Muzukashii Sekai von Harulein (MiA x Meto / Tsuzuku x Meto) ================================================================================ Kapitel 26: [Tsuzuku] Act 26 ---------------------------- Ich saß auf meiner Bank am Fluss und fühlte mich schwebend, einfach glücklich. In meinem Kopf, meinem Herzen, meinen Gedanken war nur noch Meto, die Gewissheit, dass er mich liebte und dieses Gefühl, dass er zu mir gehörte. Ich hatte ihn natürlich nur widerwillig gehen lassen, einfach weil ich absolut nicht genug von ihm bekam, doch in diesem Moment hatte ich kaum Angst, ihn zu verlieren. Denn ich war mir sicher, dass er, wenn denn da zwischen ihm und MiA irgendetwas wäre, Meto nicht zum dritten Mal mit mir geschlafen hätte. Zwar war es wieder kein wirklicher Sex gewesen, doch kam es dem so nahe, dass ich kaum an den Unterschied dachte. Ich hatte mich damit abgefunden, dass es Meto körperlich aus irgendeinem Grund nicht möglich war, mich in sich eindringen zu lassen, und da ich ihm auf keinen Fall gegen seinen Willen weh tun wollte, beließ ich es fürs erste dabei. Am liebsten hätte ich jetzt mit Koichi über all das gesprochen, doch da ich nun mal alleine war, musste ich mich damit begnügen, den Sternen am Abendhimmel in Gedanken von meiner Liebe zu erzählen. Und da war er wieder, der Gedanke an Mama. Vielleicht war sie da oben, vielleicht sah sie mich, beobachtete aus dieser unglaublichen Entfernung mein Leben hier unten. Ich stellte es mir mit aller Kraft vor, und positiv gestimmt wie ich an diesem Abend war, gelang es mir sogar. „Mama?“, fragte ich leise ins Nichts und wartete, schaute zu den Sternen hoch und versuchte, ihr Blinken und Leuchten zu deuten. Und da hörte ich, natürlich in meinem Kopf, aber auch schon irgendwie wirklich da, ihre Stimme. Sah ihr Gesicht vor meinem inneren Auge, sie lächelte. „Genki.“ Mir sprangen augenblicklich Tränen in die Augen, mein Herz zitterte. „Mama?“, fragte ich noch einmal und mir war vollkommen egal, ob mich jemand, der jetzt an mir vorbeiging, für verrückt hielt. „Bist du da?“ „Ich bin da. Ich bin immer bei dir.“ Ich wusste nicht, woher ihre Worte kamen. Rein rational betrachtet mussten sie irgendwie aus mir selbst kommen, doch sie waren mir so neu, dass ich das kaum glauben konnte. „Mama, ich hab mich verliebt. Und zwar so richtig. In meinen allerbesten Freund“, flüsterte ich. „Bist du glücklich?“ Ihre Stimme klang so warm und lieb, genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich nickte, versuchte, die Tränen wegzublinzeln, doch sie waren zu schwer, zu viele, mein Inneres innerhalb weniger Augenblicke so aufgewühlt, dass ich nicht anders konnte, als sie fließen zu lassen. „Ja, Mama“, antwortete ich und versuchte, trotz meiner Tränen wenigstens zu lächeln, „Ich bin glücklich.“ „Das ist schön, mein Schatz.“ Ich hörte sie leise lachen. „Aber warum weinst du?“ „Weil ich so glücklich bin. Und … weil ich dich so vermisse!“ Eine Sekunde später glaubte ich, jetzt endgültig wahnsinnig geworden zu sein, denn auf einmal spürte ich das Echo einer sanften Hand auf meiner Schulter und sah Mama wie einen hellen Schatten direkt vor mir knien. „Genki, mir geht es gut, da, wo ich jetzt bin. Und alles, was ich will, ist, dass du dein Leben so glücklich lebst, wie du nur kannst. Versprichst du mir das?“ Ich konnte nur nicken, die schweren Schluchzer machten mir das Sprechen unmöglich. Zum ersten Mal, seit Mama tot war, hatte ich wieder das Gefühl, ihr nah zu sein und meine ungeheure Schuld nicht mehr so entsetzlich deutlich zu spüren. Fast war es sogar so, als könnte ich mir irgendwann verzeihen. Wieder hörte ich sie lächeln, sah ihr liebes Gesicht vor mir. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen, um die Tränen wegzuwischen, und zog meine Knie hoch. Inzwischen war es ganz dunkel und ich spürte die nächtliche Kälte. „Jetzt geh, leg dich hin und schlaf. Und denk daran, dass ich immer bei dir bin.“ Ich spürte so etwas wie einen sanften Kuss auf meiner Stirn, dann nichts mehr. Sie war wieder weg, und doch ließ sie mich mit dem Wissen zurück, dass sie irgendwie immer bei mir war. Langsam erhob ich mich und ging zu meinem Schlafplatz zurück. Mein Herz klopfte, ganz erfüllt von Mamas lieben Worten, und davon, wie glücklich ich trotz der Tränen war. Ich kroch in meinen Schlafsack, stellte fest, dass er eiskalt war und zerrte einen ebenfalls ziemlich kalten Pullover aus meiner Tasche, um ihn überzuziehen, damit mir wenigstens ein bisschen warm wurde. Bevor ich mich wieder in meinem Schlafsack zusammenrollen konnte, fiel mein Blick auf meinen Nudelsuppen-Vorrat. „… Und alles, was ich will, ist, dass du dein Leben so glücklich lebst, wie du nur kannst …“ Das waren Mamas Worte gewesen. Ich wusste ganz genau, was sie mir damit hatte sagen wollen. Ich griff nach der erstbesten Packung Instantnudeln, riss sie auf und zerbrach den kleinen Block darin in zwei Hälften. Öffnete die Tüte mit dem Pulver und streute ein wenig davon auf die trockenen Nudeln. Der Geschmack war scharf, überwältigend, fast zu viel, doch ich zwang mich zum Schlucken und trank sofort einen Schluck kaltes Wasser hinterher. Mein Hals tat weh von der harten Konsistenz der ungekochten Nudeln und der Schärfe des Pulvers, doch dieses Mal kämpfte ich mit aller Kraft gegen den Drang an, alles wieder auszuspucken. Nein! Jetzt war Schluss mit Heißhunger, Kotzen, Angst vorm Essen haben! Ich wollte das endgültig nicht mehr und fühlte mich endlich stark genug, dagegen anzukämpfen. „Ich hab’s Mama jetzt versprochen“, dachte ich. „Und ich hab Meto. Mir reicht‘s, ich will doch auch glücklich werden!“ Mit diesem Gedanken schlief ich irgendwann ein und wachte nach einer traumlosen Nacht davon auf, dass eine vertraute Stimme über mir laut „Guten Morgen!“ sagte. Ich drehte mich um, öffnete die Augen und blickte in Koichis hübsch geschminktes Gesicht. „Morg’n …“ „Gut geschlafen?“ Ich setzte mich auf, streckte meinen Rücken und unterdrückte ein Gähnen. Koichi schien allerbeste Laune zu haben, denn er strahlte mich an und verkündete: „Weißt du was, Tsuzuku? Iiiich hab was gefundeeen!“ „Was?“, fragte ich. Er setzte sich neben mich auf den Boden und hielt mir einen Stapel gefalteter und abgegriffener Zettel hin. „Das sind Anzeigen für günstige Wohnungen und zu vermietende Zimmer. Ich hab die ganze Stadt abgesucht und da sind ein paar tolle Angebote dabei.“ Ich musste unwillkürlich grinsen. Koichi hatte sich jetzt doch nicht ernsthaft die Mühe gemacht, sämtliche Schwarzen Bretter der Gegend nach einer Bleibe für mich abzusuchen, die ich aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nicht bezahlen konnte?! „Du spinnst doch“, sagte ich. „Weißt du, das ist noch nicht mal alles!“ Er klang wirklich begeistert und schien unheimlich stolz drauf zu sein, dass er potentielle Unterkünfte für mich gefunden hatte. Mir stellte sich nur die Frage, wie er sich das mit der Bezahlung vorstellte. „Schau dir das mal an.“ Koichi hielt mir einen gefalteten Flyer hin, den ich entgegennahm und erkannte, dass es sich um das Informationsblatt eines buddhistischen Tempels handelte. „Die bieten kleine Zimmer und Hilfen für Obdachlose an, auch ganz unabhängig von Religion und so weiter.“ „Ein Tempel?“, fragte ich. „Ja. Ich hab da gleich mal vorbeigeschaut und gefragt, wie das so im Einzelnen aussieht. Und die meinten, dass so ein Tempel für jemanden, der die Zustände in der städtischen Unterkunft nicht verträgt und dem es auch sonst nicht so gut geht, die ideale Alternative ist. Du würdest da dein Zimmer kriegen, was zu essen, und wenn du willst, so ‘ne Art Betreuung, mit der du drüber reden kannst, dass du eine eigene Wohnung willst und so weiter. Die machen einen total engagierten Eindruck.“ Das klang gut, viel zu gut. Zu schön, um wahr zu sein. Ich suchte den Haken an der Sache, den Punkt, der dafür sorgen würde, dass ich dieses wundervolle Angebot nicht annehmen konnte. „Aber …“, sagte ich, „… wenn das da so toll ist, wieso sind dann alle in der Unterkunft und nicht dort? Und wieso hab ich davon noch nie gehört?“ „Es gibt eine Bedingung“, antwortete Koichi. „Das Ganze ist zwar ein echtes Hilfsprojekt, aber sie sagen, dass sie nur demjenigen helfen, der auch mitmacht und wirklich von der Straße weg will. Es gibt ein Aufnahmegespräch, bei dem entschieden wird, ob sie dich aufnehmen oder nicht, je nachdem, ob du genug guten Willen zeigst.“ Ich dachte an gestern Abend, an Mama und daran, was ich ihr versprochen hatte. Dass ich glücklich werden wollte und weg aus diesem tiefen dunklen Loch. Mit einem Satz war ich aufgestanden, raus aus dem Schlafsack und zerrte meine Jacke aus meiner Tasche. Koichi lächelte. „Da hat sich aber jemand entschieden!“ „Ich will da hin!“, sagte ich. „Vorher sollten wir was frühstücken, meinst du nicht?“ Wie er das sagte, so ganz selbstverständlich. Ich stellte mir das vor, warmen Kaffee, Brötchen, Butter, und bekam mit einem Mal einen solchen Appetit und Hunger, wie ich ihn seit zwei Jahren nicht mehr verspürt hatte. Ein Lächeln huschte über meine Lippen und ich nickte auf Koichis Frage hin. „Dir geht’s grad richtig gut, oder?“, fragte er weiter. Wieder nickte ich und überlegte, ob ich ihm erzählen sollte von Mama und davon, dass sie gestern Abend auf irgendeinem Weg mit mir gesprochen hatte. Einerseits wollte ich darüber sprechen, einfach um mein Versprechen zu festigen und mir selbst darüber klar zu werden, doch auf der anderen Seite hatte ich Angst, da ich Koichi dann die ganze Geschichte dessen, was vor zwei Jahren meinen Absturz verursacht hatte, nochmal erzählen und damit alles wieder nach vorn holen müsste. Und so entschied ich mich dagegen. Als wir dann wieder bei Koichis Lieblings-Kaffeebude saßen, fragte er, mich beobachtend: „Was ist gestern passiert, Tsuzuku?“ „Hm?“ „Du hast wieder einen Schritt nach vorn gemacht, oder? Jedenfalls scheinst du diese Tasse Kaffee zu genießen.“ Ich nickte, lächelte, nahm noch einen Schluck und genoss, wie die warme Flüssigkeit das Innere meines Halses herabperlte. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit nahm ich das, was ich zu mir nahm, wieder ganz bewusst wahr und mir war klar, dass es gut für mich war. Ich trank langsam, versuchte, jeden einzelnen Schluck zu genießen und registrierte, dass Koichi mich dabei wohlwollend und ganz genau beobachtete. „Sehr gut“, sagte er. „Ich bin stolz auf dich.“ Und dann: „Jetzt erzähl mal. Ich merk doch, dass du mir was sagen willst.“ Und wieder war es vollkommen egal, was ich entschieden hatte. Es war egal, dass ich eigentlich nicht darüber reden wollte, weil ich Angst hatte, weinen zu müssen. Wenn Koichi beschloss, dass ich ihm erzählen sollte, was mich diesen Schritt nach vorn hatte machen lassen, dann musste ich darüber reden, ob ich wollte oder nicht. Nur wusste ich nicht recht, wo ich anfangen sollte. Koichi wusste ja nicht mal, dass meine Mutter tot war, geschweige denn, dass ich mir dafür die Schuld gab. Ich würde alles von Anfang an erzählen müssen und das kostete mich eine gewaltige Überwindung. Ich trank den letzten Schluck, stellte den Becher auf die Mauer neben mir und sagte: „Ich … ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll …“ „Womit hat es denn zu tun?“ Ich atmete einmal tief durch und antwortete: „Mit meiner Mutter.“ Es war so lange her, dass ich zuletzt über sie gesprochen hatte. „Was ist mit ihr?“ „Sie ist tot. Seit zwei Jahren.“ Seltsam, dass es auch nach so einer langen Zeit noch wehtat, das so auszusprechen. „Oh“, kam es von Koichi. „Das tut mir leid. Wie …?“ „Sie war herzkrank. Und dann hatte sie diesen Anfall … Der Arzt konnte nicht mehr viel machen.“ Ich hörte meine eigene Stimme sprechen, versuchte, mich zu erinnern, doch alles, was nach unserem Streit und ihrem Anfall passiert war, war in meinem Kopf nur leere, schwarze Dunkelheit. Ich konnte mich nicht einmal an meine erste Reaktion auf Mamas Tod erinnern. Wahrscheinlich hatte ich geweint, geschrien, vielleicht hatte mich jemand festhalten müssen, doch da waren keine Bilder in meinen Gedanken, keine Erinnerung. „Bist du deshalb auf der Straße gelandet?“, fragte Koichi mit einem vorsichtigen Klang in der Stimme. Ich nickte. „Ich hab … nach ihrem Tod … den Boden unter den Füßen verloren …“ Und dann kamen die Worte ganz einfach heraus: „Weil ich mir die Schuld daran gebe. Ich hab mit ihr gestritten, wegen meinem Implantat und all dem, und das hat den Anfall ausgelöst.“ Mein Herz zitterte und auf einmal waren da doch Tränen, die meine Sicht verschwommen machten und sich in meinen Augen ganz heiß anfühlten. Aber da war auch Koichis Arm um mich, seine liebe Stimme und seine Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. „Shhh, Tsu, alles rausweinen, ist okay …“ Ich wollte nicht weinen. Eigentlich war heute doch ein glücklicher, guter Tag, an dem es nichts zu weinen gab! Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen, schluckte hart, versuchte mit all meiner Kraft, die Tränen zurückzudrängen. „Gestern Abend, da … war sie auf einmal… irgendwie wieder da, … Mama. Sie hat mit mir gesprochen, ich … habe sie ganz deutlich gehört. Ich weiß … das hört sich total verrückt an … aber ich hab sie gespürt, verstehst du?“ Und zu meiner Überraschung nickte Koichi. „Ja, versteh ich. Oder ich glaube zumindest, dass ich es verstehe. Und nein, es hört sich gar nicht verrückt an.“ Er lächelte mich an und fragte dann: „Und? Was hat sie gesagt?“ „Dass sie will, … dass ich glücklich werde.“ „Na, siehst du. Und wie geht’s dir damit?“ Ich fuhr mir wieder über die Augen und blinzelte. „Eigentlich sehr gut. Ich will ja auch weg von der Straße, wieder in eine richtige Wohnung, ein schönes Leben haben. Aber … diese Schuld, ich hab Angst, dass mich das immer wieder einholt.“ „Dass du deswegen am besten irgendwann mal zum Psychologen gehen solltest, ist dir aber klar, oder?“ Ich nickte, obwohl ich nicht recht daran glaubte, dass mir ‚jemand vom Fach‘ da helfen konnte. „Meiner Meinung nach gibt es so was wie Schuld eigentlich gar nicht“, sagte Koichi nach einer Weile. „Dinge passieren nun mal und manchmal fallen furchtbare Umstände zusammen, die schreckliche Dinge auslösen können. Da ist nie einer alleine schuld.“ Seine Worte klangen so tröstend und zuerst schienen sie auch ihre Wirkung auf mich zu haben. Doch dann sah ich es wieder vor mir, wie Mama vor meinen Augen zusammengebrochen war. Hörte in meinem Kopf, was für furchtbare Dinge ich zu ihr gesagt hatte und sah die Überforderung und Traurigkeit in ihren Augen. Ich wusste, nie würde ich das wieder gut machen können. Sie war tot und ich war der festen Überzeugung, mit meinen Worten ihren Herzanfall ausgelöst zu haben. Und da war er wieder, der Gedanke an mein Messer oder irgendeine andere Klinge, an den körperlichen Schmerz, der meine Trauer und Schuld für einen Moment erträglicher machen würde. „Tsuzuku?!“, riss mich Koichi aus meiner schmerzhaften Innenwelt. Obwohl ich ja wach war, fühlte es sich an, als würde ich aus einem Albtraum gerissen. Er sah mir in die Augen, brauchte wieder nur einen kurzen Blick, um zu wissen, was in mir los war. „Weißt du, was wir machen?“, sagte er und stand auf. „Wir gehen jetzt zu dem Tempel hin und ich stell dich denen mal vor. Das kann mir grad echt nicht schnell genug gehen.“ Und da spürte ich zum ersten Mal wirklich, dass ich ihm mit meinen anscheinend offensichtlichen Gedanken an Selbstverletzung Angst machte. Dass er in diesem Moment Angst um mich hatte. Und so erhob ich mich, nahm meine Tasche und ging mit ihm mit, ließ mich durch die halbe Stadt führen. In einer kleinen Altstadtstraße, umgeben von vielen kleinen Häusern, blieb er schließlich an einem unscheinbaren Holztor stehen und klopfte an. Eine Frau im schlichten Kimono öffnete das Tor und fragte: „Ja, bitte?“ Mein Selbstbewusstsein, seit eben sowieso schon ziemlich weit unten, sank gegen null und ich überließ das Sprechen Koichi. Er verbeugte sich kurz, zog dann den Flyer aus der Tasche und hielt ihn der Frau hin. „Wir sind wegen diesem Projekt hier. Ich möchte Tsuzuku gern dafür vorstellen.“ Die Frau sah mich an, mit einem warmen, freundlichen Blick, und fragte: „Sie möchten gern unsere Hilfe annehmen?“ Mein Herz klopfte aufgeregt, als ich nickte und antwortete: „Ja, möchte ich.“ „Wie ist denn Ihr vollständiger Name?“ „Genki Aoba“, sagte ich leise. Mein Name fühlte sich irgendwie seltsam fremd an, als gehörte er gar nicht zu mir. In den fast zwei Jahren, in denen mich jeder nur Tsuzuku genannt hatte, hatte ich meinen echten Namen beinahe vergessen. „Ich bin Asami Sato. Na, dann kommen Sie mal mit“, sagte die Frau und führte Koichi und mich durch einen sehr traditionell wirkenden Garten zu dem alten, einstöckigen Holzgebäude, das sich in dessen Mitte befand. Alles sah genauso aus, wie man sich einen buddhistischen Tempel vorstellte, und ein bisschen wie eine Art Museum. Dass es das nicht war, bekam ich dann im Inneren des Hauses zu sehen, das in einer Mischung aus modernen Möbeln und der alten Architektur eingerichtet war und, obwohl gerade niemand außer Frau Sato hier zu sein schien, sehr belebt wirkte. „Sie sind leider ein paar Tage zu früh dran. Unsere Herbst- und Winterhilfe beginnt erst nächste Woche, aber ich kann Ihnen trotzdem gern schon einmal die Räume zeigen“, sagte Frau Sato, verbeugte sich nochmals und deutete auf ein niedriges Regal, in dem schon einige Paar Schuhe standen. Ich zog meine Stiefel aus, Koichi hatte mit seinen hohen Schuhen ein bisschen zu kämpfen, dann folgten wir Frau Sato, die uns einen langen Gang entlang voran ging. „Hier ist die Küche und dort der Essraum.“ Essen. Ich sah die langen Tische, die Theke, stellte mir vor, wie es sein würde, hier zu sitzen mit all den anderen und mich selbst zum Essen zu zwingen. Allein die Vorstellung verursachte mir Bauchschmerzen und ich konnte Frau Sato einen Moment lang nicht zuhören. „… Im letzten Jahr waren nur sehr wenige Leute hier, aber wir wissen natürlich nicht, wie das diesen Winter sein wird. Es soll sehr kalt werden und wir nehmen Menschen aus der ganzen Präfektur auf.“ „Wie viele Leute kommen denn so auf ein Zimmer?“, fragte Koichi. „Angedacht sind zwei Leute pro Zimmer, aber wenn es eben voller wird, können es auch mal drei oder vier sein“, antwortete Frau Sato. „Es gibt insgesamt siebzehn Schlafräume und bisher war es noch nie so, dass wir keinen Platz mehr hatten.“ Ich versuchte, mir das vorzustellen, in diesem Haus den kommenden Winter zu verbringen. So, wie das alles hier aussah, würde es um einiges ruhiger sein als in der städtischen Unterkunft und vielleicht würde ich hier Hilfen bekommen, die dort wegen der vielen Leute einfach nicht realisierbar waren. Der Gedanke daran fühlte sich irgendwie seltsam an. Gerade in meinem ersten Jahr auf der Straße hatte sich kaum jemand um mich gekümmert und so hatte ich gelernt und mich mental darauf eingestellt, dass ich alles alleine hinbekommen musste. Dann hatte ich Meto getroffen und durch seine Hilfsbereitschaft begonnen, mich auf ihn zu verlassen. Und lange Zeit war niemand außer ihm mir nahe genug gekommen, um mir helfen zu können. Jetzt waren da Haruna, Hanako und Koichi, ich war nicht mehr allein von Meto abhängig. In diesem Moment wurde mir klar, was für eine gewaltige Verantwortung Meto trug, wenn er sich so um mich kümmerte. Besonders in der Zeit, als er der Einzige in meinem Leben und ich in schlimmen, labilen Zuständen gewesen war. Ob das wohl sehr schwer für ihn gewesen war? Hatte ich ihn manchmal vielleicht zu sehr belastet? Und wenn ja, konnte ich das wieder gut machen? „Tsu?“, riss Koichi mich wieder aus meinen Gedanken. „Alles okay?“ Ich blinzelte, nickte, sammelte mich wieder im Hier und Jetzt, oder versuchte es zumindest. Dass mir erst jetzt klar geworden war, wie sehr ich Meto möglicherweise belastet hatte, gab mir sehr zu denken und ich musste mich wirklich anstrengen, um keine Schuldgefühle zu bekommen. „Hier sind die Schlafräume“, sagte Frau Sato und öffnete eine der abschließbaren Schiebetüren. Dahinter erstreckte sich ein Zimmer mit dunklem Holzboden und einem raumhohen Fenster, ich sah zwei Betten, zwei schmale Schränke und einen Tisch. Im Vergleich zur Unterkunft, wo pro Zimmer ganze vier Betten standen, war das hier ein Luxus-Zimmer. „Sie können sich ruhig einmal umsehen. Rechts ist die Tür zum Bad.“ Frau Sato öffnete die Tür ganz und Koichi schob mich ins Zimmer. Das Ganze erinnerte mich entfernt an eine Jugendherberge, in der ich während meiner Schulzeit auf Klassenreise gewesen war. Ich ging zu der Tür, die sich auf der rechten Seite neben dem einen Bett in der Wand befand und öffnete sie. Das Bad dahinter war winzig, Dusche, Toilette, Waschbecken, mehr nicht, aber immerhin war es ein Raum für sich, den ich mir anscheinend auch nur mit meinem Zimmergenossen würde teilen müssen. Ich schloss die Tür wieder und sah Koichi an, der meinen Blick erwartend erwiderte. „Und? Was sagst du?“, fragte er. „Besser als die städtische Unterkunft ist es auf jeden Fall“, antwortete ich und lächelte leicht. „Wie gesagt, das Projekt beginnt nächste Woche“, sagte Frau Sato. „Dann können Sie hier einziehen und den Winter über bleiben. Und dann wäre auch das richtige Aufnahmegespräch.“ Sie lächelte mich an und ich spürte, wie sie mich einschätzte und überlegte, ob ich dieses Gespräch bestehen würde. Hoffentlich merkte sie mir auch an, dass ich das hier, die Hilfe, von der Straße weg zu kommen, wirklich wollte und dass ich meinen ganzen Willen darauf gebündelt hatte, das zu schaffen. Frau Sato zeigte uns noch weitere Räume, unter anderem eine große Gebetshalle, die neben dem Garten das einzige derzeitige Zeichen war, dass es sich hier um einen Tempel handelte. Ich trat der großen Buddha-Statue mit gemischten Gefühlen gegenüber, dachte dabei daran, wie wichtig mir der Nachthimmel mit den unendlich vielen Sternen war, und an früher, als ich, dumm wie ich damals gewesen war, mit knapp zwanzig Jahren eine solche Statue einmal als sinnlosen Stein beschimpft hatte. Diese Statue hier vor mir hatte dieses sanfte, weise Lächeln auf den Lippen und schien mir meine frühere Dummheit zu verzeihen. Ich verbeugte mich kurz und hoffte, dass mir die Götter, Buddha, oder wer auch immer meine alten Fehler verziehen und mir das schöne, entspannte Leben, das ich mir so sehr wünschte, zugestanden. „Na dann“, sagte Frau Sato, als wir wieder am Tor standen, „Wir erwarten Sie nächste Woche. Auf Wiedersehen.“ „Geschafft!“ Koichi strahlte mich an, als wir wieder auf dem Weg zum Park waren. „Ich glaub, du hast einen guten Eindruck hinterlassen.“ „Meinst du?“ Er nickte. „Du bist ein bisschen zurechtgemacht, hast heile Klamotten an, benimmst dich anständig, was will man mehr? Außerdem zeigt es Initiative, wenn man schon vorher ankommt und fragt.“ „Ohne dich hätte ich das aber nicht geschafft, Koichi“, sagte ich, woraufhin er mich wiederum nur angrinste und „Mach ich ja gerne“ antwortete. Bis Mittag saßen wir auf meinem Schlafplatz. Koichi hatte Kekse dabei und ließ es sich nicht nehmen, mich damit zu füttern und mit einem stolzen Lächeln zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die halbe Packung leeraß. Ich hatte plötzlich so einen Hunger, auf Essen, Leben und Glück, dass Koichi mich irgendwann richtig stoppen musste. „Hey, nicht übertreiben, ja? Sonst geht’s am Ende wieder nach hinten los“, sagte er und verstaute die verbliebenen Kekse wieder in seiner Tasche. „Ist ja schön, dass du essen willst, aber lass es langsam angehen.“ Ich nickte. Er hatte Recht, ich durfte nichts überstürzen. Schon spürte ich den altbekannten Druck im Bauch, dieses Gefühl, alles wieder loswerden zu wollen. Nein! Nein, nein und nochmals nein!! Ich wollte das nicht mehr! Nie wieder! Damit sollte Schluss sein, ein für alle Mal! Mit aller Kraft kämpfte ich das in meinem Hals aufsteigende, widerliche Gefühl nieder, drückte die Hand auf meine Brust und schluckte mehrmals hart herunter. „Gut so, kämpfen!“, sagte Koichi neben mir, doch ich nahm ihn kaum wahr. Meine ganze Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, auf den Kampf in mir, das Übel, dessen Wurzel ich deutlich sehen konnte. Und da waren sie wieder, Mamas Worte von einem guten Leben, und dass es ihr da, wo sie war, gut ging. Und Meto, der um jeden Preis wollte, dass ich glücklich wurde. Ich atmete tief ein und aus und streckte meinen Rücken, schluckte noch einmal und spürte, dass ich wieder einen Kampf gewonnen hatte. „Gut gemacht!“ Koichi strahlte mich an. „Du wirst echt immer stärker.“ Als er kurz darauf ging, umarmte ich ihn zum Abschied. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)