Moment gibt es genug andere Dinge, um die wir uns Gedanken machen müssen.“ Damit wollte Elohim aufstehen und gehen, doch Dathan hatte noch eine letzte Frage an ihn, die ihn beschäftigte. „Was sagst du jetzt zu meiner Beziehung mit Nastasja?“ Sein Vater lächelte und tätschelte seinen Kopf. Eine sehr väterliche Geste. „Solange du glücklich mit ihr bist, bin ich es auch. Sie ist eine wunderbare Frau und ich glaube auch, dass du mit ihr die richtige Entscheidung getroffen hast. Dass sie ein Mensch ist, spielt doch in erster Linie keine Rolle. Ich selbst habe mich erst vor kurzem auch in eine Menschenfrau verliebt. Man liebt eben, wen man liebt und es wird nie etwas daran ändern, dass du mein Kind bist.“ Damit verabschiedete sich Elohim und verließ den Salon. Dathan hingegen blieb noch im Salon und dachte über das nach, was sein Vater ihm gesagt hatte. L und Beyond hatten es sich im warmen Kaminzimmer bequem gemacht und waren gerade dabei, einen Plan auszuarbeiten, wie sie weiter vorgehen sollten, wenn sie das Institut stürmen wollten. Doch dazu kam es nicht, weil es an der Tür klingelte und wenig später Frederica in Begleitung mit Nabi kam, der ziemlich nervös wirkte und den Eindruck erweckte, als wolle er schnellstmöglich wieder von hier verschwinden. Wahrscheinlich, weil er fürchtete, seinem Schöpfer zu begegnen, den er vor langer Zeit verraten hatte. „Ich komme im Auftrag von Meister Samajim. Er ist zurzeit außerhalb dieser Welt, da er einige Angelegenheiten zu klären hat. Er hat Ajin Gamur von der Intrige berichtet und beschlossen, noch eine Weile wegzubleiben, da… nun ja… wie drücke ich es am besten aus…“ Nabi wirkte ziemlich nervös und er sah auch recht blass aus. Und als dann auch noch Elohim hereinkam, da sah er einen Moment aus, als würde er gleich einen Herzstillstand erleiden. Er wurde totenbleich und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Elohim selbst wirkte da viel gelassener und wirkte eher etwas verwundert und fragte „Du bist Nabi, nicht wahr?“ Keine Antwort, wahrscheinlich waren dem Ärmsten die Worte im Hals stecken geblieben. Elohim lächelte freundlich und grüßte ihn. „Ich wollte mich bei dir bedanken, dass du damals das Richtige getan und dich gegen mich gestellt hast. Das hat sicherlich sehr viel Mut erfordert. Und vor allem möchte ich dir dafür danken, dass du dich so gut um Samajim kümmerst. Ich weiß ja selbst, wie anstrengend er manchmal sein kann…“ Einen Augenblick blieb Nabi noch in seiner Schockstarre, bis er realisiert hatte, dass die Person vor ihm nicht sein alter Herr und Meister war, der er damals gewesen war. Er war nicht mehr der grausame und hasserfüllte Tyrann, sondern sanftmütig und freundlich. Und das half ihm wohl, seine Angst abzulegen. Etwas unsicher erwiderte er das Lächeln und murmelte „Schon gut… ähm… Ich…“ Er musste sich sammeln und versuchte angestrengt, sich wieder zu erinnern, was er eigentlich sagen sollte. L half ihm schließlich auf die Sprünge. „Samajim ist bei Ajin Gamur, um ihn über die damalige Intrige zu informieren.“ Und damit hatte der Sefira wieder seinen Faden zurück und erzählte weiter. „Ja richtig. Meister Samajim wird noch eine Weile fortbleiben, weil Ajin anscheinend sehr aufgebracht über diese Nachricht war. Und um sicherzugehen, dass es nicht eskaliert, ist er ihm gefolgt.“ „Gute Idee“, meinte Elohim mit einem besorgten Nicken. „Ajins Wutausbrüche enden nicht selten mit verheerenden Katastrophen. Allein schon wenn er Langeweile hat, kann er äußerst gefährlich werden. Und lässt Samajim sonst noch etwas ausrichten?“ „Er sagte, dass Ihr Euch unverzüglich zu Ajin begeben sollt, wenn die Angelegenheit in der Menschenwelt geklärt ist. Näheres weiß ich gerade auch nicht. Bis dahin bin ich solange als Ansprechpartner da, wenn es irgendwelche Fragen geben sollte. Außerdem erstelle ich Meister Samajim Bericht, wie ihr euer Vorgehen planen wollt und wer alles mitkommt. Ach ja! Und ich soll Lacie noch etwas übergeben.“ Damit holte Nabi etwas Kleines hervor, was sich nicht recht erkennen ließ. Da Lacie gerade nicht da war und Elohim anbot, es ihr später zu geben, drückte Nabi es ihm in die Hand. Es sah aus wie ein kleines zusammengerolltes grünes Blatt. „Näheres hat mir Meister Samajim nicht gesagt, aber er meinte, dass das hier die Antwort auf Lacies Frage ist. Es ist ein persönliches Dankeschön für ihre Hilfe.“ Elohim versprach, Lacie die Nachricht auszurichten und ihr dieses kleine Geschenk zu übergeben und setzte sich schließlich zusammen mit Nabi hin. Wenig später kam auch Liam hinzu, der wohl Nabis Anwesenheit gespürt hatte und ahnte, dass irgendetwas Wichtiges besprochen wurde. Sie setzten sich zusammen und L begann aufzuschreiben, wie er sich das vorgestellt hatte. „Wenn wir das Institut infiltrieren, müssen wir schnell und effektiv vorgehen, um möglichst schnell den Alpha-Proxy auszuschalten und Jeremiel zu retten. Deshalb habe ich mir das so vorgestellt: Dathan, Mum und Elohim werden sich um den Alpha-Proxy kümmern. Liam bleibt bei Beyond und mir und wir werden währenddessen versuchen, Jeremiel zu helfen und ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Da der Alpha-Proxy weitaus stärker ist, wird es wichtig sein, ihn so lange es geht aufzuhalten und ihn zu beschäftigen, damit wir uns um Jeremiel kümmern können. Lacie wird uns führen und mit etwas Glück sind Jeremiel und der Alpha-Proxy voneinander getrennt. Dann wird sich die eine Gruppe sich um den Alpha-Proxy kümmern und wir bringen Jeremiel sofort raus, wenn wir ihn von dem Einfluss befreit haben.“ Erwartungsvolle Blicke ruhten auf Nabi, der sich die Aufteilung ansah und dann nickte. „So in der Art hat sich Meister Samajim das auch schon gedacht. Ja, damit dürfte es funktionieren. Okay, wenn ihr euch an diesem Plan haltet, dann dürfte auch eigentlich nichts schief gehen. Ich werde Meister Samajim melden, dass ihr soweit seid und wenn irgendetwas sein sollte, werdet ihr von mir hören. Entschuldigt mich, ich habe noch eine Menge Arbeit zu erledigen, bis mein Herr zurück ist.“ Nabi erhob sich und wollte gehen, doch da hielt Liam ihn noch mit einer wichtigen Frage auf. „Wie geht es eigentlich meiner Schwester? Hat sich da schon irgendetwas getan?“ „Leider nein. Sie liegt immer noch im Koma und es hat sich noch nichts getan. Aber Meister Samajim meinte wohl, dass sich ihr Zustand morgen oder übermorgen bessert und sie dann vielleicht auch langsam wieder aufwacht. Aber im Moment können wir nichts tun als abzuwarten. Immerhin hätte nicht viel gefehlt und sie wäre gestorben. Es war eigentlich schon kurz nach zwölf, als du sie gerettet hast. Deshalb dauert es so lange.“ „Verstehe“, murmelte der Mafiaboss und obwohl er so finster dreinblickte wie sonst immer, so konnte man nach näherem Hinsehen erkennen, dass ihn Schuldgefühle plagten. Immerhin lag Eva ja seinetwegen im Koma. Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, weil sie Angst um ihn und ihre Familie hatte und er hatte viel zu spät erkannt, wieso sie sich all die Jahre so seltsam verhalten hatte. Er hatte geglaubt, dass diese Experimente auf ihre Kappe gingen, weil sie auf diese Weise ihre Familie retten wollte und sich leichtsinnigerweise den Menschen offenbart hatte. Aber im Nachhinein betrachtet konnten weder er noch Eva etwas für die Experimente. Projekt AIN SOPH wurde lange vor Projekt EVA gestartet und im Grunde war dieses zweite Projekt von Frederica und Eva nur deshalb in die Wege geleitet worden, um die Familie zusammenzubringen und den elektrischen Gedankenschaltkreis konstruieren zu lassen, mit dem Andrew und Beyond gerettet werden konnten. Kaum jemand hätte ahnen können, dass all dies solch gewaltige Ausmaßen annehmen und dass sie um das Überleben dieser Welt kämpfen würden. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, die treibende Kraft von Projekt AIN SOPH auszuschalten und somit den ganzen Wahnsinn zu beenden. Schließlich verabschiedete Nabi sich höflich von ihnen und verneigte sich schon fast ehrfürchtig vor Elohim, dem das wohl eher etwas unangenehm war und Nabi daraufhin erklärte, er müsse nicht so dermaßen ehrerbietig sein. Er war einfach nicht der Charaktertyp, dem ein solch unterwürfiges Verhalten wichtig war. Das wäre ihm stattdessen nur irgendwie peinlich. Schließlich setzte sich der Unvergängliche und wirkte zuversichtlich. „Nun, wenn Samajim sagt, dass alles gut wird, dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen. Glaubt mir, einen besseren Kriegsstrategen als ihn gibt es nicht.“ „Aber er lässt sich die Infos einzeln aus der Nase ziehen“, entgegnete L sofort, der noch nicht sonderlich überzeugt war, dass Samajim wirklich so vertrauenswürdig war. Wer nicht alles direkt sagte, sondern nach und nach mit der Wahrheit kam, der war in seinen Augen schon etwas zwielichtig. Doch Elohim erklärte „Wenn er das tut, wird es berechtigte Gründe haben. Ich kenne ihn schon seit er aus Ain Sophs Fragment geboren wurde und er war mir immer ein sehr treuer Freund gewesen. Und von allen Sefirot, die ich je gekannt habe, waren er und Hajjim die vertrauenswürdigsten von allen gewesen. Und wenn er sagt, dass wir mit diesem Plan Erfolg haben, dann stimmt es auch so.“ Nun gut, dann war das geklärt und so würden sie nur noch ein paar letzte Vorbereitungen treffen, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Bei einem so gefährlichen Gegner musste man mit dem Schlimmsten rechnen. Nachdem sie noch eine Weile zusammen da saßen und einzelne Schritte besprachen, verabschiedete sich Elohim, da er mit Dathan noch ein wenig trainieren wollte. So saßen Beyond, L und Liam schließlich alleine da und waren eine Zeit lang in ein tiefes Schweigen versunken. Schließlich aber unterbrach der Serienmörder die Stille mit einem lauten Seufzer und streckte sich schließlich. „Wer hätte wohl gedacht, dass das alles mal so ausufern wird. Wenn man mal bedenkt, wie das alles angefangen hat… Zuerst hat mich L schwer verletzt aufgegabelt und einige Zeit später kam Andy mit einem Chip im Hirn zu mir in die Bar und kurz darauf fing das ganze Durcheinander an. Erst das Gerede mit dem Ursprung der Seele und der unvergänglichen Eva, die wir erst fälschlicherweise mit Frederica verwechselt haben. Dann kam Jeremiel, kurz darauf Evas Zwillingsbruder und dann auch schon die Proxys. Wer hätte gedacht, dass es mal so weit kommen würde, obwohl es ganz zu Anfang so harmlos angefangen hat…“ „Ganz so harmlos nun auch wieder nicht“, entgegnete L und begann nun damit, Zuckerwürfeltürmchen zu bauen. „Immerhin wurdest du mehrmals von Sam Leens angeschossen und am Anfang war das mit uns beiden ja wohl auch nicht ganz so einfach. Immerhin hast du erst versucht, mich zu erwürgen.“ „Hättest du mir eben besser die Handschellen angelegt, statt so einer dämlichen Fußfessel. Als ich aufgewacht bin, dachte ich zuerst, so ein verrückter Emo-Clown würde mich gleich fragen, ob ich Bock auf ein Spielchen hätte.“ „Beim nächsten Mal gibt es gleich die Zwangsjacke. Jeremiel hat ja auch schon bewiesen, dass Handschellen zwecklos sind.“ Und als Beyond darüber nachdachte und offenbar wieder auf irgendwelche Ideen kam, bekam er, wie schon so oft, eins mit der Zeitung übergebraten. „Hey“, rief er protestierend. „Was sollte das? Ich hab doch gar nichts gesagt!“ „Aber gedacht“, erwiderte L und blickte ihn missmutig an. „Und das reicht mir schon bei einem so verdorbenen Subjekt wie dir!“ „Hey, das sag ich deiner Mutter!“ Als Liam das mitbekam, schüttelte er nur verständnislos den Kopf und verschränkte die Arme. „Es ist mir echt ein Rätsel, was du gegen Jeremiels Beziehung mit mir hast. Was bei euch abgeht, ist ja noch um einiges schlimmer…“ Kapitel 3: Sam und Jeremiel --------------------------- Er saß schon die ganze Zeit starr da und sagte nichts. Keine einzige Regung war in seinem Gesicht zu erkennen und seine eisblauen Augen wirkten so leer und ausdruckslos wie der Rest von ihm. Wie eine lebende Puppe. Seit Tagen war er in diesem Zustand und fühlte nichts in sich. Weder Freude noch Trauer und auch seine Erinnerungen an sein altes Leben begannen immer mehr zu verblassen. Er kannte diesen Zustand und er war auch nichts Neues und doch spürte er, dass etwas anders war als zuvor. Was war es bloß, das ihm fehlte? Und wer war er? Niemand… er war Sam Leens. Ein Niemand ohne richtigen Namen, ohne Identität und ohne Zukunft. Er wusste, was das Schicksal für ihn bereithielt und er bedauerte es auch nicht, aber sonderlich freuen konnte er sich auch nicht. Er würde dem Ganzen neutral gegenüberstehen und das alles einfach hinnehmen. Immerhin bestand für ihn keinen Grund, sich dagegen zu sträuben, oder sich unbedingt darum zu reißen. Aber dennoch war irgendetwas nicht mehr wie früher. Zwar fühlte er die Leere in seinem Herzen, aber es war einfach nicht mehr dieselbe Leere wie all die Jahre davor. Denn ihm war, als wäre sie größer geworden… und schmerzhafter. Ja, es tat weh, diese Leere zu spüren und das hatte er noch nie gehabt. Wieso war es so? Noch nie hatte er sich mehr gewünscht, als diese Leere nicht mehr zu spüren. Vielleicht war diese innere Leere ja deshalb noch unerträglicher als zuvor, weil er etwas gehabt und dann wieder verloren hatte. Ja, er hatte Gefühle gekannt und sie wieder verloren. Und er war nicht mal imstande, deswegen traurig zu sein. Nun ja, eigentlich war es nicht er gewesen, der diese Gefühle gehabt hatte, sondern sein anderes Ich. Jeremiel Lawliet, der Mensch in diesem Körper. Und was war er? Ein Proxy? Nein, er war nicht einmal das. Er war ein leeres Gefäß… ein Kokon, der weder Raupe noch Schmetterling war. Nur ein undefinierbares Zwischending und mehr nicht. Und obwohl es ihm eigentlich egal war, weil er sowieso nichts dabei empfand, so wollte ein kleiner Teil von ihm das nicht. Aus welchem irrationalen Grund auch immer. „…weil du weißt, dass es dich töten wird…“ Schon wieder er. Obwohl es eigentlich nicht möglich sein durfte, mischte er sich schon wieder ein. Da half wohl nichts. Sam Leens schloss die Augen und kehrte in sich. Er reiste in diese leere Welt, die ihm gehörte und wo sein Alter Ego eingesperrt worden war. In einem ausbruchsicheren Gefängnis, wo er bleiben würde, bis er endlich für immer restlos verschwand, als hätte er nie existiert. Diese Welt war leer und besaß keine Farben, weder schwarz noch weiß, geschweige denn, dass es hier Licht oder Dunkelheit gab. Es gab nicht einmal ein Geräusch oder die Stille. Sie war mit Worten nicht zu beschreiben und der menschliche Verstand hätte auch nicht ausgereicht, um sie zu begreifen. Denn Menschen konnten nur in diesen Maßstäben denken, weil sie das Nichts nicht erfassen konnten. Anders aber war es bei Sam Leens, dem die emotionalen Sinneseindrücke der Menschen vollkommen fremd waren und er deshalb nichts in seiner Welt bewahren konnte. Deshalb war das Gefängnis, von dem die Rede war, nicht in dem Sinne existent, wie es sich Menschen vielleicht vorstellen würden. Aber um es für alle anderen verständlich zu machen, die nicht in der Lage waren, Sam Leens’ Innerstes zu begreifen, musste man sich solcher Metaphern bedienen, um seiner Sicht wenigstens ein bisschen näher zu kommen. Er stand also vor den Gittern dieser Gefängniszelle und sah sein anderes Ich in einer Ecke kauern. Jeremiel Lawliet, ein Gefangener in der Welt seines alten Ichs und er war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu befreien. Sam Leens trat näher heran und als Jeremiel seine Schritte hörte, schaute er auf und ihre Blicke trafen sich. „Warum bist du hier, Sam?“ fragte er und erhob sich. Er kam zu ihm und blieb direkt vor ihm stehen. Der Emotionslose sah die Angst und den sehnlichen Wunsch seines Gefangenen, dieses Gefängnis zu verlassen. Aber er war auch sehr schwach geworden. Hatte er sich zu Anfang noch heftig gewehrt und ihn sogar noch erfolgreich davon abhalten können, die anderen zu töten, so war er kaum noch in der Lage dazu, aufzustehen. Und es würde nicht mehr lange dauern, bis Jeremiel das letzte bisschen seiner Kraft verließ. Er war dabei, im Nichts zu verschwinden und dann zu einem Teil davon zu werden. Dennoch war trotz der Angst wilde Entschlossenheit zu sehen. Er wollte nicht aufgeben. Und das war Sam ein Rätsel, denn Jeremiel wusste doch, dass er hier niemals mehr herauskommen würde. Es gab für ihn keine Hoffnung mehr. „Erklär es mir“, sagte er tonlos. „Wieso fühlt es sich so anders an als sonst? Meine Brust tut weh und obwohl ich nichts fühle so wie sonst, ist es trotzdem nicht dasselbe.“ „Na weil…“, Jeremiel war blass und sah müde aus. Es fiel ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten. Anscheinend war es nur noch die Willenskraft, die ihn durchhalten ließ. Es war Sam ein einziges Rätsel, was sich dieser Dummkopf davon versprach. „Weil die Leere umso größer ist, wenn man vorher etwas hatte und es dann wieder verliert. Es bleiben immer Spuren zurück und obwohl du keine Gefühle mehr empfindest, so sind die Erinnerungen mit Emotionen verbunden. Sie lösen immer noch eine körperliche Reaktion bei dir aus und der Schmerz in der Brust ist Traurigkeit. Traurigkeit darüber, weil wir beide das Wertvollste verloren haben, was wir besitzen. Nämlich unsere Gefühle und unsere Menschlichkeit. Sam, ich weiß, dass du mir nicht helfen willst und du keinen Grund hast, überhaupt jemandem zu helfen. Aber ich bitte dich, doch mal darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Wenn du wirklich zulässt, dass der Unborn uns vollständig zerstört, werde nicht nur ich verschwinden, sondern auch du.“ „Ich weiß“, sagte Sam tonlos. „Aber dazu sind wir erschaffen worden. Nämlich um Elohim einen neuen Körper zu geben, damit er und Ain Soph wieder erwachen. Einzig und allein zu diesem Zweck existiert dieses Projekt.“ „Das Projekt ist dabei, in eine völlig falsche Richtung zu laufen!“ rief Jeremiel und schlug gegen das Gitter. „Mag sein, dass es zu dem Zweck ins Leben gerufen wurde, um die beiden zurückzuholen und auf diese Weise eine bessere Welt zu erschaffen. Aber Elohims Hass hat ihren Verstand vollkommen beeinflusst und es ist schon lange kein Traum mehr von einer besseren Welt, sondern einzig und allein ein Rachefeldzug und wenn nichts unternommen wird, dann wird es bald nichts mehr geben. Dir mag es ja egal sein, aber mir nicht! Ich will das nicht zulassen, Sam.“ Jeremiel wollte wieder etwas sagen, doch da verließ ihn die Kraft und er sank erschöpft zu Boden, wobei er schwer atmete. Sam betrachtete ihn ausdruckslos. „Du kannst nichts ausrichten. Nicht in deiner jetzigen Verfassung. Du hast ja nicht einmal mehr die Kraft, dich auf den Beinen zu halten.“ „Ich weiß, dass ich nichts mehr ausrichten kann… aber trotzdem will ich nicht aufgeben, weil ich nicht zulassen will, dass dieser Traum von einer besseren Welt zum Alptraum für andere wird. Du kannst es genauso wenig aufhalten. Aber gemeinsam könnten wir es schaffen. Ich bitte dich nur darum, mir noch etwas Zeit zu verschaffen. Ein bisschen Zeit, bis die anderen kommen. Mehr verlange ich nicht.“ „Was könntest du mir schon als Gegenleistung bieten? Du hast nichts, was du mir geben könntest und was mich interessiert.“ Und damit wollte Sam wieder gehen, doch da hielt Jeremiel ihn auf. „Natürlich habe ich etwas, das ich dir bieten könnte.“ Der Emotionslose blieb stehen und wandte sich wieder um. Er war neugierig und wollte hören, was Jeremiel ihm anbot. „Und was?“ „Ein Herz…“ Sein Gefangener wurde immer schwächer. Es war schon fast abzusehen, wann er endgültig zusammenbrechen würde. „Eva hat mir Gefühle gegeben. Und die… kann ich dir… auch geben. Dazu müssen wir nur eins werden. Wenn wir… ein gemeinsames Wesen werden, dann… dann wirst du ein Teil von mir… und… und kannst…“ Er schaffte es nicht mehr, weiterzusprechen. Er drohte, endgültig die Kraft zu verlieren, doch da ergriff Sam Leens seine Hand und gab ihm etwas Energie ab. „Sprich weiter“, wies er ihn an und nachdem Jeremiel halbwegs sein Bewusstsein wiedererlangt hatte, versuchte er wieder Worte zu finden. „Du und ich, wir gehören zusammen. Du bist ein Teil von mir, mein altes Ich. Aber dennoch sind wir verschieden. Man kann die Leere nur füllen, indem man sein Herz mit ihr teilt. Deshalb kann ich dir anbieten, dass wir eins werden. So brauchst du nicht zu verschwinden und bist dann doch in der Lage, dir deinen Wunsch zu erfüllen und Gefühle zu haben.“ „Aber du müsstest mit meinen Erinnerungen leben.“ „Das nehme ich in Kauf. Auch wenn ich nicht akzeptieren kann, was du getan hast, will ich damit leben, weil ich weiß, dass das die Vergangenheit ist. Beyond und die anderen haben mich bei sich aufgenommen und mich als Teil der Familie akzeptiert. Und du kannst auch ein Teil davon sein. Wenn wir beide eins werden, dann werden wir beide ein normales Leben führen können. Und du wärst auch nicht mehr so alleine.“ „Woher weiß ich, dass du nicht versuchst, mich zu täuschen? Welche Garantie kannst du mir geben, dass du dein Wort hältst?“ „Das kann ich nicht“, gab Jeremiel ehrlich zu. „Ich kann dir nur mein Wort geben. Du bist ein Teil von mir, Sam. Und deshalb habe ich eigentlich keinen Grund, dich zu hintergehen.“ Eine Weile stand Sam da und sagte nichts. Ganz kühl und analytisch ging er alles durch und überlegte, wie er sich entscheiden sollte. Er war jemand, der absolut logisch entschied und sich durch nichts anderes beeinflussen ließ. Jeremiel, der langsam merkte, wie ihm die Kraft wieder entzogen wurde, spürte wieder diese lähmende Müdigkeit. Alles in ihm wollte nur noch schlafen und am besten nie wieder aufwachen. Doch er wehrte sich dagegen, auch wenn ihm das zusehends schwerer fiel. Er wusste, dass er verschwinden würde, wenn er einschlief und das konnte er einfach nicht zulassen. Er wusste, dass die anderen alles versuchen würden, um ihn zu retten. Alles, was er brauchte, war Zeit. Dummerweise lief diese ihm so langsam davon und Sam dachte immer noch nach. Die Augen fielen ihm langsam zu und selbst sein Verstand war wie gelähmt. Schlaf… er brauchte Schlaf… Dann aber dachte er wieder an Liam, seine Mutter, an L und die anderen. Daran, dass er sie unbedingt wiedersehen wollte. Und deshalb wollte er auch nicht aufgeben. Aber dann merkte er, wie die Energie wieder in ihn zurückkehrte und die Müdigkeit wich. Ja, er war wieder hellwach und konnte auch wieder aufstehen. Das konnte nur eines bedeuten: Sam ging auf sein Angebot ein. Um sicherzugehen fragte er aber noch „Du bist damit einverstanden?“ „Ja“, sagte der Emotionslose knapp. „Ich werde dir Zeit verschaffen, bis deine Familie kommt, um dich zu retten. Aber auch nur bis dahin. Danach liegt es einzig und allein an ihnen, dich zu retten.“ „Danke, Sam“, sagte Jeremiel und stand wieder auf, wobei sich ihre Blicke trafen. Zwar wusste er, dass sein Alter Ego diese Entscheidung aus rein logischen Gründen getroffen hatte, aber er war dennoch unendlich erleichtert, dass er noch etwas Zeit bekam und wenigstens so lange durchhalten konnte, bis Liam und die anderen kommen würden. Es gab also noch Hoffnung, dass er tatsächlich gerettet werden und dass er endlich zu den anderen zurückkehren konnte. Und die Erleichterung war so groß, dass ihm sogar die Tränen kamen. Sam beobachtete dies und versuchte zu erkennen, was die Uhrsache für diese Reaktion war, denn er verstand einfach beim besten Willen nicht, wieso Jeremiel anfing zu weinen. Aber er wollte es verstehen, auch wenn er wusste, dass er es nicht konnte. „Wieso weinst du?“ „Weil ich froh bin. Manchmal können Menschen auch weinen, wenn sie froh und erleichtert sind. Und ich bin froh, dass es noch eine Chance gibt, dass ich Liam und die anderen wiedersehen kann. Und wenn wir beide eins werden, dann wirst du auch verstehen, wieso. Du wirst sie genauso mögen wie ich. Weißt du, Liam ist manchmal etwas grob und drückt sich nicht immer so aus, wie er eigentlich wollte, aber ich liebe ihn über alles und genauso liebt er auch mich. Und L… nun ja, wir kriegen uns zwar manchmal in die Haare, weil er Liam nicht mag und Beyond ist auch recht frech und nimmt sich so einige Unverschämtheiten heraus, aber er hat mich als Teil der Familie akzeptiert. Trotz der Dinge, die du ihm angetan hast. Ich mach dir da keinen Vorwurf, Sam. Du hast es einfach nicht besser gewusst, weil du doch nur ein Mal in deinem Leben etwas anderes empfinden wolltest, als die Leere in deinem Herzen. Und auch wenn die Dinge, die du getan hast, schlimm sind, habe ich auch Mitleid mit dir. Ich kann mir nicht vorstellen, wie unerträglich es ist, rein gar nichts zu fühlen.“ Sam Leens sagte nichts, er schwieg einfach und sah sein anderes Ich mit einem Blick an, den man unmöglich zu deuten vermochte. „Eine Frage musst du mir aber beantworten, Sam: ist es nicht unerträglich für dich, einsam und unverstanden zu sein und so fremd in dieser Welt zu sein?“ Wieder herrschte einen Moment Pause, in welcher Sam Leens wohl nachdachte. Dann aber antwortete „Ja, das ist es.“ „Kannst du mir mehr darüber erzählen, damit ich dich besser verstehen kann?“ Der Emotionslose verstand nicht, wieso sich sein anderes Ich so für ihn interessierte und schob es einfach darauf, dass es zu diesem Sozialverhalten der Menschen gehörte, dass sie versuchten, einander näher kennen zu lernen, um eine soziale Bindung einzugehen. Nun, er hatte keinen Grund, Jeremiel nichts zu erzählen. Nur fiel es ihm äußerst schwer, die richtigen Worte zu finden. „Es ist, als wärst du keiner von ihnen. Als würdest du in einer Gesellschaft mit Aliens oder Affen leben. Und alles, was bei anderen Gefühle auslöst, so wie ein sonniges oder verregnetes Wetter, Musik, Farben oder andere Menschen und Tiere, lässt dich vollkommen kalt. Du kannst dich über nichts freuen und auch über nichts weinen. Du kannst noch nicht einmal darüber traurig sein, dass du nichts fühlst. Alles, was dir bleibt, ist die Leere. Zwar ist sie nicht unangenehm, angenehm ist sie aber auch nicht und da dich niemand versteht und du niemanden verstehst, versuchst du eben einen Weg zu finden, etwas daran zu ändern. Deshalb beginnst du nach etwas zu suchen, was diese Leere füllen kann und du endlich normal wirst.“ „Verstehe“, murmelte Jeremiel und nickte. „Du hast das alles also nur getan, weil du endlich normal sein und die Menschen verstehen wolltest.“ Sam bestätigte dies und fügte noch hinzu „Ich habe mein ganzes Leben lang die Verhaltensweisen der Menschen studiert und sie in den verschiedensten Situationen und Gefühlslagen beobachtet. Aber wenn die Menschen dir sowieso schon so fremd sind und du noch nie Gefühle gekannt hast und unfähig bist zu verstehen, wieso sie Tränen vergießen oder anfangen zu schreien, dann ist es im Grunde ein nie endender Teufelskreis, in welchem du gefangen bist. Und was bleibt, ist nichts als Hilflosigkeit.“ „Und nun, da ich Gefühle kenne und sie immer noch irgendwo im Gedächtnis vorhanden sind, ist diese Leere nur noch unerträglicher für dich geworden. Das Schicksal kann schon manchmal grausam sein.“ Sam gab darauf keine Antwort und er wusste auch nicht, was er dazu sagen sollte. „Ich frage mich“, sagte er schließlich „wieso ich mir nicht ein eigenes Herz erschaffen konnte, so wie Lacie.“ „Lacie?“ „Proxy-00, unser weibliches Gegenstück, um Ain Soph zurückzuholen. Sie sollte eigentlich wie ich sein, aber da ein Teil von Alice Wammys Seele extrahiert und ihren Körper gepflanzt wurde, ist sie anders.“ „Wahrscheinlich, weil sie dank Alices Erinnerungen in der Lage war, die fehlenden Bruchstücke selbst zu ersetzen. Aber du konntest das nicht, weil du nichts hattest. Deshalb darfst du dir das auch nicht zum Vorwurf machen.“ „Ich mache mir nie Vorwürfe.“ „Weiß ich. Es ist nur als Redensart gemeint.“ Sam Leens sah ihn verständnislos an und begriff nicht, was Jeremiel damit meinte. Dieser war ebenfalls ein bisschen ratlos, aber so langsam verstand er nun, wie es den anderen ergangen war, als er auch dieses ausdruckslose Gesicht hatte und ständig versucht hatte, Menschen anhand von Büchern zu verstehen. Ganz zu schweigen davon, dass er nichts mit Sarkasmus, Ironie und Redewendungen anfangen konnte. Kein Wunder, dass seine Familie auch manchmal ratlos gewesen war. Jeremiel seufzte und schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ich wollte dir nur damit sagen, dass nicht deine Schuld ist. Es war nur eine nett gemeinte Geste meinerseits gewesen.“ Ein einfaches „Aha“ kam zur Antwort und Sam wandte sich ab. „Ich muss wieder zurück.“ Jeremiel nickte und wusste, was das bedeutete: weiterhin hier warten und darauf hoffen, bald hier rausgeholt zu werden. Wie lange er wohl schon hier drin eingesperrt war? Tage? Wochen? Er wusste es selbst nicht genau und er fragte sich, was wohl die anderen machten. Zumindest war es ein Trost für ihn zu wissen, dass Liam nach England gekommen war, nachdem Sam ihm davon erzählt hatte. Naja, im Grunde hatte dieser es nur aus dem Grund getan, um die Reaktion seines Gefangenen beobachten zu können. Aber Jeremiel war ihm dennoch dankbar für diese Information. Seltsamerweise hatte Sam ihn kein einziges Mal gefoltert oder anderweitig gedemütigt, so wie es Beyond ergangen war. Stattdessen sperrte ihn dieser nur weg und kam zwischendurch vorbei, um ihn wie ein Studienobjekt zu beobachten. Das war schon merkwürdig und sah Sam auch eigentlich nicht ähnlich, wo er doch sonst keine Hemmungen hatte, seine Opfer zu foltern, weil er kein Gewissen hatte. Während er so ganz alleine in dieser leeren Welt war, begann er nachzudenken. Vielleicht habe ich für mehr Veränderungen bei ihm gesorgt als gedacht, oder aber es hat sich von selbst in ihm etwas verändert. Ob er mir vielleicht nichts antut, weil er in gewisser Art und Weise nicht will, dass ich verschwinde, weil ich seine einzige Chance bin, sich seinen Traum zu erfüllen? Nun, aus seiner Sicht wäre das jedenfalls logisch. Warum auch sonst sollte er das tun? Na hoffentlich geht alles gut… Ach was. Sie haben Frederica und Liam und dieser Dathan ist ja auch ein Unvergänglicher. Mit Sicherheit wird alles gut werden. Ich muss einfach nur daran glauben, dass mein Bruder es schaffen wird. Immerhin ist er doch L der große Meisterdetektiv und er hat schon Kira in die Knie gezwungen. Da ist so etwas hier doch kein Problem für ihn. Obwohl dieser Gedanke ihn tröstete, hatte er Angst. Dieser unwirkliche Ort, an dem er gefangen war, machte ihm Angst und er wurde immer wieder von dieser quälenden Frage heimgesucht, was wohl passieren würde, wenn das Projekt erfolgreich abgeschlossen wurde, bevor die anderen herkamen. Was wenn Elohim tatsächlich von meinem Körper Besitz ergreift und ich und Sam endgültig verschwinden? Nein, das darf nicht sein. Es darf einfach nicht so weit kommen. Niedergeschlagen setzte er sich in seine Ecke und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er schloss die Augen und begann das Lied zu summen, welches Frederica ihn mal vor einer Weile beigebracht hatte. Sie hatte es L immer vorgesungen, wenn er als kleines Kind traurig oder verängstigt gewesen war und nun sang er es, um sich selbst Mut zu machen. Oh Mann… das Schicksal meinte es wohl wirklich nicht gut mit ihm. „Keine Angst, Jeremiel“, hörte er plötzlich eine Stimme in seinem Kopf sprechen und zog verwundert die Augenbrauen zusammen. „Dein Bruder und die anderen haben schon alle Vorkehrungen getroffen, um dich da rauszuholen.“ „Wer bist du?“ „Ich bin ein Freund. Mein Name ist Elohim. Zumindest seine gute Hälfte, die in Elions Körper wiedergeboren wurde. Da ich als Entität eine weitaus größere Macht besitze als die Sefirot, ist es mir möglich, zu dir durchzudringen. Du musst dir keine Sorgen machen. Dein Bruder und die anderen arbeiten hart daran, das Institut zu stürmen und dir zu helfen. Meinst du, du kannst noch eine Weile durchhalten?“ „Ich denke schon“, antwortete Jeremiel, verstand aber noch nicht so ganz, was das alles zu bedeuten hatte. „Ich habe Sam überreden können, mir noch etwas Zeit zu verschaffen, damit ich durchhalten kann, bis ihr eingetroffen seid. Aber soweit ich weiß, bereiten die schon alles vor, um das Projekt in die nächste Phase einzuleiten. Das heißt, sie werden mir bald eine Art Serum injizieren, durch welches deine andere Hälfte in meinen Körper gelangt und mich endgültig zerstören wird. Sam sagte mir, dass sie noch knapp 40 Stunden brauchen und dann… dann werden sie mir das Mittel spritzen. Und dann ist es endgültig zu spät.“ „Okay, ich hab verstanden. Ich denke, es wird kein Problem sein. Vertrau einfach deinem Bruder und halte noch etwas durch.“ L und die anderen waren also tatsächlich schon fast soweit und würden bald kommen, um ihn zu retten. Diese Nachricht war eine Riesenerleichterung für den 26-jährigen. Endlich hatte er feste Gewissheit, dass er bald gerettet werden würde und dass alles gut ging. Kapitel 4: Der Sturm bricht los ------------------------------- Frederica war gerade dabei, die Laken von Ezras und Sheols Bett zu wechseln und summte gerade eine kleine Melodie vor sich hin, da wurde die Tür geöffnet und Lacie kam herein, die offenbar frische Wäsche dabei hatte. Als das Albinomädchen sie sah, machte sie schon Anstalten, sie wegzuschicken. „Du solltest besser gehen, bevor du dich ansteckst.“ Doch Lacie lächelte nur und erklärte „Soweit ich Nastasja richtig verstanden habe, werden Proxys nicht krank. Es scheint wohl doch einige Vorteile zu haben, kein richtiger Mensch zu sein. Und da du so viel zu tun hast und Elohim mit Dathan trainiert, dachte ich, ich gehe dir ein wenig zur Hand.“ Sie begannen nun gemeinsam damit, die Betten neu zu beziehen. Nachdem Sheol auch noch krank geworden war, hatte man ihn auch hier einquartiert. Während die Betten neu bezogen wurden, waren sie auf beide Badezimmer verteilt worden, da ein heißes Bad ihnen durchaus gut tat. „Wie geht es dir eigentlich damit, dass du erfahren hast, wer du wirklich bist?“ erkundigte sich Frederica und zog die Bettwäsche ab, woraufhin Lacie die neue aufzog. „Naja, es ist immer noch ein herber Schlag für mich“, gab die Engländerin zu. „Aber ich versuche eben das Beste aus meiner Situation zu machen. Und Liams Weisheit hat mich auch zum Nachdenken angeregt. Jene, die besagt, dass einzig und allein die Entscheidungen unser wahres Wesen ausmachen.“ „Oh ja, an dieser Philosophie hat er schon immer festgehalten und glaubt auch fest daran. Und nur weil man kein Mensch ist, bedeutet es noch lange nicht das Ende der Welt. Sheol und Elion geht es auch wunderbar und du hattest immerhin großes Glück und konntest ein normales Leben führen.“ „Mag sein und ich freue mich auch sehr, dass ihr mich in eure Runde aufgenommen habt. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, als würde ich nicht so wirklich dazugehören. Außer Dathan habe ich doch keine direkte Verbindung zur Familie.“ „Nun, du hast ja noch mich. Wenn du erst mal etwas Zeit in unserer Familie verbracht hast, dann wird schon das Gefühl verschwinden, glaub mir ruhig. Niemanden erging es anders.“ „Naja… ich habe nur irgendwie das Gefühl, dass Nastasja mich nicht leiden kann.“ Das Albinomädchen sah sie sprachlos an und konnte sich nicht vorstellen, dass Nastasja sie nicht leiden konnte. So etwas sah ihr doch nicht ähnlich. „Ich glaube, sie war nur etwas misstrauisch, weil du ihrer alten Freundin so ähnlich bist und vielleicht war sie ein bisschen eifersüchtig, weil du so einen engen Draht zu Dathan hast. Sie ist sehr temperamentvoll und manchmal etwas unberechenbar, aber sie begegnet eigentlich jedem freundlich und aufgeschlossen, wenn nichts Gravierendes gegen diese Person spricht. Seit sie die Wahrheit kennt, scheint sie jedenfalls deutlich weniger distanziert zu sein. Mit Sicherheit hast du das nur falsch verstanden. Im Moment ist sie auch sehr angespannt, weil sie Angst um Jeremiel hat und weil sie sich um Ezra Sorgen macht, weil sein Fieber immer weiter steigt und es ihm deswegen so schlecht geht. Außerdem nimmt sie die Sache mit Alice sehr mit, da steht sie eben neben der Spur. Aber mach dir keine Sorgen. Gegen dich hat sie nichts.“ Nachdem sie die Betten fertig bezogen hatten, wollten sie schmutzige Wäsche nach unten bringen und unterhielten sich dabei weiter. Sie verstanden sich sehr gut und pflegten inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis zueinander. Wahrscheinlich war der Grund dafür, weil sie beide versucht hatten, anderen zu helfen und sie näher zusammenzubringen und sich auch sonst recht ähnlich waren. Schließlich holte Lacie etwas aus ihrer Rocktasche hervor. Es war eine Kette mit einem Schmetterlingsanhänger. „Hier, die wird dir sicher stehen.“ Fredericas Augen wurden groß, denn sie hatte noch nie Schmuck getragen, da sie noch nie einen Anlass gesehen hatte. Sie betrachtete die silberne Kette und den Schmetterling und war gerührt. „Danke, die Kette ist wirklich schön. Aber das ist doch wirklich nicht nötig.“ „Ach was. Ich finde, du könntest dich auch mal trauen, Schmuck zu tragen, du bist doch ein hübsches Mädchen. Und außerdem ist der Schmetterling ein Glücksbringer, zumindest ist er das für mich. Wer weiß… vielleicht hilft er dir eines Tages, einen Partner zu finden, der dich glücklich machen kann.“ Frederica errötete und wich etwas verlegen Lacies Blick aus und sagte nichts. Nachdem sie mit der Arbeit fertig waren, brachten sie die beiden Kranken zurück ins Bett. Ezra sah wirklich furchtbar aus. Er hustete viel und war ziemlich bleich geworden. Nachdem er es nicht mehr geschafft hatte, alleine in sein Zimmer zurückzugehen, trug Lacie ihn auf den Rücken. „Wie geht es dir denn?“ fragte sie den 16-jährigen, der aussah, als würde er gleich vor Erschöpfung einschlafen. „Wirklich klasse, ich könnte Bäume ausreißen“, antwortete er sarkastisch. „Scheiß Krankheit… und wie geht’s bei euch voran?“ „Nun, L hat offenbar schon einen Plan ausgearbeitet, soweit ich das richtig gehört habe. Demnach dürfte also nichts schief gehen.“ „Na wenigstens halten wir euch nicht auf…“ „Ach was. Es konnte doch niemand ahnen, dass du krank wirst. Und wenn diese ganze Sache vorbei ist, kommt Elion ja auch wieder zurück und kann sich um dich kümmern.“ Als Ezra sich ins Bett gelegt hatte, schlief er sogleich wieder ein und leise gingen sie und Frederica wieder raus. Auf dem Flur trafen sie Nastasja, die die Medikamentenboxen vorbereitet hatte und sie Frederica gab. „So, darin befinden sich die Antibiotika und Hydromorphon zur Fiebersenkung für Ezra. Sheol bekommt das Paracetamol. Sorg dafür, dass sie ausreichend trinken und die Medikamente zu sich nehmen. Sheol schludert da ganz gerne und Ezra bringst du auch nur mit Mühe dazu. Und pass auf, dass Sheol auch im Bett bleibt. Du weißt ja, wie er ist.“ Während Nastasja Frederica noch Anweisungen gab, blieb Lacie erst einmal unsicher stehen, aber dann beschloss sie, besser zu gehen. Hier wurde sie sowieso nicht mehr gebraucht. Sie ging in Richtung Küche und kochte einen Kaffee, während sie nachdachte. Darüber, wie es weitergehen sollte für sie. Und irgendwie wurde sie dabei von einer seltsamen Melancholie ergriffen. Diese Familie war wirklich herzlich und jeder kümmerte sich um den anderen. Und doch hatte sie irgendwie das Gefühl, als gehöre sie nicht hier rein. Ob die anderen mir nicht trauen? Ob ich vielleicht unerwünscht bin? Lacie atmete geräuschvoll aus, lehnte sich gegen den Herd und sah zum Fenster raus. Vielleicht war es ja auch besser so. „Lacie?“ Elohim kam herein und schien nach ihr gesucht zu haben. „Bist du mit dem Training schon fertig?“ fragte sie erstaunt und sah ihn mit ihren blauen Augen an, die so tief und unergründlich wirkten. „Ich will Nivkha eine kleine Pause gönnen, aber er macht seine Sache bisher ganz gut. Wie geht es dir denn? Bedrückt dich etwas?“ „Ich habe nur das Gefühl, hier nicht reinzupassen. Vielleicht rede ich mir das ja auch nur ein.“ „Ach Unsinn. Wenn sie dich nicht gewollt hätten, dann hätte ich es sofort gespürt. Es ist nur die Anspannung. Kann es sein, dass du wegen deiner Vergangenheit so verunsichert bist?“ „Schon möglich. Es ist auch nicht sonderlich schön zu erfahren, dass alles, was einen ausmacht, nicht einem selbst gehört. Im Grunde ist „Lacie Dravis“ nur das Produkt einer Mischung aus Fragmenten von Alice Wammy und Ain Soph. Außer meinen Erinnerungen während der Zeit, als ich als Lacie gelebt habe, gehört sonst nichts mir. Woher soll ich denn wissen, dass diese Liebe, die ich für dich empfinde, auch wirklich meine ist und nicht die von Ain? Ich weiß einfach nicht, wer ich bin und das verunsichert mich eben. Schon mein ganzes Leben habe ich mich genau das gefragt und nun bin ich eben noch mehr verunsichert und weiß nicht wohin.“ Elohim nahm sie in den Arm und sofort erwiderte Lacie diese Geste. „Wenn du nicht weißt wohin, dann ist diese Familie doch die richtige Anlaufstelle. Alle, die hier sind, wussten nicht, wohin sie sonst gehen sollten. Ach ja, bevor ich es vergesse: Nabi war vorhin hier und hat das hier für dich da gelassen. Es ist ein kleines Geschenk von Samajim und soll wohl deine Frage beantworten.“ Damit drückte er ihr das kleine Objekt in die Hand, was wie ein zusammengewickeltes Blatt aussah. Lacie betrachtete es schweigend und war sich offenbar erst nicht sicher. Aber dann lächelte sie und nickte. „Danke.“ Sie küsste ihn und drückte sich fest an ihn. „Vielleicht brauche ich einfach erst mal eine Zeit, bis ich diesen Schock verkraftet habe, dass ich nicht Lacie Dravis bin.“ „Egal wer du auch bist. An meinen Gefühlen für dich wird es nichts ändern.“ Beyond ging immer wieder innerlich den Plan durch und sah ein wenig müde aus. Kein Wunder. Er war genauso unruhig wie L und war auch froh, wenn es endlich vorbei war. Müde legte er seinen Kopf auf L’s Schulter ab und schloss die Augen. „Irgendwie sind alle ziemlich angespannt. Man merkt echt diese unruhige Atmosphäre, ne?“ „Eigentlich auch nicht verwunderlich. Immerhin sind wir fast soweit, dass wir das Institut stürmen können. Und da darf eben nichts schief gehen.“ Beyond gab nur ein zustimmendes „hm“ von sich. Er hatte auch schon mit Andrew und Rumiko über Webcam gechattet um nachzuhören, wie zuhause die Lage war. Nun, es war schon beruhigend zu hören, dass bei denen alles in bester Ordnung war und es ihnen gut ging. Rumiko hatte zwar kleinere Stimmungsschwankungen wegen der Schwangerschaft, aber ansonsten ging es ihrer Familie bestens. Andrew und Oliver steckten momentan im Stress, weil sie an der Entwicklung einer neuen Maschine arbeiteten und die Programmierung offenbar nicht funktionieren wollte (was insbesondere Oliver nervte). Aber sonst ging es auch ihnen wunderbar und sie zeigten ihm überglücklich das letzte Ultraschallbild ihrer kleinen Tochter Charity. Es war zumindest eine kleine Aufmunterung gewesen und sogleich hatte Beyond auch von dem neuesten Stand der Dinge berichtet und dass sie nicht nur einen weiteren Proxy gefunden hätten, sondern dass Nastasja auch noch einen Freund hatte. Das machte das Paar schon sprachlos und sofort hatten sie auch mehr wissen wollen und Beyond war ja nicht wirklich derjenige, der sich mit solchen Infos zurückhielt. Aber dann war er auch auf ein ernsteres Thema zu sprechen gekommen, nämlich Jeremiels Entführung und was es mit ihm und Projekt AIN SOPH wirklich auf sich hatte. Das Gespräch hatte sich knapp drei Stunden hingezogen und da war es eben auch ziemlich spät geworden, weshalb er auch nur recht wenig Schlaf gefunden hatte. Aber zumindest hatte das Gespräch seine Stimmung deutlich gebessert und auch Rumiko hatte ihm angeraten, ein Auge auf L zu haben, eben weil es ihm nicht gut ging. „Wir haben ja zum Glück Lacie und die kennt sich im Institut aus. Und das ist doch schon mal was. Sie und Frederica sind ziemlich optimistisch, dass das alles schon klappt, also…“ Und hier schlang Beyond seine Arme um ihn, „da kannst du dich auch ein klein wenig entspannen.“ L war in ein nachdenkliches Schweigen versunken und seine Laune besserte sich auch nicht sonderlich. Auch nicht, als Frederica und Lacie mit Kaffee und Süßgebäck dazukamen. Die bedrückte Stimmung war nicht zu übersehen und sofort fragte das Albinomädchen auch „Ist irgendetwas vorgefallen?“ „Nein. L macht sich nur eben Sorgen, dass etwas schief gehen könnte und dass seinem Bruder etwas passiert.“ „Kann ich verstehen“, seufzte Frederica. „Wenn ich in deiner Situation wäre, dann würde es mir auch nicht anders ergehen.“ „Keine Sorge“, sagte Lacie und lächelte zuversichtlich. „Ich kenne mich im Institut hervorragend aus und selbst Samajim sagt, es wird alles klappen. Und ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben um dafür zu sorgen, dass ihr alle heil raus kommt. Ich mag zwar keine besonderen Kräfte haben, aber ich denke in solchen Momenten an einen Spruch von Joseph, mit dem er Alice immer Mut machen wollte: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und es mag ja sein, dass das Projekt viele Opfer eingefordert hat, aber es hat auch Gutes bewirkt. Ich meine… ohne dieses Projekt wäre Elion genauso wenig geboren worden wie ich und es hat euch alle zusammengebracht. Dathan hat seinen Vater und Samajim einen guten Freund wieder. Und es besteht Hoffnung, dass Elohim endlich Gerechtigkeit widerfährt nach allem, was ihm angetan wurde. Man kann es ja sehen, wie man will. Natürlich kann ich nicht abstreiten, dass Projekt AIN SOPH deine Familie zerstört hat, L. Aber wäre dieses Projekt nicht gewesen, hätte es auch Projekt EVA wohl kaum gegeben und die Familienzusammenführung hätte nicht stattfinden können. Eva und Liam wären immer noch zerstritten und Ezra hätte niemals eine so liebevolle Familie gefunden. Das Projekt ist zwar in eine völlig falsche Richtung verlaufen, aber es hat auch Gutes bewirkt, auch wenn es paradox klingt. Man muss nur versuchen, auch das Licht zu sehen und zu versuchen, das Beste daraus zu machen.“ „So ganz unrecht hat sie nicht“, sagte Beyond und nickte. „Dass das Projekt viele Tote zu verbuchen hat und dass Elion und Sheol ziemlich viel durchmachen mussten, kann keiner abstreiten. Aber wäre es nicht gewesen, dann hätten wir alle einander nicht kennen gelernt. Andy wäre gestorben und hätte Oliver nicht heiraten können. Und jetzt werden die beiden bald Väter. Und deine Mutter hat jetzt Dathan und ohne dieses Projekt wäre er auch ganz alleine.“ Ja, man konnte es sehen wie man wollte. Und auch wenn L in erster Linie nur die Zerstörung seiner Familie, den Tod von einigen Proxys und dann auch noch Fredericas Martyrium sah, so hatte das alles sie zu einer großen Familie zusammengeschweißt. Das Projekt hatte wirklich seine Licht- und Schattenseiten. Schließlich aber fiel Lacie ein Brief auf, der auf dem Tisch lag. Sie hob ihn auf und las ihn, wobei sie aber etwas verwundert die Stirn runzelte. „Woher habt ihr das?“ „Den Brief hatte Samsara bei sich, eine der Proxy-Schwestern. Das war diejenige, die Selbstmord begangen hat.“ Lacie las sich den Brief aufmerksam durch und ihr Blick wurde ernst. Sie murmelte leise etwas und ließ dann den Brief sinken. L entging nicht, dass sie angestrengt über etwas nachdachte und fragte auch „Kannst du dich noch an etwas erinnern?“ Doch sie antwortete nicht. Sie wirkte vollkommen geistesabwesend und selbst als Frederica vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter legte, sagte sie nichts. Dann aber weiteten sich ihre Augen. Sie sah schon fast entsetzt aus und dann rannte sie auch schon hinaus und eilte davon. Sofort erhoben sich L und Beyond, denn so wie es aussah, schien da irgendetwas nicht zu stimmen. Offenbar hatte sich Lacie an etwas ungeheuer Wichtiges erinnert, aber warum sie auf einmal losgestürmt war, als wäre sie auf der Flucht, das konnten sie sich nicht erklären. Frederica folgte ihnen ebenfalls und als sie nach unten kamen, sahen sie auch schon, wie Lacie Elohims Arm ergriff und rief „Wir müssen sofort ins Krankenhaus, schnell!“ Sie war mit einem Male völlig aufgebracht, wo sie doch immer so ruhig und beherrscht war. Es musste irgendetwas Schlimmes sein und es bereitete auch L Sorgen und bevor Elohim etwas sagen konnte, fragte L auch schon „Was ist denn los, Lacie? Hast du dich an irgendetwas erinnert?“ „Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Wenn wir nicht schnellstens zum Krankenhaus fahren, wird Watari sterben. Bitte, wir müssen sofort los!“ „Watari wird sterben?“ Nastasja, die das alles von der Küche aus mitbekommen hatte, warf das Geschirrtuch beiseite und zog sofort ihren Mantel an. „Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren.“ Sie eilten sofort zu Lacies Wagen und nachdem sich alle angeschnallt hatten, fuhren sie auch schon los. Lacie drückte das Gaspedal durch und raste in halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen. Sie mussten sich festhalten, als sie um die Kurve schlitterten und die eine oder andere rote Ampel überfuhren. Natürlich wollten sie wissen, was denn los war und wieso die Engländerin so hektisch und panisch war. Aber sie ahnten, dass sie nicht in der Verfassung war, jetzt in dieser Situation zu antworten. Und man konnte die Angst in ihren Augen sehen. Vor irgendetwas hatte sie große Angst. „Hoffentlich sind wir nicht zu spät…“ Das war das Einzige, was sie sagte. Watari fühlte sich inzwischen viel besser als die letzten Tage, auch wenn die Untersuchungen schon anstrengend gewesen waren. Zwischendurch hatte er Besuch von ein paar alten Freunden gehabt, die er noch von früher kannte und zu denen er Kontakt aufgenommen hatte. Insbesondere über McFinnigans Besuch hatte er sich gefreut. Er wusste ja, dass L und die anderen momentan nicht die Zeit hatten, ihn zu besuchen. Und er verstand es auch, weil es so viel Wichtigeres gab. Immerhin schwebte Jeremiel in Lebensgefahr und der Alpha-Proxy trieb sein Unwesen. Da brauchten sie ihre ganze Energie und Konzentration und er… er war ausrangiert. Ein alter Mann mit schwachem Herzen, der nichts mehr ausrichten konnte. Wenigstens war Nastasja kurz zu Besuch gekommen und hatte ein paar Partien Schach mit ihm gespielt und ihm berichtet, was sie herausgefunden hatten. Und sie hatte ihm erzählt, was es mit Lacies wahrer Identität auf sich hatte. Umso mehr hatte es ihn erschüttert, dass er im Grunde so wenig über seine Tochter gewusst hatte. Dass sie ein Teil von Projekt Ain Soph gewesen war, dass Will Duncan sie vergewaltigt und in der Silvesternacht von der Straße abgedrängt hatte, um sie daran zu hindern, zur Polizei zu gehen. Und dann auch noch, dass Alice niemals Ärztin, sondern Schriftstellerin werden wollte. Er hatte ihr erstes Buch „Die Stadt meiner Träume“ gelesen, welches sie unter dem Pseudonym Celia Walters geschrieben hatte. Es war ein witzig geschriebenes, gut durchdachtes und vor allem unterhaltsames Buch. Alice hatte ein unfassbar großes Talent zum Schreiben gehabt. Das, was da geschrieben worden war, war nicht die stille und verschlossene Alice. In ihren Büchern war sie regelrecht aufgeblüht und man merkte auch, wie viel Freude ihr das bereitet hatte. Und er hatte es einfach nicht erkannt, sondern sie stattdessen zu etwas gedrängt, was sie nicht wollte. Alice hatte Krankenhäuser gehasst, sie hatte unter dem ganzen Druck gelitten und sie konnte ihm nicht mal sagen, dass sie diesen Joseph Brown liebte. Wie viel hatte er denn überhaupt von seiner Tochter gewusst? Eigentlich gar nichts und das war für einen alleinerziehenden Vater doch ein absolutes Armutszeugnis. Aber zumindest verstand er nun, wieso Lacie Kontakt zu ihm aufgenommen hatte und wieso sie Alice so ähnlich war: sie trug einen Teil seiner Tochter in sich und lebte ihre Träume weiter. Im Grunde war Lacie genau die Person, die Alice geworden wäre, wenn sie nicht dieses Medizinstudium begonnen hätte… wenn sie einfach ihre eigenen Wünsche durchgesetzt hätte… Während er so seinen Gedanken nachging und ihm die eine oder andere Träne kam, bemerkte er gar nicht, dass da plötzlich jemand bei ihm im Zimmer war und die Tür abgeschlossen hatte. Es war eine Person mit Motorradhelm und verdunkeltem Visier. Sie trug einen schwarzen Lederanzug, sodass man deutlich erkennen konnte, dass es sich um eine Frau handelte. Sie hatte ein Schwert bei sich und ging langsam und lautlos zu ihm hin. Und als er sie sah, da erkannte er sie wieder. Es war der Alpha-Proxy vom Friedhof. „So sieht man sich wieder, alter Mann“, erklang die elektronisch verzerrte Stimme und damit zog die Maskierte ihr Schwert. Es hatte eine durchsichtige Klinge, die aber aussah, als wäre sie zersprungen und wieder zusammengesetzt worden. Sie war im Inneren gebrochen und sah zersplittert aus. Watari blieb regungslos sitzen und wusste, dass er keinerlei Chancen gegen sie hatte. Und er wusste, weshalb sie gekommen war: sie wollte ihn töten. „Trauerst du immer noch der Vergangenheit nach? Das bringt dir deine Tochter auch nicht zurück. Aber glaub mir, freiwillig würde sie zu so einem Rabenvater wie dir ja sowieso nicht zurück wollen. Wie viele Leben hast du zerstört? Wie fühlt es sich an, das Blut anderer Menschen an den Händen kleben zu haben und zu wissen, dass du am Tod deiner einzigen Tochter Mitschuld hast?“ Diese Frau… sie hatte behauptet, Alices Mörderin zu sein. Aber Lacie hatte doch gesagt, Will Duncan hätte den Unfall herbeigeführt, indem er Alice von der Straße abgedrängt hatte. „Was hast du mit meiner Tochter zu schaffen gehabt?“ „Sie hat mich erschaffen. Genauso wie all die anderen Proxys bin ich das Produkt all dieser ganzen Forschungen.“ „Und wieso behauptest du, du hättest sie umgebracht, wenn Alice doch von Will ermordet wurde?“ Der Alpha-Proxy ließ ein gehässiges Lachen ertönen und durch den Stimmenverzerrer klang es unheimlich und bizarr. „Du stellst ja viele Fragen für jemanden, der gleich sterben wird. Aber da ich ja nicht unhöflich bin, werde ich mal nicht so sein. Alice ist bei dem Unfall nicht gestorben, sie hat überlebt. Aber nicht lange. Sie wollte dieses Leben nicht mehr und hat es nicht mehr ertragen. Und da habe ich ihr den Gefallen erwiesen und sie endgültig von ihrem Leid erlöst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar sie mir dafür gewesen ist. Und nun ist es an der Zeit, dass du für deine Verbrechen bezahlst, alter Mann.“ Und damit kam der Alpha-Proxy näher und erhob die Klinge, bereit zum tödlichen Schlag. Watari machte keine Anstalten zu fliehen. Er wusste sowieso, dass er hier nicht lebend rauskam. Wenn er schon sterben musste, dann würde er dem Tod auch ins Gesicht sehen und keine Angst haben. Vielleicht war dies ja auch die gerechte Strafe dafür, dass er Mitschuld am Tod seiner Tochter trug und damals einen verzweifelten Waisenjungen in den Selbstmord getrieben hatte… Kapitel 5: Tiefer Schmerz und brennender Hass --------------------------------------------- Der Alpha-Proxy machte sich bereit zum Schlag und Watari blieb regungslos sitzen und erwartete den Hieb, der sein Leben beenden würde. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Dieser Gegner war zu stark und er mit seinem kranken Herzen würde sowieso nicht mehr viel ausrichten können. Insgeheim hatte er schon geahnt, dass es früher oder später dazu kommen würde… Aber er hatte es eh nicht besser verdient. Allein schon deshalb nicht, weil durch seine Schuld Menschen zu Tode gekommen waren. Er faltete die Hände wie zum Gebet und senkte reuevoll und traurig den Blick. „Es tut mir alles so leid“, sagte er mit schwacher Stimme. „Ich hatte nie gewollt, dass dies alles so weit kommen musste.“ „Dafür ist es nun ein wenig zu spät, du alter Bock. Und nun stirb endlich für das, was du getan hast!“ Watari sah die transparente, durch Risse und Sprünge verunstaltete Klinge, die auf ihn gerichtet war und direkt auf sein Herz zielte. Nun war es also vorbei. Mit 74 Jahren würde sein Leben hier enden. Nun, vielleicht war es auch so am besten. Immerhin hatte er schon genug Sünden auf sich geladen, die er nicht wieder gut machen konnte. Er konnte seiner Tochter nicht mehr sagen, wie sehr es ihm leid tat, dass er ihr all diese Dinge zugemutet und ihr seine Interessen aufgeladen hatte, anstatt sie nach ihren Wünschen zu fragen. Er hatte sie in die Medikamentenabhängigkeit getrieben und war nicht für sie da gewesen, als sie ihn gebraucht hatte. Stattdessen hatte er sie einfach weggeschickt, als sie ihm von der Vergewaltigung erzählen wollte. Und er hatte weggeschaut, als es Andrew schlecht ging. Anstatt ihm zu helfen, seine Depressionen zu bekämpfen, hatte er ihn unter so einen enormen Leistungsdruck gesetzt und ihn letztendlich in den Selbstmord getrieben. Warum nur hatte er nicht schon viel früher erkannt, was da alles so im Argen lag? Wie hatte er nur so blind sein können? Was, wenn es L ähnlich ergangen wäre, wenn Beyond nicht in sein Leben getreten wäre? Ob er eines Tages irgendwann genauso zusammengebrochen wäre wie Andrew und Alice? Nun, im Grunde war dieser Gedanke jetzt auch vollkommen bedeutungslos. Er hatte Frederica die Aufgabe überlassen, sich um die beiden zu kümmern und nun war es ohnehin zu spät. Er würde hier sterben und er fragte sich, ob er im Jenseits wohl seine kleine Alice wiedersehen und ob sie ihm seine Fehler jemals verzeihen würde. Was wohl seine Frau Teresa sagen würde, wenn sie sich auf der anderen Seite begegneten? Ach er wünschte sich, er könnte die Zeit noch mal komplett zurückdrehen und alles anders machen. Er hätte Alice einfach ihr Ding machen lassen, damit sie sich ihren Traum von einer berühmten Schriftstellerin erfüllen konnte. Er hätte die Tatsache akzeptiert, dass sie Medizin hasste genauso wie Krankenhäuser und dass sie einfach keine Ärztin werden wollte. Ebenso hätte er dafür gesorgt, dass Andrew professionelle Hilfe bekam, um dieses schwere Trauma zu verarbeiten. Vielleicht wären all diese Dinge ja nicht passiert, hätte er einfach mal seiner Tochter zugehört. Bevor jedoch der Schlag erfolgen konnte, der sein Leben beenden sollte, wurde die Tür urplötzlich aufgestoßen und das mit solcher Kraft, dass sie fast aus den Angeln gerissen wurde. Sofort hielt der Alpha-Proxy inne und erstarrte kurz mitten in der Bewegung und auch Watari wandte sich zur Tür. Lacie und Elohim standen im Türrahmen und waren recht außer Atem, als wären sie hierher gerannt. Als der Unvergängliche die Maskierte sah und die Situation schnell erfasst hatte, zog er blitzschnell Evas Schwert, welches er mitgenommen hatte und blockte den Angriff ab, der kurz danach folgte und den alten Mann fast getötet hätte. Sie waren noch im allerletzten Moment gekommen, bevor es endgültig zu spät gewesen wäre. „Watari!“ rief Lacie und eilte direkt zu dem alten Mann hin, der immer noch mit dem Schreck zu kämpfen hatte, Nastasja folgte ihr, um nach dem Rechten zu sehen. Denn es stand zur Befürchtung, dass der gebürtige Erfinder durch diesen heftigen Schreck einen erneuten Herzinfarkt erleiden könnte. Elohim stieß den Alpha-Proxy zurück und stellte sich schützend vor die anderen und schnitt somit den Weg ab. Er bereitete sich auf den Angriff vor und hielt das Schwert fest in den Händen. Doch die Maskierte lachte nur, als sie ihn sah und schnell erkannte, dass es nicht Elion war, der da stand, sondern Elohim. „Soso, dann bist du also doch noch endlich wach geworden. Freut mich sehr, dich auch mal persönlich zu sehen, Elohim. Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie lange ich schon auf diesen einen Augenblick gewartet habe, wo wir uns endlich gegenüberstehen werden. Und wie sich zeigt, hat sich das Warten durchaus gelohnt. Gut siehst du aus. Wenn nur nicht dieser jämmerliche Proxy-Körper wäre, der so gar nicht zu dir passt und doch eigentlich unter deiner Würde ist, hm?“ Elohim erwiderte nichts darauf, sondern baute sich direkt vor seiner Kontrahentin auf und wilde Entschlossenheit war in seinem Blick zu sehen. Obwohl er Gewalt verabscheute und verurteilte, so würde er mit Sicherheit nicht zulassen, dass seine andere Hälfte noch mehr Schaden anrichtete und unschuldige Menschen tötete. Dieses Mal würde er kämpfen und nicht zulassen, dass seinetwegen erneut alles ins Chaos gestürzt werden würde. Und noch einmal wollte er auch gewiss nicht seinen Sohn verlieren, den er damals für tot gehalten hatte und der gänzlich ohne ihn aufwachsen musste. Für sein anderes Ich, welches nicht einmal davor zurückschreckte, seinem Sohn etwas anzutun, empfand er im Grunde fast genauso viel Abscheu wie für die Mörder seiner Kinder und seines Freundes Hajjim. „Wie viel Hass und Zorn erfordert es, um einen alten wehrlosen Mann anzugreifen? Selbst wenn du meine dunkle Seite in dir trägst, solltest du doch genügend Anstand haben, dich nicht an Menschen zu vergreifen, die völlig wehrlos sind und nichts getan haben, was den Tod verdienen würde!“ „Er ist nicht weniger schuldig als ich und an seinen Händen klebt ebenso viel Blut“, erwiderte die Maskierte kalt und machte sich ebenfalls bereit. Fest stand, dass dieser Kampf nicht leicht werden würde. Und keiner würde Gnade walten lassen, sondern gleich aufs Ganze gehen. Die Ansichten, Gefühle und Ziele waren einfach viel zu unterschiedlich, als dass man es anders hätte klären können. „Er lebt schon viel zu lange und es ist allein seine Schuld, dass es überhaupt erst so weit kommen musste. Und mir ist es herzlich egal, ob es Frauen, alte Leute oder Kinder sind, die der Säuberung zum Opfer fallen werden. Sie lassen mir doch keine andere Wahl und ihr Tod ist eine Notwendigkeit, um endlich den Frieden zurückzubringen! Diese Welt ist doch sowieso schon verdorben genug und ich sehe mir dieses Elend nicht einen Tag länger mit an. Du müsstest doch am besten verstehen, was ich meine. Immerhin haben sie dir doch deine geliebten Kinder und deinen besten Freund genommen und dich wie einen Schwerverbrecher behandelt. Sie haben ein Komplott geschmiedet, um dich zu vernichten und sind letzten Endes damit durchgekommen. Du hast alles getan, um Gerechtigkeit einzufordern, aber sie haben sich alle gegen dich verschworen und sich darüber lustig gemacht, dass du nichts tun konntest, als sie deinen Sohn Kohen vor deinen Augen enthauptet haben. Und letztendlich haben dich sogar noch jene im Stich gelassen, die eigentlich auf deiner Seite waren. War es denn nicht so, dass sogar Samajim geglaubt hat, du hättest deinen besten Freund umgebracht? Da sieht man doch, wie es wirklich um die Ehrlichkeit der Sefirot bestellt ist. Sie sind doch keinen Deut besser als die Menschen und verdienen es doch gar nicht, noch weiter zu existieren. Und welche Existenzberechtigung haben die Menschen denn schon? Sie sind nichts als erbärmliche kleine Insekten, die immer dumm und beschränkt bleiben und sie werden sich immer gegenseitig belügen, verletzen und töten. Glaub mir, die Welt ist ohne sie alle Male besser dran. Es wird Zeit, diesen Teufelskreis aus Verrat und Gewalt für immer zu beenden und alles wieder zum Ursprung zurückzuführen. Und dazu werde ich alles dem Erdboden gleich machen und diese widerliche Rasse, die sich die Krönung der Schöpfung nennt, ein für alle mal ausrotten zusammen mit allen anderen!“ Es war purer Hass, der da sprach und nichts als Verachtung. Das war also Elohim, wie er nach der Ermordung seiner Kinder und seines besten Freundes Hajjim geworden war. Obwohl es unfassbar war, was für Ansichten er hatte, man konnte trotzdem den tiefen Schmerz darin erkennen. Ausgerechnet er, der immer gegen Gewalt war und sich nie gegen die Anfeindungen der anderen gewehrt hatte… der immer an eine friedliche Welt geglaubt hatte, war zur Ausgeburt des Hasses geworden. Er war einfach zu oft ein Opfer gewesen, als dass er es noch länger hätte ertragen können. Die Anfeindungen gegen ihn selbst hatte er problemlos aushalten können. Aber der Mord an seinen Kindern war einfach zu viel für ihn gewesen. Das war der Moment, indem er endgültig seinem Schmerz verfallen war. Der Verlust eines Geliebten führt zur Trauer… Trauer wird zur Verzweiflung… Verzweiflung wandelt sich in Wut und Wut wird zu blindem Zorn. Ja… nichts anderes war mit Elohim passiert. Und sein Hass hatte das ganze Projekt, welches eigentlich seine Familie und auch den Frieden wieder zurückbringen sollte, zu einem nicht enden wollenden Alptraum verwandelt. „Mag sein, dass es Leid auf der Welt gibt“, räumte Elohim ein. „Aber das ist noch lange kein Grund, um wahllos andere zu töten. Gewalt darf man nicht mit Gewalt beenden, weil es dafür keine Rechtfertigung gibt. Ebenso wenig, wie man andere durch Angst kontrolliert und gefügig macht und es dann auch noch Frieden und Ordnung nennt. Was damals passiert ist, war schlimm genug und ich kann den Mördern meiner Kinder auch nicht vergeben. Aber das ist noch lange kein Grund, Unschuldige zu töten, die damit rein gar nichts zu tun haben. Unser Hass sollte allein jenen gelten, die unser Leben zerstört haben und wir dürfen nicht einfach so Selbstjustiz üben. Unrecht darf man nicht mit Unrecht vergelten.“ Doch der Alpha-Proxy lachte nur spöttisch darüber und schüttelte nur den Kopf angesichts dieser naiven Ansichten und seiner Meinung auch ziemlich selbstgerechten Worte. In seinen Augen war das, was Elohim da sagte, nur eine einzige Lachnummer und sonst gar nichts. „Das ist auch der Grund, warum du nichts ausrichten konntest. Weil du einfach zu weich dafür bist. Deshalb wirst du in dieser Welt auch nie etwas ändern können. Stattdessen wirst du es sein, der am Ende wieder vernichtet wird. Du wirst mich nicht aufhalten. Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis ich all diese widerwärtigen Kreaturen vom Angesicht dieser Welt vertilgt und die alte Ordnung wiederhergestellt habe. Ich werde Ain Soph und die anderen zurückholen und dann wird all das Leid ein Ende haben und zwar für immer!“ Damit griff der Alpha-Proxy an und attackierte direkt Lacie, die gerade ungeschützt war. Diese hob die Arme, um ihr Gesicht zu schützen, doch Elohim ging dazwischen und die Klingen prallten mit einer solchen Wucht aufeinander, dass die dabei freigesetzte Kraft deutlich zu spüren war. Es war ein so schauerliches Geräusch, dass es ihnen eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ein erbitterter Kampf entstand und Lacie verließ zusammen mit L und Beyond das Zimmer, da alles andere viel zu gefährlich gewesen wäre. Und während sie kämpften, setzte der Alpha-Proxy noch weiter nach um Elohim genau da zu treffen, wo er am verletzlichsten war. Wohl wissend, dass er ihn auf diese Weise definitiv kriegen konnte. „Wie gefällt es dir, deine eigene Waffe in diesem Zustand zu sehen, hm? Wann ist dein Herz so zerbrochen? Als deine geliebte Ain bei der Geburt deines letzten Sohnes gestorben ist, oder als man dir deine Kinder genommen hat? Ich habe mich schon gefragt, wieso du zwei Schwerter hast und nur eines davon gebrochen ist. Vielleicht, weil dein Herz schon bei Ains Tod Wunden davongetragen hat? Hast du danach ein neues Schwert erschaffen, weil du für deine Kinder da sein wolltest, nachdem sie schon ihre Mutter verloren hatten? Beschützt du deshalb Proxy-Zero, weil du in ihr die Chance siehst, deine geliebte Frau wieder zurückzuholen? Wenn es das ist, dann kann ich dir helfen. Im Grunde will ich doch nur deine Interessen umsetzen und Ain und deine geliebten Kinder zurückholen. Willst du sie denn nicht wiedersehen und sie wieder in die Arme schließen? Wünschst du dir nicht auch wieder diese Zeit zurück, als es noch gar keinen Hass oder Neid gab und wo ihr alle friedlich miteinander gelebt habt?“ Nastasja sah das mit an und erkannte, dass es reine psychologische Kriegsführung war, die der Alpha-Proxy da betrieb. Er wusste genau, wo Elohim verletzlich war und wie er ihn treffen konnte. Und das nutzte er schamlos aus, um ihn zu manipulieren und ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern und sich dem Projekt anzuschließen. Das Schlimmste aber war, dass die Russin ihm diese Entscheidung nicht verdenken konnte. Elohim hatte seine Familie verloren, seinen besten Freund… und das alles nur durch ein hinterhältiges Komplott, welches nur dazu da war, damit die großen Alten in ihrer Macht noch weiter gestärkt wurden und sie die absolute Macht über die anderen hatten. Und dazu hatten sie lediglich die Entitäten bis auf Ajin Gamur aus dem Weg räumen müssen, um das zu erreichen. Es wäre in gewisser Weise nur menschlich, wenn Elohim seine Kinder unbedingt wiedersehen und in die Arme schließen wollte. Sie als Mutter würde wahrscheinlich auch nach jedem Strohhalm greifen, wenn sie dadurch ihre Kinder wiederhaben könnte. Es war einfach nur grausam das alles. Und dass Elohim eine so schwere Entscheidung treffen musste, war hart. Doch sein Wille war dieses Mal stärker. Denn er war fest entschlossen, nicht noch einmal denselben Fehler zu begehen und alles zu verlieren. Und obwohl sich in seinem Blick feste Entschlossenheit abzeichnete, so konnte man auch den unendlichen Schmerz in seinen Augen sehen, den der Verlust seiner Familie ihm bereitete. „Natürlich vermisse ich meine Kinder und Ains Tod habe auch nur schwer überwinden können“, gab er zu, wobei seine Stimme von starken Emotionen geprägt war, die er zu unterdrücken versuchte. „Und selbstverständlich denke ich auch manchmal daran, dass es damals vielleicht besser als heute war. Aber deshalb würde ich doch nicht einfach alles zerstören wollen. All diese Lebewesen und diese Welt… die Sefirot, die Seraphim und Nephilim… das ist alles Ains Erbe. Es ist ihr letztes Vermächtnis und deshalb werde ich es auch nicht einfach so zerstören, nur weil es mir nicht passt. Wenn ich das tue, wird sie gänzlich verschwinden und das will ich auch nicht. Keiner das Recht, das alles so mit Füßen zu treten, denn auch wenn die Sefirot viel Leid verursacht haben, viele von ihnen haben selbst unter den großen Alten zu leiden und sollten nicht für deren Fehler bestraft werden.“ „Oh Gott, bist du naiv“, rief der Alpha-Proxy verächtlich und wagte noch einen Angriff, den Elohim aber mühelos abwehrte. „Kein Wunder, dass du damals vollkommen unfähig warst, deine Kinder zu beschützen! Du bist viel zu gutmütig und lässt dich immer nur herumschubsen. Leute wie du sind es, die die Prügelknaben sind, weil sie sich niemals zur Wehr setzen und immer alles Unrecht hinnehmen, das ihnen widerfährt. Nur weil sie darauf hoffen, dass es irgendwann mal von alleine aufhört. Das macht sie nicht nur zu Opfern, sondern zu einer einzigen Lachnummer. In einer so rücksichtslosen Welt überlebt nur der Rücksichtslose. So läuft es und nicht anders und so war es schon immer gewesen und wird es auch niemals anders sein. Deshalb werden wir uns eben mit Gewalt unser Recht einfordern müssen. Denn von alleine wird sich auch nichts tun und auf Wunder hoffen ist eh absoluter Schwachsinn. Es gibt weder Wunder, noch Hoffnung. Man nimmt sich einfach, was man will, sonst tut es nämlich ein anderer. Aber ich bin kein Unmensch. Ich biete dir hiermit noch mal an: schließ dich mir an und ich werde dir deine geliebte Ain und deine Kinder zurückholen. Und du wirst wieder in deiner friedlichen Welt leben, wo alles wieder so ist wie früher und wo du nie wieder Angst haben musst, dass deinen Kindern etwas passieren könnte und dass sie genauso zur Zielscheibe des Hasses werden so wie du. Gemeinsam könnten wir ein Utopia erschaffen, wo all jene glücklich werden können, die genauso nach einem friedlichen Leben streben so wie du. Stell es dir nur mal bildlich vor: dein Sohn Nivkha braucht nie wieder Angst zu haben und du und Ain wärt wieder glücklich. Du kannst all deine Kinder wieder in die Arme schließen und auch Samajim wäre da. Und wer weiß… vielleicht können wir mit Ains Hilfe sogar deinen verstorbenen Freund Hajjim zurückholen. Ihr wärt wieder das alte Trio so wie damals und du bräuchtest dich nie wieder zu verstecken. Du und Ain, ihr wärt wieder das Zentrum dieser Welt und nichts und niemand würde euch je etwas tun. Du würdest von allen geliebt und verstanden werden und wärst nicht mehr das gefährliche Monster, als welches sie dich immer behandelt haben.“ Einen Moment lang zögerte Elohim, denn das Angebot war einfach zu verlockend. Und keiner konnte ihm im diesen Moment verdenken, dass er nicht sicher war, wie er sich entscheiden sollte. Er hatte seine Familie auf eine äußerst tragische Art und Weise verloren und jeder konnte seinen tiefen Schmerz nachvollziehen. Wenn man seine Liebsten verliert und die Chance bekommt, sie wieder ins Leben zurückzuholen und noch mal von vorne anzufangen… würde man diese Chance denn nicht ergreifen? Elohim blickte abwechselnd auf den Alpha-Proxy und zu den anderen herüber und es war nicht klar zu erkennen, was er in diesem Moment dachte oder fühlte. War es Angst? War es der Zweifel an der eigenen Überzeugung? War es die tiefe Sehnsucht nach der geliebten Familie und einer Welt, in der es keine Gewalt gab und wo man keinen Neid, keinen Machthunger und keinen Hass kannte? Lange schwieg er, ohne dass er etwas sagte, geschweige denn, dass er etwas tat. Es waren Momente der absoluten Ungewissheit für alle Anwesenden. Doch dann hatte er seine Entscheidung getroffen und schüttelte den Kopf. „Es stimmt schon, dass ich meine Kinder gerne wiedersehen würde. Aber nicht zu diesem Preis. Sie hätten das genauso wenig gewollt wie Ain! Und deshalb werde ich auch nicht zulassen, dass du mit deinen Plänen durchkommst!“ Es kam wieder zu einem heftigen Kampf, bei dem sich beide Gegner nichts schenkten. Schließlich startete der Alpha-Proxy einen erneuten Angriff, welchem Elohim ausweichen konnte. Im selben Moment holte er zum Gegenschlag aus und traf seine Kontrahentin direkt am Kopf und die Klinge erwischte den Helm. Die Wucht des Schlages war so gewaltig, dass es sie von den Füßen riss und sie durch das Fenster krachte und in die Tiefe stürzte. Sofort eilten Elohim und Nastasja zum Fenster, die anderen folgten ebenfalls. Sie sahen die Maskierte knapp zwei Stockwerke tiefer auf dem Boden liegen und offenbar war der Schlag ziemlich gewaltig gewesen, sodass sie gar nicht mehr die Chance gehabt hatte, sanfter zu landen. Zuerst glaubten sie, es hätte ihr endgültig den Rest gegeben. Eine Weile tat sich nichts, aber dann erhob sich der Alpha-Proxy wieder, wankte noch ein wenig und stand wieder auf. Dabei aber zerbrach der Helm endgültig. Die Bruchstücke fielen zu Boden und langes schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern. Einen Moment lang blieb sie regungslos stehen, dann aber wandte sie den Blick nach oben zu ihnen herauf. Und als Nastasja das Gesicht sah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. „Das… das ist doch nicht möglich“, brachte sie hervor und rang mit der Fassung. Sie sah die eisblauen Augen, die fast zu leuchten schienen und dieses wunderschöne Gesicht und diese kühle aristokratisch wirkende Erscheinung. Jenes Gesicht und jene Augen, die ihr so vertraut waren. Es war völlig unmöglich und doch sah sie es mit eigenen Augen und ein Irrtum war völlig ausgeschlossen. „Alice?!“ Ja, es war eindeutig Alice, die da unten stand, mit dem Schwert in der Hand. Sie sah genauso aus wie damals und auch L und Beyond erkannten sie eindeutig von dem Foto wieder. Und doch… als sich ihr Blick mit Nastasjas traf, da sah die Russin nichts als Kälte in diesem Blick. Nichts als unbändiger Hass und Zorn. Hass auf Nastasja und die anderen, Hass auf die ganze Welt und insbesondere Hass auf ihren eigenen Vater, den sie sogar töten wollte. Als Watari diesen Namen hörte, stand er auf und eilte zum Fenster hin, um sich selbst zu überzeugen. Er wollte selbst sehen, ob es wirklich seine verstorbene Tochter war, die da unten stand. Und tatsächlich… es war seine kleine Alice. Doch sie sah ihn nicht mehr mit diesem liebevollen und leicht schüchternen Blick an, so wie sie ihn damals immer hatte. Stattdessen war nichts als unendlicher Groll in diesen Augen zu sehen und abgrundtiefer Hass. „Alice…“ In Wataris Augen sammelten sich Tränen. „Bist du es wirklich?“ Keine Antwort. Stattdessen ruhte dieser Blick auf ihn, der nichts als blindem Hass in sich trug und sonst nichts mehr. Und auf schmerzlichste Art und Weise wurde ihm bewusst, dass das nicht mehr seine kleine Alice war. Nein… das da war eine ganz andere Person… Kapitel 6: Ein schwerer Schock ------------------------------ Wortlos wandte sich Alice um und verschwand und sofort eilten Nastasja, Watari und Elohim raus, um zu versuchen, sie irgendwie einzuholen. Doch als sie endlich draußen waren, fehlte von ihr bereits jede Spur. Nastasja sank endgültig zusammen und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie war völlig fertig mit den Nerven und L versuchte mit Mühe, seine Mutter irgendwie zu trösten. Watari selbst weinte nicht. Er war stattdessen in einer Art apathischen Zustand verfallen und sagte nichts. Doch für ihn war es nicht weniger schlimm, als für Nastasja. Aber er war einfach nicht mehr in der Lage zu weinen. Er war weit darüber hinaus. Und für ihn brach in diesem Moment genauso eine Welt zusammen wie für Nastasja. Sie hatten mit allem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Alice Wammy war am Leben. Sie hatte die Proxys erschaffen und die Tötung ihrer beiden besten Freunde veranlasst. Und sie war die Leiterin von Projekt AIN SOPH. Aber noch schlimmer war die Erkenntnis für Elion, der zu einem gewissen Grade mitbekam, was sich abspielte, auch wenn er gerade nicht die Kontrolle über seinen Körper hatte. Er wusste, dass er der Sohn des Alpha-Proxys war. Und das bedeutete, er war Alices Sohn… und Wataris Enkel. Lacie wirkte sehr unglücklich und schwieg. Beyond war der Einzige, den es wohl emotional nicht sonderlich nahe ging, während L ein Stück weit mit seiner Mutter litt. Diese versuchte zwar, sich irgendwie wieder zu beruhigen, aber sie schaffte es nicht. Schließlich aber kam überraschend Besuch. Dathan und Liam waren eingetroffen, nachdem die anderen so überrascht aufgebrochen waren. Und als Dathan Nastasja so aufgelöst weinen sah, ging er zu ihr hin und versuchte, sie irgendwie zu beruhigen. Liam wandte sich direkt an Beyond, der wohl gerade als Einziger in der Verfassung war zu antworten. „Kannst du mir mal erklären, was eigentlich los ist?“ „Nun, der Alpha-Proxy ist ins Krankenhaus gekommen und hat versucht, Watari umzubringen. Elohim konnte ihn noch davon abhalten und dann hat er ihn zum Fenster rausbefördert. Und wie sich herausgestellt hat, war der Alpha-Proxy niemand anderes als Alice Wammy.“ „Alice Wammy?“ fragte der Mafiaboss ungläubig und verschränkte die Arme. Er sah die Reaktionen von Nastasja und Watari und dachte nach. Dann schließlich beschloss er, dass sie besser erst mal nach Hause zurückkehren sollten. In der Situation konnten sie eh nichts ausrichten. Da es für Watari zu gefährlich war, noch weiter im Krankenhaus zu bleiben, wurde er gleich mitgenommen. Die Gefahr war einfach zu groß, dass ein erneuter Mordversuch erfolgen könnte. So wurden sie alle auf Lacies und Dathans Wagen verteilt und fuhren wieder zurück. Und während der Fahrt wirkte Nastasja immer noch völlig aufgelöst. „Ich begreife das nicht“, brachte sie unter Schluchzern hervor und wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch weg. „Warum nur hat sie das alles getan? Wieso?“ Lacie schwieg und sah auf die Straße, wobei ihr Blick immer noch etwas Melancholisches an sich hatte. Nach einer Weile sagte sie aber „Das ist nicht mehr Alice, die wir gesehen haben. Die Alice, die du gekannt hattest, existiert nicht mehr.“ „Warum?“ fragte Nastasja und ihre geröteten Augen ruhten auf Lacies. „Warum denn? Was ist nur passiert, dass sie sich so verändert hat und so grausame Dinge tut?“ „Na weil sie… weil sie schon lange kein Mensch mehr ist.“ Als sie schließlich zuhause waren, gingen sie ins Kaminzimmer, um sich zu wärmen. Frederica brachte ihnen einen Tee, aber Nastasja und Watari brauchten nach diesem schweren Schock erst einmal etwas Alkoholisches. Davon gab es nicht viel im Haus, aber schließlich fand sich eine Flasche Cognac und Nastasja legte einen ordentlichen Zug an den Tag. Als trinkfeste Russin brauchte sie schon etwas mehr, um den Schreck hinunterzuspülen und das alles erst mal zu verdauen. Trotzdem war sie völlig fertig, was man ihr auch nicht verdenken konnte. Immerhin hatte ihre beste Freundin, die eigentlich quasi wie eine Schwester war, sie und ihre Familie töten wollen, genauso wie ihren eigenen Vater. Und sie hatte ihr ihren Sohn Jeremiel damals herausgeschnitten und ihn für diese ganzen Proxy-Experimente benutzt. Es war diese eine Frage, die sie nicht in Ruhe ließ: was hatte sie nur getan, dass Alice einen solchen Hass auf sie hatte? Wieso nur war das alles passiert und warum nur hatte ihre einst beste Freundin das alles getan? Sie war doch damals ein so stiller, introvertierter und schüchterner Mensch gewesen, der sich nie wehrte und alles einsteckte, ohne jemals selbst auszuteilen. Sie und Henry waren damals ein eingeschworenes Team gewesen, die besten Freunde. Und sie waren wie Schwestern gewesen. Warum also hatte Alice die Proxys auf sie und ihre Familie gehetzt und ihr Jeremiel weggenommen? Aber noch quälender war die Frage, was Alice dazu veranlasst hatte, ihrem eigenen Kind all diese grausamen Dinge anzutun und es als lebende Killermaschine zu erziehen. Sie hatte ihr Kind in eine Zelle sperren und jahrelang foltern lassen. Dabei hatte Alice doch immer Kinder geliebt und sich auch eigene Kinder gewünscht. Warum nur machte sie dann so etwas? Es war als ob… als ob das gar nicht mehr Alice war. Was war nur geschehen, dass sich alles in eine solche Richtung verändert hatte? Sie konnte es einfach nicht begreifen. „Was ist nur mit ihr passiert, dass sie all diese Dinge tut? Ich verstehe es einfach nicht…“ Lacie senkte den Blick und schien noch damit zu hadern, die Antwort zu sagen. Aber dann entschied sie sich anders. „Alice ist nicht mehr die, die du kennst“, wiederholte sie ruhig und man sah ihr an, dass es ihr selbst in der Seele wehtat, Nastasja dies zu erzählen. „Sie ist zurzeit die Hauptwirtin des Unborns und ihre Seele ist mit Elohims dunkler Seite verschmolzen. Deshalb ist sie auch schon lange kein Mensch mehr und ist von Elohims Zorn infiziert worden, sodass es schließlich ihr eigener Hass geworden ist. Sie war auch einfach viel zu anfällig dafür. Die Depression, die jahrelangen Schikanen, denen sie ausgesetzt war und die Vergewaltigung… sie ist genauso wie Elohim. Nie hat sie sich zur Wehr gesetzt, sondern immer versucht, alles still schweigend zu ertragen und es allen recht zu machen. Aber dann ist einfach der Punkt gekommen, wo sie nicht mehr in der Lage war, das alles noch länger zu ertragen. Selbst ihre Suizidversuche blieben ohne Erfolg und wenn irgendwann diese letzte Grenze überschritten wird, dann ist einem jedes Mittel recht, Hauptsache dieser Alptraum hört endlich auf. Ich weiß nicht, ob Alice sich selbst den Unborn injiziert hat, oder ob es Joseph oder ein anderer Mensch war. Aber wenn Alices Aussagen stimmen, dann muss sie sich direkt nach dem Unfall mit Elohim verschmolzen haben. Und da ist sie eben auf eine gewisse Art und Weise gestorben. Nämlich weil sie sich so sehr verändert hat, dass sie eigentlich nur noch rein äußerlich Alice ist. Was wir da gesehen haben, war also nichts anderes als das, was ich verkörpere. Nämlich ein unvollständiges Wesen, welches weder Alice noch das andere ist, sondern nur eine Mischung aus beidem.“ „Das heißt also, Alice ist zu einer klassischen Amokläuferin geworden, die ihren ganzen aufgestauten Hass an allem und jedem auslässt“, fasste Beyond kurz und bündig zusammen. Lacie dachte kurz nach, dann nickte sie. „Ja, so in etwa trifft das zu. Eigentlich ist Alice nicht der Typ dafür, der diesen Schritt geht, weil sie die Fehler immer bei sich sucht. Leute wie sie denken, dass sie selber verschwinden müssen, wenn sie ihr ganzes Leben lang keine Bestätigung, sondern nur Druck und Ablehnung erfahren. Aber Elohim war damals anders. Er dachte: „Wenn diese Welt nichts als Leid und Elend bereithält, dann wäre es besser, wenn sie einfach aufhört zu existieren“. Und dieser Gedanke hat Alice nachhaltig beeinflusst und ihre ganze Verzweiflung steigerte sich zu blindem Hass, den sie gegen alles und jeden richtet. Elohims Wunsch nach Vergeltung und sein Hass auf die ganze Welt haben sie vollkommen vereinnahmt und weil sie ohnehin mental so instabil geworden war, da war sie auch nicht mehr in der Lage, sich dagegen zu wehren. Stattdessen ist sie gänzlich von diesem Hass zerfressen worden. Diese Zeilen, die auf diesem Brief geschrieben standen… ich hatte mich erinnert, dass Alice sie geschrieben hatte. Nämlich am Abend vor Silvester, als sie nach der Vergewaltigung mit Watari sprechen wollte. Danach ist sie direkt zu Joseph ins Institut gefahren und was dann passiert ist, weiß ich leider selbst nicht genau.“ Sie nahm den Brief wieder zur Hand, von dem ursprünglich angenommen worden war, dass er Samsaras Abschiedsbrief gewesen war. Doch stattdessen war es Alices letzte Nachricht gewesen, bevor sie sich so verändert hatte: „Wir sind alle bloß winzige Fragmente der Ewigkeit. Aus diesem Grund sind wir unvollkommen, weil wir nämlich unvollständig sind. Durch den Tod werden wir ein Ganzes und damit eins mit der Ewigkeit. Die Sefirot, die Entitäten und die Seraphim vereinen beides in sich: Leben und Tod. Ewigkeit und Vergänglichkeit. Das macht sie zu Kindern der Ewigkeit. Was sind wir einfachen Menschen denn schon? Nichts Weiteres als ein winziges Staubkörnchen in einem uns unendlich weit erscheinenden Universum, welches wir niemals ganz erfassen und verstehen werden. Kleine erbärmliche Insekten mit einem dummen und bedeutungslosen Leben, das niemals Einfluss auf den Kreislauf des Universums ausüben wird. Was ist denn schon unser Leben im Vergleich zu dem, was weit hinter den Grenzen unseres Begreifens liegt? Gar nichts… Wir sind unbedeutend, klein und vergänglich. Selbst wenn wir nicht mehr existieren sollten, wird sich die Welt weiterdrehen, als wäre es nie anders gewesen. Also wäre es doch nicht länger von Bedeutung, wenn wir leben würden oder nicht. Wir sind nichts Göttliches oder Allmächtiges, nein! Wir sind nur vergängliche dumme Kreaturen, die niemals das wahre Göttliche verstehen werden. Was also ist dann unsere Existenzberechtigung in dieser Welt? Ganz einfach: es gibt sie nicht. Wir sind nicht dazu bestimmt, noch weiter zu existieren. Es ist unser unvermeidliches Schicksal, zugrunde zu gehen und zu sterben. Und mit uns wird unsere Zivilisation, die wir uns in all den Jahren, Jahrhunderten und Jahrtausenden aufgebaut haben, für immer zerfallen und zu Staub werden, als hätte sie nie existiert. Wie konnten wir uns auch jemals anmaßen zu glauben, wir seien Götter? Wir sind es nicht und wir werden es auch nie sein. Wir werden für immer die Goldfische im Glas bleiben, die in ihrer kleinen beschränkten Welt leben und die Welt außerhalb dieses Glases niemals erreichen werden. Im Großen und Ganzen ist unser Leben also eine reine Sinnlosigkeit und deshalb gibt es keinen Grund mehr für uns, noch einen Tag weiterzuleben.“ Im Grunde spiegelten diese Zeilen Alices wahre Gedanken wieder und das, was sie dazu veranlasst hatte, Suizid begehen zu wollen. Sie hatte die Hoffnung und den Glauben an diese Welt verloren und deshalb hatte es für sie keine Rolle mehr gespielt, was mit ihr selbst passieren würde. Selbst wenn dieses Experiment ihr Leben eingefordert hätte, dann hätte sie nicht gezögert, weil sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sah. Und wahrscheinlich war sie deshalb so anfällig für Elohims Hass gewesen, weil er ihr genau das gab, was sie brauchte: einen Lebenssinn. Der Hass und der Wunsch nach Rache und Vergeltung gaben ihr einen Grund, noch weiterzuleben und nicht zu sterben. Beyond, der so langsam die ganze Tragödie erfasste, wurde blass und es sah aus, als wolle er aufstehen und lieber gehen. Denn das alles erinnerte ihn an etwas. Nämlich an ihn und seinem alten Ich… Anja. Als die Opritschnina ihre Familie getötet hatten, war sie durchgedreht und hatte unzählige Soldaten massakriert, um Rache zu nehmen. Weil sie keine Ruhe finden konnte, hatte sie sich als das wahnsinnige und absolut destruktiv veranlagte Monster manifestiert, welches wirklich alles und jeden angriff. Beyond war sein ganzes Leben lang ausgegrenzt worden, weil die Kinder Angst vor ihm und seinen Augen gehabt hatten und er hatte irgendwann eine allgemeine Abneigung gegen die Menschen entwickelt. Er und Alice… sie waren sich verdammt ähnlich und das alles hatte denselben Verlauf angenommen. Irgendwann waren sie einfach so weit gewesen, dass sie nichts mehr als Verachtung und Hass empfinden konnten und deshalb waren ihnen Menschenleben auch nichts mehr wert. Ihnen war nichts und niemand mehr wichtig gewesen und sie hatten beide mit ihrem Leben abgeschlossen. Alice hatte sich auf das Experiment eingelassen, weil sie einfach nicht mehr dieses ganze Elend ertragen konnte, in welchem sie gefangen war. Und er? Er hatte sich selbst als letztes Opfer der BB-Mordserie ausgewählt, um Rache an jenem zu nehmen, von dem er glaubte, er hätte sein Leben zerstört. Deshalb also hatte Lacie gewusst, dass Watari in Lebensgefahr gewesen war. Alice hatte genauso wie er damals vorgehabt, sich an jener Person zu rächen, die ihr Leben zerstört hatte. Nämlich ihr Vater. Was für eine Tragödie… Nachdem sich Nastasja wieder beruhigt hatte, begann sie nachzudenken. „Selbst wenn sie so voller Hass ist… wieso hat sie es auf meine Familie abgesehen?“ Unsicher zuckte Lacie mit den Achseln und dachte nach. „Ich weiß es leider auch nicht. Vielleicht hat sie sich von euch allein gelassen gefühlt, weil du und Henry geheiratet habt und sie sich irgendwie völlig außen vor gelassen fühlte. Eine andere Erklärung wüsste ich jetzt im Moment leider auch nicht.“ Wie auch immer, dachte L und kaute nachdenklich an seiner Daumenkuppe. Fakt ist, dass wir jetzt unbedingt handeln müssen, wenn wir Jeremiel noch retten wollen. „Es muss doch noch eine Chance geben, ihr zu helfen“, sagte Nastasja schließlich und atmete tief durch. „Ich meine… sie hätte nie und nimmer gewollt, dass sie sich mal so dermaßen verändert! Das von mir entwickelte Serum hat schon Elion und Sheol helfen können. Ich bin mir sicher, dass…“ „Das wird nicht funktionieren“, unterbrach Lacie sie direkt. „Alice ist mit Elohims dunkler Hälfte verschmolzen und besitzt somit keine menschliche Seele mehr. Das Serum wird nicht nur Elohim, sondern auch sie zerstören.“ „Was?!“ Nastasja war fassungslos und völlig am Ende. Das Serum war das effektivste Mittel, um den Unborn zu bekämpfen. Und nun würde es nicht einmal reichen, um ihre beste Freundin zu retten? „Dann gibt es also keine Hoffnung mehr für sie?“ „Das habe ich nicht damit sagen wollen“, erklärte Lacie und verschränkte die Arme, während sie nachdachte. „Ich kenne da einen Weg, wie wir Alice zurückholen können. Es wird zwar nicht einfach werden, aber es wäre auf jeden Fall möglich.“ Diese Nachricht ließ sowohl Nastasja als auch Watari aufhorchen und alle Blicke ruhten erwartungsvoll auf der blonden Proxy. „Und wie?“ „Das ist zu kompliziert zu erklären. Aber wenn ich Alices Erinnerungen richtig vertraue, dann würde es mir gelingen, dafür zu sorgen, dass sie wieder zu Verstand kommt und ich würde es sogar hinkriegen, dass das Projekt erfolgreich beendet wird. Und damit meine ich, dass das ursprüngliche Ziel erreicht wird, nämlich die Wiedererweckung von Ain Soph. Aber wie gesagt: es ist zu kompliziert, das alles zu erklären und es ist besser, wenn ich es alleine mache. Ich kenne mich im Institut aus und weiß, wo ich was finde. Und im Kampf gegen Alice oder Jeremiel kann ich euch sowieso nicht unterstützen, weil ich vom Kämpfen keine Ahnung habe und dahingehend auch nicht ausgebildet wurde. Stattdessen würde ich mich dann darauf konzentrieren, Alice wieder zur Vernunft zu bringen und Ain Soph zurückzuholen.“ „Ja aber…“, begann Elohim und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ain ist tot und sie existiert nicht mehr in der Form. Sie ist in so viele Fragmente gespalten, dass man alles Leben auslöschen müsste und selbst dann würde sie nicht zurückkehren, sondern wieder ein Teil von Ajin werden.“ „Es geht ja nicht darum, Ain vollständig wiederherzustellen“, erklärte Lacie mit Nachdruck. „Es geht um ihr Bewusstsein! Wenn wir ihr Bewusstsein rekonstruieren können, wird sie von selbst in der Lage sein, ihre ganze Macht wiederherzustellen. Und ich denke, dass das gar nicht mal so unmöglich sein dürfte. Zumindest war Alice dieser Auffassung und auf ihre Erinnerungen habe ich mich bis jetzt verlassen können. Sonst hätte ich ja wohl kaum Elohim aufwecken können.“ Das Argument war überzeugend. Aber trotzdem waren sie teilweise noch skeptisch und auch Elohim hegte leise Zweifel, ob das wirklich so klappen könnte. Und außerdem beschäftigte ihn noch eine Frage. „Warum willst du das unbedingt tun, Lacie?“ „Na weil Alice und Joseph dieses Projekt ins Leben gerufen haben, weil sie auf eine bessere Welt gehofft hatten. Sie glaubten fest daran, dass mit der Rückkehr der großen Entitäten auch der Frieden wieder einkehren wird. Mag sein, dass das Projekt selbst aus dem Ruder gelaufen ist, aber der Grundgedanke war nicht verkehrt. Sie haben gemeinsam an eine bessere Welt geglaubt und wer weiß… wenn Ain zurückgekehrt ist, dann ist es doch auch möglich, der Welt der Sefirot den Frieden zu bringen und die Tyrannei der großen Alten zu beenden. Du könntest wieder in Frieden leben und wenn Ain zurück ist, besteht ja vielleicht auch dann die Chance, deine Kinder zurückzuholen. Es wäre zumindest einen Versuch wert. Es mussten so viele Menschen wegen diesem Projekt sterben und Sheol und Elion mussten deswegen so sehr leiden. Wenn wir das Projekt einfach stoppen, dann war der Tod dieser Menschen doch vollkommen umsonst gewesen. Es war Alices letzter Wunsch gewesen und… da ich ja einen Teil von ihr in mir trage, will ich ihn ihr schon gerne erfüllen. Wenn wir Ain Soph zurückholen, dann haben die Proxys nicht völlig umsonst leiden müssen, versteht ihr?“ Nun ja, es klang ein wenig merkwürdig, was Lacie da beabsichtigte und sie fragten sich schon, wie sie das denn bewerkstelligen wollte. Aber nach einigem Nachdenken verstand L so langsam ihre Beweggründe und warum es ihr so wichtig war, das Projekt abzuschließen. In der Tat hatten so viele Menschen allein deshalb ihr Leben lassen müssen. Sein Vater, seine Mutter aus dieser Zeit, Hester, Joseph Brown, Sariel, Samsara und Simrah, die anderen Proxys und unzählige weitere Babys und Menschen. Sie hatten alle sterben müssen, weil Alice ihr Vorhaben mit aller Macht in die Tat umsetzen wollte und deshalb sogar bereit war, über Leichen zu gehen. Wenn das Projekt einfach gestoppt werden würde, dann würde der Tod all dieser Menschen völlig bedeutungslos bleiben. Und da konnte er Lacie schon ein Stück weit verstehen, wieso es ihr so wichtig war, dass dies eben nicht passierte. „Noch schlimmer als ein Tod, der für solch eine Sache eingefordert wurde, ist ein sinnloser Tod. Niemand auf der Welt hat es verdient, sinnlos zu sterben und wenn ich mit Alices Erinnerungen die Chance habe, Ain Soph zurückzuholen, dann sind all diese Menschen nicht vollkommen sinnlos gestorben.“ Beyond und L tauschten kurz Blicke aus, als wollten sie auf diese Weise miteinander irgendwie kommunizieren. Sie waren sich alle nicht hundertprozentig sicher, ob das wirklich eine gute Idee war, Ain Soph zurückzuholen. Immerhin konnten sie nicht einschätzen, wie gefährlich dieses Wesen war und ob es nicht vielleicht versuchte, sie zu töten. Aber andererseits… was sprach denn dagegen? Ain Soph war eine der großen Entitäten und im Grunde der Ursprung aller Existenz. Sie war das „Alles“ und das Gegenstück zu Ajin Gamur, der das „Nichts“ war. Wäre sie nicht gestorben, gäbe es das alles hier nicht und es hatte bisher niemals irgendwo geheißen, dass sie gefährlich wäre. Wenn sie zurückkehren würde, könnte unter den Sefirot der Frieden einkehren und wer weiß… vielleicht würde sich das sogar für diese Welt hier irgendwie positiv auswirken. Außerdem durfte man eines nicht vergessen: es war Elohims verstorbene Frau. Es ging hier um seine Familie und nach allem, was sie erfahren hatten, was ihm angetan wurde, hätte wohl keiner es fertig gebracht, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sie das nicht tun konnten. Sie alle kannten den Schmerz, wenn man einen geliebten Menschen verlor und so hatte eigentlich niemand etwas dagegen, wenn Lacie dieses Unterfangen startete, um Ain Soph zurückzuholen. „Also gut“, sagte L schließlich. „Wenn es tatsächlich möglich ist, dann werden wir das Projekt zu Ende bringen und Ain Soph wiedererwecken.“ Und nie würde L den Ausdruck in Elohims Gesicht vergessen. Die unendliche Dankbarkeit und Erleichterung, dass diese Menschen trotz allem, was ihnen seinetwegen widerfahren war, trotzdem bereit waren, ihm zu helfen. Ihm kamen regelrecht die Tränen. „Ich danke euch“, sagte er tief bewegt. „Ich glaube… ich kann euch einfach nicht sagen, wie unendlich dankbar ich euch bin, dass ihr das wirklich für mich tun wollt.“ Und mit einem Lächeln erklärte L „So ist das eben in einer Familie. Man hilft sich gegenseitig.“ Kapitel 7: Aufbruch ------------------- Nachdem sich alle soweit gefangen hatten, beschlossen sie, sofort aufzubrechen und das Institut zu stürmen. Sie durften keine Zeit mehr verlieren, da sie ahnten, dass Jeremiel so langsam die Zeit davonlief. Watari war nicht davon abzubringen, ebenfalls mitzukommen. Doch L versuchte ihm das wieder auszureden, da er sich ernste Sorgen um seinen alten Mentor machte, der sich 20 Jahre lang um ihn gekümmert hatte und dessen gesundheitliche Verfassung nicht zum Besten war. „Watari, Sie hatten erst kürzlich einen Herzinfarkt erlitten. Die Aufregung könnte zu viel Sie sein und…“ „Es geht um mein einziges Kind“, erwiderte der alte Mann und klang schon fast verzweifelt. „L, ich habe mich immer in Zurückhaltung geübt und nie eine persönliche Bitte an dich gerichtet. Aber es geht hier auch um meine Tochter und ich will sie sehen und von ihr erfahren, wie das alles nur so weit kommen konnte und was sie veranlasst hat, so etwas Furchtbares zu tun. Und mach dir keine Sorgen um mich. Ich fühle mich soweit bestens und werde das schon schaffen.“ „Und außerdem sind Liam und ich dabei“, ergänzte Nastasja noch und legte eine Hand auf Wataris Schulter. Sie hatte größtes Verständnis für seine Situation und da sie beide schon fast wie Vater und Tochter waren, wollte sie ihm schon gerne helfen. „Sollte mit ihm etwas sein, können wir ihm helfen. Ich bin immerhin Humanbiologin und Liam ist Chirurg.“ Zwar war L immer noch nicht so ganz davon überzeugt, dass es eine gute Idee war, aber er willigte dann doch ein, aber nur unter der Voraussetzung, dass Watari es auf sein eigenes Risiko hin tat. Damit war alles beschlossen und jeder bekam eine kugelsichere Weste. Liam hatte zudem auf dem Londoner Schwarzmarkt Waffen für die anderen organisiert für den Fall, dass es aus dem Ruder laufen sollte. Sicher war sicher. Da sie eine Weste zu wenig hatten, überließ Elohim Watari seine. „Ich brauche so etwas nicht“, erklärte er nur. „Für Menschen sind Kugeln weitaus gefährlicher als für mich, da werden Sie diesen Schutz mehr brauchen.“ Während sie damit begannen, die Waffen zu prüfen, setzte sich Lacie noch ein Mal ans Klavier und begann „One Last Wish“ von James Horner zu spielen. Kurz darauf waren Schritte zu hören und Nastasja stand, wie schon einmal, neben ihr und hörte ihr zu. Eine Weile sagte sie nichts und hörte einfach nur zu. Als sie aber diesen melancholischen Blick bei Lacie sah, während sie dieses Lied spielte, fragte sie „Was denkst du, wenn du das Lied hier spielst?“ „Ich denke da an ein Zitat, das ich irgendwo mal gehört habe… Jedes Lebewesen stirbt für sich allein. Es klingt schon irgendwie traurig… und auch einsam, nicht wahr?“ Die Russin ahnte, dass Lacies bedrücktes Verhalten vielleicht auch was mit ihr zu tun hatte. Nun gut, sie hatte sich ein wenig kühl und ruppig verhalten, was ihr auch wirklich leid tat. Immerhin konnte Lacie doch nichts dafür, dass sie sie so sehr an Alice erinnerte und sie konnte ihr auch kaum die Freundschaft zu Dathan vorwerfen. Sie war schon ziemlich unfair zu ihr gewesen. „Ich wollte mich noch entschuldigen für mein ruppiges Verhalten“, sagte sie schließlich. „Ich… ich war wahrscheinlich etwas eifersüchtig gewesen und da geht mein Temperament manchmal etwas mit mir durch.“ „Schon in Ordnung, ich kann es ja verstehen. Es ist nur so, dass ich mich eben irgendwie verantwortlich für Dathan gefühlt habe. So im Nachhinein denke ich, dass es daran liegt, dass er auch mal ein Patient von Alice war und er nur deswegen so schrecklich entstellt war, weil er sie gerettet hat. Trotzdem hat er ihr Mut gemacht und wahrscheinlich wollte dieser Teil von Alice in mir für ihn da sein, um Wiedergutmachung zu leisten für das, was ihm ihretwegen widerfahren ist. Es ist schon eine Ironie, oder?“ Nachdem sie das Lied zu Ende gespielt hatte, begann sie noch „Ice Dance“ von Danny Elfman. „Dass ich ihn versehentlich anfahre und ihm begegne, wo ich ohnehin schon einen Teil von Alice in mir trage, kann doch eigentlich nur Schicksal sein. Jedenfalls bin ich froh, dass Dathan seinen Vater wieder hat und dass er einen so liebevollen Menschen an seiner Seite hat. Er hat Alice das Leben gerettet und ist für mich ein sehr guter Freund. Da will ich wenigstens, dass er glücklich ist und seine Familie wieder hat.“ „Frederica hat mir erzählt, was dir so durch den Kopf geht. Hör mal, wenn es wegen mir ist, dass du dich in irgendeiner Form unerwünscht fühlst, dann tut es mir wirklich leid, das habe ich nicht gewollt.“ „Ist schon gut. Eigentlich lag es irgendwie mehr daran, weil ich so verunsichert war, weil ich nicht wusste, wer ich bin und wo ich hingehöre. Immerhin war mein ganzes Leben nur eine Lüge und das ist schon echt hart. Aber lass uns darüber weiterreden, wenn wir das alles erledigt und Alice und deinen Sohn Jeremiel gerettet haben, ja? Dann können wir ja noch mal ganz von vorne anfangen und vielleicht Freundinnen werden.“ „Ja gerne.“ Nastasja setzte sich schließlich zu ihr und versuchte selbst zu spielen. Sie war nicht ganz so musikalisch wie Alice, aber ein paar einfache Melodien konnte sie zumindest hinbekommen. Sie schaffte es mit etwas Mühe, „Greensleeves“ zu spielen. Lacie erkannte es sofort und lächelte. „Alice hat diese Melodie geliebt. Sie hat sie immer wieder auf dem Klavier gespielt. Aber… ich bevorzuge eher „Schwanensee“ oder „One Last Wish“. Wenn ich doch so viel von Alice habe, wie kommt es, dass ich eine ganz andere Musik mag?“ „Weil du deine eigene Persönlichkeit hast. Nur weil du Teile von Alice in dir trägst, heißt das noch lange nicht, dass du gänzlich wie sie sein musst. Ich glaube, dass Gott jedem seine eigene Persönlichkeit gegeben hat. Es gibt genügend Theorien, dass selbst Roboter eine eigene Persönlichkeit entwickeln könnten, selbst wenn wir ihnen die Erinnerungen und die Eigenschaften einer Person einprogrammieren. Man kann Menschen so oft klonen wie man will und ihnen immer wieder dieselben Erinnerungen einzuspeisen. Sie würden eine eigene Persönlichkeit entwickeln, eben weil Gott es vorsieht, dass jedes Lebewesen das Recht auf Individualität hat. Und genauso hast auch du sie.“ Als Lacie das hörte, musste sie wieder lächeln und schlug ein A-Dur an. „Was ist dein Gott für eine Person?“ „Ein gütiger, liebender und verständnisvoller Gott, der uns nur nach unseren Taten beurteilt und nicht danach, was wir glauben und welchen Menschen wir lieben.“ „Dann hast du einen wirklich wunderbaren Gott… Wahrscheinlich würde es viel weniger Hass und Intoleranz auf dieser Welt geben, wenn alle an diesen Gott glauben würden…“ Beyond war gerade dabei, sein Messer zu prüfen, ob es auch wirklich scharf genug war. Schusswaffen hatte er ohnehin noch nie sonderlich gemocht und er hoffte auch, dass sie nicht zum Einsatz kommen musste. Als er L so auf dem Sofa kauern sah mit diesem nachdenklichen Blick, legte er das Messer aber wieder beiseite, ging zu ihm hin und schloss ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. „L, bitte versprich mir, dass du immer bei mir bleibst, damit ich dich beschützen kann, ja?“ Der Detektiv mit den Pandaaugen war überrascht darüber, denn bisher war Beyond immer so gefasst geblieben und hatte ihn immer aufmuntern müssen. Aber nun… hat er etwa Angst um mich? Ja aber wieso? Eigentlich müsste ich ja mehr Angst um ihn haben, weil es für gewöhnlich immer er ist, der alles abbekommt. Warum also verhält er sich so? Ein Gedanke kam L, wieso Beyond so neben der Spur war. Und als er es erkannte, erwiderte er die Umarmung und strich ihm sanft durchs Haar. „Beyond, nur weil du und Alice gewisse Ähnlichkeiten miteinander habt, heißt das noch lange nicht, dass du genauso zum Amokläufer wirst. Du hast doch die Kurve gekriegt, wenn auch etwas spät. Aber du hast es geschafft, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen und du hast eine Familie… und du hast auch mich.“ „Ich weiß und genau das macht mir Angst“, erklärte Beyond und wirkte ziemlich geknickt. „Du weißt, ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt und ich würde jederzeit für dich sterben, wenn es sein müsste. Aber ich weiß nicht, was passiert, wenn ich dich verlieren würde. Ich könnte es einfach nicht ertragen und ich habe ehrlich gesagt Angst davor, dass eines Tages der Moment kommen würde, an dem ich nichts mehr tun kann, um dich zu retten. Verstehst du? Ich würde lieber selbst in den Tod gehen, als dich zu verlieren.“ „Keiner von euch wird so schnell draufgehen“, unterbrach Liam, der gerade dabei war, die Klinge seines Schwertes zu säubern. „Ich habe Jeremiel versprochen, euch mit meinem Leben zu beschützen. Also besteht kein Grund, Panik zu schieben und sich mit so etwas aufzuhalten. Konzentriert euch lieber auf das, was vor euch liegt und überlasst alles andere mir. Immerhin ist es ja sowieso vorgesehen, dass ich bei euch bleibe und auf euch aufpasse.“ „Da hast du es gehört“, sagte L schließlich und küsste Beyond, um ihm wenigstens ein bisschen seine Sorgen zu nehmen. „Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber Liam hat in diesem Fall Recht. Hey, wir schaffen das und wenn das vorbei ist, dann werden wir die ganze verlorene Zeit nachholen, das verspreche ich dir.“ Liam war in ein tiefes Schweigen versunken und begann nun damit, seine Magnum zu laden. Wilde Entschlossenheit war in seinen Augen zu sehen und fest stand, dass er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen würde. Er würde Jeremiel retten, ganz egal was er dafür tun musste. Kurz darauf kamen Elohim und Dathan dazu und sofort wandte sich der Mafiaboss dem Sprössling zu und fragte „Meinst du, du kriegst das hin?“ „Ja“, antwortete Dathan entschlossen, doch es war nicht zu übersehen, dass er Angst hatte. Elohim legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Wir schaffen das schon. Eine Schlacht gewinnt man nur, wenn man sich aufeinander verlassen kann und zusammenarbeitet. Und so wie ich diese Familie erlebt habe, hält sie besser zusammen, als so manch andere Gruppen. Nivkha und ich wären soweit fertig. Wie ist es bei euch?“ Nun, auch sie waren fertig. Fehlten nur noch Nastasja, Watari und Lacie. Sie warteten noch einen Augenblick, aber dann kamen die beiden Frauen dazu und schließlich auch Watari. Schließlich zogen sie ihre Mäntel an und gingen nach draußen zu den Autos, nachdem sie sich von Frederica verabschiedet hatten, die sich um die beiden Kranken kümmern würde. Sie wünschte ihnen viel Glück und bat insbesondere die menschlichen Mitglieder der Gruppe, gut auf sich aufzupassen. Sie verteilten sich auf die beiden Autos und fuhren los. Während der Fahrt wirkte Nastasja ein wenig geistesabwesend und summte langsam und leise die Melodie von „Hallelujah“. Es hatte etwas sehr Trauriges an sich und wahrscheinlich musste sie wieder an diesen eiskalten und hasserfüllten Blick denken, mit dem Alice sie angesehen hatte. Auch Beyond wirkte ein wenig nachdenklich und hielt die ganze Zeit L’s Hand fest. Schließlich legte er seinen Kopf auf dessen Schulter ab und sein Blick nahm etwas Melancholisches an. „Manchmal“, sagte er schließlich und unterbrach damit diese lastende Stille, „manchmal schreibt das Leben doch die seltsamsten Geschichten mit den merkwürdigsten Zufällen, nicht wahr?“ „Kann schon sein. Aber Dathan sagte doch auch, es gäbe keine Zufälle. Nur die Illusion eines Zufalls. Nichts, was uns passiert ist, war je ein Zufall, sondern vorherbestimmt.“ Der Himmel verdüsterte sich und als sie schließlich Crayford erreichten, war in der Ferne ein leises Donnern zu hören. Teilweise fielen vereinzelt kleine Schneeflocken. „Ob Alice wirklich im Institut ist? Sie muss doch wissen, dass wir kommen“, gab Beyond zu bedenken und sah zu Elohim, der mit ihnen im Wagen saß. „Alice ist dort“, versicherte er ihnen. „Ich kann sie deutlich wahrnehmen. Sie wartet darauf, dass wir kommen, weil sie es zu Ende bringen will und zwar ein für alle Male. Genauso wie wir. Jeremiel ist auch dort.“ Nun, dann würde es also ein für alle Male enden und zwar genau dort, wo alles begonnen hatte. Irgendwie der passende Ort für solch eine Konfrontation. Und in gewisser Hinsicht auch eine Ironie. Wie so vieles in dieser Geschichte, die schon geschrieben wurde, bevor es überhaupt die ersten Menschen gab… Nastasja, die auf dem Beifahrersitz saß, hatte ihren Rosenkranz in die Hände genommen und sprach leise ein Gebet, wahrscheinlich für ihre beste Freundin Alice und ihren Sohn Jeremiel, dass sie beide gerettet werden konnten. Sie betete in ihrer Muttersprache, sodass keiner von ihnen im Wagen verstehen konnte, was sie sagte. Außer Elohim, der jede Sprache der Menschen kannte. Aber sie irgendwie hatten sie es im Gefühl, dass sie trotzdem wussten, wofür sie betete. In diesem Moment kam L ein gewisser Neid auf. Kein böswilliger Neid… nein, er war ein wenig neidisch auf seine Mutter, weil sie es schaffte, an so etwas wie göttliche Fügung zu glauben und sie sich trotz allem ihren Glauben an einen gütigen und liebevollen Gott bewahren konnte, der das Beste für sie alle wollte. Er hatte noch nie an so etwas wie eine göttliche Macht geglaubt, allerdings war es auch nicht so, dass er es gänzlich abgestritten und geleugnet hätte, dass es vielleicht so etwas geben könnte. Allein schon als er während des Kira-Falls erfahren hatte, dass es so etwas wie Todesgötter gab, hatte es ihn völlig aus der Bahn geworfen und ihn fast schon in Angst und Schrecken versetzt und sein Innerstes völlig durcheinandergeworfen. Danach hatte er angefangen, an die Existenz von höheren Wesen zu glauben und dass es Dinge gab, die weit über den Grenzen des menschlichen Verstandes existierten. Und nun gab es sogar noch Wesen, die weit über den Shinigami standen und die die Macht besaßen, alles Leben gänzlich auszulöschen und neu zu erschaffen. Es gab sie, diese Götter, an denen die Menschen glaubten. Und das Fatale war, dass diese Götter im Grunde genommen nicht viel anders waren als die Menschen. Und die Menschen waren in diesem Spiel nichts als einfache Bauern. „Mum.“ Nastasja beendete kurz ihr Gebet und wandte sich dann ihrem Sohn zu. „Ja?“ „Zu was für einem Gott betest du denn eigentlich, nach dem, was wir erfahren haben?“ „Zu dem Gott, an den ich schon immer geglaubt habe.“ Tolle Antwort… Beyond, der diese unangenehme Atmosphäre irgendwie loswerden wollte, ließ die nächste Bemerkung los. „Irgendwie schon verrückt, oder? Ich meine, es hieß immer wieder „Vater unser“ und dabei hat sich jetzt herausgestellt, das Gott doch im Grunde eine Frau ist. Ich meine, Ain Soph ist doch der Ursprung allem, was lebt. Damit wäre sie doch quasi Gott.“ „Ich glaube, du hast nicht richtig zugehört“, erwiderte L direkt. „Ain Soph ist ein geschlechtsloses Wesen, das lediglich die Gestalt einer Frau angenommen hat.“ „Aber es hat diese Gestalt beibehalten und war Elohims Frau. Also ist es doch eigentlich mehr eine Frau. Und wie sieht es eigentlich bei den anderen aus?“ „Die Ursprungsform aller Unvergänglichen ist form- und geschlechtslos“, erklärte Elohim, der diese Frage am besten beantworten konnte. „Sie nehmen lediglich eine körperliche Form an, um auf diese Weise ein Leben in einer Gemeinschaft besser führen zu können. Also ist auch eigentlich Ajin Gamur form- und körperlos. Die Entitäten verkörpern ja eigentlich die Unendlichkeit, die Ewigkeit und die Allgegenwärtigkeit. Sie sind grenzenlos und stehen damit über alles und jedem. Aber da sie in dieser Form unmöglich am Leben anderer teilhaben können, spalten sie Teile von sich ab, die sie mit ihrem Bewusstsein verbinden und diesem Fragment eine körperliche Gestalt geben. Im Grunde funktioniert das nach dem Marionettenprinzip.“ „Das heißt… Liam zum Beispiel steckt nicht komplett in diesem Körper, sondern nur ein Teil von ihm?“ „Nicht direkt. Die Sefirot und die Seraphim nehmen vollständig eine körperliche Gestalt an, weil sie ja Vergänglichkeit und Ewigkeit in sich vereinen, damit unterscheiden sie sich von den Entitäten. Denn diese haben nichts Vergängliches in sich. Bei meinem anderen Ich ist es anders. Weil Samajim und die anderen seine Kraft versiegelt haben, ist seine Macht so stark eingeschränkt worden, dass es nicht fähig ist, direkt von einem Körper Besitz zu ergreifen. Stattdessen hat es mein anderes Ich nur geschafft, von einem Unborn Besitz zu ergreifen und deshalb sind all diese ganzen Experimente so umständlich geworden.“ „Und wie sind Alice und Joseph an den bösen Elohim herangekommen?“ Elohim, der leider keine Erinnerungen an sich hatte, konnte nur den Kopf schütteln und so wandten sie sich an Lacie, die sich ja eigentlich am besten mit den Experimenten auskannte. Doch auch sie konnte nicht wirklich weiterhelfen. „Tja, so genau weiß ich das auch nicht. Am besten fragen wir Alice, immerhin trägt sie Elohims andere Hälfte in sich.“ Sie erreichten schließlich die Straße und parkten die beiden Autos am Straßenrand. Ein kalter Wind wehte und gemeinsam gingen sie in Richtung der alten Chemiefabrik. Als sie nahe genug waren, hielt Lacie sie allerdings auf. „Da sind Überwachungskameras. Es wird nicht sehr einfach, sie zu umgehen und um durch das Tor zu kommen, muss erst eine Identifizierung über die Kameras erfolgen und man muss einen Zahlencode eingeben. Ansonsten wird Alarm ausgelöst und es wird richtig problematisch.“ „Kein Problem“, meldete sich Nastasja, die es immerhin schon geschafft hatte, unerkannt bei Vention einzubrechen. „Sag mir, wo die Kameras sind und ich kümmere mich schon darum. Ich kann über die Mauer drüberklettern und dann das Tor öffnen. Liam ist zu groß und auffällig und auf mich würden sie wahrscheinlich nicht so schnell schießen wie auf ihn.“ Lacie nickte und nannte die einzelnen Standorte der Kameras und in welchem Radius sie sich bewegten und wo es blinde Flecke gab. Dann nannte sie ihr noch den Standort des Wachhauses, von wo aus das Tor geöffnet wurde und wie man die Anlage bediente. Damit ging Nastasja los und sie beobachteten, wie sie mühelos über die hohe Mauer kletterte, die eigentlich so gut wie gar keine Haltemöglichkeiten bot. Um sich gegen den Stacheldraht zu schützen, warf sie einfach ihre Jacke darüber und war danach über die Mauer verschwunden. Nun galt es nur noch abzuwarten, bis Nastasja es geschafft hatte, das Tor zu öffnen. Dass sie es schaffen würde, bezweifelte keiner von ihnen. Immerhin war sie eine durchtrainierte Kampfsportmeisterin und zudem Wissenschaftlerin. Eine gefährlichere Kombination konnte es ja nicht geben. Dathans Blick blieb auf die Mauer gerichtet, über die seine Freundin geklettert war und fror entsetzlich in der Kälte. „Wäre es nicht viel einfacher gewesen, einfach das Tor aufzubrechen?“ Liam schlug ihm diesen Gedanken sofort wieder aus dem Kopf, als er das hörte. „Wenn im Institut an Proxys geforscht wird, gibt es mit höchster Wahrscheinlichkeit bewaffnetes Personal, das scharfe Munition verwendet. Immerhin müssen sie die Proxys irgendwie wieder unter Kontrolle bekommen, wenn sie ausbrechen sollten. Und einfach so mit dem Kopf durch die Wand zu gehen und alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ist mehr als gefährlich, vor allem weil wir Mitglieder in der Gruppe haben, die einen Kugelhagel nicht so leicht wegstecken oder abwehren können. Und es erspart auch so eine Menge Ärger. Solange wir nicht abschätzen können, was da alles auf uns zukommen könnte, müssen wir äußerst vorsichtig sein.“ Lacie nickte zustimmend und verschränkte die Arme, um sich irgendwie warm zu halten. „Ich glaube zwar nicht, dass sie bereits neue Proxys haben, die kampfbereit sind, aber selbst jene, die noch nicht mit der Ausbildung fertig sind, sollte man nicht unterschätzen. Immerhin gehorchen sie ihrem Alpha bedingungslos und können auch nicht anders. Blinder Gehorsam ist eine extrem gefährliche Waffe und im Grunde gefährlicher als jede Schusswaffe.“ „Mein anderes Ich weiß eben, wie man eine Schlacht erfolgreich führt“, murmelte Elohim und wurde ernst. „Bleibt nur zu hoffen, dass diese Konfrontation nicht allzu viele Verluste erfordert. Es sind schon genug Menschen für dieses Projekt gestorben.“ Kapitel 8: Die Stürmung des Instituts ------------------------------------- Nachdem sie eine Weile ungeduldig gewartet hatten und sich so langsam fragten, warum das alles dauerte, öffnete sich endlich das Tor und sie gingen hindurch, woraufhin Nastasja zu ihnen dazustieß. Sie war ein wenig außer Atem und man sah ihr an, dass es wohl ein wenig turbulent zugegangen war. „Hat ja alles wunderbar geklappt“, bemerkte Lacie zufrieden. „Naja“, murmelte die Russin und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich musste zwar ein paar Wachmänner schlafen schicken, aber bis jetzt hat mich wohl keiner bemerkt.“ Sie gingen ins Gebäude hinein und sogleich führte Lacie sie durch die Gänge und ermahnte die Gruppe, sich unauffällig zu verhalten. Sie steuerte zunächst einen Raum an, in welchem sie kurz verschwand und wie sich herausstellte, hatte sie ihren Mantel abgelegt und stattdessen einen Laborkittel angezogen, um sich zu tarnen. Sie erklärte, dass dies nötig sei, damit niemand misstrauisch wurde und damit sie nachher problemlos ihren Alleingang machen konnte. Da sich in den oberen Stockwerken und im Erdgeschoss nur die Verwaltung und die einfachen Labore befanden, gestaltete es sich nicht gerade als sonderlich schwer, sie alle zu den Aufzügen zu bringen, ohne dass jemand großartig Verdacht schöpfte und das Sicherheitspersonal alarmiert wurde. Es lief schon fast zu glatt, hätte man meinen können. Zwar wurden sie mal kurz angesprochen, aber Lacie konnte ihr Wissen über das Institut geschickt einsetzen, um sich als Mitarbeiterin auszugeben, welche die neuen Kollegen einweisen sollte. Und tatsächlich konnte sie die Leute mit Bravour überzeugen, was aber auch daran lag, dass sie ein wenig ihren Charme und ihre Reize spielen ließ, um die Männer um den Finger zu wickeln. Sie selbst mochte es eigentlich überhaupt nicht, so etwas zu machen, aber außergewöhnliche Situationen erforderten eben außergewöhnliche Maßnahmen. Nachdem sie noch ein paar Wachleute erfolgreich bequatschen konnte, die sie kurz aufhielten, erreichten sie endlich die Aufzüge, die sie zu den unteren Ebenen bringen sollten. Als sie drin waren, gab Lacie einen Zahlencode ein, doch als plötzlich nach einer Zugangskarte verlangt wurde, da wurde sie merklich blasser. „Ach herrje“, sagte sie. „An so etwas erinnere ich mich gar nicht. So ein Mist, wir…“ „Darf ich mal?“ Beyond drängte sich nach vorne und zog eine Karte durch das Lesegerät und tatsächlich: es funktionierte. Erstaunte Blicke ruhten auf den Serienmörder und sogleich fragte L „Woher hast du die?“ „Ich hab gesehen, wie die Leute vom Sicherheitspersonal mit ihrer Karte die Türen geöffnet haben und da hab ich einfach mal eine „ausgeliehen“, als Lacie mit den Wachleuten gesprochen hat. Ich hatte schon irgendwie im Gefühl, dass wir die Karte vielleicht mal brauchen könnten. Man kann ja nie wissen.“ Als immer noch alle Blicke auf ihn ruhten, zuckte er nur mit den Achseln und meinte „Was denn? Ich hab eben mehr drauf, als nur Leute umzubringen.“ „Na wenigstens hast du mitgedacht. Gut gemacht“, lobte Nastasja ihn und klopfte ihm lobend auf die Schulter. Nun konnten sie endlich in die unterste Etage und Jeremiel retten und vor allem Alice ein für alle Male aufhalten und sie daran hindern, noch einen Genozid zu starten. „Hast du das Serum dabei?“ fragte die Russin schließlich den Mafiaboss, der wortlos ein kleines Fläschchen hervorholte und es ihr gab. Diese begann nun eine Spritze mit dem Serum aufzuziehen und sie soweit vorzubereiten. Dabei erklärte sie den anderen „Ich hab Liam vorsorglich gebeten, das Serum mitzubringen, falls es von Nöten sein sollte. Zwar können wir Alice damit nicht helfen, aber dafür zumindest Jeremiel. Wichtig ist, dass ihr es ihm schnellstmöglich injiziert und am besten alles. Und vor allem: passt ja auf! Die Injektion reicht nur für einen und ich habe auch keine Zeit gehabt, um eine zweite Ampulle vorzubereiten. Das heißt also: es gibt nur diesen einen Versuch. Am besten gebe ich es dir, Beyond. Du weißt ja, wie man eine Spritze setzen muss. Liam wird ihn dann derweil festhalten. Lacie, wie sieht dein Plan aus und wie wirst du vorgehen, um das Projekt zu Ende zu bringen?“ Die blonde Engländerin dachte kurz nach und erklärte dann „Es gibt eine Anlage, die auch der ENSOF-Reaktor genannt wird. Dieser Reaktor dient dazu, das Neshama zu sammeln und im Anschluss zu fusionieren.“ „Neshama?“ „Der hebräische Begriff für „Seele“. Da Ain Soph in diverse Fragmente gespalten wurde und aus diesen neues Leben entstanden ist, lebt sie quasi in diesen weiter. Auch in unserer Seele ist ein Teil von ihrem alten Selbst drin und dieses wird „Neshama“ genannt. Der Reaktor funktioniert wie ein Magnet. Er absorbiert das Neshama von Lebewesen und Toten und speichert es. Das Neshama wird in pure Energie umgewandelt und so kann es zusammengesetzt werden. Auf diese Weise versucht man, Ain Sophs Kraft wiederherzustellen und ihr Bewusstsein zu rekonstruieren. Wenn ich mit der Arbeit am Reaktor fertig bin, komme ich zu euch dazu, um Alice zu helfen. Wichtig ist, dass ihr versucht, ihr Bewusstsein zu wecken und sie dazu zu bringen, als Alice und nicht als Alpha-Proxy in Erscheinung zu treten. Im Krankenhaus war sie so stark von Elohim beeinflusst, dass sie nicht ganz sie selbst war. Die Art und Weise, wie sie gesprochen hat und wie sie sich sonst verhalten hat, das war der Alpha-Proxy und allein der Grund, warum sie von Alice wie von einer fremden Person spricht, ist ein klarer Beweis dafür. Versucht sie irgendwie dazu zu bringen, mehr aus sich herauszukommen und direkt von sich als Alice zu sprechen, sodass sie nicht mehr in die Rolle des Alpha-Proxys schlüpfen kann. Vielleicht funktioniert es ja am besten, wenn ihr sie auf die Vergangenheit ansprecht und sie mit ihrem Namen anredet. Wahrscheinlich wird sie abstreiten, dass sie Alice ist, aber ihr müsst beharrlich bleiben. So kann sie sich von Elohim ein Stück weit abkapseln und für sich selbst sprechen. Wenn ihr es schafft, dass Alice den dominanten Part hat und sie sich in dem Moment auch von Elohims Einfluss abnabelt, dann wartet auf mich und ich werde den Rest erledigen.“ Soweit klang es ja ganz gut, aber Elohim hatte da noch einen leisen Zweifel, dass sie es alleine schaffen sollte, so ganz ohne Hilfe. Zwar hatte sie eine Pistole bei sich und auch eine kugelsichere Weste, aber sie hatte keine besonderen Fähigkeiten wie die anderen Proxys. Sie konnte ihre Verletzungen nicht zurücksetzen, oder Menschen mithilfe der Resonanzkatastrophe töten. Er machte sich wirklich Sorgen um sie, eben weil sie sich schon seit dem Zeitpunkt so seltsam verhielt, als sie erfahren hatte, dass sie ein Proxy war. Und seit er ihr dieses merkwürdige Geschenk von Samajim überreicht hatte, wirkte sie irgendwie melancholisch und sehr nachdenklich. Als würde sie irgendetwas beschäftigen, was sie ganz mit sich alleine ausmachen wollte, weil sie diesen Weg alleine gehen wollte. In diesem Moment war sie genauso wie Alice, die auch alles immer mit sich selbst ausgemacht hatte und letzten Endes zum Alpha-Proxy geworden war. „Soll nicht vielleicht jemand mit dir gehen?“ Doch sie schüttelte nur den Kopf und erklärte „Wenn ihr Jeremiel und Alice beschäftigt, werde ich das alles problemlos alleine schaffen. Keine Sorge. Hey, wir schaffen das schon.“ Damit gab sie ihm einen Kuss und umarmte ihn. „Es wird alles gut werden und mir wird schon nichts passieren.“ „Pass trotzdem gut auf dich auf.“ Als sich die Tür des Fahrstuhls öffnete, trennten sich ihre Wege, nachdem Lacie ihnen den gezeichneten Plan mitgab und ihnen erklärte, welchen Weg sie gehen sollten, um durchzukommen. Sie teilten sich auf ihre Gruppen auf und gingen je ihre zugewiesenen Wege. Lacie ging alleine. Liam, Beyond und L nahmen die erste rechte Abzweigung und fanden ein Schild, wo „Zu den Laboren“ geschrieben stand. Liam ging voran und orientierte sich ganz nach seinem Gefühl. Er konnte Jeremiel oder besser gesagt Sam Leens deutlich wahrnehmen und konnte sich daran hervorragend orientieren. Endlich konnte er ihn hier rausholen und ihn zurück nach Boston holen. Es war ohnehin ein Fehler gewesen, ihn nicht nach England zu begleiten. Wäre er mit ihm mitgegangen, dann hätte es nicht so weit kommen müssen und Jeremiel wäre jetzt nicht in dieser Situation. Schon seit er von der Entführung erfahren hatte, machte er sich schwere Vorwürfe und wusste einfach nicht, wie er diesen schweren Fehler jemals wieder gut machen sollte. Nur weil er nicht da gewesen war, hatte es so weit kommen müssen und er wusste nicht, ob er sich das selbst jemals verzeihen konnte. Dabei hatte er doch versprochen gehabt, Jeremiel zu beschützen und nicht zuzulassen, dass ihm etwas passiert. Die Flure der untersten Ebene waren im Gegensatz zu den Gängen des Erdgeschosses kahl, grau, von flackernden Neonröhren erleuchtet und erinnerten mehr an ein Gefängnis. Dabei hatte das Erdgeschoss mit seinem spiegelglatten Glanzboden, den hell erleuchteten sauberen Fluren und der edlen Einrichtung einen so aufgeräumten Eindruck gemacht. Man hätte meinen können, man würde das Innere eines sehr gut florierenden Konzerns besuchen. Die unteren Ebenen mit ihren schweren Metalltüren und dem leichten Geruch von Blut und Desinfektionsmitteln und den kalten düsteren Gängen wirkten hingegen wie ein starker Kontrast. Es war wirklich ein beklemmendes Gefühl, sich hier aufzuhalten und man konnte nur ahnen, was für ein Leben dieser Ort für die Proxys bereithielt, die schon von klein auf hier gefangen gehalten, gefoltert und zum Töten ausgebildet wurden. Hier an diesem Ort war Jeremiel zu einem Proxy gemacht worden, hier hatte man Frederica und die Proxys gefangen gehalten, bevor James Brown mit ihnen nach Amerika abgehauen war. Gerade bogen sie um eine Ecke, da wurde eine der schweren Stahltüren urplötzlich aufgestoßen und im nächsten Augenblick hörten sie Beyond schreien und blieben abrupt stehen. Ein weißhaariger abgemagerter junger Mann mit einer langen Narbe über seinem Brustkorb, der halb nackt war und dessen Gesicht zum größten Teil bandagiert war, griff ihn an und stieß ihn gegen die Wand. Auf seinem Oberarm hatte man „Echo“ eintätowiert und offenbar war das auch ein Proxy. Er riss sich die Bandagen runter, um seinen Mund zu öffnen und dabei eine Reihe spitz gefeilter blutverschmierter Zähne zu entblößen. Mit einem lauten Aufschrei stieß er Beyond gegen die Wand, schlug er seine Zähne in dessen Schulter und biss so fest zu, dass die Zähne die Haut des Serienmörders durchbohrten und blutige Wunden rissen. Liam war sofort zur Stelle und versetzte dem Angreifer einen Hieb mit dem Schwert, welches eine tiefe Wunde in seinen Rücken riss. Augenblicklich ließ der Weißhaarige von Beyond ab, schrie laut auf und war für einen Moment wie erstarrt, dann aber ergriff er augenblicklich die Flucht. L war sofort bei Beyond, der eine Hand auf seine blutende Wunde presste und sich schwer atmend mit dem Rücken zur Wand lehnte und kurz zu Boden sackte. „Beyond, alles in Ordnung?“ „Ja, verdammt“, murmelte der Serienmörder und kam wieder auf die Beine. „Dieser verdammte Psycho hat einen ganz schönen Biss drauf. Ich frag mich echt, was mit dem bloß los war.“ Da es nur eine Bisswunde war und sonst nichts Ernstes vorlag, gingen sie weiter und kamen dabei an der Zelle des Proxys vorbei, der sie attackiert hatte. Und was sie da sahen, war ein einziges blutiges Massaker. Leichenteile lagen verstreut herum und so wie es aussah, hatte der Kerl offenbar eine etwas außergewöhnliche Vorliebe für menschliches Fleisch. „Na großartig, murmelte Beyond, als er das sah. „Jetzt sind die Proxys nicht nur Killermaschinen, sondern auch Menschenfresser. Und mich hatte er gleich zum Fressen gern.“ Sie eilten weiter, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren und passten dieses Mal besonders auf. Es war gut möglich, dass noch mehr Proxys durch Alice aufgehetzt werden würden. Dann würde es noch richtig schwierig werden, zu Jeremiel durchzukommen, wenn Liam gleichzeitig noch L und Beyond beschützen musste. Schließlich erreichten sie eine weitere Abzweigung und fanden zwei Schilder. „Proxy-Zellen“ und „Trainingsräume“. Liam blieb kurz stehen und dachte nach. Was hatte Lacie noch mal gesagt? Ja richtig, sie mussten in die Richtung der Trainingsräume. Also ging es dieses Mal nach links und Liam wurde immer schneller. Teilweise hatten L und Beyond Mühe, ihm zu folgen, da sie nicht so schnell laufen konnten wie er. Sie ließen die diversen Zellen hinter sich und glaubten schon, aus dem Schlimmsten erst mal raus zu sein, doch da kam es zu einer erneuten Überraschung, als sie an einer Zelle vorbeieilten, die allerdings nicht abgeschlossen war. Irgendetwas ergriff plötzlich L’s Bein, sodass er den Halt verlor und zu Boden stürzte. Eine Hand hielt ihn fest gepackt und jemand zog mit aller Kraft an ihm, als wolle er ihn in die Zelle zerren oder sich mit seiner Hilfe aus der Zelle zu befreien. „Helft mir…“, hörten sie eine von Schmerz und Angst geplagte Stimme flehen und L gefror das Blut in den Adern als er sah, dass die Person, die ihn gepackt hatte, niemand anderes als James Brown war. Jene Person, die seinen Bruder damals im Institut erschossen, Frederica jahrelang grausam gefoltert und Andrew, Elion, Sariel und die anderen Proxys schwer misshandelt und unzählige Male vergewaltigt hatte. Nun war er selbst in einer fürchterlichen Verfassung. Die Augen waren ihm ausgestochen worden, seine Beine mehrfach gebrochen und vollkommen verdreht und aus seinen Armen ragten mehrere Nägel, die man ihn in den Körper geschlagen hatte. Am ganzen Körper hatte er Schnittwunden und wies auch Spuren von Verbrennungen auf. Als wäre er selbst auf eine bestialische Art und Weise lange Zeit gefoltert worden, sodass er fast völlig entstellt war und kaum noch einem Menschen ähnlich war. Es war ein entsetzlicher Anblick und er litt Höllenqualen. Noch nie in seinem Leben hatte L so etwas Entsetzliches direkt vor seinen Augen gesehen und als er in dieses blutige und zerschnittene Gesicht sah, war er wie erstarrt. „Nimm deine Dreckspfoten von meinem L, du dreckiger Psychopath!!!“ rief Beyond und verpasste ihm einen kräftigen Tritt ins Gesicht, der dem Schwerverletzten die Nase brach und einen Zahn ausschlug. Er zog sein Messer und ging direkt zu ihm hin und seine Shinigami-Augen funkelten mörderisch. Sein Gesicht war von Hass und purer Verachtung gezeichnet und man sah ihm an, was er vorhatte: er wollte James Brown töten. „Ich bringe dich gerne noch ein zweites Mal um, wenn es sein muss. Du wirst bezahlen für das, was du Andrew und den anderen angetan hast. Ich kastrier dich eigenhändig und lass dich an deinem eigenen Sack ersticken, du mieser Dreckskerl!“ Gerade wollte Beyond zustechen, doch Liam hielt ihn davon ab. „Lass den Blödsinn und komm mal wieder runter. Wegen dem da brauchst du deine Energie ganz gewiss nicht zu verschwenden.“ „Aber er hat…“ „Ich weiß. Und deswegen solltest du den Quatsch sein lassen, ihn von seinem Leid zu befreien. Er ist damit schon genug gestraft und er ist es nicht wert, dass man ihn umbringt.“ Beyond kämpfte wirklich mit sich. Denn James Brown hatte genug Verbrechen begannen, für die er den Tod verdiente. Allein schon, was er Andrew und den Proxys angetan hatte, war unverzeihlich und er hätte ihn am liebsten tausend Male dafür umgebracht. Aber andererseits… Liam hatte Recht. Er war es nicht wert, dass man sich wegen ihm die Hände schmutzig machte. Und im Grunde hatte er nur bekommen, was er verdient hatte. Er sollte genauso leiden wie seine Opfer und ihn zu töten, würde ihn nur von dieser Qual erlösen. L ergriff schließlich seine Hand und sah ihn fest an. „Beyond, Liam hat Recht. Dieser Kerl ist es einfach nicht wert. Also beruhige dich bitte und lass uns weitergehen.“ Und damit ließ Beyond von ihm ab, versetzte ihm aber noch einen Tritt ins Gesicht und half L wieder hoch. „Ihr habt Recht. So wie es jetzt ist, hat er es nicht anders verdient. Und du…“ Damit wandte er sich an den blinden und schwer verletzten James Brown. „Ich hoffe, du stirbst möglichst langsam und schmerzvoll!“ Sie gingen weiter und ließen den vor Schmerz schreienden und stöhnenden James Brown zurück, welcher völlig hilflos war und nichts tun konnte, als über den Boden zu kriechen und darauf zu hoffen, dass sich irgendjemand erbarmen würde, ihm zu helfen. Doch bei seinem kranken Sadismus und seinem widerwärtigen Charakter würde es sie wundern, wenn sich tatsächlich irgendjemand finden würde, der ihm freiwillig half. Schließlich erreichten sie eine Treppe, die nach unten führte. Eine Gruppe bewaffneter Wachmänner stellte sich ihnen in den Weg, um sie aufzuhalten, doch Liam räumte sie schnell aus dem Weg, damit sie nicht noch mehr an kostbarer Zeit verloren. Gerade wollten sie um eine Ecke biegen, doch da riss Liam L im allerletzten Moment zurück, als auch schon eine Kugel haarscharf an seinem Kopf vorbeisauste und ihn fast tödlich getroffen hätte. Sie schlug direkt in die Wand ein und sogleich sahen sie auch, wer die Kugel abgefeuert hatte. Nämlich niemand anderes als Sam Leens. Mit vollkommen ausdrucksloser Miene starrte er sie an und seine eisblauen Augen wirkten matt und leer, als befände sich nichts Lebendiges darin. Er war es tatsächlich… „Jeremiel!“ rief L, als er ihn sah und beinahe wäre er losgeeilt, doch der Mafiaboss stieß ihn unsanft zurück, sodass der Meisterdetektiv zu Boden stürzte und Beyond ging direkt zu ihm hin, um ihm hochzuhelfen. „Ihr bleibt zurück und macht keinen Blödsinn, kapiert? Ich regle das schon“, wies der Unvergängliche sie an und zog sein Schwert. „Er wird euch sofort abknallen, wenn ihr aus eurer Deckung rauskommt. Er ist nicht umsonst ein Meisterschütze und trifft problemlos auf 60 m Entfernung. Lasst mich das nur machen. Ich hab das schnell geklärt.“ Damit zog der Mafiaboss sein Schwert und kam aus seiner Deckung hervor. Sofort schoss Sam Erneut, doch Liam wehrte jede Kugel mühelos mit seinem Schwert ab, sodass kein einziger Schuss ihn wirklich traf. Ein Mensch hätte das kaum hingekriegt. „Eines solltest du dir hinter die Ohren schreiben: erstens können Unvergängliche die Laufbahn der Kugeln stoppen und problemlos zurücksetzen, wodurch Schusswaffen gegen uns eigentlich absolut unbrauchbar und überflüssig sind. Und zweitens: selbst das brauche ich nicht mal, um Kugeln abzuwehren. Wenn du mir die Stirn bieten willst, brauchst du schon mehr.“ Sam zeigte sich unbeeindruckt und schoss weiter. Er nahm schließlich noch eine zweite hinzu, doch da machte der Mafiaboss einen Satz nach vorne, kassierte einen Streifschuss an der linken Schulter und an seinem rechten Bein, als er selbst zum Angriff überging. Mit der stumpfen Rückseite seines Schwertes schlug er Sam die Waffe aus der Hand, packte seine andere und drehte ihm die andere Pistole aus der Hand und konnte ihn somit blitzschnell entwaffnen. Sam versuchte sich loszureißen und wollte zuschlagen, aber einen muskulösen zwei Meter großen Mann wie Liam J. Adams, der zudem auch kein Mensch war, konnte er nicht in die Knie zwingen. Das wussten sie beide. Dennoch wollte er nicht aufgeben, weil es ihm eben so befohlen wurde. Schließlich aber rang Liam ihn zu Boden und hielt ihn fest. „Los!“ rief er Beyond zu, der hinter der Deckung hervorlugte, um den Kampf beobachten zu können. „Spritz ihm schon endlich das Serum!“ Der Serienmörder eilte herbei und wollte die Spritze hervorholen, welche er von Nastasja bekommen hatte. Doch als er in seine Tasche griff, fand er die Spritze nicht. Obwohl er sich hundertprozentig sicher war, die Spritze sicher genau dort verwahrt zu haben, war sie plötzlich nicht mehr da, selbst an seinen anderen Taschen. „Wird’s bald?“ fragte Liam, der langsam ungeduldig wurde. Beyond durchsuchte seine ganzen Taschen noch mal, aber die Spritze war nicht mehr da. „Scheiße verdammt“, rief er und hätte sich am liebsten selbst erwürgt. „Sie ist weg. Die Spritze mit dem Serum ist weg! Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich sie vorhin noch hatte, aber… sie ist nicht mehr da!“ Kapitel 9: Bedingungslose Liebe ------------------------------- „Was soll das heißen?“ rief der Mafiaboss und wurde so langsam sauer. „Wieso hast du sie nicht mehr?“ Der Serienmörder versuchte zu rekonstruieren, wann er die Spritze noch gehabt hatte, doch er konnte es nicht mehr genau sagen. Seine naheliegendste Vermutung war, dass es bei dem Angriff von diesem Proxy passiert sein musste, der ihn gebissen hatte. „Wahrscheinlich war das der Proxy gewesen. Scheiße, er muss sie mir abgenommen haben und ist damit abgehauen. Was machen wir denn jetzt?“ „Na improvisieren“, erklärte Liam und drückte Sams Kopf auf den Boden. „Ich werde versuchen, Jeremiel über die mentale Verbindung zurückzuholen und den Unborn auf diese Weise zu zerstören. Immerhin hat es ja auch schon bei Frederica funktioniert, also müsste es bei ihm rein theoretisch auch klappen…“ „Bist du dir da sicher?“ „Hast du einen besseren Vorschlag? Eine andere Wahl bleibt uns da leider nicht. Shit, es muss aber auch immer irgendetwas schief gehen.“ Liam atmete tief durch versuchte sich zu konzentrieren. Er ärgerte sich in Grund und Boden, dass ihnen so ein Fehler unterlaufen musste und dass Beyond die Spritze mit dem Serum verloren hatte. Aber wahrscheinlich hatte der Angriff dieses Proxys „Echo“ sowieso nur das Ziel gehabt, ihm das Serum abzunehmen. Alice war ja nicht blöd. Sie musste schon längst gewusst haben, dass es Nastasja gelungen war, ein Gegenmittel für den Unborn zu entwickeln, immerhin war diese ja Humanbiologin und galt als Beste ihres Fachs. Also wäre es doch eigentlich mehr als logisch, wenn sie schon selbst auf den Schluss gekommen war, dass sie versuchen würden, Jeremiel mit dem Serum zu helfen. Und wahrscheinlich hatte sie über die Überwachungskameras mitbekommen, wer das Serum bei sich hatte. Oh Mann, sie waren ein wenig zu naiv hier reingegangen und hatten jetzt den Salat. Ob Samajim das auch einkalkuliert hatte, als er durch Nabi ausrichten ließ, es würde alles funktionieren? Tja… das würde er wohl nicht so schnell erfahren. Jetzt galt es sowieso erst mal, Jeremiel zu retten, bevor es zu spät für ihn war. Um sich zu beruhigen, atmete er noch ein weiteres Mal tief durch, schloss die Augen und baute die mentale Verbindung zu Sam Leens auf. Die einzige Chance, Jeremiels Leben zu retten, bestand jetzt darin, den Unborn auf diese Weise zu bekämpfen und auch Sam Leens für immer zu vernichten. Als er die Augen öffnete, fand er sich in einer Welt wieder, in der es rein gar nichts gab. Kein Licht, keine Dunkelheit, weder Wärme noch Dunkelheit, Geräusch oder Stille… er kannte diese Welt. Er hatte sie vor einiger Zeit Jeremiel gezeigt um ihm zu beweisen, dass er nicht Sam Leens war und auch um ihm zu zeigen, wie die Welt dieses Namenlosen aussah. Und doch konnte er deutlich die Anwesenheit des Unborns spüren… der dunklen Seite von Elohim. Er folgte diesem Gefühl und durchwanderte diese vollkommen leere Welt. Es war schwer zu sagen, wie weit er gehen musste, wie weit er schon gegangen war und wohin er genau gehen musste. Jeder andere wäre ziellos umhergeirrt und hätte sich in dieser Welt vollständig verloren, da es hier rein gar nichts gab, nicht einmal schwarz oder weiß. Viele wären vielleicht verrückt geworden an so einem Ort. Menschen hätten es hier nicht lange ausgehalten und wahrscheinlich den Verstand verloren, weil dieser Ort fern von ihrem Fassungsvermögen lag und dem, was sie kannten. Deshalb hatte er auch beschlossen, alleine zu gehen, um Jeremiel zu retten. Blieb nur zu hoffen, dass er noch nicht zu spät kam. „Du musst es töten, wenn du ihn retten willst.“ Liam drehte sich um und hielt sein Schwert bereit zum Angriff und tatsächlich sah er für einen kurzen Sam Leens hinter sich, aber dann war er auch wieder verschwunden, als wäre dies nur eine kurze Halluzination gewesen. Ein wenig ratlos blieb der Mafiaboss stehen und fragte sich, was das nur zu bedeuten hatte. War das gerade wirklich Sam Leens gewesen? Ja aber wieso hatte er ihm das gesagt? Normalerweise half er niemandem und verfolgte stets seine eigenen Interessen. Irgendwie war das schon sehr merkwürdig. Womöglich hatte vielleicht Jeremiel etwas damit zu tun… Nun, das würde er noch herausfinden, aber jetzt galt es erst einmal, Jeremiel und den Unborn-Ableger zu finden. Also ging er weiter und orientierte sich einzig und allein nach seinem Gefühl. Schließlich aber begann er etwas zu hören. Eine Stimme, die ihm vertraut vorkam und die ihn mit jenem Namen rief, der ihm so verhasst war. „Araphel…“ Seine Anwesenheit war also nicht unbemerkt geblieben. Na, eigentlich auch kein Wunder. Er ging weiter und tatsächlich sah er es endlich: das Gefängnis, in welches Jeremiel gesperrt worden war. Und er befand sich in einem schlechten Zustand. Er war längst nicht mehr bei Bewusstsein und wurde langsam aber sicher von einer dicken schwarzen Masse verschlungen, die ihn immer tiefer in sich hineinzog. „Jeremiel!“ Liam zog sein Schwert und wollte ihn da rausholen, doch sonderte sich etwas von dieser schwarzen Masse ab und eine Silhouette begann sich daraus zu formen. Sie wehrte seinen Angriff ab und so langsam begann sich ein Gesicht zu formen. Das Wesen nahm vor seinen Augen menschliche Gestalt an und was er da sah, war ein Mann mit schulterlangem platinblondem Haar und eisblauen Augen, in denen sich die Ewigkeit zu spiegeln schien. Es hatte gewisse Ähnlichkeiten mit Jeremiel, doch wirkte dieses Gesicht älter, weiser und auch zugleich viel hasserfüllter. „So sehen wir uns nach langer Zeit wieder, mein alter Freund und Verbündeter. Wirklich erstaunlich, was diese lange Zeit aus uns beiden gemacht hat. Aus dir haben sie eine Marionette der großen Alten gemacht und aus mir… einen Parasiten, gefangen in den Zellen eines Ungeborenen.“ „Wir sind keine Verbündeten mehr und ich bin auch nicht die Marionette der großen Alten!“ Liam griff erneut an, doch der Unborn schaffte es mühelos, jeden Angriff abzuwehren und lächelte nur amüsiert über die Versuche. Schließlich blickte der Unborn zu dem leblosen Jeremiel herüber, der fast vollständig in der Schwärze verschwunden war. „Warum riskierst du dein Leben für diesen kleinen erbärmlichen Menschen? Das ist doch unter unserer Würde. Und wie hast du dir vorgestellt, soll er sein Leben verbringen? An deiner Seite vielleicht, um dann eines Tages denselben Weg einzuschlagen und zu einem windigen Mafioso zu werden, der genauso grausam und eiskalt ist wie du? Soll er tatsächlich ein Sefira werden, nur um bei dir bleiben zu können und seine ganze Familie sterben sehen? Findest du nicht auch, dass das ein wenig naiv und selbstsüchtig von dir ist, ihm deinen Willen aufzuzwingen? Du verlangst von ihm, seine Familie zu verlassen und zu einem Teil deiner Familie zu werden. Und wir wissen doch beide, wie es um deine bestellt ist, mein Freund.“ „Halt die Schnauze!“ rief Liam hasserfüllt und griff dieses Mal mit mehr Kraft an, aber selbst das schien nicht auszureichen, um dem Unborn-Elohim die Stirn bieten zu können. Er schaffte es ja nicht einmal, seine Schwester zu besiegen und diese Machtlosigkeit… diese Hilflosigkeit, dass er nichts ausrichten konnte, während Jeremiel langsam aber sicher starb, machte ihn umso wütender und er stand kurz davor, endgültig zu explodieren. Und wahrscheinlich war es genau das, was sein Gegner beabsichtigte. „Jeremiel hat sich aus freiem Willen für mich entschieden und ich werde gewiss nicht zulassen, dass er in meine Geschäfte reingezogen wird und er meinetwegen in Gefahr gerät.“ „Bist du dir da wirklich so sicher?“ fragte der Unborn listig und ein eiskaltes Lächeln zog sich über seine Lippen. „War es denn nicht so, dass du ihn eingesperrt und vergewaltigt hast, nur um zu bekommen, was du wolltest? Du weißt genauso wie ich, was du ihm alles angetan hast und wie sehr er wegen dir leiden musste. Und da denkst du allen Ernstes, er würde bei dir bleiben, weil er dich liebt? Nein, er tut es allein aus Angst. Er liebt dich nicht wirklich, er hat nur Angst, dass du ihm und seiner Familie etwas antun könntest, wenn er sich nicht deinem Willen beugt. Du kannst niemanden lieben, genauso wie dich nie jemand lieben wird. Das Einzige, was du kannst, ist Angst zu verbreiten. Und inzwischen hast du dein kleines Schoßhündchen ja gut genug abgerichtet, dass es dir willenlos folgt, weil es sich inzwischen in einer völligen Abhängigkeit von dir befindet. Weißt du, wo dieses Phänomen sonst noch anzutreffen ist? Bei Peinigern, die ihre Opfer schon seit langer Zeit in ihrer Gewalt haben und sie seelisch brechen und von sich abhängig machen. Und nichts anderes tust du mit Jeremiel, genauso wie du es bereits mit Nikolaj getan hast.“ Diese Worte trafen den Mafiaboss hart und für einen kurzen Moment zögerte er. Er war verunsichert, denn er wusste, dass er Jeremiel schlimme Dinge angetan hatte. Es stimmte schon. Er hatte ihn tagelang eingesperrt und ihn vergewaltigt, als dieser unter Drogeneinfluss stand. Anstatt ihn zu beschützen, hatte er ihm nur wehgetan und Jeremiel hatte trotzdem zu ihm gehalten. Etwa tatsächlich aus Angst vor ihm, weil er sich aus einem reinen angeborenen Selbsterhaltungstrieb freiwillig seinem Willen unterordnete und alles tat, was er sagte? Konnte es wirklich sein, dass Jeremiel ihn nicht liebte, sondern nur aus Angst bei ihm blieb? Die ganze Zeit war er sich sicher gewesen, dass Jeremiel ihn liebte, aber nun war er sich da nicht mehr so ganz sicher. Was wenn es stimmte und Jeremiel nur Angst vor ihm hatte? Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen Körper, als die Klinge des Unborns ihn direkt in die Brust traf. Liam taumelte, ließ fast sein Schwert fallen und sank in die Knie, wobei er Blut hustete. Er presste eine Hand auf seine Wunde und schaffte es nur mit Mühe, den nächsten Angriff abzuwehren. „Du bist ziemlich schwach geworden, Araphel“, bemerkte der Unborn spöttisch und lachte. „Die Zeit bei den Menschen hat dich ganz schön verweichlicht. Sie und die großen Alten haben dich zu einem erbärmlichen Schwächling gemacht und so wie es jetzt ist, wirst du deinen geliebten Jeremiel nicht retten können. Solange du Skrupel hast, wirst du immer versagen. Denn es macht dich schwach und vor allem macht es dich „menschlich“. Wenn du Jeremiel wirklich retten willst, dann musst du diese lächerlichen Attitüden ablegen. Lege diese überflüssigen Gefühle ab, die dich aufhalten und vor allem lege dieses Licht ab, das dich so schwächt. Nur so wirst du es schaffen, ihn zu retten. Oder willst du ihn noch mal verlieren, genauso wie du Nikolaj verloren hast, nur weil du zu schwach warst, um ihn zu beschützen?“ Liam wusste nicht mehr, was er tun sollte und kam sich so hilflos vor. Was sollte er tun? Er konnte den Unborn nicht besiegen und wenn er nichts tat, würde er Jeremiel verlieren. Doch war dies wirklich der einzige Weg, ihn zu retten? Einfach diese letzten Skrupel abzulegen und seine Gefühle zu verschließen? Bestand die einzige Hoffnung darin, wieder zu Araphel zu werden? Er wusste nicht, was er tun sollte und war innerlich völlig zerrissen. Ein Schuss unterbrach diese Stille und Liam sah, wie eine Kugel die Stirn des Unborns durchbohrte und ihn damit zum Schweigen brachte. Er wandte sich um und sah, dass es Sam Leens war, der mit einer Pistole auf den Unborn zielte. Und sogleich legte sich eine Hand auf seine Schulter und neben ihm stand niemand anderes als Nikolaj. Zuerst glaubte der Mafiaboss an eine Halluzination, aber er war es tatsächlich. „Du lässt dich ganz schön gehen“, bemerkte Nikolaj und lächelte. Es war dieses etwas verträumte und nachdenkliche Lächeln, welches er vor langer Zeit zuletzt gesehen hatte. Nein, nicht ganz… er hatte es zuletzt bei Jeremiel gesehen, bevor sie sich voneinander verabschiedet hatten. „Dabei würdest du doch in so einer Situation sagen, dass du einen Scheiß auf das gibst, was andere sagen. Na komm, steh wieder auf.“ Damit half der Verstorbene ihm wieder auf die Beine und Liam, der das alles gar nicht fassen konnte, nahm ihn in den Arm. Er war in diesem Moment so von seinen Gefühlen überwältigt und konnte nicht glauben, dass das hier wirklich geschah. „Nikolaj… wa-warum bist du…“ „Hast du es vergessen? Ich bin ein Teil von Jeremiel, genauso wie er ein Teil von mir ist. Wir sind ein und dieselbe Person. Und nun lass mich dir eines mal sagen, Liam: du musst endlich damit aufhören, dich an deinem alten Leben festzuklammern und dir einzureden, dass alles, was du je getan hast, falsch war. Es mag ja sein, dass du Jeremiel Dinge zugemutet hast, die nicht in Ordnung waren. Aber er liebt dich trotzdem, genauso wie ich dich liebe. Und ich habe dir auch nie die Schuld dafür gegeben, dass ich gestorben bin. Keiner trägt Schuld daran. Wir sind alle nur Opfer des Hasses geworden und Eva hat alles Erdenkliche getan, damit du wieder glücklich werden kannst. Zusammen mit mir und Jeremiel. Also hör auf, dir einreden zu lassen, dass Jeremiel oder ich dich nicht lieben würden und nur aus Angst mit dir zusammen sind. Du solltest etwas mehr Vertrauen in unsere Gefühle haben. Und außerdem…“ Damit ergriff Nikolaj Liams Hand und zeigte auf das Lederarmband mit der Gravur, wo Jeremiels Name in hebräischer Schrift geschrieben standen. Es war ein Geschenk gewesen, verbunden mit dem Versprechen, dass Jeremiel zu ihm zurückkehren würde. „Das hier ist ein Beweis dafür, dass er dich aufrichtig liebt. Genauso wie ich dir das Kreuz geschenkt habe als Versprechen dafür, dass ich zu dir zurückkomme. Und wenn ich dich nicht geliebt hätte, dann hätte ich dir das Versprechen doch kaum gegeben, oder nicht? Es mag ja sein, dass du das Finstere in dieser Welt verkörperst. Aber in dir steckt auch Gutes und das wolltest du dir mit aller Macht bewahren, weil du diese Gefühle für Jeremiel nicht verlieren wolltest. Und solange noch Gutes in dir steckt, werden auch meine und Jeremiels Gefühle nicht verschwinden. Hey, Jeremiel glaubt an dich und er hat so lange ausgeharrt, weil er darauf vertraut hat, dass du kommst. Und hast du vergessen, wieso dir dein jetziger Name so wichtig ist? Liam bedeutet „der Beschützer“. Solange du an diese gemeinsame Liebe glaubst und an deiner Überzeugung festhältst, kannst du es schaffen. Also reiß dich zusammen und werde wieder der Alte, Liam.“ Und diese Worte hatten endgültig die letzten Zweifel beseitigt. Liam nahm sein Schwert wieder fest in die Hände und in seinen Augen war wieder der gleiche wild entschlossene Blick zu sehen, mit welchem er das Institut betreten hatte. Nikolaj hatte Recht. Diese Liebe war echt und Jeremiel zählte auf ihn. Deshalb durfte er jetzt auch nicht einfach so die Flinte ins Korn werfen, oder sich von diesem Unborn bequatschen lassen. Mochte zwar sein, dass er niemals so ein Vorzeigecharakter werden würde wie seine Schwester, aber er war stolz darauf, dass er sich dazu entschieden hatte, unter den Menschen zu leben und niemals seine Macht zu missbrauchen. Und vor allem war er stolz darauf, dass er sich von niemandem herumkommandieren ließ und nach niemandes Pfeife tanzte. Ihn interessierten die großen Alten nicht, ebenso wenig wie dieser Unborn und was der ihm einzureden versuchte. Er würde Jeremiel retten und davon würde nichts und niemand ihn abhalten. Noch einmal würde er garantiert nicht den Menschen verlieren, den er so sehr liebte. „Du kannst dir deine kleinen Psychospielchen sparen und von mir aus denken, was du willst. Das interessiert mich eh nicht die Bohne“, erklärte er und machte sich bereit zum Angriff. „Ich werde hier nicht ohne Jeremiel weggehen und ich werde jeden aus dem Weg räumen, der mich davon abhält!“ Damit griff er an und schlug unbarmherzig auf den Unborn ein. Dieser konnte zwar die ersten Schläge problemlos wegstecken, doch er erkannte schnell, dass es langsam ernst wurde. Egal wie oft er auch versuchte, selbst anzugreifen, Liam blockte jeden Schlag ab und warf sie auf ihn selbst zurück. Es war mit einem Mal ein ganz anderer Kampfstil als zuvor und er begriff auch nicht, was sich da plötzlich verändert hatte. Doch dann erkannte er so langsam, an wen dieser Kampfstil ihn erinnerte: Ahava. Ja, sie bewegten sich fast genau gleich und obwohl Liam nie wirklich mit seiner Schwester mithalten konnte, sah es jetzt tatsächlich danach aus, als würde er aufholen. Nein, er holte nicht auf. Er war dabei, sie zu übertreffen. Aber wie war das überhaupt möglich? Was hatte sich denn geändert, dass Liam mit einem Male so viel stärker geworden war und mit einem Male genauso kämpfte wie Ahava damals während des Krieges? Es ist der Wille, jemanden zu beschützen, den man mehr liebt als sein eigenes Leben. Ja… das hatte sich geändert. Liams Wille, Jeremiel zu retten und ihn mit seinem Leben zu beschützen, machte ihn genau zu dem, was Ahava verkörperte: die ungebrochene und bedingungslose Liebe zu jemandem. Er hatte seine eigene Finsternis überwunden und sein altes Ich vollständig abgelegt, weil das Leben eines anderen ihm wichtiger war als alles, was er besaß. Sein Leben, seine Macht… einfach alles… „Du verdammter…“, zischte der Unborn wutentbrannt und griff an. Es entstand ein heftiger Kampf und jeden Treffer steckte Liam ohne mit der Wimper zu zucken weg und attackierte unbarmherzig seinen Gegner. Und dann, als der Unborn ihm die Klinge erneut in die Brust stoßen wollte, duckte sich der Mafiaboss und rammte ihm sein Schwert in den Bauch. Er vollführte einen tiefen Schnitt und als sein Gegner durch den schweren Schlag wie betäubt war, schlug er ihm mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Das gab dem Unborn endgültig den Rest. Er erstarrte in der Bewegung und begann, sich langsam aufzulösen. Wie vertrocknetes Herbstlaub zerfiel er einfach und war gänzlich verschwunden. Schwer atmend blieb Liam stehen und steckte sein Schwert wieder ein. So langsam verstand er nun endlich, wieso es ihm niemals gelungen war, seine Schwester zu besiegen, egal wie sehr er sich auch immer angestrengt und wie hart er an seinen Fähigkeiten gearbeitet hatte. Eva hatte immer für ihn gekämpft und er… er hatte für sich selbst gekämpft. Darum war ihre Motivation, zu gewinnen, immer stärker gewesen als seine und deshalb hatte er immer verloren. Und nun hatte er es endlich geschafft. Er hatte diesen verdammten Unborn besiegt und konnte sich nun um Jeremiel kümmern. Dieser lag regungslos auf dem Boden und war immer noch nicht bei Bewusstsein. Nikolaj ging zu ihm hin und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Ich glaube, es wird Zeit, dass ich wieder zurückkehre.“ „Was?“ fragte Liam fast schon erschrocken, als er das hörte. Sofort eilte er zu ihm hin und ergriff seine andere Hand. „Du musst gehen? Wieso?“ „Na weil Jeremiel ohne mich nicht überleben kann. Er braucht mich.“ „Aber… ich habe dich schon einmal verloren. Ist das denn der einzige Weg?“ Nikolaj nickte und lächelte dennoch zuversichtlich. „Wenn ich es nicht tue, wird Jeremiel verschwinden und aufhören zu existieren. Deshalb kehre ich wieder zu ihm zurück. Aber mach dir keine Sorgen um mich. Jeremiel und ich, wir sind ein und dieselbe Person. Solange er bei dir bleibt, werde ich auch nicht von deiner Seite weichen. Liam, du hast ein wirklich großes Herz und du kannst stolz auf das sein, was du getan hast. Und ich bin froh, dass du es bist, in den ich mich verliebt habe.“ Damit küsste Nikolaj ihn, bevor er gänzlich verschwand. Er war einfach so wieder fort, nachdem sie sich nach 445 Jahren seit seinem tragischen Tod wiedergesehen hatten. Und für einen Moment spürte Liam den unbändigen Drang zu weinen. Aber auch nur für einen Moment, denn da vernahm er eine Stimmte… eine so vertraute Stimme, die er überall wiedererkannt hätte. „Liam?“ Zwei eisblaue Augen sahen ihn an und strahlten so hell, als würden sie leuchten. Und ehe er imstande war, etwas zu sagen oder überhaupt zu reagieren, da legten sich zwei Arme um ihn und er spürte diese warme und innige Umarmung, die er sofort erwiderte. Er war so unendlich erleichtert in diesem Moment, dass ihm die Tränen kamen. „Jeremiel… es tut mir so leid. Ich hätte mit dir nach England mitkommen sollen, dann wäre das alles nicht passiert. Ich hätte…“ doch bevor er weitersprechen konnte, unterbrach ihn der 26-jährige mit einem Kuss und lächelte überglücklich. „Mach dir keine Vorwürfe, ja? Niemand hätte ahnen können, dass so etwas passieren würde. Du bist doch gekommen und hast mich gerettet und allein das zählt.“ Sie lagen sich eine Weile in den Armen und waren noch nie so froh gewesen, sich wieder so nahe zu sein wie jetzt. Aber dann löste sich Jeremiel wieder von ihm und kam mit Liams Hilfe wieder auf die Beine. Er wandte sich Sam Leens zu, der das ganze aus der Distanz beobachtet hatte und der wie immer denselben ausdruckslosen Blick hatte. Der 26-jährige ging zu ihm hin. „Sam, ich möchte mich bei dir bedanken, dass du Liam geholfen hast. Und nun möchte ich mein Versprechen dir gegenüber einlösen.“ Damit reichte er ihm die Hand. „Du wirst endgültig zu einem Teil von mir und kannst dir damit deinen größten Wunsch erfüllen, selbst Gefühle empfinden zu können.“ Gerade wollte Sam ihm seine Hand geben, doch da ging Liam dazwischen, als er erkannte, was Jeremiel da vorhatte. „Warte! Wenn du das tust, nimmst du auch seine Erinnerungen an all die Morde an, die er begangen hat. Dein Leben wird sich für immer verändern, wenn du das tust. Du wirst dich verändern. Jeremiel, das ist es nicht wert. Es wäre besser, wenn er verschwindet und das weiß er mit Sicherheit auch.“ Doch er konnte ihn nicht davon abbringen, diesen Entschluss durchzuziehen. Jeremiel schüttelte den Kopf und erklärte „Sam hat mir geholfen, so lange durchzuhalten, bis ihr gekommen seid. Und auch wenn er viele schlimme Dinge getan hat, ist er trotzdem ein Teil von mir und er wird es auch immer bleiben. Egal was ich tue. Wir dürfen nicht vergessen, dass Sam genauso ein Opfer ist wie ich und er hat diese Morde begangen, weil er sich nicht anders zu helfen wusste. Er wollte doch auch nur ein normales Leben als normaler Mensch haben und genauso lachen und weinen können wie alle anderen. Er hat ein Recht darauf, genauso glücklich zu werden wie ich und es wäre nur ungerecht, wenn ich ihn von mir stoße und ihn verleugne. Sein Leben ist auch mein Leben. Und weil er nichts außer seinen Erinnerungen hat, werde ich mich auch nicht allzu sehr verändern. Dessen bin ich mir ganz sicher. Also lass mich das tun, Liam. Ich habe es ihm versprochen und ich will ihm eine Chance geben, weil ich ohne seine Hilfe jetzt nicht mehr leben würde.“ Liam sah ein, dass er gegen diese Argumentation nichts vorbringen konnte. Und Jeremiel war ohnehin ein absoluter Dickkopf, der sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Und auch sonst war er viel zu hartnäckig und willensstark, um sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Er glaubte an das, was er da tat und er war bereit, dafür alles in Kauf zu nehmen. Liam hatte es ja schon am eigenen Leib erfahren, wie entschlossen und hartnäckig Jeremiel sein konnte. Immerhin hatte dieser immer wieder die Nähe zu ihm gesucht, ganz egal wie oft er versucht hatte, ihn von sich zu stoßen aus Angst, er könne ihm wehtun. Also gab er es auf, Jeremiel davon abzuhalten und sah, wie er Sams Hand nahm und dieser sich langsam aufzulösen begann. Und damit verschwand auch diese beklemmende leere Welt um sie herum. Kapitel 10: Narben ------------------ Unruhig warteten L und Beyond und waren sich nicht ganz sicher, ob Liams Plan wirklich klappen würde. Was, wenn er sich auch mit dem Unborn infizierte? Dann sah es mehr als schwarz für sie aus und nicht auszudenken, was dann passieren würde. Schließlich aber löste sich der Mafiaboss von dem 26-jährigen und einen Moment lang war nicht ganz klar erkennbar, wer denn jetzt die Oberhand hatte. Doch als dieser den Unvergänglichen umarmte und man die unendliche Erleichterung und Dankbarkeit in diesen eisblauen Augen sah, waren die letzten Ungewissheiten beseitigt. Jeremiel war wieder zurück… Liam hatte es geschafft. Unendliche Erleichterung überkam den Detektiv und er ging direkt zu den beiden hin, Beyond folgte ihm. Sogleich, als Jeremiel seinen Bruder sah, fiel er ihm in die Arme. „L, Beyond… bin ich froh, euch wiederzusehen.“ „Jag uns nie wieder so einen Schreck ein, kapiert?“ rief der Serienmörder direkt. „Dein Bruder hat fast kein Auge mehr zumachen können und deine Mutter ist auch krank vor Sorge. Und du…“ Er sprach nicht weiter, sondern schwieg und musterte Jeremiel plötzlich mit einem ganz seltsamen Blick und legte mit einem teils irritierten und teils nachdenklichen Blick den Kopf zur Seite und dann, ohne Vorwarnung, ergriff er eine von Jeremiels Haarsträhnen. Dieser zuckte zusammen und rief „Au!“, woraufhin der Serienmörder ihn losließ. L verstand selbst nichts und fragte „Was sollte das jetzt, Beyond?“ „Tat es weh, als ich deine Haare angefasst habe?“ Der BB-Mörder ignorierte L einfach und widmete seine Aufmerksamkeit einzig und allein Jeremiel, der wahrscheinlich genauso verwirrt war wie sein Bruder. Zögernd fuhr er sich mit seinen Fingern durchs Haar und murmelte erstaunt „Ja… ich verstehe das auch nicht wirklich. So etwas hatte ich noch nie… Beyond, was sagen deine Shinigami-Augen?“ „Dass weder Name, noch Lebenszeit von dir erkennbar sind. Haben sie dir irgendetwas verabreicht?“ Jeremiel dachte kurz nach und fuhr sich wieder durchs Haar. „Nun, sie haben mir tatsächlich irgendetwas gespritzt, aber sie meinten, dass es noch nicht ausgereift sei und deshalb wollten sie mir das fertig gestellte Mittel spritzen, damit der Unborn vollständig von mir Besitz ergreifen kann. Sie nannten das Mittel Sin’a. Wahrscheinlich hat es meine DNA tatsächlich verändert und in diesem Fall bin ich offenbar kein Mensch mehr, sondern… sondern ein vollständiger Proxy.“ Nachdem sich Jeremiel gefangen hatte, überlegten sie, wie sie weiter vorgehen sollten. „Es wäre vielleicht besser, ihn rauszubringen. Wenn Alice noch auf ihn Einfluss ausüben kann, dann wäre es zu gefährlich.“ Doch Jeremiel war nicht davon abzuhalten, mitzukommen und ihnen zu helfen. Er fühlte sich auch soweit fit genug, um mit ihnen mitzuhalten und er wollte ja auch Antworten auf so viele Fragen haben. Insbesondere warum ausgerechnet er für das Experiment ausgewählt wurde. L lehnte zwar ab, aber Jeremiel gab in diesem Moment recht wenig auf seine Worte und erklärte ganz einfach „Ich bin hier der Ältere von uns beiden und außerdem habe ich genauso ein Recht darauf zu erfahren, warum das alles passiert ist, so wie ihr alle. Und wenn der Alpha-Proxy versuchen sollte, mich wieder zu beeinflussen, kann Liam mich auch kurzerhand außer Gefecht setzen. Aber ich komme definitiv mit.“ „Definitiv nicht!“ erwiderte L und war schon ein wenig genervt. Er war es gewohnt, dass man sich an seine Anweisungen hielt, aber bei seinem Bruder war es leider anders. Denn der hatte seinen eigenen Kopf und blieb auch hartnäckig bei seiner Entscheidung. Letztendlich gab L es auf und willigte unter der Voraussetzung ein, dass Liam sofort Maßnahmen ergreifen würde, wenn Jeremiel wieder unter Alices Einfluss geraten sollte. Also machten sie sich auf den Weg und dabei erklärten sie Jeremiel die ganze Situation und was sie bis jetzt herausgefunden hatten. Angefangen von den wahren Hintergründen von Projekt AIN SOPH, den Sefirot-Kriegen und welche Rolle Liam, Eva und Dathan dabei spielten und wer hinter der Maske des Alpha-Proxys steckte. „Damit ich das also richtig verstehe“, sagte Jeremiel, nachdem L und Beyond mit ihrem Bericht fertig waren. „Alice Wammy ist die Leiterin des Projekts und ist mit Elohims dunkler Seite verschmolzen und will nun Rache an der Welt nehmen und dann im Anschluss die Entitäten zurückholen, die in der Lage sind, eine friedliche Welt ohne Hass und Leid zu erschaffen. Und diese Lacie hat jetzt vor, Ain Soph zurückzuholen und Alice von Elohims Einfluss zu befreien.“ „So in etwa trifft das zu. Kannst du folgen?“ „Ja schon. Das Ganze klingt nur etwas abenteuerlich. Und… VORSICHT!“ Im letzten Moment riss Jeremiel Beyond zur Seite, als eine Gruppe Sicherheitsleute das Feuer eröffnete und auf sie schoss. Geistesgegenwärtig zog der Blondhaarige seine Pistolen und schoss seinen Gegnern die Waffen aus der Hand und setzte sie je mit einem Schuss ins Bein außer Gefecht. Sie eilten weiter und Jeremiel lud dabei seine Waffen nach. „Danke“, keuchte Beyond, der so langsam aus der Puste war. „Das war echt knapp. Aber sag mal, wieso hast du sie nicht gleich abgeknallt?“ „Na weil ich nicht einfach so jemanden töten will. Zwar bin ich jetzt mit Sam verschmolzen und kann mich an alles erinnern, was er getan hat, aber es hat nichts daran geändert, dass ich niemanden töten oder unnötig verletzen will.“ „Du hast dich aber auch kein Stück verändert, was?“ „Doch, das habe ich.“ Zwar erklärte Jeremiel nicht mehr, aber als sie erneut angegriffen wurden und er ohne zu zögern das Feuer eröffnete, sah Beyond es auch so. Jeremiel hatte sich tatsächlich verändert. Er hatte dieses Unschuldige verloren, welches er vorher besessen hatte. Hatte er sich vorher vehement geweigert, eine Waffe auch nur anzufassen, hatte er jetzt viel weniger Hemmungen, sie zu benutzen. Es war, als wäre er älter geworden und reifer… Und auch sein Blick hatte dieses Neugierige und Unberührte verloren. Als wäre sein vorher so unschuldiges Herz zum ersten Mal von der Finsternis getrübt worden. Er hatte jetzt erheblich weniger Skrupel, eine Waffe zu benutzen als vorher und es war tatsächlich mehr von Sam Leens in ihn zu erkennen als vorher. Er wirkte jetzt auch tatsächlich wie L’s älterer Bruder. Und wieder musste Beyond an diese Karte denken, die Madame Arcana gezogen hatte: der Tod. Es bedeutete, dass etwas Altes enden und etwas Neues beginnen würde. Der alte Jeremiel, den sie gekannt hatten und der immer etwas hilflos und schutzbedürftig gewirkt hatte, gab es nicht mehr. Stattdessen war da jetzt ein neuer Jeremiel, der sich an all die grausamen Verbrechen erinnerte, die Sam Leens begangen hatte und die ihn sichtbar verändert hatten. Mit dem Entschluss, sich mit seinem namenlosen Alter Ego zu vereinen, hatte er eine große Last auf sich genommen. Er musste mit den schlimmen Erinnerungen an all die Menschen leben, deren Leben er zerstört hatte. An die Kinder, die er ermordet hatte und daran, was er auch Beyond angetan hatte. Mit dieser Last würde er für den Rest seines Lebens leben müssen. Aber er war bereit gewesen, damit zu leben, weil er nicht vor seinem alten Leben davonlaufen, sondern es als Teil seines Selbst akzeptieren wollte. Um Sam Leens ein für alle Male zu „vernichten“, musste man ihm ein Herz geben. Und dies war eben der einzige Weg gewesen. Und Fakt war auch, dass Sam bereitwillig sein Leben beendet hatte, damit Jeremiel leben konnte und er hatte ihm geholfen, damit Liam ihn retten konnte. Deshalb hatte Sam es auch verdient, dass er endlich genauso lachen oder weinen konnte wie alle anderen Menschen. Nämlich als ein fester Teil von Jeremiel. „Eines beschäftigt mich aber doch“, sagte er schließlich. „Wenn Alice Wammy der Alpha-Proxy ist… dann ist sie doch Elions Mutter, oder?“ „Ja, so sieht es aus.“ „Und wer ist dann der Vater? Joseph Brown etwa?“ „Keine Ahnung. Wir sind aber sowieso auf den Weg zu ihr hin, um den anderen zu helfen. Vielleicht klärt sie die ganze Geschichte ja auf. Lacie kommt ja auch gleich dazu und dann bleibt nur zu hoffen, dass wir es irgendwie schaffen können, Alice aufzuhalten.“ Nastasja, Dathan, Elohim und Watari hatten einen anderen Weg eingeschlagen, um sich Alice direkt zu stellen. Die Russin hatte die ganze Zeit ein wachsames Auge auf Watari und machte sich auch ernsthafte Sorgen um ihn. Da Watari nicht mehr allzu fit war wie vor zwanzig Jahren, kamen sie nicht ganz so schnell voran, aber bis jetzt blieben sie unbemerkt und das war auch schon mal was. Da Elohim und Dathan bei ihr waren, machte sie sich nicht ganz so viele Sorgen. Ganz anders aber bei Lacie. Sie war ganz alleine und hatte nur eine Pistole und eine Schutzweste. Na hoffentlich ging alles gut und es klappte auch alles. Was niemand bemerkte war, dass auch Elohim einige Gedanken quälten und er mit Elion beschäftigt war, dessen Stimme er gut hören konnte. Aus irgendeinem Grund war es dem Proxy gelungen, eine Verbindung zu ihm aufzubauen und auf diese Weise alles mitzubekommen, was geschah. Und natürlich hatte auch er erfahren, was es mit der Identität des Alpha-Proxys auf sich hatte und Elohim spürte, wie durcheinander der Ärmste war. „Ich verstehe das nicht“, sprach Elion. „Meine Mutter ist Alice Wammy? Ja aber… warum tut sie das alles? Und warum ich? Was habe ich ihr getan, dass sie mich zu einem Proxy gemacht hat?“ „Du hast ihr nichts getan und dich trifft auch keine Schuld und deine Mutter kann nichts dafür. Die Schuld liegt an meiner anderen Hälfte, die deine Mutter völlig beeinflusst hat. Sie ist nicht bei Sinnen, Elion. Also hör auf, die Schuld bei dir zu suchen, das ist völliger Unsinn. Du bist der Letzte, der sich hier irgendetwas vorzuwerfen hat.“ „Mit wem sprichst du?“ fragte Dathan, der das vermeintliche Selbstgespräch mitbekam. „Mit Elion“, erklärte sein Vater. „Er ist völlig durcheinander nach allem, was er erfahren hat. Er bekommt ja alles mit. Nivkha, wenn wir Alice finden, dann wirst du das Kämpfen mir überlassen und dafür auf Nastasja und Watari aufpassen. Es ist einfach zu riskant und ich will nicht, dass dir was passiert.“ „Ist gut, Dad.“ Nun, man sah Dathan schon an, dass er ein Stück weit erleichtert war, dass er nicht direkt an vorderster Front kämpfen musste. Zwar hatte er hart trainiert, um mit dem Schwert besser umgehen zu können, aber er bezweifelte selbst, dass es wirklich ausreichen würde, um Alice zu besiegen. Aber es würde mit Sicherheit ausreichen, um im Notfall Nastasja und Watari zu beschützen. Sie erreichten schließlich eine Treppe, die nach oben führte und Elohim spürte auch, dass die Aura seiner anderen Hälfte nah war. Innerlich bereitete er sich darauf vor, sofort anzugreifen. Der Weg führte sie schließlich in einen riesigen Raum, in welchem mehrere Maschinerien standen, die an Lasergeräte erinnerten. Im Raum befanden sich zudem mehrere Behälter aus Panzerglas, in denen eine klare Flüssigkeit schwamm. Wahrscheinlich wurden hier die Proxys herangezüchtet, aber momentan waren diese Behälter allesamt leer und gaben dem Ganzen wirklich das Bild von einem Versuchslabor für Menschen. Es war der größte Raum von allen und sie konnten eine Silhouette am Ende des Raumes erkennen. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren, strahlend blauen Augen, die die Kleidung eines Proxys trug und das gebrochene Schwert von Elohim bei sich hatte. Alice Wammy, der Alpha-Proxy. Es war allzu offensichtlich, dass sie auf die anderen gewartet hatte. Ein Lächeln spielte sich auf ihre blassen und schönen Lippen, aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen, die vollkommen leer waren und in denen kein Glanz zu finden war. Sie wirkten matt, leblos und es war nichts als unendlicher Schmerz und tiefe Verzweiflung in ihnen zu sehen. Dann aber wurde aus dem hübschen Lächeln ein breites Grinsen und in den Augen loderte blanker Hass und Verachtung. „Ich sehe, ihr seid endlich da. Und den alten Mann habt ihr auch gleich im Schlepptau. Wie erbärmlich ist das denn? Reicht es nicht schon, wenn du im Krankenhaus schon so einfach davongekommen bist, oder willst du unbedingt sterben? Oder willst du um Vergebung betteln? Auf die kannst du lange warten, du alter Bock!“ Für einen kurzen Moment war Alice da gewesen, das hatten sie deutlich gesehen. Aber nun war sie wieder verschwunden. Es schien so, als würde Elohims dunkle Seite immer dann von ihr Besitz ergreifen, wenn sie schwach wurde und sich in ihren Hass flüchtete, um nicht mehr diesen Schmerz zu spüren. Nastasja trat vor, um sie zur Rede zu stellen. „Du bist uns ein paar Antworten schuldig, Alice.“ „Alice ist nicht hier“, rief sie mit einem unheimlichen Singsang und lachte. Es hatte schon fast wahnsinnige Züge, dieses Lachen. „Ihr müsst euch schon mit mir begnügen.“ „Hör auf mit uns zu spielen. Wir wissen genau, dass Alice noch da drin ist und wir wollen endlich wissen, wieso sie das getan hat. Hast du sie dazu gezwungen, die Tötung meiner Familie zu veranlassen und bist du es gewesen, die befohlen hat, die Proxys zu foltern?“ „Als ob das relevant wäre. Alice und ich, wir sind eine Person geworden. Und es war ihre freie Entscheidung gewesen. Sie wollte, dass dieser ganze Alptraum endlich ein Ende hat und dass jene, die ihr Leben zerstört haben, dafür büßen. Und ich erfülle ihr diesen Wunsch und mit ihrer Hilfe wird aus den riesigen Leichenbergen, die folgen werden, ein blühender Garten entstehen. Eine Welt, in der es kein Leid mehr geben wird. Ein Utopia, welches sich Alice und Joseph gemeinsam erträumt haben und woran sie bis zu ihrem Tod geglaubt haben.“ „Wer ist dafür verantwortlich, dass Alice so geworden ist? Wer hat ihr den Unborn injiziert? Ist Alice deshalb am Abend vor Silvester im Institut gewesen?“ Alice lachte und begann mit der Klinge zu spielen. Sie hatte in diesem Moment wirklich etwas von einer Verrückten, die gleich Amok laufen würde und es war allzu deutlich zu sehen, dass sie sie alle töten wollte. Ausnahmslos jeden. „Nein. Sie ist dorthin gegangen, um Joseph ihr Leid zu klagen und sich bei ihm auszuweinen. Wisst ihr…“ Und dabei kam sie langsam näher und schob den Ärmel ihres Lederanzugs hoch und enthüllte dabei unzählige Narben, die sich auf ihren Unterarmen abzeichneten. „Alice hatte es trotz allem nicht fertig gebracht, sich nach diversen missglückten Versuchen die Pulsadern aufzuschneiden, obwohl sie als Ärztin so etwas Einfaches doch locker hinkriegen sollte. Stattdessen ging sie zu Joseph, um sich bei ihm auszuheulen. Er versprach ihr, sich um alles weitere zu kümmern und er konnte sie überreden, endlich ihr altes Leben hinter sich zu lassen, mit ihrem Vater zu brechen und die Arbeit im Krankenhaus aufzugeben, um mit ihm zusammen im Institut zu arbeiten. Und vor allem wollte er etwas gegen Will Duncan unternehmen, der sie übrigens nicht zum ersten Mal vergewaltigt hat. Nur dummerweise kam der gute Will den beiden zuvor. Er verfolgte Alice, nachdem sie von der Silvesterparty zurückfahren wollte. Sie telefonierte da gerade mit Joseph, als sie auch schon von der Straße abgedrängt wurde und den Unfall erlitt. Zwar konnte sie noch aus dem Wagen klettern, bevor er an den Felsen zerschellt wäre, aber sie erlitt schwere Verletzungen. Joseph brachte sie ins Institut und als sie trotz der Operation starb, injizierte er ihr den Unborn, um ihr Leben zu retten. Nur leider hatte der arme Kerl nicht damit gerechnet, dass Alice längst aufgegeben hatte und ihr das eigene Leben letztendlich vollkommen egal geworden war. Und das machte es mir wiederum leichter. Dieser arme Trottel… ihr hättet sein Gesicht sehen müssen, als er erkannt hat, was aus seiner geliebten Alice geworden ist. Er war am Boden zerstört!“ Sie brach in ein schallendes Gelächter aus, während die anderen still geworden waren. Nastasjas Hände ballten sich zu Fäusten und sie sah aus, als wolle sie ihr am liebsten ins Gesicht schlagen. Sie konnte nicht fassen, was mit Alice passiert war und dass es so tragisch kommen musste. Sie selbst hatte Joseph nie wirklich leiden können, aber so langsam verstand sie, warum er so geworden war. Er musste sich schwere Vorwürfe gemacht haben, dass Alice diesen Unfall hatte und er sie nicht beschützen konnte. Und vor allem musste ihn immense Schuldgefühle geplagt haben, dass sie seinetwegen so geworden war. Er hatte ihr den Unborn injiziert, um ihr Leben zu retten, damit sie nicht sterben musste. Er wollte sie nicht verlieren und ihr die Kraft des Unborns geben, damit sie sich endlich zur Wehr setzen konnte. Doch stattdessen hatte sich alles zu einem einzigen Alptraum verwandelt und die Person, die aufgewacht war, war gar nicht mehr Alice gewesen. Stattdessen hatte er ein Monster erschaffen und wahrscheinlich hatte er diese ganze Forschung vorangetrieben und Frederica entführt und im Institut gefangen gehalten, um eine Möglichkeit zu finden, Alice zurückzuholen und damit sie wieder die alte wird. Und aus Schuldgefühlen hatte er behauptet, er hätte die Ermordung der Familie Lawliet angeordnet, weil er Alice schützen wollte. Und dafür hatte er letztendlich mit seinem Leben bezahlt, als Frederica ihn daraufhin aus Rache dafür tötete. „Warum?“ fragte Nastasja und kämpfte mit den Emotionen. „Warum hast du es auf meine Familie abgesehen? Wieso nur hast du dein eigenes Kind so grausam foltern lassen und diesen Experimenten ausgesetzt, Alice? Wenn du wütend auf mich bist… wenn ich irgendetwas getan habe, was dich verletzt hat, dann sag es mir bitte! Verdammt noch mal Alice, wir waren doch wie Schwestern. Wir waren beste Freundinnen und gemeinsam mit Henry ein Trio. Du hast uns beide zusammengebracht und erinnerst du dich noch an meine erste Schwangerschaft? Ich wollte, dass du die Patin meines Kindes wirst. Ich dachte immer, zwischen uns wäre alles in Ordnung. Warum also hast du so einen Hass auf uns?“ Alices Blick verdüsterte sich. Unbändiger Hass loderte in ihren Augen und sie wirkte danach, als wolle sie gleich angreifen. Aber gleichzeitig wich auch das Wahnsinnige in ihrem Blick. Der Schmerz kehrte in ihre Augen zurück und dann war sie es wieder. Die alte Alice. „Du fragst warum?“ fragte sie und es war nicht mehr diese fremdartige Stimme, sondern tatsächlich ihre eigene. „Ich fand es einfach zum Kotzen, diese ganze Scharade. Wir waren doch kein Trio. Es gab doch nur Henry und dich. Kaum, dass ihr beide ein Paar ward, da war ich doch nur das fünfte Rad am Wagen. Ihr ward glücklich miteinander und du hast doch keine Ahnung, wie es in mir drin aussieht. Du verstehst doch nichts davon, was wahres Leid ist! Dir ist doch immer schon alles zugeflogen. Du hast bei uns gelebt und Vater hat dich immer in den höchsten Tönen gelobt. Zuerst hast du dich bei uns eingenistet und dann warst du für ihn wie eine Tochter. Und schnell war ich abgeschrieben, nur weil ich nicht so war wie du. Du hast doch schon immer nur Erfolg gehabt und warst immer beliebt. Wirklich alles hast du geschafft und warst sogar glücklich verheiratet. Kaum, dass du Henry und meinen Vater hattest, da war ich doch längst abgeschrieben! Dass du dein Kind verloren hast, war schlimm und tat mir auch leid… aber insgeheim war ich auch froh darüber. Wenigstens ein Mal war dir etwas nicht vergönnt! Eine einzige Sache, die du niemals haben wirst im Gegensatz zu mir. Nachdem du mir meinen besten Freund und meinen Vater weggenommen hast, war der einzige Trost für mich, dass du niemals eigene Kinder haben wirst. Das war wirklich eine Genugtuung für mich und ich dachte, es gäbe tatsächlich so etwas wie Gerechtigkeit auf dieser Welt. Die allseits beliebte Nastasja, die so perfekt und begabt war und die alles bekam was sie wollte, würde wenigstens diese eine Sache niemals haben. Nämlich eigene Kinder. Aber deine Freundlichkeit, deine witzige Art und deinen naiven Gottesglauben fand ich irgendwann nur noch zum Kotzen. Vater hat dich immer so angehimmelt und ich habe immer mein Bestes gegeben, um ihn stolz zu machen. Während meines Studiums habe ich Ritalin und Provigil genommen, um bis zu sechs Tage ohne Schlaf durcharbeiten zu können und immer die höchsten Leistungen zu erzielen. Ich habe immer hart gearbeitet, um die besten Noten zu schreiben und meinen Vater stolz zu machen. Ich wollte dich übertreffen und beweisen, dass ich die Bessere bin und ich auch mal etwas Anerkennung verdient habe. Aber stattdessen hat es mich nur kaputt gemacht, während du einen Erfolg nach dem anderen geerntet hast… Alle haben mich gehasst und mich herumgeschubst und schikaniert, während sie dich alle geliebt und bewundert haben. Du hast dich doch nie dafür interessiert, wie es mir bei der ganzen Sache ging!“ Nastasja ließ die Arme sinken und war fassungslos. Sie hatte nicht geahnt, dass Alice so über sie dachte und dass sie so sehr darunter gelitten hatte, dass es ihrer besten Freundin so viel besser ging im Leben. Nun gut, dass sie Watari als eine Art Vaterfigur ansah, stritt sie nicht ab. Aber sie hatte nie Eltern gehabt, geschweige denn eine Familie. Sie hatte nie gemerkt, was da in Alice vorgegangen war und wie eifersüchtig diese auf sie war. „Alice, ich wollte dir nie deinen Vater wegnehmen. Ich war nur so glücklich bei euch, weil ich doch nie so etwas wie eine Familie hatte.“ „Du hast es aber. Na los doch, Vater.“ Und damit wandte sich Alice an Watari. „Gib es doch zu, dass du lieber sie als Tochter hättest als mich. Du hast doch sowieso immer nur Augen für sie gehabt. Immerzu hieß es Nastasja hier, Nastasja da. Nastasja hat die Weltmeisterschaft in Mixed Martial Arts gewonnen, Nastasja hat die Meisterschaft in Kickboxen gewonnen. Nastasja hatte eine Fehlgeburt und braucht jetzt dringend Aufmerksamkeit. Nastasja ist so beliebt und hat schon mit 13 Jahren unterrichtet. Deine ganze Aufmerksamkeit drehte sich doch nur um sie und auf mich warst du doch nie stolz. Du hast mich nicht ein einziges Mal einfach nur loben können, ohne dann noch gleich zu sagen, ich könnte es auch besser machen. Du warst doch nie zufrieden mit mir! Ja, ich war eifersüchtig auf dich, Nastasja. Ich war neidisch und ich fand es ungerecht, dass dir immer so viel Glück vergönnt war. Und als du dann auch noch sagtest, du wärst neidisch auf mich, da ist mir endgültig der Kragen geplatzt. Das war für mich ein einziger Schlag ins Gesicht gewesen und ich kam mir in diesem Moment einfach nur verarscht vor. Für mich war das so, als wolltest du dich nur über mich lustig machen. Das war einfach zu viel für mich und ich wollte nur noch weg von der Feier und vor allem weg vor dir und Henry. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen, dass ihr die ganze Zeit nur am Herumturteln ward und ich doch im Grunde vollkommen überflüssig geworden war.“ Und damit packte Alice ihre Freundin an den Haaren und schlug ihr ins Gesicht. Sie schlug sie zu Boden und stieß ihr den Absatz ihres Stiefels in den Brustkorb. Nastasja stöhnte vor Schmerz auf und wieder trat Alice auf sie ein, wobei sie sich dann schließlich Watari zuwandte und lachte. Doch obwohl sie lachte, wirkten ihre Augen immer noch so unendlich traurig und hoffnungslos und Tränen liefen ihre Wangen runter. „Sag es schon…“, rief sie und ihre Stimme klang völlig verzweifelt. „Na los. Sag doch, wie enttäuscht du von deiner einzigen Tochter bist, die selbst unfähig dazu ist, einfach zu sterben. Erzähl schon. Es muss doch wirklich ein Alptraum sein, eine solch verkommene Versagerin zur Tochter zu haben, die tablettenabhängig, depressiv ist, sich die Arme zerschneidet und die wirklich nie deine Erwartungen erfüllen kann.“ Ihr verzweifeltes und hoffnungsloses Lachen hallte durch den ganzen Raum und trieb ihnen eine Gänsehaut über den Körper. Und während sie lachte, flossen unablässig Tränen über ihr schönes Gesicht. Schließlich aber nahm sie ihr Schwert und schnitt sich damit den Arm auf. Blut tropfte auf den Boden und es war nicht eine einzige Schmerzensäußerung in ihrem Gesicht zu sehen. Sie lächelte und sah dabei ihren Vater an. „Aber weißt du was der Vorteil ist, wenn innen drin alles tot ist? Man spürt rein gar nichts mehr… Nicht einmal mehr den Schmerz…“ Kapitel 11: Schmetterlingskokon ------------------------------- Watari sah fassungslos auf die blutende Wunde an Alices Arm, der von unzähligen Narben gezeichnet war. Von seiner Tochter solche Dinge zu hören, tat ihm unendlich weh und wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, hätte er so vieles anders gemacht. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass er Alice damit verletzen könnte, dass er nie einfach mal gesagt hatte, dass er sie so liebte wie sie war und er stolz auf sie war. Stattdessen hatte er sie mit seinen hohen Erwartungen in die Tablettensucht und in die Depression getrieben. Er hatte sie unter einen solchen Leistungsdruck gesetzt, dass es doch nur selbstverständlich war, dass sie Angst gehabt hatte, ihm von ihren Problemen zu erzählen. „Alice, es tut mir wirklich leid. Aber glaub mir, ich wollte dich niemals durch Nastasja ersetzen lassen. Das hast du völlig falsch verstanden. Natürlich bin ich sehr stolz auf dich gewesen. Als du Chefärztin geworden bist, da…“ „Ich wollte aber nie Chefärztin werden“, unterbrach Alice ihn und wurde laut dabei. „Ich habe es gehasst. Ich habe jedes Mal Magengeschwüre und Kopfschmerzen gekriegt, wenn ich dort arbeiten gehen musste. Schon als kleines Kind hatte ich Angst vor Krankenhäusern und wollte nie dort arbeiten. Ich habe es allein deinetwegen gemacht, weil du es so wolltest. Aber das ist jetzt auch egal.“ Sie ließ von Nastasja ab und wischte sich die Tränen weg. Dathan half seiner Freundin hoch und ging vorsichtig mit ihr zurück, falls Alice wieder ausrasten sollte. „Warum hast du Elion diese Dinge angetan und wer ist der Vater?“ Unglücklich lächelte Alice und wich dem Blick ihres Vaters aus. „Sein Vater ist Will“, erklärte sie schließlich und ihre Stimme klang mit einem Male sehr schwach. „Er hat mich bei der letzten Vergewaltigung geschwängert. Dabei… dabei wollte ich Joseph heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Ich wollte Kinder mit ihm haben, stattdessen werde ich vergewaltigt und von meinem Vergewaltiger schwanger. Was für ein beschissenes Leben, nicht wahr? Du Nastasja standest in der Gunst von Eva und hattest sie und Frederica und hattest mit Henry Kinder trotz der Tatsache, dass du nicht fähig bist, Kinder zu bekommen. Das ist so ungerecht gewesen… du hast immer alles bekommen… ich konnte das einfach nicht akzeptieren. Du hast mir meinen Vater und meinen besten Freund weggenommen und all den Ruhm und die Bewunderung geerntet, während ich nichts hatte außer dem Selbsthass, meine Probleme, meine Depression und die Scham, dass ich von Will vergewaltigt wurde. Ich wollte das einfach nicht akzeptieren.“ „Hast du mich deshalb meiner Mutter weggenommen und für die Proxy-Experimente benutzt?“ fragte Jeremiel und sein Blick war sehr ernst und gefasst. Er war fassungslos über die ganze Geschichte und hatte auch aufrichtiges Mitleid mit Alice, dass ihr all das passiert war. Und nun erklärte das auch ihre fehlende Liebe für Elion und warum sie ihn für die Experimente missbraucht hatte. Weil sie von ihrem eigenen Vergewaltiger schwanger wurde, konnte sie einfach nicht die Liebe für ihn aufbringen, die eine Mutter normalerweise für ihr Kind empfinden sollte. So etwas war einfach nicht möglich. Alice lachte und fuhr sich durchs Haar. Es war ein unendlich trauriges Lachen und ihre Tränen hörten nicht auf zu fließen. „Ja“, gab sie schließlich zu. „Ich wollte deiner Mutter wenigstens etwas nehmen, das ihr wichtig ist. Und da sie eben mit Zwillingen schwanger war, dachte ich mir einfach: ich nehme ihr die Kinder weg um sie dort zu treffen, wo es ihr wehtat. Es war ein gerechter Ausgleich für mich. Und was macht Joseph? Er lässt ihr einfach eines der Kinder drin, anstatt sie beide zu nehmen. Und dann nimmt er selbst das auf seine Kappe, weil er sich die Schuld an der Situation gab. Aber als du dann mit deiner Familie ein so glückliches Leben geführt hast und dann auch noch damit begonnen hast, herumzuschnüffeln und mein Projekt zu sabotieren, da ist mir endgültig der Kragen geplatzt. Nicht nur, dass du so dreist warst, mir alles wegzunehmen, du hast auch noch die Frechheit besessen, mir meinen Traum und den von Joseph zu zerstören. Und das konnte und wollte ich nicht akzeptieren. Du hast einfach nicht kapiert, wann Schluss ist und dafür musstest du büßen. Und dass ich diesen Psychopathen James auf Frederica gehetzt habe, kannst du mir ja wohl auch nicht zum Vorwurf machen. Sie hat immerhin Joseph getötet! Sie hat mir den Menschen weggenommen, der mir alles bedeutet hat und der mich als Einziger wirklich verstanden hat. Diese Hexe hat es doch nicht anders verdient als zu leiden. Ja, ich wollte, dass sie leidet und in diesem Zustand dahinvegetiert, weil sie mir die Person genommen hat, die ich über alles geliebt habe und die nichts Unrechtes getan hat. Joseph traf keine Schuld an der ganzen Situation und ich wollte nie, dass er meinetwegen sterben musste… Aber… nun ist auch alles egal. Es ist eh zu spät. Ich habe nichts mehr. Joseph ist tot, das Projekt steht vor dem Zusammenbruch… ich habe rein gar nichts mehr, woran ich noch glauben und worauf ich noch hoffen kann…“ „Das liegt daran, weil du deine Wünsche und Träume verloren hast.“ Eine plötzliche Stimme ließ sie alle aufhorchen und tatsächlich hörten sie das Geräusch von Absätzen. Lacie hatte den Raum betreten und kam nun langsam näher. Erleichterung kam bei den anderen auf. Dass Lacie hier war, konnte nur bedeuten, dass sie es geschafft hatte und nun gekommen war, um Alice zu helfen. Und bei sich hatte sie etwas, das Beyond bekannt vorkam: nämlich die Spritze mit dem Serum. Hatte sie sie etwa diesem Proxy tatsächlich abnehmen können? Aber wie? Alice war für einen Moment lang sprachlos, als sie Lacie sah und konnte es nicht glauben. Sie lachte ungläubig und schüttelte den Kopf. „Sieh an, wenn das nicht Proxy-Zero ist. Der Prototyp, der sich für einen Menschen hält. Hast du dein Leben als „Lacie Dravis“ etwa satt und bist du deshalb zurückgekommen? Oder bist du so dumm?“ Lacie kam näher und war erstaunlich ruhig und gefasst. Irgendetwas hatte sie vor, das war nicht zu übersehen. Nur ließ sich einfach nicht erkennen, was es war. Als sie bei Nastasja war, drückte sie ihr das Serum in die Hand und ging alleine weiter. „Nein, das ist es nicht“, erklärte sie. „Mir ist so einiges klar geworden, was dich und mich betrifft. Und ich weiß jetzt, wieso du wirklich so hoffnungslos bist und deine Menschlichkeit abgelegt hast. Als du dein Neshama auf mich übertragen hast, da hast du auch all deine Wünsche und Träume verloren. Deinen Herzenswunsch, Schriftstellerin zu werden und Joseph zu heiraten, mit Dathan befreundet zu sein, den du nicht retten konntest. Und auch deine Liebe zu deinem einzigen Kind und die glücklichen Erinnerungen mit Nastasja und Henry. All diese Träume und Sehnsüchte, die dir Hoffnung gegeben haben… die hast du mir überlassen und sie selbst verloren. Deshalb konnte ich ein glückliches Leben als Lacie Dravis führen. Aber ich kann dir deine Träume zurückgeben und dir auch deine Freude wiedergeben.“ „Ich hatte niemals Freude am Leben und ich brauche die Hilfe eines Prototyps nicht! Ich brauche niemanden von euch, um mein Ziel zu erreichen. Ich werde mir selbst Gerechtigkeit verschaffen und das alles ein für alle Male zu Ende bringen. Wenn ich schon mein ganzes Leben nur leiden musste, dann werde ich gewiss nicht mehr die Einzige sein, die leidet. Das ist meine einzige Hoffnung!!!“ Damit griff Alice an und wollte auf Nastasja losgehen, doch Elohim ging dazwischen und wehrte den Angriff ab. Beim Zusammenprall der Waffen wurde eine immense Druckwelle freigesetzt, die einige der Glasbehälter sprengte, welche daraufhin mit einem lauten Krach zerbarsten. Liam kam direkt dazu, um Elohim zu helfen, Dathan hingegen blieb bei den anderen. Alice erwies sich als unerbittliche Gegnerin. Ihre Angriffe waren blitzschnell und sie ließ keinen Moment der Schwäche ungenutzt. Obwohl sie es mit zwei Gegnern zu tun hatte, konnte sie diese problemlos in Schach halten und fest stand, dass der Kampf hart werden würde. Ihre Verzweiflung und ihr Wunsch nach Vergeltung schalteten all ihr Schmerzempfinden aus und sie kannte keinerlei Zurückhaltung mehr. Es war klar, was sie wollte. Nämlich, sie alle töten. Elohim konnte ihr einigermaßen die Stirn bieten, musste aber schnell feststellen, dass seine andere Hälfte unfassbar stark geworden war. Und so langsam begann er daran zu zweifeln, dass sie so schnell die Sache zu Ende bringen konnten, wie sie zuerst gedacht hatten. Schließlich aber gelang es Alice, Liam gegen einen der Behälter zu schleudern und sprang über Elohim drüber und attackierte dieses Mal Jeremiel, der geistesgegenwärtig zur Seite sprang und schoss. Die Kugel streifte Alices Wange, doch sie ignorierte dies einfach und schlug mit Schwert nach ihm, um ihm den Kopf abzuschlagen. Dathan aber ging noch rechtzeitig dazwischen und konnte den tödlichen Schlag abwehren. „Alice, bitte hör auf damit“, rief er und drängte sie mit Mühe zurück. „Das bist doch nicht du. Du warst doch damals ein so netter Mensch gewesen. Du hast mich immer im Krankenhaus besucht und versucht, mir Kraft zu geben.“ „Das interessiert mich nicht mehr!“ rief die wutentbrannte Engländerin und wollte erneut angreifen, doch Elohim schlug sie zurück und trennte sie wieder von den anderen. „Ich habe doch eh nichts mehr… Joseph ist tot und wenn ich mit euch fertig bin, wird diese Hexe dafür büßen. Ich sperre sie wieder ins Institut ein und werde dafür sorgen, dass sie in der Zelle versauert und nie wieder rauskommt.“ Es hatte keinen Sinn. Alice war durch Worte nicht mehr zur Vernunft zu bringen. Sie war so in ihrem Schmerz und ihrem Hass gefangen, dass sie nichts anderes mehr fühlen konnte und sie wollte nur noch, dass andere genauso leiden mussten wie sie. L und Beyond sahen den Kampf und tauschten kurze Blicke aus. „Das sieht echt übel aus“, bemerkte der Serienmörder, der sein Messer für den Ernstfall bereithielt. „Ich glaub, mit der ist nicht mehr zu reden.“ „Offenbar nicht“, stimmte L zu und wirkte besorgt. „Das sieht ernst aus und in dem Zustand ist Alice wirklich alles zuzutrauen. Wir… Watari!“ L hatte zu spät gemerkt, dass der alte Mann dabei war, auf die Kämpfenden zuzulaufen, um seine Tochter selbst daran zu hindern, noch weiterzukämpfen. Beyond reagierte geistesgegenwärtig genug, um ihn zusammen mit Jeremiel festzuhalten. „Machen Sie keinen Unsinn, Watari. Wenn Sie da jetzt dazwischen gehen, werden Sie noch sterben.“ „Hey, bring mich nicht in Versuchung, ihn loszulassen.“ Jeremiel warf Beyond einen kurzen strafenden Blick zu und hatte erheblich Mühe, den 74-jährigen zurückzuhalten. „Lasst mich los“, rief er und war völlig von der Rolle. „Wenn niemand Alice aufhält, dann wird sie…“ Bevor er weiterreden konnte, hatte Jeremiel ihm die Pistole auf den Hinterkopf zu schlagen und ihn damit vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Dass der alte Mann seine Tochter schützen und ihr helfen wollte, war ja verständlich und keiner machte ihm einen Vorwurf deswegen. Aber dennoch wollte keiner riskieren, dass er sich in das Kampfgeschehen einmischte und sein Leben aufs Spiel setzte. „Kommen Sie doch zur Vernunft, Watari“, rief der Blondschopf, der ihm mit der Pistole eins über den Kopf gezogen hatte. „Wir können da nichts ausrichten. Alice ist nicht mehr unter Kontrolle zu bringen und wenn Worte nicht helfen, müssen wir eben Gewalt anwenden.“ „Aber ihr könnt sie doch nicht töten. Sie kann doch nichts dafür, dass sie so geworden ist. Lacie, es muss doch eine Möglichkeit geben, wie wir meine kleine Alice zurückholen können. Bitte!“ „Jetzt im Augenblick nicht, Watari. Wir müssen auf das richtige Timing warten.“ „Und wann soll das sein?“ „Überlasst das nur mir.“ Na großartig. Hoffentlich schaffte Lacie das auch, denn so wie Alice abging, hatte Lacie mit Sicherheit nur eine einzige Chance und das würde nicht gerade einfach werden. Und sie hatten auch keinen blassen Schimmer, was sie denn eigentlich vorhatte. Beyond ergriff schließlich L’s Hand und wirkte ernst. Er hatte irgendwie im Gespür, dass irgendetwas Schlimmes passieren würde und er hatte insbesondere Angst um L. „L, bleib ja hinter mir, egal was auch passiert.“ Doch ganz überraschend stellte sich Jeremiel vor die beiden und lud seine beiden Smith & Wessons durch. „Bevor du noch draufgehst, kümmere ich mich lieber darum.“ „Wie? Hey, jetzt hör mal…“ „Nein, du hörst mir zu“, unterbrach der ältere Lawliet-Zwilling ihn und Beyond wurde nun endgültig sprachlos. So energisch und durchsetzungsfähig kannte er den Kerl ja gar nicht und irgendwie war ihm auch, als würde etwas Charismatisches von ihm ausgehen. „Du bist für meinen Bruder der wichtigste Mensch im Leben und du bist auch schon oft genug in Gefahr geraten. Also überlass das besser mir, wenn Alice uns angreifen sollte.“ „Ich bin kein kleiner Junge verdammt!“ „Dann hör auch auf damit, dich wie einer zu benehmen und akzeptier es endlich.“ Beyond gab es auf, sich gegen Jeremiel durchsetzen zu wollen. Stattdessen wandte er sich L zu und bemerkte „Dein Bruder hat sich tatsächlich ganz schön verändert, seit er hier ist.“ Ein lauter Knall hallte durch den Raum, als ein weiterer Glasbehälter zu Bruch ging und Elohim durch eine Druckwelle von den Füßen gerissen wurde. Erneut griff Alice die Gruppe an und stieß Dathan und Liam beiseite. Sie hatte es dieses Mal auf Watari abgesehen und machte sich bereit zum Angriff. Jeremiel regierte sofort und schoss. Er traf sie ins Bein, in den Arm und in die Seite, doch sie merkte es nicht mal und wollte schon zuschlagen, um ihm mit dem Schwert den Schädel zu spalten, aber da war L dieses Mal zur Stelle. Er stützte sich am Boden ab und trat ihr direkt ins Gesicht. Dieser Tritt kam Beyond mehr als bekannt vor. Mit dem hatte Naomi Misora ihn vor knapp zweieinhalb Jahren abgewehrt, als er versucht hatte, sie hinterrücks zu erschlagen. Ich fasse es nicht, dachte er sich, als er das sah. Der tritt ja genauso zu wie diese Misora. Sag bloß, die hat ihn noch auf diese Idee gebracht… Als Alice durch diesen Tritt kurz benommen war, wollte Nastasja die Chance nutzen um sie anzugreifen und zu überwältigen. Doch da hatte sie schon ihr Schwert wieder griffbereit und reagierte schneller. Sie richtete die Klinge auf die Russin und wollte schon zustoßen, doch da wurde die 30-jährige zur Seite geschubst und das Schwert durchbohrte stattdessen Lacies Brust. Es ging mit erschreckender Leichtigkeit durch ihren Körper und spießte sie regelrecht auf. Für einen Moment herrschte entsetzte Stille im Raum. Erst als Alice die Klinge wieder herauszog und Lacie zusammenbrach und sich auf dem Boden eine Blutlache zu bilden begann, da zeichnete sich Entsetzen und Fassungslosigkeit auf Elohims Gesicht und das der anderen ab. „Lacie!“ rief der Unvergängliche und wollte zu ihr hin, doch er wurde unvorsichtig und das nutzte Alice aus, um ihm einen Hieb mit dem Schwert zu versetzen und ihn mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen. „Na, wie fühlt es sich an?“ fragte diese fremdartige Stimme, die wieder zurückgekehrt war und wieder hatte da der Alpha-Proxy selbst die Oberhand über Alice. „Es ist schlimm, jemanden vor seinen Augen sterben zu sehen, den man liebt. Ruft das nicht Erinnerungen an deinen Sohn Kohen wach, den sie vor deinen Augen hingerichtet haben? Erinnerst du dich an seine verzweifelten Angstschreie und wie er nach dir gerufen hat, als sie ihn umgebracht haben? Du hast aber auch rein gar nichts dazugelernt. Dabei hättest du doch wissen müssen, dass du mich brauchst, wenn du jene beschützen willst, die du liebst. Du bist schwach und du bist es schon immer gewesen. Du wirst immer schwach sein, solange du an deinen bescheuerten Träumen festhältst. Wenn du ihr Leben wirklich retten willst, dann solltest du endlich begreifen, dass dein Platz hier ist. Gib es auf, immer nur irgendwelchen Illusionen nachzujagen und in Träumen zu leben. Alice hat es auch endlich eingesehen, dass es für diese Welt keine Hoffnung gibt und dass es so etwas wie Existenzberechtigung nicht gibt. Alles, das entsteht, ist es wert, dass es vernichtet wird. Alles was lebt, muss sterben. Du kennst die Gesetze der vergänglichen Welt. Sie sind unantastbar und deshalb wird auch diese Welt eines Tages aufhören zu existieren und niemand kann etwas daran ändern. Besonders nicht diese erbärmlichen kleinen Insekten, die sich Homo Sapiens nennen. Sie sind nicht dazu bestimmt, überhaupt zu existieren und deshalb ist es unsere Pflicht, sie alle zu vernichten, wenn wir auf diese Weise etwas an diesem Zustand ändern wollen. Wenn du Lacie und deinen Sohn retten willst, dann schließe dich mir an und wir werden das Elend dieser Welt ein für alle Male beenden. Wir werden die wahren Götter werden, so wie es uns seit je her vorbestimmt ist. Und dann werden wir endlich diese glückliche Welt zurückholen, in der du allein mit deiner Familie gelebt hast und die du dir so sehr zurückwünschst.“ Damit streckte sie ihre Hand aus und wartete darauf, dass Elohim sie ergriff. Doch er zögerte unsicher. Die Erinnerung an damals war noch so präsent und immer, wenn er an Kohen zurückdachte, der vor seinen Augen gestorben war und den er nicht hatte retten können, kamen diese quälenden Schuldgefühle zurück. Er war unfähig gewesen, ihn zu retten, genauso wie er unfähig gewesen war, Lacie vor diesem Angriff zu beschützen. Er war überhaupt unfähig, irgendjemanden zu beschützen… Doch dann geschah etwas, womit keiner von ihnen gerechnet hatte. Lacie stand wieder auf. Wankend kam sie wieder auf die Beine, atmete schwer und hustete Blut. Sie presste eine Hand auf ihre blutende Wunde und kam langsam näher. Nastasja und Dathan wollten sie davon abhalten, denn bei dieser schweren Verletzung würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit noch verbluten, wenn sie nicht schnellstens verarztet wurde. Doch die verwundete Proxy stieß sie einfach beiseite und ging weiter. „Du irrst dich“, erklärte sie und kam mit wankenden Schritten näher. „Jedes Lebewesen, jedes Ding das existiert, ist Ain Sophs Vermächtnis. Indem sie gestorben ist, konnten wir überhaupt geboren werden und es macht uns zu Fragmenten der Ewigkeit. Darum ist jede Form von Leben ein Geschenk. Unsere Existenzberechtigung liegt darin, weil wir leben und weil wir geboren worden sind. Deshalb ist unser Leben so kostbar, weil es kurz und vergänglich ist und wir es deshalb auch nicht einfach verwerfen sollten. Ganz egal wie hart unser Leben ist. Und dabei spielt es keine Rolle, ob du nun ein Unvergänglicher, ein Mensch, oder ein Proxy bist. All diese Dinge… all das, was du über diese Welt ohne Hoffung gesagt hast, rührt nur allein daher, weil du damals deine Träume verloren hast, Alice. Du hast vergessen, wer du wirklich bist und was du dir vom Leben erhofft hast. Deine glücklichen Erinnerungen mit Nastasja und Henry, deine Hochzeitspläne mit Joseph, die Liebe für dein Kind und dein größter Herzenswunsch, Schriftstellerin zu werden… all das hast du verloren, als du mich erschaffen hast. Als ich deinen Brief gelesen habe, da habe ich es verstanden, was wirklich in dir vorgeht und warum du so etwas Trauriges denkst. Und ich habe verstanden, was ich für eine Rolle in dieser Geschichte spiele. Die Karten, die Madame Arcana gelegt hat, sagten mir, ich solle mich darauf besinnen, wer ich wirklich bin. Und du… du wirst nur dann deinen wahren Traum erfüllen können, wenn du beide Seiten wieder ins Gleichgewicht bringen kannst. Verstehst du es? Ich bin du, ich trage deine Hoffnungen, deine Wünsche und deine Liebe in dir, die du damals verloren hast. Ich bin dein Licht, was du verloren hast. Und im Grunde genommen bin ich nichts als ein Kokon, der weder eine Raupe, noch ein Schmetterling ist. Ich bin ein Gemisch aus beidem und weder du noch Ain Soph. Und um die zu werden, die ich wirklich bin, muss ich diese letzte Grenze überschreiten und dir deine Wünsche, Träume und Hoffnungen zurückgeben. Und wenn ich sterbe, dann werde ich zu einem Ganzen werden und kann damit die Grenzen der Vergänglichkeit für immer hinter mich lassen. Dann… dann werde ich… wieder…“ Sie schaffte es nicht, die letzten Worte auszusprechen. Während sie die ganze Zeit die völlig verwirrte Alice im Arm gehalten hatte, wurde sie immer blasser und verlor immer mehr an Kraft. Elohim, der so langsam verstand, was Lacie damit meinte, versuchte sich wieder aufzurichten und rief „Nein Lacie, tu das nicht!“, um sie davon abzuhalten. Doch es war schon zu spät. Denn da wich bereits der letzte Rest an Kraft aus Lacies Körper und sie brach zusammen. Tränen sammelten sich in ihren Augen und dennoch… obwohl sie wusste, dass sie sterben würde, lächelte sie. Ja, sie wirkte in diesem Moment sehr glücklich. Denn sie war sich sicher, dass sie nicht einfach so verschwinden würde. Nein… ihr Tod würde nur ein vorübergehender Zustand sein. Dessen war sie sich ganz sicher. Langsam schlossen sich ihre Augen und dann starb Lacie Dravis. Elohim sank neben ihr zu Boden, nahm sie in den Arm und brach in Tränen aus, während Alice wie erstarrt da stand und mit einem fassungslosen Blick ins Leere starrte. Kapitel 12: Die Augen eines Opfers, die Hände eines Täters ---------------------------------------------------------- Entsetzen und Fassungslosigkeit zeichneten sich auf ihren Gesichtern ab. In Dathans Augen sammelten sich Tränen und er ging langsam zu Lacie hin. Insgeheim hoffte er noch, dass dies nur ein böser Traum war und sie noch nicht tot war. Immerhin hatte sie ihm doch versprochen, dass es für sie alle ein glückliches Ende nehmen würde. Und sie hatte niemals ihr Wort gebrochen. Es war nie davon die Rede gewesen, dass sie einfach so sterben würde. Sie hatte zwar ein wenig merkwürdig gewirkt, seit sie erfahren hatte, dass sie ein Proxy-Prototyp war, aber das war ja auch eigentlich verständlich gewesen. Aber… dass sie sich einfach so opferte und starb… war das wirklich von Anfang an von ihr geplant gewesen? Wieso hatte sie mit niemandem darüber gesprochen und alles mit sich selbst ausgemacht? „Lacie?“ Seine Hand strich sanft über ihre Wange, die sich aber mit einem Male so kalt anfühlte. Und der Blick seines Vaters, der von unsäglicher Trauer erfüllt war, ließen ihn erahnen, dass es nichts mehr brachte. „Sie ist tot, Nivkha“, sagte er langsam und kämpfte mit den Tränen. Weinend drückte er ihren leblosen Körper an sich und ließ seiner Trauer freien Lauf. Nastasja hingegen stand regungslos da, als stünde sie unter Schock. Sie konnte nicht glauben, dass Lacie das wirklich getan hatte und dass sie von Anfang an tatsächlich geplant hatte zu sterben. Und wieder musste sie wieder an diese Worte denken, die Lacie zu ihr gesagt hatte, als sie zum letzten Mal Klavier gespielt hatte: Jedes Lebewesen stirbt für sich allein. Das hatte sie also damit gemeint. Lacie wollte diesen Weg alleine gehen, weil sie wusste, dass sie das tun musste. Um das Projekt erfolgreich zu beenden und Alice zurückzuholen, musste sie sterben. Es war von Anfang an so vorherbestimmt gewesen, dass sie sterben musste und sie hatte das genau gewusst. Und sie hatte niemandem etwas davon gesagt, damit keiner sie aufhalten würde. Sie war diesen Weg ganz allein gegangen und war für sich allein gestorben… Alice stand immer noch regungslos da und wirkte, als stünde sie unter Schock. Sie starrte ins Leere und ließ ihr Schwert fallen. Dann aber regte sich etwas in ihr. Der Glanz kehrte wieder in ihre Augen zurück und es schien so, als würde wieder das Leben in sie zurückkehren. Sie begann am ganzen Körper heftig zu zittern, sank in die Knie und vergrub schluchzend ihr Gesicht in den Händen. Sie weinte ohne Hemmungen und wirkte völlig aufgelöst. Von Hass oder Wut war nichts mehr zu sehen. Nastasja sah dies und kam zögernd näher. „Alice?“ Die schwarzhaarige Engländerin sah zu ihr hoch und tatsächlich… es war wieder sie. Es war ihre alte Freundin Alice. „Nastasja…“ Ihre Stimme zitterte und Sturzbäche von Tränen flossen ihre weißen und wunderschönen Wangen hinunter. „Es tut mir leid…“, sprach sie leise und ihre Stimme klang schwach und zitterte so heftig, dass sie kein Wort hervorbrachte. „Es tut mir alles so leid, was ich dir und deiner Familie angetan habe. Ich… ich… ich wollte doch nie, dass irgendjemand sterben musste… Ich wollte doch niemandem wehtun…“ Nastasja, die den unendlichen Schmerz und die Hilflosigkeit in der Stimme ihrer Freundin hörte, wurde selbst von ihren Gefühlen übermannt und sie kämpfte selbst mit den Tränen. Ohne zu zögern nahm sie Alice in den Arm und weinte. Sie war so unsagbar froh, endlich wieder ihre beste Freundin zu sehen und nach so langer Zeit wieder ihre wirkliche Stimme zu hören. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, sagte Nastasja einfach und das war nun endgültig zu viel für Alice. Sie wusste, dass sie viele schlimme Dinge getan hatte. Sie hatte ihre besten Freunde getötet, Nastasja ihren Sohn Jeremiel weggenommen und Frederica foltern lassen. Nastasja hätte allen Grund dafür, sie zu hassen. Und doch war sie froh, wieder ihre alte Freundin im Arm halten zu können. Aber wieso? Wieso hasste Nastasja sie nicht? Verdient hätte sie es doch alle Male. „W-warum?“ Das war das Einzige, was sie hervorbringen konnte. Danach brachte sie trotz Mühen kein Wort mehr hervor. „Das war nicht deine Schuld, Alice. Diese schrecklichen Dinge, die alle passiert sind… keiner von uns hat Schuld daran. Dieser Alpha-Proxy… das warst nicht du gewesen. Und ich weiß, dass auch ich Fehler gemacht habe. Ich bin nicht für dich da gewesen und habe nicht gesehen, wie schlecht es dir wirklich geht. Wenn ich mehr für dich da gewesen wäre, dann wären viele Dinge vielleicht nicht passiert. Und dafür möchte ich mich auch entschuldigen.“ Schließlich lösten sich die beiden Freundinnen und Alice stand auf. Die Verletzung an ihrem Arm als auch die Schusswunden, die Jeremiel ihr zugefügt hatte, hatten sich längst wieder zurückgesetzt. Ihre strahlend blauen Augen ruhten nun auf ihrem Vater. Sie zögerte noch, genauso wie er. Es war viel passiert und viel zutage gekommen. Geheimnisse und Probleme, die nie offen ausgesprochen worden waren, sodass sich zwischen ihnen eine deutliche Distanz gebildet hatte. Alice hatte bis zu ihrem Unfall alles geheim gehalten und alles still schweigend ertragen. Die Vergewaltigungen, das Mobbing, der immense Erfolgsdruck, ihre Tablettenabhängigkeit, ihre seelischen Wunden und ihre Träume, die sie seinetwegen aufgegeben hatte. Watari senkte den Blick und wirkte unglücklich. Er konnte seiner Tochter nach alledem, was er erfahren hatte, nicht in die Augen sehen. Schließlich aber nahm er all seinen Mut zusammen. „Alice, es tut mir alles so leid. All die Jahre habe ich nicht gesehen, was du wirklich wolltest und wie sehr du unter den Erwartungen gelitten hast, die ich an dich gesetzt hatte. Ich wollte immer nur dein Bestes und dass du das Größtmögliche aus deinem Potential herausholst.“ „Hättest du mich wenigstens ein einziges Mal gefragt, was ich will, wäre es vielleicht nicht ganz so schief gelaufen zwischen uns beiden. Alles was ich wollte, war doch nur deine Anerkennung. Ich wollte, dass du mich meinen eigenen Weg gehen lässt und mir das Gefühl gibst, dass du mir vertraust und mich liebst, selbst wenn ich keine Ärztin geworden wäre. Und mein Wunsch war es, meinen eigenen Weg zu gehen und das zu machen, was mir Freude bereitet und womit ich glücklich werden kann. Mag sein, dass ich das Zeug dazu habe, Chefärztin zu sein oder sogar im Krankenhausvorstand zu sitzen. Aber dass ich die Fähigkeiten dazu habe, heißt doch noch lange nicht, dass ich das auch wirklich will. Glaub mir, ich habe mir oft genug gewünscht, ich wäre nicht intelligent. Dann hättest du auch nicht diese ganzen hohen Erwartungen an mich gestellt. Die Arbeit im Krankenhaus und das Medizinstudium waren für mich eine einzige Tortur gewesen. Ich hatte schon immer eine große Abneigung vor Krankenhäusern und ich musste mich jedes Mal überwinden, es zu betreten. Selbst Jahre später ist es für mich eine Qual gewesen, die du dir nicht vorstellen kannst. Nicht nur, weil die Kollegen mich schikaniert haben, sondern insbesondere auch, weil ich Angst vor Will hatte… Joseph hatte mir immer wieder angeraten, dir endlich reinen Wein einzuschenken und dir die Wahrheit zu sagen. Und als Will mich vergewaltigt und auch noch geschwängert hatte, da wollte ich endlich aus diesem Alptraum raus und mit dir reden. Ich wollte dir endlich sagen, was ich wirklich wollte und dass ich es nicht mehr aushalte und ich schon längst innerlich kaputt bin, aber du hast mir ja nicht zugehört! Dir waren deine Freunde wichtiger gewesen als ich und dann schleifst du mich zu denen und kommst mir mit der Idee an, dass ich mich mit Will treffen sollte. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Du warst der Einzige gewesen, der mir hätte helfen können und du hast es nicht einmal für nötig gehalten, mir zuzuhören, obwohl du gesehen hast, wie schlecht es mir ging. Stattdessen waren dir immer nur deine eigenen Interessen wichtig. Wie konnte ich denn noch länger darauf vertrauen, dass du mir helfen würdest? Du warst nie für mich da gewesen!“ „Ich weiß“, sagte Watari mit kraftloser Stimme und senkte den Blick. In seinem Gesicht zeichneten sich Schuld und Reue ab und er wusste, dass er diesen Fehler niemals wieder gut machen konnte. Ihm waren seine eigenen Interessen in diesem Moment wichtiger gewesen als seine Tochter und das war einfach unverzeihlich gewesen. Hätte er ihr damals zugehört, dann wäre es nicht soweit gekommen. Er hätte ihr helfen können und dann hätte es diesen Unfall vielleicht nicht geben müssen. Und sie wäre nicht zum Alpha-Proxy geworden. Wenigstens dieses eine Mal, wo sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, da hätte er ihr zuhören müssen. Immer und immer wieder hatte ihn dieser eine Abend verfolgt und an ihm genagt. 27 Jahre lang hatte ihn die Frage gequält, worüber Alice mit ihm hatte sprechen wollen. Nun wusste er es und das machte es nicht weniger schlimm. Sie wollte ihm die ganze Wahrheit erzählen und ihm ihr Herz ausschütten. Und sie wollte ihm von der Vergewaltigung erzählen. Und er hatte ihr einfach nicht zuhören wollen, weil ihm andere Dinge wichtiger gewesen waren. Dass seine Tochter ihm nicht gleich in den Arm fallen würde, konnte er nur zu gut verstehen. Zwischen ihnen beiden war so viel gewesen. Sie hatte seinetwegen so gelitten und er hatte nicht hingesehen. Er hatte es nicht gesehen und wollte es auch nicht sehen, weil er sich im Grunde seine Illusion von seiner perfekten und vorbildlichen Tochter nicht zerstören wollte. Ja, er wollte sich damals eine perfekte Tochter schaffen, weil Alice mit Schönheit und hoher Intelligenz gesegnet war. Doch er hatte nicht sehen wollen, dass es für sie selbst ein einziger Fluch war. Sie wäre lieber dumm und hässlich zur Welt gekommen, dann hätte es nicht diese hohen Erwartungen an sie gegeben und sie wäre nicht dem Hass, dem Neid und den Argwohn der anderen ausgesetzt gewesen. „Ich hätte mehr für dich da sein müssen und dir ein besserer Vater sein sollen. Weißt du, Lacie hat sich wirklich bemüht gehabt, dass ich dich besser verstehen kann und sie wollte, dass ich auch verstehe, was du wirklich willst. Sie hat mir eines deiner Bücher ins Krankenhaus gebracht und ich habe es gelesen.“ Als Alice hörte, dass ihr Vater ihr Buch gelesen hatte, durchfuhr sie ein eisiger Schreck und für einen Moment lang war Angst zu sehen. Angst vor seiner Reaktion und seinem Urteil. Sie wusste, dass er die Schriftstellerei nur als ein Hobby betrachtete und nicht mehr. Und nun hatte er eines ihrer Bücher gelesen. Insgeheim hatte sie sich immer davor gefürchtet, dass er die Wahrheit erfuhr und er ihre Bücher schrecklich fand. Doch als sie sein Lächeln sah und er dann auch noch sagte „Es war ein sehr schönes Buch und ich könnte nicht stolzer auf dich sein, Alice. Du bist eine wirklich hervorragende Schriftstellerin“, da brach sie wieder in Tränen aus. Sie konnte es in diesem Moment einfach nicht fassen, dass er tatsächlich ihr Buch lobte und sagte, sie hätte Talent dafür. Er hatte tatsächlich ihre Arbeit und ihre Leidenschaft anerkannt. Von Emotionen überwältigt umarmte sie ihn und noch nie in seinem Leben hatte L seinen Mentor so glücklich gesehen wie in diesem Moment. „Danke, Papa…“ Papa… wann hatte sie ihn das letzte Mal so genannt? Da war sie noch ein kleines Mädchen gewesen und hatte noch hübsche Kleidchen getragen. Damals waren sie wirklich ein Herz und eine Seele gewesen, bevor… …bevor ich ihr Leben zerstört habe… „Alice… verzeihst du einem dummen alten Mann seine unzähligen Fehler und kannst ihm vielleicht irgendwann eine allerletzte Chance geben?“ Einen Moment lang antwortete Alice nicht und schien nachzudenken. Doch dann spürte Watari plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem Unterleib. Etwas Hartes bohrte sich in seinen Körper hinein und als er den Blick senkte, erkannte er, dass Alice ihm ein Messer in den Bauch gerammt hatte. Ein eiskaltes Lachen ertönte und mit Entsetzen sah er, dass dieser wahnsinnige und hasserfüllte Blick in ihre Augen zurückgekehrt war und nicht mehr Alice, sondern der Alpha-Proxy vor ihm stand, der wieder die Kontrolle übernommen hatte. „Hast du im Ernst geglaubt, dass dir deine Sünden so schnell vergeben werden, du alter Bock? Pah! Dass ich nicht lache! Du wirst sterben und wenn ich mit dir fertig bin, werden die anderen dir ebenfalls folgen. So leicht lasse ich euch nicht davonkommen.“ „Watari!“ Nastasja und Dathan waren sofort bei ihm und fingen ihn auf, als er zusammenbrach. Sofort aber schwand wieder der mörderische Glanz in Alices Augen und als sie das Messer in ihren Händen sah und das Blut, da weiteten sich ihre Augen. Sie ließ das Messer fallen und wich entsetzt zurück. „Was… was hast du getan?“ rief sie, wohl wissend, dass der Unborn sie hören konnte. „Warum hast du das gemacht?“ „Ich tue doch nur, was du dir selbst wünschst, meine kleine Alice. Ich töte die Menschen, die dein Leben zerstört haben. Und damit auch ihn. Oder hast du geglaubt, dass du mich so schnell loswirst, nach allem, was ich für dich getan habe?“ „Nein! Hör auf!“ rief sie und presste eine Hand gegen ihren Kopf. „Ich will das nicht mehr. Es sind schon genug wegen dir gestorben und ich habe schon einmal meine besten Freunde verloren!“ „Wegen mir? Alice, machst du es dir da nicht vielleicht ein bisschen zu einfach? Immerhin war es doch dein Wunsch gewesen, das alles endlich zu beenden. Warum sonst hättest du gewollt, dass ich in deinem Körper lebe? Du wolltest mich in deinem Körper, damit du dich an denen rächen kannst, die dein Leben zerstört haben.“ Alice kämpfte erheblich mit sich. Sie hatte Mühe, den Unborn wieder unter Kontrolle zu bringen, dessen Wille immer stärker wurde und drohte, sie wieder so massiv zu beeinflussen. „Nein, das stimmt nicht!“ rief sie und schlug mit der Faust gegen einen der Metallbehälter und hinterließ einen großen Riss im Panzerglas. „Ich habe deine gute Seite einzig und allein in mein ungeborenes Kind fahren lassen, weil ich es einfach nicht über mich bringen konnte, eines Tages mein Baby zu töten, um dich zu vernichten. Ich habe an Elohims Ziele geglaubt und wollte, dass mein Kind genauso wie Joseph und ich für eine bessere Welt kämpft und Elohims Macht nutzen wird, um dich endlich zu vernichten und diesen Hass zu bekämpfen! Ich konnte doch nicht meinem eigenen Kind diesen ganzen Hass aufladen und ich werde dir nie verzeihen, dass du James auf meinen Sohn gehetzt und ihm so schlimme Dinge angetan hast, genauso wie den anderen Proxys. Ebenso wenig werde ich dir verzeihen, dass du meine besten Freunde umgebracht hast. Du Mistkerl hast mich doch nur benutzt…“ „Mum…“ Eine fast schon angsterfüllt klingende Stimme ertönte und Elohims Aura war verschwunden. Stattdessen stand jetzt Elion da, der sofort mit seinem anderen Ich die Plätze getauscht hatte, als er erfahren hatte, warum seine Mutter ihn zu einem Proxy gemacht hatte. Sie hatte das nicht getan, weil sie ihn hasste oder weil sie ihn als irgendein Tötungswerkzeug benutzen wollte. Nein, sie wollte, dass er den Hass bekämpfte, den sie auf sich geladen hatte, um ihn davor zu beschützen. In seinen Augen waren so viele Emotionen lesbar. Fassungslosigkeit, Angst, Verwunderung, Hilflosigkeit… Alice sah ihn an und hatte Tränen in den Augen. Sie wich vor ihm zurück. Wohl aus Angst, sie könnte wieder die Kontrolle verlieren. „Elohim war viel zu stark, als dass ein menschlicher Körper solch eine gewaltige Kraft aushalten kann. Deshalb musste ein Teil von ihm auf dich übergehen, es ging nicht anders. Und ich musste mich entscheiden. Entweder der Hass… oder die Liebe. Es mag sein, dass du durch Umstände gezeugt wurdest, die nicht schön sind. Dein Vater war ein widerlicher und sadistischer Vergewaltiger, aber… ich konnte dich trotzdem nicht hassen. Du warst doch ein Teil von mir… mein Kind… Ich konnte dir diesen Groll nicht aufladen, ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht, dir das anzutun. Also habe ich dir stattdessen Elohims gute Seele überlassen. Jene, die sich nach Frieden und Harmonie sehnte, weil ich trotz der ganzen Umstände das Beste für dich wollte und mir gewünscht habe, dass wenigstens du glücklich wirst, wenn ich es schon nicht werden kann. Aber… sein anderes Ich konnte das nicht akzeptieren. Es hat ihn gehasst und so wollte es ihn vernichten. Es wollte dich töten, was ich gerade noch verhindern konnte. Aber ich war nicht stark genug um zu verhindern, dass er und James dich und die anderen so sehr quälen. Ohne meine Hoffnung und meine Träume, die ich mit Lacies Erschaffung verloren hatte, hatte ich auch gleichzeitig keine Kraft zum Kämpfen mehr, wodurch ich dem Zorn Elohims vollständig verfallen bin. Es tut mir leid, Elion. Es tut mir leid, was du meinetwegen durchmachen musstest und ich wünschte, ich hätte die Kraft besessen, das alles viel früher zu beenden und dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Dann hätte es niemals so weit kommen müssen… Ich wollte doch nie jemandem etwas Böses. Alles, was ich wollte, war eine Welt, in der ich mit meiner Familie glücklich leben kann… wo ich mit Joseph und meinem Kind unbeschwert leben konnte, ohne in diesen nie enden wollenden Kreislauf der Gewalt und des Schmerzes gefangen zu sein. Aber stattdessen habe ich mein ganzes Leben lang immer nur die falschen Entscheidungen getroffen, weil ich immer wieder nur auf andere gehört habe. All die Jahre habe ich nur auf meinen Vater gehört und bin etwas geworden, das ich gehasst habe. Und dann musste ich so dumm sein und auf Elohims Zorn hören. Letztendlich bin ich zu einem Monster geworden, das selbst jenen wehtut, welche ich niemals verletzen oder in Gefahr bringen wollte. Ich habe meine besten Freunde getötet und mein einziges Kind im Stich gelassen. Und das ist unverzeihlich…“ „Mum…“ Elion sah aus, als wolle er gleich in Tränen ausbrechen. Zu hören, dass seine Mutter ihm Elohims gute Hälfte überlassen hatte, weil sie ihn vor dessen Zorn und Hass beschützen wollte, ließ ihn all diese schlimmen Dinge vergessen, die er erlebt hatte. Die jahrelange Gefangenschaft, die grausamen Experimente und die Übergriffe von James Brown und die Tatsache, dass er gezwungen wurde, Ezra zu töten. Seine Mutter hatte ihn nie gehasst, obwohl er bei einer Vergewaltigung gezeugt worden war. Sie hatte ihn trotz allem geliebt und wollte ihn vor Elohims Zorn beschützen und hatte sich stattdessen selbst seine dunkle Seite aufgeladen. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn zu töten und ihn stattdessen am Leben gelassen. All die Jahre war er sich sicher gewesen, dass seine Mutter ihn hasste und immerzu hatte er sich gefragt warum. Und nun erfuhr er, dass Alice ihn trotz allem geliebt hatte und einfach nur nicht imstande gewesen war, ihn vor Elohims Hass zu beschützen. Stattdessen war sie selbst von ihm vereinnahmt worden und hatte nicht mehr die Kraft besessen, sich ihren eigenen Willen zu bewahren. Der Unborn hatte sie genauso manipuliert, wie er Elohim und Liam manipulieren wollte. Nämlich indem er sie genau da traf, wo sie verwundbar waren. Und in Alices Fall waren das einfach zu viele Dinge gewesen. Und da sie ihre Träume und Hoffnungen an Lacie verloren hatte, war sie nicht in der Lage gewesen, sich gegen diese Manipulation zu wehren. „Ich bin eine wirklich furchtbare Mutter gewesen“, schluchzte sie und sah ihren Sohn mit vor Tränen glänzenden Augen an. „Aber… zumindest hast du eine bessere Mutter gefunden, die dir die Liebe geben kann, die du verdienst. Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte und dass ich nicht für dich da war. Und es tut mir leid, dass ich dich zu so etwas Schrecklichem gezwungen habe. Ich…“ Alice konnte kaum noch ihre Stimme beisammen halten. Sie zitterte am ganzen Körper, während unaufhörlich Tränen flossen. Sie lächelte, aber es wirkte so unendlich traurig und verzweifelt. Genauso wie Andrews Lächeln damals, als er selbst so unter diesem Erfolgsdruck gelitten hatte, der auf ihn gelastet und ihn letztendlich in den Tod getrieben hatte. „Ich bin wirklich stolz auf dich, mein Schatz. Und ich bin froh, dass du eine so wunderbare Familie gefunden hast, die sich besser um dich kümmern kann als ich.“ „Mum, du kannst doch nichts dafür, dass…“ Damit wollte Elion auf sie zugehen und in den Arm nehmen, doch da ergriff Alice die Panik und sie stieß ihn von sich. „Komm mir nicht zu nahe!“ rief sie und sah ihn angsterfüllt an und wich vor ihm zurück. „Bitte… ich will dir nicht wehtun.“ Einen Moment lang blieb Alice stehen und es war nicht klar erkennbar, was sie vorhatte. Doch als der Unborn erneut mit Gewalt versuchte, sich in ihr breit zu machen und sie sich nur mit ungeheurer Willenskraft selbst davon abhalten konnte, Elion anzugreifen, lief sie plötzlich zu Nastasja hin und schlug ihr mit gewaltiger Kraft in die Magengrube. Als die Russin von dem heftigen Schlag völlig benommen war, riss Alice ihr die Spritze aus der Hand, entfernte sich von der Gruppe und legte ihren linken Arm frei. Als ihre beste Freundin erkannte, was sie da vorhatte, überkam sie Entsetzen. Lacie hatte ihr gesagt gehabt, dass das Serum Alice nicht in dem Sinne helfen konnte, wie es bei Elion und Sheol der Fall war. Im Gegenteil. Weil der Unborn sich in ihrem gesamten Körper ausgebreitet hatte wie ein Parasit und ihre Seele nicht mehr menschlich war, weil sie mit Elohim verschmolzen war, würde es sie töten. Nastasja überkam Panik, als sie erkannte, was ihre beste Freundin da vor hatte und versuchte sie aufzuhalten. „Alice, nicht! Wenn du das tust, bringt es dich um!“ Doch Alice ließ sich nicht von ihrem Entschluss abbringen. Sie stieß Nastasja und Watari von sich, die sie aufhalten wollten und rief „Das ist meine Entscheidung! Ich werde nicht zulassen, dass Elohims Zorn noch weiter außer Kontrolle gerät und ich irgendjemanden in Gefahr bringe. Ein einziges Mal will ich die richtige Entscheidung treffen, ohne dass mir irgendjemand reinredet und mir sagt, was ich tun oder lassen soll. Und es ist meine Entscheidung, dass ich den Unborn zerstören werde und damit auch endlich diesen ganzen Alptraum beende, der schon viel zu lange anhält. Ich werde nicht zulassen, dass er mir noch die letzten Menschen nimmt, die mir wichtig sind und ebenso werde ich nicht zulassen, dass er meinem Sohn und den anderen Proxys nur noch mehr Leid zufügt. Deshalb muss ich das hier tun und Elohims Zorn mit mir nehmen, wenn ich sterbe. Also haltet mich nicht auf!!!“ Und bevor sie jemand daran hindern konnte, stach sich Alice selbst die Nadel in den Unterarm und injizierte sich schließlich selbst das Serum… Kapitel 13: Die Zeit des Abschieds ---------------------------------- Kaum, dass Alice sich das Serum gespritzt und damit auch ihr eigenes Schicksal besiegelt hatte, ging eine heftige Erschütterung durch das Gebäude und das Geräusch einer Explosion war plötzlich zu hören. Das klang nicht gut. Und als L schon fragen wollte, was denn da los war, da ging auch schon der Alarm los. Sofort eilte Alice zu einer Sprechanlage und wählte eine Nummer, dann nahm sie den Hörer ab. Irgendetwas stimmte da nicht und sie wusste, dass irgendetwas mit den Generatoren passiert sein musste. Schlimmstenfalls ein Störfall am Reaktor. Und das wäre eine Katastrophe! Normalerweise waren die einzigen Zwischenfälle die Ausbrüche der Proxys gewesen, aber einen ernsten Zwischenfall mit den Generatoren oder dem Reaktor hatte es bis dato noch nie gegeben. Es dauerte einen Augenblick, bis endlich jemand ranging. „Was ist da unten los?“ fragte Alice und sogleich schrie jemand regelrecht in den Hörer hinein „Der ENSOF-Reaktor ist überlastet. Durch die Explosion von Generator 2 und 4 sind die Kühlsysteme komplett ausgefallen. Der Reaktor ist dabei, sich zu überhitzen und die manuelle Kühlung ist auch vollkommen wirkungslos. Wenn wir nichts unternehmen, geht der Reaktor hoch!“ „Wie viel Zeit bleibt uns noch und wie groß würde der Radius ausfallen?“ „Wir haben maximal fünf bis sechs Minuten und der Radius würde einen Durchmesser von knapp 25 Meilen betragen, wenn der Reaktor nicht umgehend entladen wird.“ Sämtliches Blut wich aus Alices Kopf, als sie das hörte. Das war die wohl größte Katastrophe, die passieren konnte. Wenn der ENSOF-Reaktor sich noch weiter erhitzte und die Energie nicht schnellstens freigesetzt wurde, die gespeichert war, dann würde alles in einem Radius von umgerechnet 40 km zerstören! Und fünf Minuten waren viel zu wenig Zeit. Das würden sie nie und nimmer schaffen, um von hier zu entkommen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit. „Sofort die Evakuierung einleiten. Bringen Sie alle transportfähigen Proxys umgehend in Sicherheit und geben Sie im gesamten Gebäude roten Alarm raus. Und machen Sie, dass Sie da sofort rauskommen. Ich kümmere mich um alles Weitere.“ Damit legte sie auf und wandte sich den anderen zu, die schon ahnten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. „Schlechte Nachrichten“, sagte Alice und sammelte ihr Schwert vom Boden auf und steckte es wieder ein. „Zwei der Generatoren sind kaputt und das Kühlsystem des ENSOF-Reaktors ist funktionsunfähig. Der Reaktor ist dabei, sich immer weiter zu erhitzen und weil die eingespeicherte Energie nicht entweichen kann, wird die dabei entstehende Explosion alles in einem Radius von 40 km zerstören und das in weniger als sechs Minuten.“ Entsetzen zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Das reichte nie und nimmer, um von hier zu entkommen. Sie würden von der Explosion in Stücke gerissen werden und tausende von Menschen würden sterben! „Das heißt, wir werden alle draufgehen?“ rief Beyond, als er die Situation erfasst hatte. Alice eilte zu L und drückte ihm eine Karte in die Hand. „Ich werde mich um den Reaktor kümmern. Da mein Körper ohnehin nicht mehr menschlich ist, kann ich den Reaktor manuell bedienen und damit die Explosion so weit verringern, dass es lediglich die Anlage zerstören wird. Mehr kann ich leider auch nicht tun. Mit der Karte hier kommt ihr über einen Fluchtweg nach draußen. Ich erkläre euch den Weg unterwegs, da wir sonst zu viel Zeit verlieren. Haltet euch genau an den vorgeschriebenen Weg, dann kommt ihr hier raus.“ „Und was ist mit dir?“ fragte Nastasja und ergriff ihren Arm. „Du wirst dabei draufgehen, wenn du hier nicht schnellstens verschwindest.“ „Ich werde so oder so sterben und ich will wenigstens dieses eine Mal die richtige Entscheidung treffen. Wenn ich mich nicht um den Reaktor kümmere, werdet nicht nur ihr, sondern auch tausende von anderen Menschen dabei sterben. Und indem ich die Energie des Reaktors freisetze, wird damit auch Ain Soph befreit werden. Also lass mich das bitte tun, damit ich wenigstens die Chance dazu habe, zumindest ein einziges Mal in meinem Leben das zu tun, was ich will!“ Da sie kaum eine andere Wahl hatten, blieb Nastasja nichts anderes übrig, als dem Wunsch ihrer besten Freundin schweren Herzens Folge zu leisten. Mit Tränen in den Augen umarmte sie sie zum Abschied. „Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe, dich um irgendetwas zu bitten“, sagte Alice schließlich und sah dabei zu Elion. „Aber bitte kümmere dich gut um meinen Sohn, ja? Und hab ein Auge auf Papa.“ „Das tue ich“, versprach Nastasja. Zum Abschied gab Alice auch Elion eine Umarmung, der seinen Schmerz nicht unter Kontrolle halten konnte und weinte, als seine Mutter ihn in den Arm nahm. „Mum… ich will nicht, dass du gehst. Bitte…“ „Es tut mir leid, aber es geht nicht anders. Es ist die einzige Möglichkeit. Bitte pass gut auf dich auf und verzeih mir, dass ich all die Jahre nicht für dich da war. Und sei nicht traurig, ja? Du hast bei Nastasja ein wunderbares Zuhause und sie ist wirklich eine großartige Mutter. Eine bessere, als irgendein anderer Mensch jemals sein wird.“ Damit gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn und wandte sich ihrem Vater zu. Dessen Verletzung hatte Dathan inzwischen zurückgesetzt, doch es hatte den alten Mann sehr geschwächt und er war kaum noch bei Bewusstsein. Sein Gesicht war blass und Liam und Dathan mussten ihn stützen, da er nicht alleine stehen konnte. „Alice…“, sprach er mit schwacher Stimme. „Bitte geh nicht. Ich will dich nicht noch einmal verlieren. Bitte… komm mit uns zurück nach Hause.“ Ein trauriges Lächeln zeichnete sich in diesem wunderschönen Gesicht ab und immer noch konnte Alice nicht aufhören, Tränen zu vergießen. Sanft strich sie mit ihrer Hand über die Wange ihres Vaters und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie leise. „Es geht nicht anders, Papa. Ich werde so oder so sterben. Bitte verzeih mir…“ Damit wandte sie sich ab und ging los. Niemand hielt sie auf, denn sie alle wussten, dass sie gehen musste. Es war ihre eigene Entscheidung. Watari versuchte noch, ihr hinterherzueilen und sie zurückzuhalten. „Nein, Alice!“ rief er und wollte gehen, doch Liam hielt ihn zurück. „Lassen Sie sie gehen.“ „Ja aber…“ Watari sank zusammen und sah seiner Tochter hilflos hinterher, wobei sich Tränen in seinen Augen sammelten. „Ich kann doch nicht mein einziges Kind in den Tod gehen lassen, so ganz alleine. Ich habe sie doch schon ein Mal im Stich gelassen…“ Da er sich nicht beruhigen ließ und der Mafiaboss kein Risiko eingehen wollte, setzte er Watari kurzerhand außer Gefecht und trug ihn auf dem Rücken. Nastasja blieb bei Elion, der ebenfalls sehr unter dieser Situation litt, während Dathan Lacies Leiche mitnahm. Sie hatte für ihn und für sie alle so viel getan, dass sie es nicht verdient hatte, an solch einem Ort zurückgelassen zu werden. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg und erneut kam es zu einer heftigen Erschütterung, die dieses Mal aber stärker war als zuvor. Teilweise bildeten sich tiefe Risse in den Wänden und Staub rieselte von der Decke. Sie wussten, dass ihnen die Zeit davonlief und umso mehr beeilten sie sich, schnellstmöglich hier rauszukommen, bevor das ganze Gebäude zusammenstürzte. Liam und Dathan gingen dieses Mal voran, die sich von Alice den Weg beschreiben ließen. Alice hatte versucht, sich vor den anderen nichts anmerken zu lassen, aber ihr tat alles weh. Ihre Knochen fühlten sich an, als würden sie regelrecht zerfressen werden und als würde durch ihre Adern pure Säure fließen. Überall rannten Mitarbeiter vorbei, die dem Evakuierungsaufruf gefolgt waren und nun schnellstmöglich raus wollten. Sie eilte in Richtung der Proxyzellen und betätigte den Schalter, der die Türen öffnete. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, wies sie mit ihrer Alpha-Stimme an „Alle sofort raus hier und bringt euch in Sicherheit! Los!“, woraufhin mehrere Proxys, die teilweise noch wie Kinder aussahen, ihre Zellen verließen und dem Befehl ihres Alphas widerstandslos Folge leisteten. Na wenigstens hat diese Fähigkeit auch ihr gutes, dachte Alice und ging weiter. Zumindest kann ich auf diese Weise die restlichen Proxys hier raus bringen. Sie ging den Gang runter, doch als sie die Treppen erreichte, überkam sie ein entsetzlicher Schmerz, der von ihrem gesamten Körper Besitz ergriff und ihr Innerstes gänzlich verkrampfen ließ. Sie stützte sich an der Wand ab und erbrach einen Schwall Blut. Schwer keuchend ging sie die Stufen hinunter und obwohl sie starke Schmerzen hatte und kaum noch laufen konnte, musste sie schmunzeln. „Eines muss man dir lassen, Nastasja. Das Mittel wirkt besser, als ich selbst erwartet habe. Wenn das so weitergeht, wird von meinem Körper nichts mehr übrig bleiben.“ „Glaubst du allen Ernstes, dass du auf diese Weise davonkommst, Alice?“ Tja, anscheinend würde sie ihn doch nicht ganz so schnell loswerden. Naja, ein Gesprächspartner war besser als keiner und so war sie in den letzten Minuten ihres Lebens nicht so ganz alleine. Auch wenn sie auf seine Gesellschaft genauso gut verzichten konnte. Ein bitteres Lächeln zeichnete sich auf ihre Lippen ab, als sie sich die Treppen hinunterschleppte. „Du kannst tun und lassen was du willst, aber wenn meine beste Freundin etwas macht, dann auch richtig. Wenn das Serum mich schon umbringt, dann nehme ich dich höchstpersönlich mit ins Nichts. Sie alle haben gekämpft, um dich aufzuhalten, da darf ich auch nicht einfach so klein bei geben. Also tu mir den Gefallen und sei still, damit ich mich auf meine Arbeit konzentrieren kann.“ Als sie den Reaktor-Raum erreichte, spürte sie schon die kochende Hitze. Die Luft flimmerte und weißer Dampf vernebelte den Raum. Das sah überhaupt nicht gut aus. Schnell zog Alice ihre Handschuhe an und ging zum Schaltpult und sah sich das Ganze näher an. Tatsächlich war das Kühlsystem aufgrund der beiden explodierten Generatoren ausgefallen. Und wenn sie die anderen Generatoren nicht ausschaltete, würde es zu einer Kettenexplosion kommen, die eine gewaltige Verwüstung anrichtete. Also fuhr sie die Generatoren herunter, sodass kurzzeitig der Strom ausfiel. Dafür aber aktivierte sich das Notstromaggregat, welches den Komplex noch mit genügend Strom versorgte, sodass die Türen und Aufzüge und auch das Tor funktionierten. Zudem lief wenigstens noch die Notbeleuchtung, sodass das Gebäude evakuiert werden konnte. Allerdings gab es da jetzt ein Problem: sie musste den Reaktor manuell abschalten und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie es in ihrer jetzigen Verfassung noch schaffte. Aber sie musste es versuchen. Allein schon, weil sie nicht zulassen wollte, dass noch jemand wegen diesem Projekt sterben musste. Sie öffnete den Sicherheitskasten und gab den Sicherheitscode ein und ließ ihre Netzhaut abscannen. Und während sie damit beschäftigt war, den Reaktor zu deaktivieren und die gespeicherte Energie freizulassen, da musste sie wieder an Joseph denken und an den Tag, als er ihr von seinem Plan erzählt und ihr das Buch geschenkt hatte. Das Buch, mit dem er ihr seinen Heiratsantrag gemacht hatte. „Es tut mir leid, Joseph“, sagte sie schließlich. „Letzten Endes haben wir unser Utopia doch nicht gefunden… Es tut mir leid, dass ich so dermaßen versagt habe.“ Damit ergriff sie nun das erste Ventil und begann es zu drehen. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihre Hände, als sie die glühende Hitze spürte. Es stank nach verbranntem Fleisch und sie hätte am liebsten losgelassen. Es tat so unendlich weh und sie wusste, dass ihr Körper das auch nicht länger mitmachte. Schlimmstenfalls würde sie durch diesen gewaltigen Schmerz einen Schock erleiden. Und in dem Zustand konnte sie auch nicht ihre Kräfte einsetzen. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien und hatte das erste Ventil geöffnet. Als sie zum zweiten ging, sah sie nicht auf ihre Hände und wusste auch so, dass diese völlig verbrannt waren. Die Lederhandschuhe waren für solche Temperaturen nicht ausgelegt, aber in dieser Situation blieb ihr kaum etwas anderes übrig. Wenn sie nicht schnell die Ventile aufdrehte und im Anschluss die Energiebehälter zerstörte, würde die gespeicherte Kraft, mit der Ain Soph wiedererweckt werden sollte, eine verheerende Zerstörung anrichten. Und da durfte sie sich nicht von ein paar Schmerzen und verbrannten Händen aufhalten lassen. Das zweite Ventil war weitaus schwerer zu öffnen. Sie musste ihre ganze Kraft aufwenden und spürte schon gar nicht mehr den Schmerz ihrer verbrannten Hände. Ihr Körper befand sich in einem Schockzustand und machte es ihr somit leichter, auch das letzte Ventil zu öffnen. Und kaum, dass diese offen waren, schlug sie mit ihrem Schwert einen riesigen Riss in die beiden Behälter. Eine weitere heftige Erschütterung ging plötzlich durch das Gebäude und kaum, dass der Riss in den Behältern sich vergrößerte, wurde eine so gewaltige Kraft freigesetzt, dass sie Alice von den Füßen riss und sie gegen die Wand schleuderte und ihr kurzzeitig das Bewusstsein raubte. Sie stürzte zu Boden und erbrach einen weiteren Blutschwall. Das Atmen war ihr kaum noch möglich und sie konnte sich kaum noch bewegen. Die Wucht der freigesetzten Kraft hatte mehrere Metallsplitter aufgewirbelt, von welchem einer sie in den Unterleib und einer in den rechten Oberschenkel getroffen hatte. Sie versuchte wieder aufzustehen, zog den Splitter heraus und wollte zur Tür gehen, doch sie konnte nichts mehr sehen. Alles war so verschwommen, dass sie fast gar nichts mehr erkennen konnte. So ein Mist. Das Serum hatte ihren Körper bereits so weit zerstört, dass sie allmählich ihr Augenlicht verlor. Und wahrscheinlich würde sie sich auch gleich nicht mehr bewegen können. Fast vollkommen blind tastete sich Alice vor, was ihr aber mit verbrannten Händen mehr als schwer fiel, doch sie schaffte es tatsächlich, irgendwie zur Tür zu gelangen. Diese schloss sie hinter sich und kämpfte sich noch ein Stück weit den Gang hinunter, doch dann gaben ihre Beine endgültig nach und sie brach zusammen. Erschöpft lehnte sie sich mit dem Rücken zur Wand und spürte, wie das ganze Institut zu beben begann. Überall bildeten sich weitere Risse an den Wänden und Teile der Decke stürzten ein. Das Gebäude war im Begriff, komplett einzustürzen. Durch die immense Kraft, die freigesetzt worden war, hatte es zu große Schäden erlitten und nun würde die „Geburtsstätte“ Ain Sophs von eben jener selben zerstört werden, weil ihre Kraft zu stark war, als das etwas sie noch weiterhin im Zaum halten konnte. Alice wusste es, sie hatte von Anfang an gewusst, dass nichts und niemand es vermochte, Ain Soph unter Kontrolle zu halten. Denn sie war grenzenlos. Sie und Joseph hatten auch nie beabsichtigt gehabt, sie gefangen zu halten. Nein, sie wollten lediglich dafür sorgen, dass sie wieder zurückkehren konnte. Und mit Lacies Tod war der letzte Schritt vollbracht und sie hatten wenigstens einen kleinen Teil ihres Ziels erreicht. Sie hatten Ain Soph und Elohim zurückgeholt. Aber zu welchem Preis? Es hatte einfach viel zu viele Leben eingefordert, weil der Zorn und der Hass Elohims nicht ruhen konnten. „Alas my love, you do me wrong, To cast me off discourteously. And I have loved you so long Delighting in your company. Greensleeves was all my joy, Greensleeves was my delight. Greensleeves was my heart of gold, And who but my Lady Greensleeves…” Ihre schwächer werdende Stimme wurde von dem lauten Grollen des Reaktors übertönt, aber sie wollte auch nicht gehört werden. Sie sang einzig und allein für sich und war inzwischen auch nicht mehr in der Lage zu sehen, ob da überhaupt noch jemand sonst war. Alles, was sie noch erkennen konnte, waren Schatten und nicht mehr. Sie bedauerte ihr Schicksal nicht, sondern war froh, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenigstens ein einziges Mal hatte sie die richtige Entscheidung getroffen und das getan, was sie wollte, ohne sich von irgendjemandem bequatschen zu lassen. Trotzdem wäre sie gerne mit den anderen mitgegangen, anstatt hier alleine zurückzubleiben und zu sterben. Tja, dachte sie und lächelte traurig. Es ist, wie Lacie gesagt hat: jedes Lebewesen stirbt für sich allein. „Na, du siehst ja vielleicht bescheiden aus.“ Als Alice eine Stimme hörte, erschrak sie und sah auf, erkannte aber nichts außer einem verschwommenen Schatten. Ihre Welt war schon dabei, vollständig im Dunkeln zu versinken. „Wer… wer ist da?“ rief sie ins Getöse hinein. „Sehen Sie lieber zu, dass Sie hier rauskommen. Das ganze Gebäude wird gleich einstürzen!“ „Ich weiß, aber das kümmert mich nicht. Und wenn du mal genauer hinschauen würdest, müsstest du längst erkannt haben, dass ich keiner von diesen Menschen bin. Und demnach ist diese kleine Explosion auch keine sonderliche Bedrohung für jemanden wie mich.“ Alice runzelte verwundert die Stirn und versuchte über ihr Gespür zu erkennen, wer da vor ihr stand. Und was sie wahrnahm, raubte ihr fast den Atem. Es war eine so gewaltige Macht, dass es ihr fast den Verstand geraubt hätte, wenn sie sich noch eine Sekunde länger darauf eingelassen hätte. Ihr Herz begann vor Angst zu rasen. Das war definitiv kein Mensch… und auch kein Proxy oder ein Sefira. Nein, es war viel älter und viel mächtiger… „Was… was willst du von mir?“ „Nun, ich wollte mir mal persönlich den Menschen ansehen, der es geschafft hat, ein solches Durcheinander anzurichten. Und wie ich feststellen muss, ist das Ergebnis eher enttäuschend. Aber es ist nicht das Äußere, was hier zählt, sondern die Taten. Und wenn man sich bei mir je einer Sache gewiss sein konnte, dann der Tatsache, dass ich niemals einen guten Dienst vergesse. Du hast Elohim gerettet und mir Ain Soph zurückgebracht. Für dich und deinen Joseph mag es als einfacher Traum von einem Utopia begonnen haben, aber letzten Endes habt ihr mehr bewirkt, als ihr euch vorgestellt habt. Durch euren Verdienst ist der Verrat an Elohim zutage gefördert worden und die alte Ordnung wird für immer in sich zerfallen. Stattdessen wird nun eine neue entstehen. Wer hätte gedacht, dass zwei kleine Insekten es schaffen, einen so gewaltigen Einfluss auf etwas auszuüben, was sich weit außerhalb der Grenzen eures kleinen Universums befindet?“ Alice schwieg, als sie das hörte und wusste auch nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie und Joseph hatten tatsächlich etwas bewegen können? Ihr Projekt war also letzten Endes doch nicht gänzlich gescheitert, wie zunächst angenommen? Aber es stimmte schon. Sie hatten es geschafft, Ain Soph und Elohim zurückzuholen. Und das war eigentlich schon ein kleines Wunder. „Dann haben all die Menschen und Proxys nicht völlig umsonst ihr Leben lassen müssen…“ „So sieht es aus. Aber… deswegen bin ich nicht hier. Ich wurde von einem alten Freund gebeten, mich um die verlorenen Seelen jener Opfer zu kümmern, die zum Opfer des Hasses geworden sind. Und du gehörst auch zu ihnen, Alice Wammy.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen, als sie das hörte und sie lächelte unglücklich. „Ich verdiene es nicht, weiterzuleben. Mein ganzes Leben ist sowieso ein einziger Scherbenhaufen. Wirklich alles habe ich falsch gemacht. Wegen mir sind meine besten Freunde gestorben… wegen mir ist Joseph tot und wegen mir mussten so viele ihr Leben lassen. Simrah, Samsara, Sariel und Lacie. Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe, überhaupt so etwas wie eine Bitte an irgendjemanden zu richten bei der Schwere meiner Sünden.“ „Aber…?“ „Aber… wenn ich es dürfte… wenn ich nur einen selbstsüchtigen Wunsch äußern darf… nur eine Bitte…“ Und hier wurde Alice wieder von ihren heftigen Schluchzern unterbrochen, denn sie wurde wieder von ihren Gefühlen überwältigt und schaffte es kaum, weiterzusprechen. „Dann würde ich mir nur eine kleine Chance erbitten. Eine einzige Chance, damit ich meine ganzen Fehler wieder gut machen kann. Ich will es wenigstens dieses Mal besser machen und die richtigen Entscheidungen treffen.“ Diese letzten Worte schrie sie heraus, als wollte sie der ganzen Welt diesen letzten Wunsch mitteilen. Sie wusste, dass sie nicht das Recht hatte, um diese Chance zu bitten, denn sie hatte ja schon diese zweite Chance gehabt, als sie von Joseph wiederbelebt wurde. Aber selbst die hatte sie vertan und ihr Leben nur noch mehr zerstört. Irgendwie schien sie ein Talent dafür zu haben, sich selbst alles immer kaputt zu machen. Egal, was es auch war. Eine Weile lang schwieg die Gestalt vor ihr. Dann aber konnte Alice noch mit Mühe erkennen, wie diese ihr eine Hand reichte und sagte „Wenn das so ist… dann wird es für dich Zeit, Alice Wammy. Es wird Zeit für dich zu gehen.“ Einen Augenblick lang zögerte Alice noch unsicher. Normalerweise müsste sie Angst davor haben, aber seltsamerweise hatte sie keine Angst. Nein, sie war irgendwie erleichtert, als die Gestalt vor ihr sagte, dass es nun Zeit war für sie zu gehen. Es erfüllte sie mit einer gewissen Erleichterung, als würde mit einem Male eine schwere Last von ihr abfallen. Die Erleichterung über die Gewissheit, dass es endlich vorbei war. Es war alles ein für alle Male vorbei und sie würde nun endlich frei sein von all den Ketten und Lasten, die sie hatte ertragen müssen. Ja… sie war frei. „Ja“, sagte sie schließlich und ergriff mit dem letzten Rest ihrer Kraft die Hand der Person und lächelte befreit. „Es wird Zeit zu gehen…“ Kapitel 14: Wieder bei Samajim ------------------------------ In letzter Sekunde hatten sie es geschafft, das Institut zu verlassen, bevor es mit der Explosion des Reaktors in sich zusammenstürzte und alles unter sich begrub. Fassungslos standen sie da und brachten kein Wort hervor. Nastasja selbst sagte nichts und nahm stattdessen Elion in den Arm, der im Moment wohl mehr Trost brauchte als sie. Immerhin hatte er gerade seine Mutter verloren, nachdem er erfahren hatte, dass sie ihn trotz allem sehr geliebt hatte. „Mach dir keine Sorgen, Elion“, hörte der Proxy Elohims Stimme zu ihm sprechen. Zwischen ihnen war die Verbindung deutlich stärker geworden, seit Elion die Wahrheit erfahren und Elohim auch selbst getroffen hatte. So konnten sie auch im Wachzustand miteinander kommunizieren. „Es wird alles gut werden. Weißt du, deine Mutter hat dich wirklich sehr geliebt, trotz der Dinge, die geschehen sind. Sie ist gestorben, damit du in Sicherheit bist und weiterhin bei Nastasja und den anderen leben kannst. Und das darfst du niemals vergessen. Hör mal, ich habe einige wichtige Dinge zu erledigen. Ajin will mich umgehend sprechen und ihn sollte man in keinem Falle warten lassen. Entschuldige bitte, dass ich dich darum bitte, nachdem du deine Mutter verloren hast. Aber… könntest du meinem Sohn ausrichten, dass wir beide bald wieder zurück sein werden?“ „Ja, das mache ich.“ Elion spürte eine seltsame innere Kälte. So als würde ein fremdartiger Sog durch seinen Körper gehen und dann war es auch wieder verschwunden. Nun spürte er deutlich, dass Elohim seinen Körper verlassen hatte. Für einen Moment wurde ihm schwindelig und er verlor die Kraft in den Beinen, doch sofort fing Nastasja ihn auf. „Elion, was ist los? Was hast du?“ Er fing sich wieder und bemerkte, dass er ziemlich müde war. Wahrscheinlich weil Elohim so viel Kraft verbraucht hatte, dass sich sein Körper erst einmal davon erholen musste. Ja… die Anstrengung musste wohl zu viel gewesen sein. „Elohim ist gerade gegangen. Er sagte, es gäbe ein paar wichtige Dinge, um die er sich kümmern muss.“ „Dad ist weg?“ fragte Dathan zum Teil enttäuscht, denn er hatte gehofft, dass sein Vater bei ihm bleiben würde. Sie hatten sich so lange Zeit nicht gesehen und nun war er einfach wieder fort. Aber… es stand ja von vornherein schon fest, dass sein Vater gehen würde. Immerhin konnte er ja nicht ewig in Elions Körper bleiben und es war auch so vereinbart, dass er gehen würde, sobald der Alpha-Proxy besiegt war. „Er sagte aber“, fügte Elion noch hinzu als er die Enttäuschung bei Dathan sah, „dass sie beide bald zurückkommen würden.“ Zuerst war nichts als Ratlosigkeit bei dem Unvergänglichen zu sehen und er verstand nicht, was sein Vater mit beide meinte. Von wem sprach er denn? Er überlegte kurz, aber dann weiteten sich seine Augen. Ja richtig…. Sie war damit gemeint! Und in dem Augenblick hatte er Tränen in den Augen und konnte es selbst nicht glauben. Vorsichtig legte sich eine Hand auf seine Schulter, doch dieses Mal zuckte er nicht mehr erschrocken zusammen wie die Jahre zuvor. „Dathan?“ „Alles in Ordnung“, versicherte er. „Ich weiß, dass es meinen Eltern gut geht und sie bald kommen werden.“ Sie machten sich auf den Rückweg zu den Autos und legten Lacie vorsichtig auf den Rücksitz. Doch es gab ein Problem: das andere Auto gehörte ihr und sie brauchten den Schlüssel. Also begann Nastasja ihre Taschen zu durchsuchen, in der Hoffnung, dass sie die Wagenschlüssel vielleicht noch bei sich hatte. Tatsächlich fand sie sie in ihrer Jackentasche, aber sie ertastete noch etwas anderes. Neugierig holte sie es heraus und fand dieses merkwürdige zusammengerollte Blatt, welches Nabi Lacie im Auftrag von Samajim gegeben hatte. Kaum, dass sie es in der Hand hielt, brach es langsam auf und sie ahnte, um was es sich bei diesem Blatt handeln könnte. Schnell gab sie es L, der gleich neben ihr stand mit der Erklärung „Nimm du es, bevor ich zu schreien anfange.“ Schnell entfernte sie sich und zuerst verstand kaum jemand ihr seltsames Verhalten, aber dann erkannten sie, dass es sich bei dem vermeintlichen Blatt um einen Kokon handelte. Es war ein Schmetterlingskokon. Jeremiel reagierte sofort und fand im Wagen eine kleine Box und sperrte den Schmetterling darin ein mit der Erklärung „Wenn wir ihn hier draußen lassen, geht er bei der Kälte noch ein. Am besten bringen wir ihn an einen geeigneten Ort, wo er vor der Kälte geschützt ist.“ „Das Pfarrhaus in Greenwich hat ein kleines Gewächshaus. Wir können Samajim darum bitten, sich um Lacies Beerdigung zu kümmern. Sie hat es ja verdient, wenigstens angemessen bestattet zu werden.“ Also einigten sie sich darauf, dass eine Gruppe nach Greenwich fahren würde und die andere nach Hause zurückkehrte. Da sich Elion nicht sonderlich fit fühlte und sich ausruhen musste, wollte er nach Hause, Nastasja musste sich um Watari kümmern und zudem Frederica die Nachricht beibringen, dass Lacie tot war. Jeremiel kam ebenfalls mit, da auch er ziemlich erschöpft von der ganzen Aufregung war. Also machten sich Beyond, L, Liam und Dathan auf den Weg nach Greenwich. Während sie im Wagen saßen, starrte Beyond zum Fenster hinaus und hielt die kleine Box mit dem Schmetterling fest. „Glaubt ihr, dass das ein Zeichen ist?“ fragte er schließlich, ohne dass er diese Frage wirklich an jemanden direkt gestellt hätte. „Wie meinst du das?“ wollte L wissen, der fast genauso nachdenklich und ein wenig melancholisch wirkte. „Lacie sagte von sich selbst, dass sie wie ein Kokon war. Sie war weder eine Raupe, noch ein Schmetterling, sondern nur ein Zwischending. Vielleicht ist dieser Schmetterling hier ja ein Zeichen, dass sie nicht gänzlich tot ist. Sie sagte, sie würde Alice retten und Ain Soph zurückholen. Sie sollte eigentlich Ain Sophs Wiedergeburt werden, aber da sie die Erinnerungen, Träume und Hoffnungen von Alice hatte, war sie zu menschlich. Aus demselben Grund war es ihnen nicht gelungen, Elohims Kinder wiederzuerwecken: solange sie zu menschlich sind, können sie nicht zu Entitäten werden, weil Menschlichsein auch Begrenztheit bedeutet. Und die Entitäten selbst sind absolut grenzenlos und unendlich. Also hätte Lacie genau dies alles ablegen müssen, um Ain Soph zu werden. Und solange sie noch gelebt hat, war sie unvollständig. In Alices Brief stand ja, dass wir alle Fragmente der Ewigkeit sind und mit dem Tod werden wir eins mit der Unendlichkeit. Demnach also war Lacies Tod nötig, damit Ain Soph erwachen konnte.“ „Als eine kleine Raupe dachte, die Welt ginge zu Ende, da wurde sie zu einem Schmetterling. So zumindest ging der Spruch, wenn ich mich recht entsinne“, sagte Dathan schließlich und nickte. „Ja… ich glaube, dass das auf Lacie zutrifft. Warum auch sonst hätte Samajim ihr den Kokon gegeben und gesagt, dies würde ihre Frage beantworten? Sie hat sich ja immer gefragt, wer sie wirklich ist. Und letztendlich hat er ihr die Antwort gegeben und damit hat Lacie allein für sich beschlossen, zu einem Schmetterling zu werden. Deshalb meinte sie wahrscheinlich auch, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie von eurer Familie nicht aufgenommen wird… sie wollte… sie wollte nicht, dass jemand sie vermisst, wenn sie stirbt.“ Da Dathan in seiner Trauer nicht mehr imstande war, vernünftig zu fahren, übernahm schließlich Liam das Steuer und als sie Greenwich erreichten, begann es zu regnen und sie eilten zum Pfarrhaus. Nabi öffnete ihnen die Tür und führte sie ins Wohnzimmer. „Und? Wie ist es gelaufen?“ fragte er sofort und daraufhin gab L ihm die Kurzfassung von den Ereignissen und wie es ausgegangen war. Nabi hörte ihnen aufmerksam zu und servierte ihnen schließlich heißen Tee, den sie bitter nötig hatten. Er nahm schließlich die Box mit dem Schmetterling an sich und brachte das kleine Tierchen ins Gewächshaus, wo es vorerst vor der Kälte geschützt war. „Verstehe“, sagte er schließlich und kam wieder zurück. „Meister Samajim ist sowieso wieder zurück. Ich müsste ihn nur kurz wecken gehen, einen Augenblick bitte.“ Während sie auf dem Sofa und dem Sessel Platz nahmen, hörten sie auch in einem der anderen Zimmer Nabi laut rufen. „Meister, Ihr habt Besuch. Würdet Ihr also bitte die Freundlichkeit besitzen und endlich unter Eurem Heiztisch hervorkommen?“ „Verdammt Nabi, ich hab gerade so schön geschlafen. Warum bist du denn schon wieder so gereizt?“ „Na weil es nicht angeht, dass ich hier alles mache und Ihr Euch die ganze Zeit auf die faule Haut legt. Also hoch mit Euch und dann ab ins Wohnzimmer, sonst gibt es die nächsten zwei Wochen keine Twinkies mehr für Euch.“ „Meine Güte bist du gereizt in der letzten Zeit. Ich glaub langsam ernsthaft, du brauchst ne Frau… oder nen Kerl. So langsam glaube ich nämlich wirklich, dass das nur der sexuelle Frust bei dir ist.“ „Meister, die können uns hören!“ „Als ob mich das sonderlich stört…“ Und wenig später kam Samajim herein, der einen etwas verschlafenen Eindruck machte. Er ordnete ein wenig halbherzig seine Haare und gesellte sich zu ihnen dazu. „Ich hoffe, wir stören Sie nicht“, sagte Beyond halb sarkastisch und sogleich winkte Nabi ab. „Nein, ihr stört ihn schon nicht. Meister Samajim muss nur langsam wieder ans Arbeiten gewöhnt werden, das ist alles. Nicht wahr, Meister?“ Und diese Frage hatte schon fast etwas Drohendes an sich, sodass dieses freundliche Lächeln des Sefiras beinahe schon unheimlich wirkte. Samajim grummelte nur missmutig etwas vor sich hin und wandte sich dann seinen Gästen zu. „Ich wollte mich bei der Gelegenheit noch mal bei euch persönlich bedanken. Ich glaube, ihr habt keine Vorstellung davon, was ihr alles durch euer Handeln verändert habt. Nicht nur, dass eure Welt gerettet ist und Elohims Hass endlich vernichtet wurde, ich habe meinen besten Freund wieder und nun wird auch für die Sefirot eine ganz neue Zeit anbrechen. Es wird sehr viele Veränderungen geben und endlich wird auch diese ewig andauernde Tyrannei enden.“ „Was genau passiert denn jetzt eigentlich?“ „Nun, das liegt nicht in meiner Macht zu entscheiden. Das liegt einzig und allein bei Ajin Gamur. Nachdem er erfahren hat, was damals wirklich zum Sefirot-Krieg geführt hat, hat er die Sache selbst in die Hand genommen, was ja eigentlich eher untypisch ist für ihn. Denn normalerweise hält er sich lieber zurück, da er der Auffassung ist, die anderen hätten genug Verstand, um selbst eine Lösung für das Problem zu finden. Aber wie sich ja gezeigt hat, ist es dringend nötig, dass er endlich handelt, weil es sonst eines Tages wieder so eskalieren wird wie damals. Glaubt mir, für uns verläuft die Zeit anders als für euch Menschen. Da wir schon so lange leben, sind hunderttausend Jahre für uns nichts als ein kurzer Augenschlag und mehr nicht. Darum dauern Fehden und Kriege ganze Äonen an. Selbst Gefühle wie Liebe, Freude oder Hass können länger andauern als eine eure im Vergleich dazu sehr kurze Menschheitsgeschichte. Jedenfalls wird es in der nächsten Zeit so einige Änderungen geben. Als erstes hat Ajin die Drahtzieher des Attentats von damals sowie mehrere Mitverschwörer verhaften lassen und auch das hohe Gericht aufgelöst. Damit hat auch die Willkür der großen Alten ihr Ende gefunden.“ „Und was passiert mit den Mördern meiner Geschwister?“ fragte Dathan und wurde unruhig. „Nun“, begann Samajim und ließ sich von Nabi einen Tee bringen. „Ajin Gamur, der ja im Grunde so etwas wie dein Großvater ist, hat die Entscheidung über ihr Schicksal deiner Mutter überlassen. Nachdem Ain wieder zurückgekehrt ist, hat er ihr und deinem Vater die die Aufgabe übertragen, Gerechtigkeit und Ordnung in unsere Welt zu bringen und die Willkür und die blutigen Machtkämpfe zu beenden. Und als Erstes haben sie die Todesstrafe abgeschafft. Stattdessen wird auf Miswa, Rakshasa, Kabod und die anderen Verräter eine Strafe warten, die für sie viel schlimmer ist als der Tod. Ein Leben in Vergänglichkeit und im Elend, Armut und Einsamkeit ohne Hoffnung auf Glück ist für einen Sefira von hohem Rang das Schlimmste, was ihm passieren kann. Sie werden bis in die Ewigkeit geboren werden und sterben, denselben Kreislauf wieder und wieder durchleben und nie einen Hoffnungsschimmer in ihren unzähligen Leben erfahren. Ihnen wird ein Leben blühen, welches nicht weniger trostlos ist als das von den bedauernswerten Menschen in der dritten Welt, die tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen und denen doch kein besseres Schicksal zuteil wird.“ Das war wirklich eine grausame Strafe und wieder musste Beyond an die Szene im Institut denken, als er den übel zugerichteten James Brown umbringen wollte und Liam ihn davon abgehalten hatte. Manchmal war solch ein Leben noch viel schlimmer als der Tod, das stimmte wohl. Und wenn man bedachte, was sie getan hatten… Sie hatten Dathans Geschwister getötet, versucht seinen Vater umzubringen und hatten dessen besten Freund Hajjim auf dem Gewissen. Lange Zeit hatten sie ein regelrechtes Terrorregiment geführt und jeden getötet, der es gewagt hatte, sich gegen sie aufzulehnen. Darum war diese Strafe vielleicht tatsächlich besser als der Tod. So hatten sie genug Zeit, um für ihre Verbrechen zu büßen. Und die Verschwörer hinzurichten, hätte auch sicherlich nicht zu Elohim gepasst. Denn er hielt an diesem Grundsatz fest, dass man Unrecht nicht mit Unrecht vergelten sollte. Und darum würde er einen Mord auch nicht mit dem Tode bestrafen. Das hätte gegen alles verstoßen, woran er geglaubt hatte. „Dann heißt das also, die großen Alten haben alle ihre Macht verloren?“ „Nicht ganz“, widersprach Samajim und gab etwas Zucker in seinem Tee. „Es gibt noch eine kleine Anzahl, die von nun an eine beratende Funktion ausüben. Allerdings haben sie keinerlei Entscheidungsgewalt mehr. Damit wird auch sichergestellt, dass es nicht schon wieder eines Tages zu einem Aufstand oder ähnlichem kommt. Ich gehöre auch zu den Beratern. Aber jetzt habe ich genug von mir gesprochen. Ihr seid sicher mit einem anderen Anliegen hergekommen, nicht wahr?“ Dathan nickte und senkte niedergeschlagen den Blick. „Es geht um Lacie… wir… wir wollen sie wenigstens angemessen bestatten, nach allem, was sie für uns getan hat. Könntest du uns da vielleicht helfen?“ „Gerne. Überlasst das nur mir. Sie wird ein schönes Grab bekommen und eine angemessene Beerdigung. Einer meiner Asylanten arbeitet ohnehin als Bestatter, der wird sich dann darum kümmern, dass sie hübsch hergerichtet wird. Darüber macht euch mal keine Sorgen. Habt ihr sie mitgebracht?“ „Ja, sie ist im Auto.“ Samajim wies Nabi an, Lacies Leichnam zu Sha’chor zu bringen, woraufhin sich Nabi den Wagenschüssel geben ließ und sich auf den Weg machte. Als sich die Haustür schloss, kam L auf etwas anderes zu sprechen. „Ist Alice jetzt endgültig tot oder gibt es noch Hoffnung?“ „Tja“, murmelte der Pfarrer und kratzte sich am Kinn. „Das liegt leider nicht mehr in meiner Macht. Da müssen wir uns wohl auf eine höhere Instanz verlassen. Ich weiß, dass das für Menschen wie euch jetzt recht abgedroschen klingt, aber da wird euch nur der Glaube helfen. Ich habe Ajin in Evas Namen gebeten, sich um die verlorenen Seelen jener zu kümmern, die zum Opfer von Elohims Hass geworden sind. Aber was er genau mit ihnen vorhat, das kann ich euch nicht sagen und er hat mir auch nicht mehr gesagt. Manchmal ist es da sowieso ratsamer, nicht näher nachzufragen, weil Ajin eh sehr gereizt war wegen dieser Verschwörungsgeschichte. Aber so viel kann ich euch schon mal versichern und dafür lege ich auch meine Hände ins Feuer: Ajin Gamur vergisst niemals, wenn man ihm einen guten Dienst erweist.“ Tja, dann hieß es also tatsächlich abzuwarten und zu hoffen, dass sich das Beste ergab. Nach all den Dingen, die geschehen waren, wäre es wenigstens tröstlich zu wissen, dass Alice und die verstorbenen Proxys in einem anderen Leben vielleicht mehr Glück hatten als in diesem. Und vielleicht konnten sich Alice und Joseph gemeinsam den Traum von ihrem eigenen Utopia erfüllen und endlich zusammen glücklich werden, nachdem es das Schicksal schon nicht gut mit ihnen meinte. Und vielleicht fanden auch Sariel, Samsara und Simrah endlich ihr eigenes Glück und konnten noch mal ganz von vorne anfangen. Genauso wie Evas Familie, die vor 445 Jahren gestorben war und die dann wiedergeboren wurde. Als normale Menschen, die durch eine Verkettung schicksalhafter Ereignisse zueinandergefunden hatte. Liam war in ein sehr nachdenkliches Schweigen versunken und hatte die Arme verschränkt. Sein Blick war düster und doch ließ sich so etwas wie Sorge erkennen. Und es ließ sich erahnen, woran oder an wen er dachte. Und schließlich sprach er den Gedanken laut aus. „Als wir im Institut waren, da ist Jeremiel mit Sam Leens verschmolzen und es hat sich zudem gezeigt, dass er die Eigenschaften eines Proxys entwickelt hat. Seit er wieder aufgewacht ist, wirkt er ziemlich neben der Spur. Insbesondere weil er jetzt mit dessen Erinnerungen leben muss und das geht ihm nahe, auch wenn er es zu verbergen versucht. Ich bin da ehrlich gesagt besorgt, dass er das nicht verkraften kann.“ Samajim nickte bedächtig und dachte kurz nach. „Das ist ja auch verständlich. Jeremiel besitzt genauso wie sein Bruder und seine Mutter einen starken Gerechtigkeitssinn und Fakt ist, dass er euch alle sehr ins Herz geschlossen hat und damit leben zu müssen, was er getan hat, ist schwer. Immerhin hat er sehr grausame Dinge getan und unzählige Menschen getötet, darunter auch Kinder und das kann kein Mensch so einfach spurlos wegstecken, wenn er Gefühle und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat. Deshalb würde ich dringend anraten, dass er Abstand zu alledem bekommt und sich eine Auszeit nimmt, um auf andere Gedanken zu kommen. Da Sam Leens keinerlei Kontakt mit dir hatte, würde ich dir ans Herz legen, dass besonders du ein Auge auf ihn hast und dich um ihn kümmerst, Liam. Und er braucht auch den Halt seiner Familie. Wenn sich sein Zustand nicht bessern sollte, würde ich vorschlagen, dass er sich professionelle Hilfe sucht. In dem Fall kann ich euch auch die Adresse eines Sefiras geben, der sich in Boston niedergelassen hat. Dann kann Jeremiel auch ohne Bedenken über die Geschehnisse reden.“ „Aber es ist jetzt endgültig vorbei, oder?“ fragte Beyond, der noch mal kurz wieder auf das Projekt zu sprechen kommen wollte und sich noch mal klare Gewissheit verschaffen wollte, dass die ganze Sache ein für alle Mal abgeschlossen war. Offenbar war er ernsthaft besorgt, dass es wieder anfangen könnte und wahrscheinlich galt das auch für die anderen. Samajim versicherte ihm dies und erklärte „Die Wurzel des Übels war der Zorn Elohims, der das Projekt AIN SOPH für seinen persönlichen Rachefeldzug missbraucht hat. Aber Alice hat ihn dank des Serums zerstört und er existiert nicht mehr. Ursprünglich hatte Elohim ja vorgehabt, sich mit seiner anderen Hälfte zu vereinen und auf diese Weise seine andere Hälfte aufzuhalten. Aber dies hätte nur dazu geführt, dass Elohim eines Tages wieder in sein altes Muster verfallen wäre und der Hass und der Groll hätten tiefe Spuren bei ihm hinterlassen. Er wäre wahrscheinlich nicht mehr der friedliebende und freundliche Geselle gewesen, den ihr kennen gelernt habt. Und um das zu verhindern, hat sich Alice selbst das Serum injiziert, um zu verhindern, dass der Hass je wieder auf einen anderen Wirt übergreifen kann. Das war die einzige Chance gewesen, das alles ein für alle Male zu beenden. Und da Alice den Hass mit sich in den Tod genommen hat, wird er nie wieder irgendjemandem schaden können. Und da auch endlich die Gerechtigkeit in unsere Welt eingekehrt ist und Ain Soph jetzt zusammen mit Elohim das Regiment übernommen hat, wird sich auch diese Tragödie von damals nicht mehr wiederholen. Ach ja…“, seufzte er bei den letzten Worten, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, wobei er etwas verträumt schmunzelte. „Wer hätte gedacht, dass so kleine und einfache vergängliche Wesen wie die Menschen so viel auszurichten vermögen? Tja… vielleicht ist das ja dieser berühmte Dominoeffekt, von dem ihr Menschen immer zu sprechen pflegt…“ Kapitel 15: Streitereien ------------------------ Die Polizei und die Feuerwehr hatten das Gelände rundum des durch die Reaktorexplosion zerstörten Instituts abgesperrt und begannen mit den ersten Bergungsarbeiten. Immerhin stand zur Befürchtung, dass es einige Menschen nicht geschafft haben konnten. Tatsächlich konnten einige Überlebende geborgen werden, aber es gab auch mehrere Tote. Sowohl von Mitarbeitern, als auch von Proxys. Schließlich fand man nach Tagen aufwendiger und teilweise auch riskanter Aufräumungsarbeiten unter anderem die verkohlte Leiche einer Frau, die aber kaum noch zu identifizieren war. Da sie sich in der Nähe des Reaktors befunden hatte, war von der Leiche nicht mehr viel übrig geblieben, teilweise fehlte ein Arm und ein halbes Bein und der Torso war durch Teile des heruntergestürzten Bodens herschmettert worden. Auch sonst hatte das Feuer des explodierten Reaktors das Fleisch der Leiche fast bis auf die Knochen verbrannt. Damit war eine Identifizierung kaum noch möglich. Da aber der Schädel noch größtenteils intakt war und das Gebiss unversehrt geblieben war, versuchte man es mit einem Gebissabgleich, da die verbrannte Leiche keine Fingerabdrücke mehr besaß. Tatsächlich konnte man anhand dessen schnell feststellen, dass es sich um die Leiche von Alice Wammy handelte, die seit einem schweren Autounfall vor 27 Jahren verschwunden war und als tot gemeldet wurde. Sie wurde nach Beendigung der Autopsie auf dem Friedhof von Greenwich bestattet und der Pfarrer von St. Michael hielt die Trauermesse für die Toten des Reaktorunglücks. Lacie Dravis wurde in einem kleinen Kreis beigesetzt und insbesondere Frederica litt sehr darunter, da sie sich so gut mit ihr verstanden und sie als Freundin sehr lieb gewonnen hatte. Auch Watari ging es nicht gut, immerhin hatte er seine Tochter ein zweites Mal verloren und zu hören, in welchem Zustand sich ihre Leiche befand, brach ihm das Herz. Er wollte es selbst sehen, doch Nastasja, die gemeinsam mit Liam die Leiche gesehen hatte, hielt ihn davon ab. Sie konnte ihm nicht zumuten, Alice in solch einem Zustand in Erinnerung zu behalten. Stattdessen hatte sie ihren väterlichen Freund umarmt und gesagt „Alice war ein bildhübsches Mädchen und sie hätte gewollt, dass du sie so in Erinnerung behältst wie sie war. Aber jetzt sieht sie ganz schrecklich aus und es sind fast nur die Knochen übrig geblieben. Glaub mir, es würde dir nur noch mehr Schmerz bereiten.“ Und er hatte schweren Herzens Nastasjas Rat befolgt und so würde der Sarg verschlossen bleiben. Man entschied, Alice Wammy einzuäschern und sie neben Joseph Brown zu beerdigen. Es war eine schöne, aber auch sehr traurige Beerdigung, bei der insbesondere Watari litt, als man seine Tochter einäscherte. Ob er das alles jemals verkraften würde, ließ sich nur schwer sagen. Manche Wunden heilten nie. Nachdem sie die Geschehnisse halbwegs verarbeitet hatten, hatten sie sich zusammengesetzt und besprochen, wie es nun weitergehen sollte. Denn eigentlich wollte sich Watari ja zuerst in London zur Ruhe setzen, doch nach den Ereignissen bezweifelte er selbst, dass er noch mal hierher zurückkehren konnte. Stattdessen hatte Nastasja eine Idee und bot ihm an „Unser Haus hat so viele freie Zimmer, da kannst du doch gerne bei uns einziehen. Auf die Weise wärst du nicht alleine und du kannst auch Zeit mit deinem Enkel verbringen.“ Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden und auch Elion freute sich sehr darüber. Denn nun hatte er einen Großvater und das war schon eine unglaubliche Vorstellung für ihn. Wenigstens hatte er noch einen lebenden Verwandten, nachdem seine Mutter gestorben war. Was Dathan betraf, so hatte er beschlossen, Nastasja nach Boston zu folgen und bei ihr einzuziehen. Nachdem die Terrorherrschaft der großen Alten vorbei war, brauchte er auch keine Angst mehr haben, von ihnen verfolgt zu werden, sobald er London verlassen würde. Samajim hatte ihn ja deshalb hier in London behalten, weil er ihn als Asylanten ausgeben konnte und London derzeit das Asylgebiet jener war, die der Todesstrafe der großen Alten entkommen konnten. Und nun, da es vorbei war, konnte er endlich die Stadt verlassen. Und dass er bereit war, England zu verlassen und zu Nastasja nach Amerika zu folgen, war für die Russin die schönste Nachricht von allen. Für die anderen würde es wahrscheinlich nicht sonderlich anders laufen als sonst. Sheol und Ezra würden wieder ganz normal zur Schule gehen und auf ihren Abschluss hinarbeiten und Elion würde wieder zur Uni gehen und sich auf sein Studium konzentrieren. Nastasja würde sich wie immer ihre Studenten vorknöpfen, die ihre Geduld als Dozentin auf die Probe stellten und sich ihrer Meinung nach dümmer anstellten, als sie ohnehin schon waren. Sie hatte auch schon eine Idee, was Dathan von nun an machen könnte. Sie kannte nämlich den Bibliothekar der Harvard Universität, der nach einem schweren Schlaganfall nicht mehr arbeiten konnte und dringend einen Nachfolger suchte. Gleich schon als sie sich mit Dathan abgesprochen hatte, rief sie in der Universität an und konnte Dathan sogar schon ein Vorstellungsgespräch besorgen. Zeugnisse und Papiere mussten sie wohl oder übel fälschen, da er so etwas nicht hatte und außerdem blieb ja sowieso nichts anderes übrig, da er schon seit Ewigkeiten in dieser Welt lebte. Natürlich wussten sie alle, dass er den Job in der Harvard Bibliothek nicht immer machen konnte, weil es nur auffallen würde, wenn er nicht alterte. Dafür aber hatte Dathan schon eine Idee: er würde einen Antiquitätenladen für Bücher eröffnen, wenn er genug Geld zusammengespart hatte und auf diese Weise würde ihm so schnell niemand auf die Schliche kommen. Aber bis dahin musste er auch erst mal an seinen Berührungsängsten arbeiten und versuchen, mehr aus sich herauszukommen und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. L und Beyond hatten für sich beschlossen, erst einmal Abstand von allem zu nehmen und sich die Auszeit zu gönnen, die sie brauchten, um sich wieder auf ihre Beziehung zu konzentrieren, die unter diesem Fall deutlich gelitten und sie auf eine harte Probe gestellt hatte. Auch Jeremiel und Liam beschlossen, erst einmal etwas Zeit für sich zu nehmen und gemeinsam die ganzen Geschehnisse zu verarbeiten. Seine Familie hatte erst mal nicht viel dazu gesagt, wobei Nastasja sich natürlich für ihn freute, dass sich ihr älterer Sohn eine schöne Zeit machen wollte. Doch als Jeremiel ganz überraschend Liam fragte, ob sie nicht heiraten wollten, da fielen die Reaktionen aller Beteiligten sehr unterschiedlich aus. Da gab es die einen, denen das eher gleichgültig war, weil sie sowieso kein engeres Verhältnis zu den beiden hatten (wozu zum Beispiel Sheol und Ezra zählten), andere wiederum waren begeistert wie zum Beispiel Nastasja und Frederica und dann gab es auch die Seite, die absolut dagegen war. Und das war L. Dass sein älterer Bruder mit einem Mafiaboss zusammen war, das war ja an sich schon schlimm genug. Nun gut, er hatte erkannt, dass Liam sich wirklich für ihn aufopferte und ihn mit seinem Leben beschützen würde. Dagegen sagte er auch nichts und er hatte da auch ein Stück weit Achtung vor ihm. Aber dass die beiden auch noch heiraten würden, das ging nun doch etwas zu weit, vor allem da die beiden doch erst knapp sieben Monate zusammen waren. Außerdem wäre Jeremiel gezwungen, ein Leben als Unvergänglicher mit Liam zu verbringen und das konnte auch schnell nach hinten losgehen. Es kam daraufhin zu einem Streit der beiden Brüder, wie es ihn bis dato noch nicht gegeben hatte. Und wahrscheinlich war dieser auch mal bitter nötig gewesen, um endgültig die Fronten zu klären. Deshalb hielten sich Beyond und Nastasja dieses Mal da raus, um die beiden das alleine klären zu lassen. Und wie sich herausstellte, konnte L gegen seinen älteren Bruder nicht sonderlich ankommen. „L, ich habe Verständnis dafür, dass du Liam in seiner Position als Mafiaboss nicht über den Weg traust“, sagte der ältere Zwilling und verschränkte schließlich die Arme. „Aber das ist immer noch mein Leben und meine Entscheidungen. Du hast mir nichts zu sagen, genauso wenig wie Mum. Ich bin erwachsen und obendrein auch dein älterer Bruder, krieg das mal endlich in deinen Dickkopf rein. Wenn du nicht einfach mal die Tatsache akzeptieren kannst, dass ich Liam liebe und für immer bei ihm bleiben will, dann können wir diese Diskussion genauso gut jetzt abbrechen und dann brauchst du dich auch nicht auf unserer Hochzeit blicken zu lassen. L, du bist mein jüngerer Bruder! Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich glücklich mit Liam bin? Ich will kein Mafioso werden und Liam will das genauso wenig. Falls du es immer noch nicht verstanden hast: ich will Detektiv werden und daran wird sich auch nichts ändern. Und ich kann auf mich aufpassen. Es ist nicht deine Aufgabe, mich zu bemuttern und zu betüddeln. Ich hab bereits eine Mutter und die reicht mir auch.“ Diese harte Ansprache hatte gesessen und so gab L es schließlich auf. Er musste so langsam erkennen, dass sein Bruder tatsächlich „älter“ geworden war und ihn nicht mehr in der Form brauchte so wie vor ein paar Monaten, als er vor seiner Tür gestanden hatte. Als L seinen Bruder wirklich kennen gelernt hatte, war er noch unerfahren gewesen und hatte nicht mal die Gefahr gesehen, wenn sie direkt vor ihm stand. Wie ein naives kleines Kind eben. Und da war es eben auch ein Stück weit seine Aufgabe gewesen, auf ihn aufzupassen, weil er es alleine nicht konnte. Nachdem Jeremiel gegangen war und beinahe schon demonstrativ Liam mitgenommen hatte, um irgendwo den Abend allein mit ihm zu verbringen, hatte Beyond beschlossen, L mal ein wenig gut zuzureden. Hierbei kam wieder ein frecher Kommentar von Sheol, der wohl wissend grinste. „Geht ihr zwei wieder Torpedos nach Achtern versenken?“ Und bei dieser Frage verschluckte sich Nastasja fast an ihrem Kaffee und musste erst mal ihre Lunge freikriegen, bevor sie ihm eine Standpauke hielt. Aber sie konnte sich nur mit Mühe selbst ein Lachen verkneifen. Liam und Jeremiel hatten sich in eine Bar oder besser gesagt in einen irischen Pub zurückgezogen, der den Namen „McKerrigan’s“ trug. Mit einem fast schon düsteren Blick saß der 26-jährige am Tresen und hatte sich eine Zigarette angezündet, die der Mafiaboss aber schnell wieder konfiszierte. „So etwas solltest du dir gar nicht erst angewöhnen, Jeremiel. Ich hab selbst 30 Jahre gebraucht, um mir das endgültig wieder abzugewöhnen. Und jetzt sag schon, was dir auf der Seele lastet.“ „Es sind so viele Sachen“, murmelte Jeremiel und bestellte sich erst mal nur ein Bier, da er ja sowieso nicht viel Alkohol vertrug. „Die Erinnerungen von Sam Leens lassen mir keine Ruhe und als wäre das nicht schon genug, macht L nichts als Stress. Ich verstehe das einfach nicht. Nach alledem, was du für mich und die anderen getan hast, sollte er endlich mal aufhören, sich so gegen uns zu stellen. Dass dir das so ziemlich egal ist, weiß ich ja, aber es wäre mir wichtig, dass er mir als mein Bruder zur Seite steht und es endlich akzeptiert. Immerhin ist Beyond auch nicht gerade die Unschuld vom Lande und hatte zu Anfang versucht, L umzubringen. Selbst Mum akzeptiert dich und da kann ich doch wohl erwarten, dass er mal endlich seinen Sturschädel abschaltet und einfach akzeptiert, dass du der Einzige bist, den ich liebe und dass ich bereit bin, für dich mein Dasein als Mensch aufzugeben.“ „Dein Bruder ist eben… nun ja… etwas eigen, um es mal geschönt auszudrücken.“ „Eigen trifft es gut. Manchmal frage ich mich wirklich, was sein Problem ist.“ „Er will dich beschützen.“ „Dafür habe ich doch dich, Delta und Johnny. Ich glaube langsam, ich muss eine Weile lang Abstand zu ihm gewinnen, damit er endlich akzeptiert, dass ich nicht mit mir reden lasse und dass ich auch nicht bereit bin, wegen irgendjemandem meine Beziehung zu dir aufzugeben. Ich liebe dich, Liam. Daran wird sich nie etwas ändern und da kann L tun und lassen, was er will.“ Es schmeichelte den Mafiaboss schon sehr, dass Jeremiel so sehr an dieser Beziehung festhalten wollte und sich auch nicht von seinem Bruder in irgendeiner Art und Weise bequatschen ließ. Und dass dieser erst mal Abstand zu L nehmen wollte, war eigentlich eine vernünftige Entscheidung. So hatte dieser erst mal Zeit und Ruhe, um sich zu besinnen und mit Sicherheit würde Beyond ihm auch noch ordentlich den Kopf waschen. Dem war ja ohnehin alles zuzutrauen und er schien ohnehin offenbar ein großes Interesse daran zu haben, zwischen den beiden Brüdern auf seine eigene Art und Weise zu vermitteln. „Wie wäre es, wenn wir irgendwohin verreisen, wo wir unsere Ruhe haben? Johnny, Marcel und Delta kommen noch gut eine Weile ohne mich aus und ich glaube, das wird uns beiden auch mal gut tun. Wie wäre es, wenn wir zwei nach Japan reisen? Dort soll es ja auch ganz nett sein.“ „Klingt super. Dann lass uns das machen.“ „Beyond, ernsthaft! Hör auf damit, ich…“ L war immer noch sauer und wäre seinem Bruder am liebsten noch hinterhergerannt, um die Diskussion weiter fortzusetzen, aber das hatte der Serienmörder nicht zugelassen. Kurzerhand hatte er ihn gepackt und ins Schlafzimmer geschleift, woraufhin er, dreist wie er ohnehin schon war, L aufs Bett gedrückt und ihm die Hände zusammengebunden hatte, damit dieser nicht so schnell abhauen konnte. „Du bleibst schön hier, mein Lieber“, erklärte er kurzerhand und nagelte ihn fest, wobei seine rot leuchtenden Shinigami-Augen auf ihn ruhten. „Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass wir unsere Erziehungsmaßnahme weiter fortsetzen.“ „Geht’s dir noch gut? Als ob ich jetzt in dieser Situation den Kopf dafür hätte. Mein Bruder will zu einem Unvergänglichen werden und Liam heiraten! Da habe ich weitaus andere Sorgen, als deine perversen Fantasien!“ Sofort verpasste der Serienmörder ihm eins mit der Zeitung. Das wollte er sowieso schon seit langem endlich mal gemacht haben. „Weißt du eigentlich, wie bescheuert du dich hier gerade aufführst? Ernsthaft, dein Bruder ist erwachsen und kann auf sich selbst aufpassen. Und wenn er es nicht kann, hat er ja Liam und jetzt mal im Ernst: wie oft muss der Kerl dir denn noch beweisen, dass er deinen Bruder abgöttisch liebt und wirklich jedem an die Gurgel gehen würde, der ihm auch nur ein Haar krümmt? Zwar ist er etwas zwielichtig, das will ich ja nicht abstreiten, aber Jeremiel würde er niemals schlecht behandeln und das muss dir auch langsam mal in den Kopf reingehen. Eigentlich könnte er doch genauso gut anfangen, gegen uns beide zu wettern, weil ich ein verurteilter Serienmörder bin und versucht habe, dich umzubringen. Aber er tut es nicht und warum? Ganz einfach weil ihm wichtig ist, dass du glücklich bist. Und ich finde, du solltest den Anstand haben, dasselbe für deinen Bruder zu tun. Ansonsten wirst du ihm immer vor den Kopf stoßen und dann wird er sich von dir abwenden. Ich weiß ja wirklich nicht, ob du das willst, aber du bist auf dem besten Weg dahin. Meinen herzlichsten Glückwunsch, du Hornochse.“ Diese Worte hatten gesessen und auch wenn L es überhaupt nicht gern zugab, aber Beyond hatte Recht und Jeremiel auch. Manchmal war er mit seinem Dickkopf einfach unverbesserlich. Aber er machte sich einfach Sorgen, dass sein Bruder eines Tages genauso in diesen Mafiageschäften drin hing und dabei noch in Lebensgefahr geriet. Das wollte er auf keinen Fall und Fakt war, dass ein Leben an Liams Seite gefährlich war. Und er wollte Jeremiel dieser Gefahr nicht aussetzen. Beyond, der schon ahnte, was seinem Lover gerade durch den Kopf ging, verdrehte seufzend die Augen. „L, es ist nicht deine Aufgabe, ihn stets und ständig zu beschützen oder ihm vorzuschreiben, was er zu tun und zu lassen hat. Überleg doch mal, wohin das bei Alice Wammy geführt hat. Es ist gut so, dass er seinen eigenen Willen hat und entschlossen ist, die Sache durchzuziehen. So kann er seinen eigenen Weg gehen und der ist eben halt anders als deiner. Wobei er aber auch ein Stück weit dir nacheifert in deiner Arbeit als Detektiv. Immerhin hat er unter dem Decknamen „Anon“ schon drei Fälle gelöst und er wird immer besser. Wobei ich aber nicht ganz kapiert habe, wieso er sich ausgerechnet so einen Namen aussucht…“ „Anon oder auch AlmonI ist die grob übersetzte Aussprache des hebräischen Wortes für namenlos.“ „Ah verstehe. Sam Leens kann er ja wohl kaum nehmen, also nimmt er gleich die hebräische Version. Wie passend… Naja, jedenfalls finde ich, du solltest endlich mal deinen verdammten Kopf aus dem Arsch ziehen und dich mal wieder zusammenreißen. Wenn du dich mit deinem Bruder wieder versöhnen willst, dann akzeptier es endlich, dass er sein eigenes Leben hat und dass Liam der Richtige für ihn ist. In der Beziehung ist er genauso wie du: er ist zwar absolut dickköpfig bei seinen Entscheidungen, aber er braucht jemanden, der ihm auch ordentlich den Ton angibt.“ „Wer sagt denn, dass du hier den Ton angibst?!“ „Sag bloß, das hast du nach eineinhalb Jahren Beziehung immer noch nicht richtig geschnallt, dass ich hier derjenige bin, der bei solchen Dingen das Sagen hat. Mag ja sein, dass du hier das Oberhaupt der Familie bist und alle oder zumindest fast alle auf dich hören. Aber wenn es um die Beziehung geht, dann bin ich immer noch derjenige, der dir sagt, wo es langgeht. Oder soll ich dir das etwa wieder neu eintrichtern?“ Als L das hörte, rutschte ihm augenblicklich das Herz in die Hose und er ahnte Schlimmes. Und so langsam begann er zu befürchten, was dieses ausgekochte Schlitzohr wieder im Schilde führte. Verdammt, dachte er und versuchte sich irgendwie rauszuwinden, aber ohne Erfolg. Beyond hatte ihn genau da, wo er ihn haben wollte und so schnell würde er ihn nicht gehen lassen. Dafür kannte er ihn schon viel zu gut. Doch trotzdem hoffte er, dass er sich irgendwie wieder herausreden konnte. „Beyond, können wir das nicht auf später verschieben? Ich glaube nicht, dass…“ „Nein, das können wir nicht. Immerhin hast du noch eine Strafe abzuarbeiten für sechs enthaltsame Monate. Nun gut. Kurz vor der Londonreise hatten wir unser heißes Stündchen im Auto gehabt und in London selbst auch bereits ein Mal. Aber wenn ich das richtig gerechnet habe, macht das 180 Tage, die du wieder gutzumachen hast. Abzüglich der zwei Male und das eine Mal von deiner letzten Bestrafung sind das noch 177 Tage.“ „Als ob wir es tatsächlich 30 Tage im Monat machen, du verdammter Nymphomane. Was du da mit mir treibst, ist ein falsches Spiel. Ein ziemlich unfaires Spiel!“ „Das ist eben meine Spezialität“, erwiderte Beyond und da schob sich seine Hand langsam in L’s Hose und umfasste seine Weichteile. „Du vergisst wohl, dass ich äußerst nachtragend bin, wenn ich so dermaßen vernachlässigt werde. Und ich dachte, ich hätte dir schon mehr als deutlich klar gemacht, dass du mir nicht so einfach davonkommen wirst. Oh nein mein Lieber, mit dir bin ich noch lange nicht fertig und ich glaube, es wird Zeit, dass ich dir mal eine ganz neue Lektion beibringe, damit du auch nicht mehr dazu kommst, dir irgendwelche Gedanken um deinen Bruder oder sonst irgendjemanden zu machen. L protestierte noch und wollte diesen Spinner so schnell wie möglich los werden. Es kam nie was Gutes dabei raus, wenn Beyond mit einer neuen „Lektion“ ankam. Bei ihm wusste man doch nie, was gleich folgen würde. Aber Fakt war: es würde etwas folgen und er war nicht sonderlich scharf darauf, wieder irgendwelche bescheuerten Ideen auszubaden. „Beyond, jetzt mal ernsthaft. Findest du nicht, dass das ein wenig taktlos den anderen gegenüber ist? Immerhin sind zwei Menschen gestorben.“ „Die Beerdigung ist doch schon vorbei und Watari hat Frederica und deine Mutter und jetzt auch noch Elion. Vergiss es, ich lass mich nicht wieder abwimmeln. Du weißt genauso gut wie ich, dass ich immer kriege, was ich will. Denn ich weiß genau, wie ich dich überzeugen kann.“ Ja… da hatte er wohl nicht ganz unrecht… Ach was soll’s, dachte L und seufzte. Es interessiert doch eh niemanden, was ich sage. Kapitel 16: Tiefe Sehnsüchte ---------------------------- Nach seiner Ansage war Beyond aufgestanden und hatte die Tür abgeschlossen und ehe L sich versah, hatte ihm der Serienmörder auch schon die Hose ausgezogen. Und dass dieser seinen Spaß hatte, ließ sich nur schlecht übersehen. „Also? Bist zu bereit für eine kleine Unterrichtsstunde?“ Wie bitte? Unterrichtsstunde? Oh Gott, das konnte nur bedeuten, dass Beyond etwas Neues an ihm ausprobieren wollte und insgeheim hatte L auch ein bisschen Schiss davor, was dieser kleine Sadist schon wieder ausheckte. Immerhin war ihm doch alles zuzutrauen. Sogleich ging Beyond zum Schrank hin und der Detektiv sah lieber nicht hin, was dieser Idiot da schon wieder hervorkramte. Sonst würde er sich vor lauter Aufregung nur verkrampfen und sonderlich angenehm würde es dann nicht werden. „Weißt du, bei unserem letzten Bestrafungsspiel ist mir da so eine kleine Idee gekommen und da dachte ich mir, ich nutze gleich mal die Gunst der Stunde.“ Beim letzten Bestrafungsspiel? Was war da noch mal gewesen? So langsam kam die Erinnerung zurück und als L an das dachte, was Beyond ihm zugemutet hatte, da begann sein Herz schneller zu schlagen und er spürte, wie er dabei rot wurde. Gott, das war nichts im Vergleich zu dem gewesen, was sie sonst machten. „Wenn ich ehrlich sein soll, war ich noch ein wenig zu nett gewesen.“ Wie bitte? Zu nett? Will der mich jetzt irgendwie auf den Arm nehmen? L war viel zu gefangen in diesen Erinnerungen, als dass er sich großartig dagegen hätte wehren können, als Beyond kurz seine Handfesseln löste, um ihm den Pullover auszuziehen. Aber dann begann er damit, ihm die Handgelenke wieder zusammenzubinden und weitere Lederriemen an seinen Beinen anzubringen und auch diese anzuwinkeln und dann festzubinden. Auch sonst begann er an L’s Körper diese Riemen anzubringen und zog sie fest. Normalerweise saßen seine Fesseln wesentlich lockerer, aber dieses Mal waren sie fast schon so stramm, dass sie Abdrücke hinterlassen konnten. Aber seltsamerweise fühlte sich das nicht mal unangenehm an. Im Gegenteil. Es klang für normale Menschen vielleicht merkwürdig, aber diese Art der Fesselung war für L irgendwie erregend. Es gab ihm den Kick an der ganzen Sache und wirkte wie eine Droge. Genauso wie der Knebel, der ihm schließlich in den Mund geschoben wurde. „Ich staune immer wieder, wie versaut du eigentlich bist, L“, kommentierte Beyond, dem die Reaktion von L’s Körper auf die Fesseln nicht entging. „Eigentlich kannst du es kaum erwarten, von mir bestraft zu werden. Es ist lediglich dein Kopf, der dir bei der ganzen Sache im Weg steht. Wenn der nicht wäre, dann könnte ich noch ganz andere Dinge mit dir anstellen und dann wärst du nicht so zimperlich.“ Das war das Gemeine, wenn man nicht reden konnte. Man hatte dann nicht wirklich die Chance, auf solch fiese Sticheleien wenigstens ordentliche Widerworte zu geben, aber das gehörte nun mal zum Spiel dazu. Es gehörte dazu, ihm seine ganze Kontrolle zu entreißen und ihn ein wenig zu erniedrigen. Schließlich, als Beyond die Fesseln angebracht hatte, drückte er L’s Kopf auf die Matratze und strich sanft mit seiner Hand über dessen Rücken. „Du zitterst ja regelrecht. Kannst es wohl kaum erwarten, dass es endlich losgeht, oder? Aber du vergisst, dass das hier eine kleine Strafe für dich sein wird und da wird es nicht so laufen, wie du es gerne hättest. Nein, du wirst schon ein kleines bisschen leiden, das gehört ja dazu.“ Beyond, der mit großer Genugtuung auf sein Opfer hinabschaute und selbstgefällig grinste, gab etwas von dem Gel auf seine Hand, welches Rumiko ihm mitgegeben hatte und begann vorsichtig zwei Finger einzuführen. Er wusste um die starke Wirkung, die dieses kleine Mittelchen hatte und hatte auch schon daran gedacht, bei seinem letzten Webcam-Chat mit seiner Adoptivschwester um mehr zu bitten. Sie hatte ja ihre Kontakte und hatte immer was Neues, womit sie etwas Schwung in seine Beziehung bringen konnte. Und im Grunde profitierten sie ja beide davon. Beyond hatte seinen Spaß mit L und konnte ihn mit irgendwelchen neuen Dingen ärgern und Rumiko hatte wieder genügend Inspiration für ihre Mangas. Und auch L hatte seinen Spaß, auch wenn er es vielleicht selbst noch gar nicht wusste. Tatsächlich zeigte das Gel nach einer Weile seine Wirkung. Durch die stark aphrodisierenden Stoffe, die darin enthalten waren, zitterte der gefesselte Detektiv schon vor Erregung und sah danach aus, als würde er es nicht länger aushalten. Aber so schnell würde er nicht damit aufhören. Nein, das war ja gerade erst mal nur die Aufwärmung gewesen. Als er das Gefühl hatte, es würde genügen, um L soweit vorbereiten, zog er seine Finger wieder heraus und ließ von ihm ab. Stattdessen holte er nun sein kleines Spielzeug dazu. Sonst wäre es doch viel zu langweilig und ohne dieses ging es leider nicht so gut. „So mein lieber L. Was meinst du, was jetzt folgt?“ Keine Reaktion. Wahrscheinlich war das ein „Nein“ auf seine Frage. Nun, woher sollte der Gute das ja auch wissen? Um auf Nummer sicher zu gehen, nahm Beyond noch etwas von dem Gel und führte den Vibrator vorsichtig ein. L, der durch das aphrodisierende Gel bereits völlig berauscht war, gab ein leises, lustvolles Stöhnen von sich und als Beyond ihn so sah, da überkam ihm dieser unstillbare Drang, ihn noch mehr zu quälen und ihn noch lauter stöhnen zu lassen. Egal was er jetzt auch tun würde, L würde ihm brav wie ein kleines Hündchen aus der Hand fressen. Und als sein kleines Spielzeug tief genug eingedrungen war, begann er nun den Regler auf die mittlere Stufe zu stellen, woraufhin ein leises Surren ertönte und L laut aufstöhnte. Er konnte sich gar nicht mehr unter Kontrolle halten und er spürte diese immer weiter wachsende Lust, die seine Erregung fast ins Schmerzhafte steigerte. Jetzt hatte er ihn genau da, wo er ihn haben wollte. Nun war L wie Wachs in seinen Händen. Also nahm Beyond ihm den Knebel aus dem Mund und beugte sich zu ihm runter. „Na? Wie gefällt dir das?“ L presste die Zähne zusammen und hatte sichtlich Mühe, seine Stimme beisammenzuhalten. „Das… das ist gemein von dir“, brachte er mit Mühe hervor. Doch der Serienmörder grinste nur und küsste ihn. „Ich weiß. Deshalb ist es ja auch eine Bestrafung. Aber ich will ja auch, dass du etwas dazulernst. Immerhin sprach ich ja von einer Unterrichtsstunde.“ Und damit setzte sich Beyond hin und sein Blick ruhte erwartungsvoll auf dem Detektiv. Diesem wurde mulmig zumute und zögernd fragte er „W-was hast du mit mir vor?“ „Wie du bemerkt haben solltest, habe ich deine Hände nicht auf den Rücken gebunden und das hat seinen Grund. Da deine Hände also vor deinem Körper gefesselt sind, ist es dir nicht möglich, selbst den Vibrator herauszuziehen. Und eines steht fest: ich werde dich garantiert nicht von deinen süßen Qualen erlösen. Nein, das musst du schon selbst tun.“ L sah ihn fast schon fassungslos an, aber Beyond blieb unnachgiebig und wollte sich diesen Spaß ganz sicher nicht entgehen lassen. „Was denn?“ fragte er schadenfroh. „Hast du es dir denn noch nie selbst besorgt?“ Diese Frage trieb dem Detektiv die Schamesröte ins Gesicht und er konnte nicht glauben, was dieser Teufel in Person damit andeuten wollte. „Natürlich nicht“, rief er oder zumindest wollte er es, denn mit dem Vibrator versagte ihm fast wieder die Stimme. „So etwas… ist… ist doch…“ „Unanständig?“ ergänzte Beyond und musste grinsen. „Ach L… sind die Dinge, die wir hier veranstalten, denn nicht unanständig? So langsam habe ich den Eindruck, dass du so einiges verpasst hast. Kein Wunder, dass du bei solchen Dingen so verklemmt bist und nicht mal laut aussprechen kannst, was du wirklich willst. So was gehört zum Erwachsenwerden dazu, mein Lieber. Oder wie hast du die enthaltsamen Tage durchstehen können, ohne mal Druck abzulassen?“ L wäre am liebsten gestorben vor Scham, als Beyond das sagte und er wollte dieser Frage am liebsten ausweichen, aber er wusste, dass das unmöglich sein würde. Beyond hatte ihn wie eine Spinne in seinem Netz eingefangen. „Ich habe so etwas nicht nötig!“ beteuerte er, aber er merkte selbst, dass seine Worte deutlich an Überzeugungskraft verloren. Und das war natürlich ein gefundenes Fressen für Beyond, der sich darüber recht amüsierte. Er stellte die Vibration nun auf die höchste Stufe, was bei L dazu führte, dass er seine Stimme kaum noch zu unterdrücken vermochte. Es war für ihn kaum noch auszuhalten und er spürte selbst, dass sein Dickschädel langsam den Geist aufgab. Sein Körper schrie nach mehr, verlangte nach Erlösung aus dieser Qual. Er wollte kommen… Um das Ganze ein wenig auf die Spitze zu treiben, begann Beyond noch ein wenig den Vibrator zu bewegen, was L fast um den Verstand brachte. „Du brauchst dich nicht zu schämen, L. Wir sind doch ganz unter uns und wir sind zusammen. Und außerdem sind wir beide Männer. Also leg doch endlich diesen falschen Stolz beiseite, den brauchst du sowieso nicht. Na komm, ich zeig dir, wie es geht.“ Damit platzierte sich der Serienmörder hinter L, legte seine Hand auf die des Detektiven und führte sie nach unten, woraufhin sie sein steinhartes Glied umschloss. „Und?“ flüsterte Beyond von hinten in sein Ohr. „Ist das wirklich so schlimm?“ L sagte nichts und sein Herz raste. Es war auf eine gewissen Art und Weise furchtbar demütigend und erniedrigend, aber dennoch wirkte es gleichzeitig wie eine Droge auf ihn. Dieses dominante Verhalten von Beyond erregte ihn nur noch mehr und schaltete gänzlich seinen Verstand aus. Widerstandslos folgte er den Anweisungen des BB-Mörders und ließ sich von ihm führen. Er versuchte es so zu machen, wie er es von Beyond gewohnt war und verlor Stück für Stück seine Hemmungen und vergaß alles um sich herum. „Ja, so ist es richtig. Mach es etwas schneller und nimm ihn etwas fester in die Hand. Siehst du? Genau so geht das.“ Diese Stimme wirkte beinahe hypnotisierend auf ihn. Er spürte Beyonds heißen Atem im Nacken, wie nah sie sich waren und wie warm sich seine Hand anfühlte. Sein Kopf war wie benebelt und er war auch wie in einem Rauschzustand. Er wollte mehr. Er wollte dieses Gefühl vollends auskosten und stellte sich vor, dass nicht er, sondern Beyond ihn so intensiv an seiner intimsten Stelle berührte. Sein Atem steigerte sich zu einem Keuchen, seine Handbewegungen wurden schneller und stärker und als Beyond seine Zähne sanft in seinen Hals vergrub und seine Hände langsam über seinen Körper gleiten ließ, da merkte L, dass er seinem Höhepunkt immer näher kam. Inzwischen führte der Serienmörder ihn gar nicht mehr und L verschwendete auch keinen Gedanken mehr daran, was er hier eigentlich tat und ob dies hier wirklich das war, was ein Detektiv seines Formats wirklich tun sollte. Er hatte auch gar nicht mehr die Energie dafür. Doch als er fast schon soweit war, da hielt Beyond ihn plötzlich zurück. Für den Meisterdetektiv wurde es langsam unerträglich und er wollte einfach nur noch abspritzen. Aber dazu ließ es der Serienmörder nicht kommen. „Du weißt, was du tun musst, wenn du es willst: du musst schon um Erlaubnis darum bitten.“ Und daraufhin drehte sich L um und küsste Beyond beinahe schon flehend. „Bitte“, brachte er mit zitternder Stimme hervor. „Bitte lass mich kommen.“ Und mit einem diebischen Grinsen erwiderte der BB-Mörder den Kuss. „So ist’s brav, mein süßer L.“ Und damit ließ er ihn gewähren. Er setzte sich so hin, dass er wirklich alles sehen konnte und genoss den Anblick. Dafür, dass L solche Hemmungen gehabt hatte, war er jetzt gar nicht mehr zu bremsen. Ob das allein an Rumikos kleinem Zaubermittel oder an seinen Spielzeugen lag? Vielleicht war es ja auch, weil so langsam der Stress von ihm abfiel. Immerhin war es jetzt endlich vorbei. Der Alpha-Proxy war tot, Jeremiel war gerettet und das Projekt AIN SOPH war beendet. L brauchte sich nicht mehr um diese ganzen Dinge Gedanken zu machen und sich zu sorgen, dass noch irgendetwas passieren konnte. Innerlich begann er sich so langsam von dem Stress zu befreien und da gab es eben auch nichts mehr, was ihn unbedingt hiervon abhalten konnte. Es war nur eben der übliche Dickschädel, den es zu knacken galt, aber selbst das war ja nichts Besonderes für Beyond. Er wusste genau, welche Knöpfe er bei L drücken musste, um ihn dahin zu bekommen, wo er ihn haben wollte. Mit einem letzten Endspurt stöhnte der Detektiv laut auf und kam dann endlich zu seinem Höhepunkt. Keuchend sank er zusammen und atmete schwer. Doch es war noch nicht genug. Er wollte mehr. Er wollte… Beyond. Nachdem er wieder halbwegs bei Kräften war, schlag er seine Arme um den Serienmörder und küsste ihn leidenschaftlich, begann mit seiner Zunge zu spielen und selbst Beyond war überrascht, denn so wild wie jetzt hatte er L nur selten erlebt. Aber genau das war es ja auch, was er sich auch selber insgeheim erträumt hatte. Nämlich dass L endlich aktiver wurde und von sich aus die Initiative ergriff. Scheint so, als würden sich die Erziehungsmaßnahmen so langsam auszahlen, dachte er zufrieden und erwiderte den Kuss und ließ sich bereitwillig auf dieses kleine Spiel ein. Er war neugierig, wie weit L wohl gehen würde und schaltete nun den Vibrator aus und nahm ihn vorsichtig wieder heraus. „Und?“ fragte er lauernd und erwartungsvoll. „Was wirst du nun tun?“ „Nimm mir die Fesseln an den Beinen ab.“ Zuerst zögerte Beyond noch, denn er war sich noch nicht hundertprozentig sicher, was L denn nun vorhatte. Aber er kam dieser Bitte schließlich nach und befreite ihn zumindest von den Beinfesseln. Die anderen ließ er ihm aber. Und sogleich wurde er aufs Bett gedrückt, woraufhin L damit begann, ihm seine Hose zu öffnen. Wow, damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Eigentlich hatte er eher erwartet, dass er jetzt eine Standpauke bekam, weil er sich diese Gemeinheit erlaubt hatte, aber stattdessen traf genau das Gegenteil zu. L übernahm nun selbst die Führung, um ihn zu verwöhnen. Doch da hatte er noch eine weitere Idee, um es noch ein bisschen exotischer zu gestalten und legte L kurzerhand eine Art Halsband an, welches mit einer Kette verbunden war. Er zog ein wenig daran, um L’s Gesicht näher an seines zu bringen, dann gab er ihm noch einen Kuss. „Du siehst verdammt scharf aus. Weißt du das eigentlich?“ L sagte nichts dazu, sondern öffnete nun den Reißverschluss von Beyonds Hose und nachdem er dessen bestes Stück aus der beengenden Hose befreit hatte, ließ er es in seinem Mund gleiten. Beyond wurde von einem unbeschreiblichen Gefühl der Lust ergriffen und legte eine Hand auf L’s Kopf. Das war ja noch besser, als er sich selbst vorgestellt hatte. Zugegeben, dass er mal gewisse Fantasien gehabt hatte… aber dass sie mal wirklich passieren könnten, hätte er nicht geahnt. Zumindest nicht so schnell. Er hatte erwartet, dass er L vielleicht noch gut ein paar Monate bearbeiten musste, bis er ihn endlich soweit hatte. Aber nun war L mit einem Male wie ausgewechselt und nicht mehr wiederzuerkennen. Offenbar hatten seine Worte Wirkung gezeigt, als er gesagt hatte, dass er sich etwas mehr Eigeninitiative von ihm wünschte. Schließlich, als L der Meinung war, es wäre genug, drückte er Beyond aufs Bett und platzierte sich direkt über ihn. Langsam senkte er seine Hüften hinab und spürte den heißen und wachsenden Druck, der sich in sein Innerstes bahnte und ihm fast den Atem raubte. Der letzte Rest seines Verstandes war wie ausradiert und er konnte sich einfach nicht mehr zurückhalten. Er begann seine Hüften zuerst langsam, dann immer schneller auf und ab zu senken und spürte Beyonds sanften, aber dennoch festen Griff. Sein Herz begann zu rasen und ihm wurde unbeschreiblich heiß zumute, während sein Körper von einem unbeschreiblichen Verlangen beherrscht wurde. Erst jetzt merkte er auch, wie sehr ihm das alles gefehlt hatte. Nachdem dieses ganze Projekt endlich vorbei war und sie auch Jeremiel retten konnten, waren auch endlich diese ganzen Sorgen vorbei und der ganze Stress und der Druck fielen ab. Er konnte jetzt endlich abschalten und sich innerlich von all diesen Dingen befreien, die ihn belastet hatten. Das war es auch, was ihn diese letzte Hemmschwelle überwinden ließ. Und nun spürte er auch deutlich, wie sehr ihm auch der Sex mit Beyond gefehlt hatte. Der schmutzige und harte Sex mit Fesseln, Bestrafungen und Dominanz. L’s Atem wurde schwerer und wurde zu einem Keuchen und lustvollen Stöhnen. Schweißperlen glänzten auf seiner blassen Haut und ihm war so unbeschreiblich heiß zumute. Die wilde und heiße Lust hatte vollständig von seinem Körper Besitz ergriffen und ihm seinen eigenen Willen gegeben. Eine Gänsehaut überkam ihn und das Verlangen nach mehr wurde fast unerträglich. Es beherrschte ihn gänzlich und raubte ihm den letzten Rest seines Willens. Die Luft im Zimmer war erfüllt vom Schweißgeruch und dem lustschweren Stöhnen der beiden, die sich diesem Moment voll und ganz hingaben und sich gänzlich fallen ließen. Es war, als wollten sie sich gegenseitig auf diese Weise sagen „Wir sind endlich wieder zusammen und von nun an wird uns nichts mehr auseinanderreißen.“ Zu lange waren sie sich nicht mehr so nahe gewesen. Zu lange hatten sie sich mit anderen Dingen beschäftigt und sich von Problemen und anderen Dingen ablenken lassen. Aber nun, da es endlich vorbei war, hatten sie wieder genug Zeit füreinander und die würden sie sich auch nehmen. Sie konnten sich wieder auf ihre Beziehung konzentrieren und das nachholen, was sie wegen dieses Falls versäumt hatten. Und wie viel sie versäumt hatten, erkannten sie jetzt auch deutlich. L’s Blut begann zu kochen und mit gewaltiger Kraft in seinen Adern zu pulsieren. Das Blut staute sich in seinem Kopf und ihm wurde fast schon schwindelig. „Beyond…“, brachte er mit Mühe hervor und rang nach Luft. Eine unbeschreibliche Welle der Lust trieb einen wohlig süßen Schauer über seinen Körper und es fühlte sich so unbeschreiblich gut an, dass er sich wünschte, dass dieser Moment ewig andauern würde. Doch so langsam spürte er, dass er an seine Grenzen kam und nicht mehr lange durchhalten würde. Und Beyond erging es nicht anders. Also setzte er zu einem letzten Endspurt an und rang nach Luft, während diese sich diese Hitze in seinem Inneren immer weiter aufstaute. Ein unbeschreibliches Kribbeln ging durch seine Gliedmaßen und dann endlich war es soweit. Mit einem allerletzten Aufbäumen entlud sich diese aufgestaute heiße Lust und er konnte seinen Orgasmus nicht länger zurückhalten. Und kurz darauf kam auch Beyond zu seinem Höhepunkt. Schwer atmend lagen sie im Bett und schließlich wurden L die letzten Fesseln abgenommen. Sogleich aber folgte ein zärtlicher Kuss von Beyond auf seine Stirn, woraufhin der Serienmörder nicht anders konnte als zu grinsen und zu bemerken „Das war richtig heiß gewesen. Sag mal, was ist denn über dich gekommen, dass du mit einem Mal so viel aktiver geworden bist?“ Etwas unsicher zuckte L mit den Achseln und erklärte „Ich wollte es einfach. Weißt du, ich habe ja auch über all das nachgedacht, was du beim letzten Mal gesagt hast. Und du hast ja auch Recht. Ich habe mich immer so zurückgehalten und mich gesträubt, weil mich da auch mein persönlicher Stolz immer abgehalten hat. Und da habe ich auch nicht sonderlich darüber nachgedacht, wie du dich dabei fühlst. Und das will ich jetzt ändern, weil ich auch um unsere Beziehung kämpfen will. Ich liebe dich und ich bin froh, dass ich dich an meiner Seite habe. Mir ist klar geworden, dass ich all das nicht hätte, wenn du nicht in mein Leben getreten wärst. Und ich habe auch ein Stück weit darüber nachgedacht, was der Besuch bei dieser Wahrsagerin ergeben hat. Dass ich mich mehr auf meine eigenen Wünsche konzentrieren soll… im Grunde stimmt es ja. Natürlich habe ich Wünsche und Sehnsüchte. Aber ich von alleine hätte ich sie niemals erkannt. Ich schaffe es auch nicht, sie aus eigener Kraft zu entdecken, weil ich nicht den Blick für so etwas habe. Dazu brauche ich dich, Beyond. Durch dich habe ich damals erkannt, was ich wirklich will und erkenne es immer wieder neu. Ich will auch selbst mehr für uns beide tun und ich denke, da wird uns diese Auszeit von meiner Arbeit auch wirklich helfen.“ Diese Worte rührten Beyond wirklich und er umarmte L daraufhin. „Ich verspreche dir, dass ich dir dabei helfen werde, diese Sehnsüchte und Wünsche zu entdecken und sie auszuleben. Ganz egal wie sie auch aussehen mögen. Denn dazu hat man ja seinen Partner. Wir gehen diesen Weg gemeinsam, ganz egal wohin er führt und wie weit das Licht auch entfernt sein mag. Solange wir uns beide haben und leben und die Kraft zum Weitergehen haben, brauchen wir auch das Licht am Ende dieses Weges nicht. Und eines verspreche ich dir: ganz gleich was auch geschieht. Ich werde für immer bei dir sein.“ Schließlich standen sie auf, sammelten ihre Sachen zusammen und gingen ins Bad, um zu duschen. Dabei kam ihnen Sheol entgegen, der sich inzwischen von seiner Krankheit sehr gut erholt hatte und auch Ezra war wieder auf dem Weg der Besserung. Als er die beiden sah, konnte er sich sein breites Grinsen nicht verkneifen und fragte L sogleich mit einem frechen, provokanten Ton „Na? Hat da jemand Käpt’n Iglo ordentlich sein Fischstäbchen paniert?“ Und damit suchte er schnell das Weite, bevor Beyond ihm dafür noch ordentlich was zurückgeben konnte. Kopfschüttelnd ging er mit L ins Bad und meinte nur „Ich kann mich nur wiederholen, L: manchmal ist dein Adoptivbruder echt ein kleiner Schwachmat.“ „Jep. Und ich frage mich so langsam ernsthaft, wo er diese ganzen Sachen immer wieder aufschnappt.“ „Vielleicht aus einem schwulen Marineporno… bei den ganzen Metaphern würde mich nichts anderes wundern.“ Kapitel 17: Alltag und Veränderungen ------------------------------------ Nachdem sie noch knapp eine Woche in England verbracht hatten, war nun die Zeit des Aufbruchs gekommen. Dathans Entschluss, Nastasja nach Amerika zu folgen, war endgültig und als sie am Flughafen waren, kamen Nabi und Samajim vorbei, um sich noch persönlich zu verabschieden. Und sie hatten einen Überraschungsgast mitgebracht. Eva, die inzwischen wieder aus dem Koma aufgewacht war und sich auch wieder vollständig erholt hatte, schloss ihren Bruder in die Arme und war einfach nur froh, dass es endlich vorbei war und dass alles gut ausgegangen war. Sie war kaum wiederzuerkennen. Hatte sie vorher noch gewirkt, als hätte sie innerlich schon längst mit ihrem Leben abgeschlossen so wie Alice, war sie ähnlich wie Frederica die Lebensfreude in Person und man sah auch, dass es ihr wirklich besser ging. Liam wurde schon fast emotional, als er seine Schwester umarmte und sich für all die Dinge entschuldigte, die vorgefallen waren und die zwischen ihnen gestanden hatten. Und ebenso bereute er auch, was er ihr alles an den Kopf geworfen hatte. Eva war ihm nicht böse drum. Sie schüttelte nur den Kopf und sagte „Lass uns das alles ein für alle Male vergessen und von neu anfangen, ja?“ Da Eva momentan keine Bleibe hatte, bot Liam ihr an, solange bei ihm im Haus zu wohnen. Jeremiel brauchte sowieso jemanden, der ihn auf sein zukünftiges Leben als Sefira vorbereitete, wenn er keine Zeit hatte und sich um seine Geschäfte kümmern musste. Außerdem könne sie auch ihm mehr über die Geschichte und das Leben der Sefirot beibringen. Eva bot ihm daraufhin an, dass sie seine Erinnerungen auch wiederherstellen könne, aber das lehnte er mit der Erklärung ab, dass das nicht sein Leben sei, sondern das von Araphel. Mit seinem alten Leben wollte er nichts mehr zu tun haben und hatte dieses Kapitel endgültig abgeschlossen. Und sie alle respektierten die Entscheidung. Als sie wieder zurück in Amerika waren, wurden sie von Andrew, Oliver und den Millers in Empfang genommen und herzlich begrüßt. Rumikos Schwangerschaftsbauch war inzwischen erkennbar und sie war trotz allem das blühende Leben und war überglücklich, ihre zweite Familie wieder sicher in der Nähe zu wissen. Und sogleich hieß sie auch Dathan als Neuzugang der Familie herzlich willkommen und grüßte ihn auf dieselbe herzliche Art wie alle anderen auch. Nämlich mit einer Umarmung, was ihn erst mal erschrocken zusammenzucken ließ und danach geriet er vor Schreck regelrecht ins Stottern und brachte kaum ein Wort hervor. Aber da Rumiko so ein ähnliches Verhalten von ihrem Mann her kannte, reagierte sie sehr gelassen darüber. Mit ein klein wenig Verspätung kamen auch Johnny und Delta dazu, die sich mal wieder wegen irgendetwas am Streiten waren und danach aussahen, als wollten sie sich an die Gurgel gehen. Aber kaum, dass sie Liam und Jeremiel sahen, war der Streit längst vergessen. Stattdessen war Delta wieder ganz in seinem Element und umarmte Jeremiel stürmisch, wobei er ihn so fest umarmte, dass er ihm fast die Rippen brach. Mit Tränen in den Augen rief er wehleidig „Oh Engelchen, ich hatte solche Angst um dich. Aber keine Angst. Mama Delta ist ja da und kümmert sich um dich. Es wird alles wieder gut werden.“ Jeremiel hatte sichtlich Mühe, wieder Abstand zu ihm zu gewinnen und zu erklären „Mir geht es gut und mir fehlt auch nichts. Aber trotzdem danke, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, Delta. Es freut mich auch wirklich, dich und Johnny wiederzusehen.“ Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, begutachtete ihn der Kimonoträger aufmerksam und stellte schließlich fest „Mensch, Engelchen. Kann es sein, dass du irgendwie… na ja… erwachsener geworden bist? Du hast dich ja richtig verändert.“ „Ja… so kann man es nennen“, murmelte der Blondhaarige, aber er ging nicht näher ins Detail diesbezüglich. Er sprach ohnehin nicht gerne darüber. Johnny begrüßte ihn auf seine eigene freche Art und zeigte sich nicht so melodramatisch wie Delta, aber auch er musste zugeben, dass er sich Sorgen gemacht hatte. Und als die beiden Seraphim erfuhren, dass Liam sich mit seiner Schwester versöhnt hatte und diese nun erst mal bei ihm wohnen würde, da war ihnen die Erleichterung darüber auch deutlich anzusehen. Immerhin hatten sie auch diese heftigen Auseinandersetzungen mitgekriegt und insgeheim gehofft, dass sich irgendwann mal etwas daran ändern würde. Zur Feier ihrer Rückkehr gingen sie am Abend alle ins Lovely Evening, während Rumiko die Kinder der Obhut einer Babysitterin anvertraute. So saßen sie alle zusammen und erzählten die ganze Geschichte. Welche Personen dahintersteckten, welche Motive zu diesem Projekt geführt hatten und wie es außer Kontrolle geraten war. Sie erzählten von Alice und was dazu geführt hatte, dass sie so einen Weg gegangen war und welche Verbindung Lacie Dravis zu ihr hatte. Auch Alices und Lacies Tod ließen sie nicht aus und schließlich kehrte für einen Moment lang stiller Ernst in die Runde ein. Dann aber hob Nastasja ihr Glas und sagte „Trinken wir einen auf Alice und Lacie. Darauf, dass sie den Sefirot den Frieden gebracht und Elohims Zorn für immer vernichtet haben. Und auf dass sie beide ihr Glück finden, wo auch immer sie jetzt sein mögen.“ Einstimmig erhoben sie ihre Gläser und hielten einen kurzen Schweigemoment ab. Die Feier in der Bar zog sich bis spät in die Nacht hinein, zumindest für die meisten von ihnen. Sheol und Ezra mussten früher nach Hause und Elion und Watari gingen mit. Nachdenklich gingen sie durch die Straßen von Boston und irgendwie war ihnen so, als wäre es eine Ewigkeit her, dass sie zuletzt hier gewesen waren. Nun gut, es waren knapp drei oder vier Wochen gewesen, dass sie weg waren. Und es war ja auch viel passiert. Selbst nach diesen ganzen Geschehnissen hatten sie eine Woche gebraucht, um sich von der ganzen Aufregung und den Strapazen zu erholen. Auch für Elion würde es eine Zeit lang brauchen, bis er sich daran gewöhnt hatte, dass Watari sein Großvater war. Und irgendwie klang es für ihn auch merkwürdig, ihn nun auch so zu nennen. Auch für den alten Mann war es eine Umgewöhnung, denn lange Zeit war L seine einzige Familie gewesen. Er hatte seine Tochter lange Zeit für tot gehalten und nun hatte er einen 27-jährigen Enkelsohn. Und sein Entschluss stand fest, dass er nicht noch mal denselben Fehler begehen würde und Elion in irgendeiner Art und Weise in eine Richtung drängte, die dieser nicht wollte. Die Geschehnisse mit Alice hatten ihn ein für alle Male gelehrt, Elion seinen eigenen Weg gehen zu lassen, wie auch immer er aussehen mochte. „Sag mal Großvater, woran denkst du gerade?“ fragte der Proxy nach einer Weile, als er so die Straße entlang ging und dabei Ezras Hand hielt. „Nun“, sagte Watari gedehnt. „Über nichts Bestimmtes. Sag mal Elion, hast du schon Pläne für die Zukunft, was du später werden willst?“ „Klar. Wenn ich mit meinem Studium fertig bin, will ich Streetworker werden und Straßenkindern helfen, die in einer ähnlichen Situation sind wie Ezra. Die Kinder brauchen Hilfe und jemanden, der ihnen zuhört, findest du nicht auch?“ „Das auf jeden Fall. Und ich glaube, du wirst deine Sache hervorragend machen. Geh du nur deinen Weg und mache das, was dir Freude macht. Deine Mutter hätte das genauso gewollt.“ Als Watari Alice erwähnte, da wurde Elion ruhig und betrachtete den sternklaren Himmel, wobei er etwas nachdenklich wirkte. „Früher habe ich immer gedacht, meine Mutter würde mich nicht lieben, weil sie mich ja diesen ganzen Experimenten ausgesetzt hat. Aber letzten Endes hat sie mich doch sehr geliebt. Und darüber bin ich wirklich sehr froh.“ Schließlich erreichten sie die Villa, die früher mal ein kleines Hotel gewesen war und bemerkten, dass im Vorgarten des Nachbarhauses ein Schild stand mit der roten Aufschrift VERKAUFT. Überrascht blieben sie stehen und Ezra hob die Augenbrauen, als er das sah. „Oh. Anscheinend haben sie endlich das Haus verkauft und wir kriegen Nachbarn. Bin ja mal gespannt, wann die einziehen.“ „Hoffentlich ist das keine dieser spießigen Vorstadtfamilien“, warf Sheol dazwischen und holte schon mal den Schlüssel hervor. Doch als er die Stufen zur Veranda hinaufging und schon die Tür aufschließen wollte, da fiel ihm ein kleines Päckchen auf der Türschwelle auf, welches in Paketpapier eingewickelt war. Er hob es auf und nachdem er die Tür aufgeschlossen und drinnen das Licht angeschaltet hatte, sah er, dass es keinen Absender hatte. Das Päckchen war recht klein und auch nicht sonderlich schwer. Da auch nicht drauf stand, für wen es war, öffnete er es kurzerhand und stellte mit Enttäuschung fest, dass es nur ein Buch war. „Ach Scheiße. Warum zum Teufel müssen es ausgerechnet Bücher sein? Das ist langweilig.“ „Vielleicht hat Nastasja mal wieder irgendwas bestellt“, vermutete Ezra und zog seine Jacke aus. „Was ist das überhaupt für eines?“ „Ein Roman eben halt“, antwortete der kurz geratene Rotschopf und zeigte es ihnen. Tatsächlich handelte es sich nicht um eines dieser Fachlektüren, die sich Nastasja hin und wieder mal bestellte, um sich auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Nein, es war tatsächlich ein Roman und trug den Titel „Die Straße nach Utopia“. „Von wem ist das denn?“ „Keine Ahnung. Da stand kein Absender drauf. Das muss jemand einfach vor die Tür gelegt haben.“ Elion sah sich das Buch genauer an und stellte fest, dass es sich um ein Buch dieser „Celia Walters“ handelte. Watari hatte die drei Bücher gelesen, bevor sie nach Amerika zurückgekehrt waren. Neben „Ein Mal London und zurück“ und „Die Stadt meiner Träume“ hatte sie auch „Begegnung mit Lady Greensleeves“ geschrieben. Ob das ein neues Buch von ihr war? Elion öffnete die erste Seite, wo er eine Widmung fand, die „Für meine Familie“ lautete und offenbar handelte es sich wieder um einen Lacie Dravis Roman. So langsam verstand er nun, was das ganze zu bedeuten hatte. Mit einem wissenden Lächeln reichte er es schließlich an Watari weiter. „Das ist offenbar ein neues Buch von Celia Walters. Vielleicht willst du es ja lesen.“ „Wie?“ fragte Watari verwirrt und nahm das Buch entgegen, dann sah er es sich genauer an. Und tatsächlich. Es war ein Buch von Celia Walters und es handelte sich um einen vierten Lacie Dravis Roman. Aber das konnte doch nicht möglich sein. Celia Walters hatte nur drei Bücher geschrieben, das wusste er selbst und außerdem waren diese Bücher auch schon sehr alt. Danach waren nie wieder welche geschrieben worden und außerdem war die Autorin tot. Es musste also jemand anderes unter ihrem Pseudonym weiterschreiben. Aber wieso hatte jemand dieses Buch auf die Türschwelle gelegt und nicht mal einen Absender draufgeschrieben? Merkwürdig… Ob sich da jemand einen Spaß erlaubte? Nun, es gab nur einen Weg, um herauszufinden, ob es sich tatsächlich um einen typischen Celia Walters Roman handelte. Nachdem sich Sheol, Ezra und Elion auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, setzte sich Watari mit einer Tasse Earl Grey Tea ins Wohnzimmer und begann zu lesen. Und er war nach kürzester Zeit so in den Roman vertieft, dass er völlig die Zeit vergaß und erst bemerkte, wie spät es eigentlich war, als die anderen so langsam wieder zurückkehrten. Lautes Gelächter war im Flur zu hören und man vernahm etwas wankende Schritte und wie jemand rief „Nastasja, geh besser etwas langsamer. Du hast ein wenig zu viel getrunken.“ „Ach was, ich bin bloß gut angeheitert, mehr nicht. Einen Russen kriegst du nicht so schnell betrunken!“ Daraufhin war ein prustendes Lachen zu hören und wenig später kamen Dathan und Nastasja ins Wohnzimmer. Frederica war auch dabei, um dem Unvergänglichen zu helfen, die betrunkene Russin zu stützen, die ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte. Sie hatte ja auch einen ordentlichen Zug an den Tag gelegt und als sie von einem der schwulen Jungs aus der Bar zu einem Trinkspiel herausgefordert worden war, hatte sie einfach nicht ablehnen können. Als sie aber Watari da so ganz alleine im Wohnzimmer sitzen sah, wurde sie wenigstens wieder genug klar im Kopf, um vernünftig zu reden. Und zumindest konnte sie vernünftig stehen. Sturzbetrunken war sie also nicht. „Was machst du hier noch im Wohnzimmer? Ist irgendetwas?“ „Das hat jemand vor die Tür gelegt“, erklärte er und reichte das Buch an Nastasja und sogleich schaute auch Dathan es sich an. Als er den Namen der Autorin sah, runzelte er verwundert die Stirn und schüttelte den Kopf. „Das ist ja merkwürdig. Schreibt da jemand unter Alices Pseudonym etwa neue Romane?“ „Naja. Ich bin zwar noch erst beim zweiten Kapitel, aber es liest sich haargenau wie ein Celia Walters Roman. Es ist der gleiche Schreibstil, ohne Zweifel. Wer auch immer ihren Stil kopiert, er ist Perfektionist.“ „Ob das was zu bedeuten hat?“ fragte Nastasja uns sah sich das Buch auch an. „Ich meine… Alice ist tot. Ihre Leiche wurde identifiziert und sie kann unmöglich überlebt haben. Selbst wenn sie die Reaktorexplosion überlebt hätte, so hätte das Serum sie definitiv getötet.“ Nachdenklich schwiegen sie eine Weile und rätselten. Da Nastasjas Hirn durch den Alkohol etwas benebelt war, fiel ihr das Denken ohnehin nicht gerade leicht. Schließlich aber erinnerte sich Frederica an etwas und sprach es laut aus. „Erinnert ihr euch noch, was Samajim mal gesagt hatte? Ajin Gamur vergisst niemals, wenn man ihm einen guten Dienst erweist. Keiner weiß, was er vorhat und plant. Aber fest steht, dass er nicht nur die höchste Entität und damit das mächtigste aller Wesen und zugleich der Gott des Chaos und der Zerstörung ist. Er ist auch der König der Shinigami und der Herr des Nichts. Er verkörpert die Endgültigkeit und weil er der Ursprung und das Ende aller Dinge ist, sollte das doch eigentlich heißen, dass er wirklich alles beherrscht und somit allmächtig ist. Oder nicht?“ „Eigentlich schon“, sagte Dathan. „Wenn ich Dad richtig verstanden habe, ist Ajin, also mein Großvater, in der Lage, wirklich alles zu beherrschen, weil er über all diesen Dingen steht. Das gilt sowohl für Zeit und Raum, als auch für Existenz und Nichtexistenz… und für Leben und Tod.“ „Soll das etwa heißen, dass…“ Nastasja sprach diesen Gedanken nicht weiter, weil sie es selbst kaum zu glauben vermochte. Es war eigentlich völlig unmöglich. Zumindest war es das in ihren Augen. Aber Frederica lächelte nur und gab das Buch an Watari zurück. „Wir sollten einfach mal „glauben“, das hat uns auch Samajim gesagt. Und auch wenn die Existenz der Unvergänglichen vielleicht gegen jede Religion sprechen mag, aber vielleicht liegst du mit deinem Glauben von einem gütigen und gerechten Gott, der nur das Beste für uns will, gar nicht mal so verkehrt. Wer weiß… Gottes Wege sind eben unergründlich.“ Und dem konnte ihr niemand wirklich widersprechen. In den nächsten Tagen kehrte wieder der Alltag für die meisten ein. Sheol und Ezra mussten wieder zur Schule, Elion zur Uni und auch Nastasja musste wieder zu ihrem Unterricht zurückkehren. Die ersten Tage blieb Dathan zuhause und kümmerte sich um alles, bis er dann sein Vorstellungsgespräch hatte und tatsächlich die Stelle als Bibliothekar der Harvard Universitätsbücherei bekam. Beyond und L traten ihren wohl verdienten Urlaub an und reisten nach Japan ab. Näher gesagt in einen abgelegenen Kurort mit heißer Quelle. Den Tipp hatten sie übrigens von Rumiko, die sich wahrscheinlich wieder irgendetwas dabei gedacht hatte. Und natürlich drückte sie ihrem Bruder seine „Bestellungen“ gleich mit in die Hand, wobei sie ihm verschwörerisch zuzwinkerte und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Sie selbst hatte beschlossen, ihren Beruf als Lehrerin endgültig an den Nagel zu hängen. Nach langer Überlegung hatte sie für sich gemerkt, dass es nicht das war, was sie sich als Beruf bis zu ihrer Rente vorstellen konnte. Stattdessen wollte sie nun zusammen mit Terry die Leitung des Lovely Evening übernehmen und dort fürs Erste zur Teilzeit arbeiten. Wenn ihre Kinder alt genug seien, wolle sie dann Vollzeit arbeiten. Dieser Entschluss kam für den Rest der Familie überraschend, aber ein wenig konnten sie sie auch verstehen. In der Bar war sie eben halt zuhause und sie fühlte sich auch wohl. Für viele Schwule in Boston war sie als „Mama Ruby“ eben eine bevorzugte Ansprechpartnerin und dieses Leben schien auch das zu sein, was sie wirklich ausleben wollte. Und auch Beyond meinte, dass es vielleicht die beste Entscheidung war. Denn Fakt war, dass sie sich in der Bar deutlich wohler fühlte, als in ihrem Job als Lehrerin. Jeremiel und Liam folgten L’s und Beyonds Beispiel und verreisten ebenfalls. Dumm nur, dass sich beide Paare ausgerechnet denselben Kurort ausgesucht hatten und es dazu führte, dass sie sich alle vier in derselben heißen Quelle wiederfanden und es natürlich vorherzusehen war, dass es insbesondere zwischen L und Liam Probleme geben würde. Denn dummerweise waren der Detektiv und der Serienmörder ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ins Wasser gestiegen, als Liam und Jeremiel gerade ungestört sein wollten. Für den armen L sogleich das nächste Kopfkino, was ihn für die nächste Zeit noch verfolgen sollte. Als wäre es für ihn schon schlimm genug gewesen, dass er schon seine eigene Mutter in so einer eindeutigen Situation gesehen hatte. Naja, es war nicht für lange, denn Beyond wusste schon, wie er ihn auf andere Gedanken bringen konnte. Trotzdem konnte dieser sich nicht die Bemerkung verkneifen „Naja, man muss schon zugeben, dass dein Bruder einen ziemlich guten Männergeschmack hat. Gut gebaut ist er ja auf jeden Fall.“ Zur Strafe durfte er die Nacht alleine schlafen. Bei Nastasja und ihrer Familie kam es einige Zeit später zu einer interessanten Neuigkeit in der Nachbarschaft: man hatte Informationen zu den neuen Nachbarn. So wie Nastasja hörte, sollte es eine fünfköpfige Familie sein, die den Namen „Ashenberg“ trug. Viel wusste man ja noch nicht, aber wie sich erzählt wurde, handelte es sich um eine gut situierte Familie, die aus England kam. Als schließlich die Umzugswagen eintrafen, konnte es sich Nastasja nicht nehmen, von der Veranda aus zu beobachten, wer denn wohl einzog und was die Ashenbergs für eine Familie waren. Nachdem die Umzugswagen eingetroffen waren, fuhr wenig später ein Wagen vor, mit welchem die Familie selbst hergefahren war. Sheol, der gerade mit Ezra Fußball spielte, sah, wie ein Mädchen ausstieg, welches nicht größer war als 1,52m. Aber was für ein Mädchen… Sie trug ein schwarzes Shirt mit einem blauen aufgedruckten Stern, einen karierten Rock, gestreifte Strümpfe und sie trug Nietenarmbänder und Ketten. Ihr Haar hatte sie feuerrot gefärbt und man sah auch den schwarzen Ansatz. Ihre Augen waren dunkelbraun und sie trug eine Brille. Irgendetwas ging von ihr aus, was ihn komplett vergessen ließ, was er eigentlich wollte und er nicht mal den Ball abfing, den Ezra zu ihm herüberschoss. Ihm war, als hätte er dieses Mädchen schon mal gekannt, so verrückt das auch klang. Er konnte einfach nicht anders, als zu ihr rüberzugehen und sie anzusprechen. Als das Mädchen aus dem Wagen ausstieg und ihn direkt sah, da blickte sie ihn mit ihren großen Augen an und hatte ein so süßes und lebensfrohes Lächeln, dass sein Herz augenblicklich höher zu schlagen schien. „Hi!“ grüßte sie ihn und lief direkt zu ihm hin. Sie trug Stiefel mit Plateausohlen, um sich wenigstens etwas größer zu machen. Allein vom Aussehen her war sie ein absoluter Punk. Aber das war nicht schlimm, im Gegenteil. Es verlieh ihr etwas Rebellisches, Wildes und Verrücktes. Eigentlich genau das, was auch er war. „Gehörst du zu der Familie nebenan?“ „Äh k-klar“, stammelte er etwas überrumpelt und war verwundert, sich selbst in der Situation wiederzufinden, dass ihm mal die Worte fehlen würden. So etwas passierte ihm normalerweise nie. Aber sie war eben so verdammt süß, da war es doch nur verständlich, dass er nervös wurde. „Mein Name ist Sheol Lawliet und das da ist mein Bruder Ezra.“ „Sheol?“ fragte das Mädchen und hob verwundert die Augenbrauen. „Das ist ja mal ein ungewöhnlicher Name. Naja, zumindest ist es beruhigend, dass ich nicht die Einzige mit einem außergewöhnlichen Namen bin.“ „Wie heißt du denn?“ „Sariel, Sariel Ashenberg.“ Sariel… dieser Name weckte Erinnerungen. Erinnerungen an eine verstorbene Bekannte… „Ich finde ihn schön“, sagte er schließlich, woraufhin das Mädchen meinte „Naja. Meine Mum erzählte mal, dass der Name von dem biblischen Todesengel kommt…“ „Ist doch nicht schlimm. Mein Name ist das hebräische Wort für das Totenreich. Also auch nicht gerade der absolute Glücksgriff.“ Als Sariel das hörte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung und sie wirkte schon fast begeistert. „Das ist doch cool. Das ist doch eine super Kombination mit unseren Namen. Hey, wollen wir heute Nachmittag vielleicht was zusammen unternehmen? Ich bin ja echt froh, wenn ich mal nicht ständig von meinen großen Schwestern geärgert werde…“ „Du hast Schwestern?“ Sariel nickte und sogleich sahen sie auch, wie zwei blondhaarige Mädchen ausstiegen, die vollkommen identisch aussahen. Im Gegensatz zu Sariel waren sie deutlich größer. „Das sind Samira und Samara. Da die beiden sich immer gleich kleiden, kann man sie kaum auseinander halten.“ „Und deine Eltern?“ „Meine Mum ist Autorin und mein Dad arbeitet als Arzt im Krankenhaus. Und was machen deine Eltern?“ Hier wurde Sheol ein wenig verlegen. „Ich wurde adoptiert und weiß nichts über meine richtigen Eltern. Meine Adoptivmutter unterrichtet Humanbiologie und Medizin an der Harvard Universität und ihr Freund ist dort Bibliothekar. Ezra ist ebenfalls adoptiert und ich hab noch einen Pflegebruder. Dann hab ich noch zwei weitere Adoptivbrüder. Also eigentlich besteht meine Familie fast aus Jungs. Witzig, oder?“ „Total!“ Sie lachten beide darüber und verstanden sich auf Anhieb ganz gut. Schließlich aber kamen Schritte näher und eine Stimme rief „Sariel!“ Sofort drehte sich das Punkermädchen um und rief zurück „Ich bin hier, Mum!“ kurz darauf kam eine bildschöne blondhaarige Frau um die 33 oder 34 Jahre zu ihnen. Sie hatte strahlend blaue Augen und etwas, das man eine vornehme aber dennoch sehr herzliche Ausstrahlung nennen konnte. „Wie ich sehe, hast du schon einen netten Jungen kennen gelernt“, erlaubte sie sich die Bemerkung und kicherte, woraufhin Sariel errötete und vorwurfsvoll „Mum!“ rief. Schließlich wandte sich das recht klein geratene Mädchen wieder Sheol zu. „Sheol, das ist meine Mum Alicia. Mum, das ist Sheol. Er gehört zu den neuen Nachbarn.“ „F-freut mich, Sie kennen zu lernen“, stammelte der Rothaarige und grüßte sie mit einem Händedruck. Schließlich kamen Nastasja, Watari und Elion hinzu, die nun auch neugierig auf die neuen Nachbarn geworden waren. Nachdem sich auch Alicias Mann dazugesellt hatte, kam die Russin näher und begrüßte die beiden. „Tagchen. Sie sind sicher die Ashenbergs, unsere neuen Nachbarn, nicht wahr?“ „Ja, ganz recht“, bestätigte das Ehepaar und warf sich kurze verliebte Blicke zu und lächelte. „Mein Mann Joey und ich sind mit unseren Töchtern hergezogen, weil wir in eine vertraute Umgebung ziehen wollten“, erklärte die blonde Schönheit, als sie Nastasjas Händedruck erwiderte. Die Russin hob überrascht die Augenbrauen. „Ach, Sie haben schon mal in Boston gelebt?“ „Das nicht“, erklärte Alicia und warf einen Blick zu Watari und Elion. „Aber wir wollten eben näher zu unseren Freunden wohnen… und unserer Familie.“ Epilog: Das Geheimnis mit dem Namen ----------------------------------- „Ach komm Nastasja, so schwer kann es doch nicht sein. Und überhaupt: denkst du nicht auch, dass es eventuell noch ein klein wenig verfrüht ist, sich jetzt schon über die Namen deiner Kinder Gedanken zu machen, wenn du doch gar nicht mal schwanger bist?“ „Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, einen schön klingenden russischen Namen für mein Kind auszusuchen? Und außerdem planen Henry und ich doch schon so langsam unsere Schwangerschaft. Wir beide wollen Kinder haben und da wollten wir uns so früh wie möglich Gedanken machen, damit wir auch Namen haben, wenn wir soweit sind.“ Alice seufzte und legte ihr Buch beiseite, während ihre beste Freundin unruhig auf und ab lief und angestrengt über einen guten Namen nachdachte. Dass es nicht gerade einfach war, einen guten Namen für ein Kind zu finden, war ja verständlich, denn so etwas war ja auch eine wichtige Sache. Immerhin würde dieses Kind den Namen für immer tragen. Aber sich schon Gedanken zu machen, wenn man noch nicht einmal schwanger war, das war in ihren Augen doch schon ein klein wenig übertrieben. Nun ja, das war eben Nastasja und bei ihr brauchte man sich gar nicht wundern. Sie war in vielerlei Hinsicht ein Original… etwas schräg und eigen und vor allem temperamentvoll und schlagfertig. „Also wenn du mich fragst“, sagte die Engländerin schließlich und wischte sich eine ihrer langen schwarzen Haarstränen aus dem Gesicht. „Ich finde, man sollte einem Kind einen Namen mit einer schönen Bedeutung geben. Dein Name zum Beispiel bedeutet „die Wiederauferstandene“. Meiner bedeutet „von edler Gestalt“…“ „Passt ja auch wie die Faust aufs Auge bei dir. Na super. Das macht es mir auch nicht gerade einfach. Und ehrlich gesagt gibt es nicht sonderlich viele schöne russische Männernamen. Und ich will auch nicht, dass mein Kind hinterher noch gehänselt wird, nur weil ich es mit so einem Namen wie „Wassili“ oder „Fjodor“ oder – noch viel schlimmer – „Igor“ strafe! Und selbst so Namen wie Sergej, Iwan oder Vladimir sind typische Namen, unter denen man sich bärtige stämmige ausgewachsene Kerle vorstellt, aber keinen kleinen Jungen. Stell du dir mal so einen süßen kleinen Fratz im Kinderwagen vor und du hörst dann, wie seine Mutter ihn Boris oder Vladislav nennt!“ Bei dem Gedanken musste Alice zugeben, dass es ein wenig merkwürdig auf sie wirken würde, wenn sie ihren süßen kleinen Jungen bei einem solchen Namen rufen würde. „Wenn dir kein Name einfällt, dann lass dir doch Zeit. Selbst wenn du von heute auf morgen schwanger wirst, hast du ganze neun Monate dafür Zeit. Aber wenn du einen konstruktiven Vorschlag hören willst, dann bitte. Dann gib deinem Kind doch einen englischen Namen, wenn dir das lieber ist.“ „Ich will wenigstens etwas haben, was ihn daran erinnert, dass er auch russische Wurzeln hat. Das ist mir eben wichtig, Alice. Ich bin Russin und Russland wird auch meine Heimat bleiben. Deshalb will ich wenigstens, dass mein Kind einen russischen Namen hat. Immerhin haben Henry und ich uns ja auch darauf geeinigt, dass ich meinen russischen Nachnamen behalte, auch wenn wir heiraten.“ Alice faltete die Hände, was sie oft tat, wenn sie nachdachte. Manchmal erschien es ihr echt so, als hätte Nastasja wirklich keine anderen Sorgen. Es war ihr einfach unverständlich, wie sie sich jetzt schon mit einem Thema beschäftigte, wenn noch nicht einmal eine Schwangerschaft vorlag. Aber sie wollte ja unbedingt Kinder und das am liebsten schnellstmöglich. Eine Weile lang schwieg sie und überlegte, wie sie ihrer besten Freundin bei dem Namenproblem helfen konnte. Einfach nur, damit das Thema auch vorerst mal beendet werden konnte. Außerdem würde sie ja die Patin werden, wenn das Kind zur Welt kam und da war es doch selbstverständlich, wenn sie half. „Und wenn es nun kein Junge, sondern ein Mädchen wird?“ „Mädchennamen denkt sich Henry aus. Und ich mir einen guten Jungennamen. Aber ehrlich gesagt war die Verteilung wohl doch nicht so gut geplant wie ich dachte. Bozhe moi, das ist echt scheiße!“ Schließlich setzte sich Nastasja aufs Sofa und legte den Kopf zurück. Irgendwie erschien es ihr unmöglich, einen schönen russischen Jungennamen für ihr Kind zu finden, denn egal wie viele ihr auch in den Sinn kamen, sie konnte sich diese einfach nicht für ein süßes kleines Baby vorstellen. Schließlich aber hatte Alice dann doch eine Idee. „Warum nennst du dein Kind nicht „Jeremiel“, hm?“ Jeremiel? Das war doch nicht mal ein russischer Name, sondern hebräisch. Und er klang auch ein wenig ungewöhnlich. Das klang irgendwie nach einer religiösen Version von Jeremy. „Wie kommst du jetzt auf so einen Namen? Was hat Jeremiel denn mit meiner Heimat zu tun?“ „Ist doch ganz einfach“, antwortete Alice und erklärte es ihr. „Jeremiel oder auch Jerahmeel ist der achte Erzengel der russisch orthodoxen Kirche. Man sagt ihm nach, dass er die Seelen der Verstorbenen sicher ins Jenseits geleitet und den Menschen Visionen bringt. Außerdem ist er der Engel des Mitgefühls. Das passt zum einen gut zu deiner Heimat und auch zu deinem Glauben.“ Einen Moment lang schwieg Nastasja und dachte darüber nach. Aber dann war sie vollends begeistert von dieser Idee, sprang vom Sofa auf und umarmte ihre beste Freundin. „Ach Alice, ich könnte dich küssen! Das ist ein toller Vorschlag. So machen wir es. Eines meiner Kinder werde ich auf jeden Fall Jeremiel nennen.“ „Eines? Wie viele willst du denn?“ „Am liebsten so viele wie möglich“, antwortete die Russin mit einem Grinsen. „Am liebsten hätte ich eine Großfamilie. Ich musste Henry ja versprechen, wenigstens einem meiner Kinder einen englischen Namen zu geben. Wenn es also Zwillinge werden sollten (und ich hoffe, dass es Zwillinge werden), dann wird der Ältere Jeremiel und der andere Collin heißen. Oder umgekehrt… Und dann würde ich am liebsten noch zwei Mädchen haben. Einem davon wird Henry einen russischen Namen geben und das andere Mädchen taufen wir Frederica.“ Als Alice das hörte, musste sie schmunzeln. Frederica… das war ein wirklich süßer Name und bedeutete ihres Wissens nach „die Friedensreiche“. Sie konnte sich auch schon ein süßes kleines Mädchen mit diesem Namen vorstellen und als sie so an ein eigenes Kind dachte, da verstand sie Nastasja auch ein Stück weit. Auch sie wollte Kinder. Aber sicherlich nicht in ihrer jetzigen Verfassung. Da konnte sie einfach keine gute Mutter sein und das wusste sie. Und solange sie ihren Rohypnolkonsum nicht im Griff hatte, wollte sie auch nicht das Risiko einer Schwangerschaft eingehen. Ansonsten könnte ihr Kind noch Schaden nehmen und das würde sie sich niemals verzeihen. „Wie willst du mal später deine Kinder nennen?“ unterbrach Nastasja schließlich ihre Gedanken und ihre Augen ruhten erwartungsvoll auf der Engländerin. Bei dieser Frage wurde die Schwarzhaarige etwas verlegen. „Also ich weiß noch nicht so recht, ob ich überhaupt Kinder bekommen werde. Aber ich hätte schon ganz gerne einen Jungen und ein Mädchen. Ich brauch keine Großfamilie so wie du, eine kleine reicht mir völlig. Und als Namen hätte ich mir Elion und Sariel ausgesucht.“ Noch zwei ungewöhnliche Namen? Nun, Alice pflegte ja zu sagen, dass ungewöhnliche Namen auch auf ungewöhnliche Menschen schließen ließen. Und so hob man sich ja auch ein Stück weit von der Masse ab. „Und wieso ausgerechnet die beiden?“ Nun, Sarah klingt zwar schön, aber der Name ist doch weit verbreitet. Und Sariel ist der Name des Todesengels, der zu den gütigen und barmherzigen Todesengeln zählt. Und in der jüdischen Kabbalah ist Sariel auch ein Erzengel. Und Elion bedeutet zum einen „Sonne“ und zum anderen steht er für den Engel des Friedens.“ Alice und ihre Engel, dachte Nastasja und schmunzelte. Aber es zeigte auch, dass sie sich sehr viele Gedanken über Namen machte. Denn sie pflegte auch zu sagen, dass der Name eines Menschen auch ausschlaggebend für den späteren Charakter und die berufliche Laufbahn sein könnten. Und wer einen besonderen und ästhetischen Namen hatte, der konnte tatsächlich mehr Erfolg haben als welche mit einem Modenamen. In der Hinsicht verstand sie Alice ja auch. Der Name „Alice“ hatte ja auch etwas Edles und Vornehmes und das war es auch, was sie ausstrahlte. „Also gut“, sagte Nastasja schließlich. „Wenn ich Kinder haben werde, dann werde ich sie definitiv Collin, Jeremiel und Frederica nennen. Und du nennst deine Elion und Sariel. Und ich und Henry werden dann die Paten deiner Kinder. Was hältst du davon?“ „Klingt wunderbar“, stimmte Alice zu und nickte. Damit war es beschlossen und so konnten sie sich wieder anderen Dingen widmen und das Thema Namengebung fürs Erste verschieben. Schließlich kam die Engländerin auf etwas anderes zu sprechen. „Hast du dich schon für die Weltmeisterschaft für Mixed Martial Arts angemeldet? Ich hab gehört bei den Männern haben sie einen absoluten Champion, der schon drei Mal in Folge gewonnen hat. Man nennt ihn auch den schwarzen Dämon.“ „Ja, von dem habe ich gehört. Sein Name ist Liam Adams, wenn ich mich recht entsinne. Ich hab mir seine Kämpfe mal angesehen. Ehrlich gesagt würde ich mal echt gerne gegen ihn kämpfen und sehen, wie er sich gegen mich schlägt. Ein würdiger Gegner ist er ja auf jeden Fall.“ Alice verschluckte sich fast an ihrem Tee und hustete, als sie das hörte. „Wie bitte? Hast du ihn dir mal angesehen?“ „Hab ich, aber mein Entschluss steht fest. Ich werde die Frauenmeisterschaft definitiv gewinnen und ihn dann herausfordern. Und selbst wenn ich verlieren sollte, so bin ich um eine Erfahrung reicher geworden. Außerdem hab ich gehört, er soll Chirurg sein. Und ein Akademiker, der so gut durchtrainiert ist, der ist genau mein Format.“ „Ich ahne, das wird noch böse enden, meine Liebe…“ Aber Nastasja war nicht mehr von ihrem Entschluss abzubringen. Sie war da auch viel zu sturköpfig, um von ihrem Entschluss abzuweichen und so würde sie es konsequent durchziehen. „Na hoffentlich lässt er dich am leben. So wie er aussieht, versteht er keinen Spaß…“ „Ach ich weiß nicht. Er wirkt zwar ziemlich finster und bösartig, aber vielleicht steckt ja auch ein guter Kern darin.“ Alice sagte da lieber nichts dazu. Sie schüttelte nur den Kopf und trank ihren Tee aus. Aber fest stand, dass sie auf jeden Fall mit zu den Meisterschaften gehen würde. So wie sie Henry kannte, würde der ja auch dabei sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)