Eurydike von Minato_March ================================================================================ Kapitel 5: Ein turbulenter Morgen --------------------------------- Als Yukis Wecker sie am nächsten Morgen unsanft aus dem Schlaf riss, fühlte sie sich wie gerädert. Jeder einzelne Muskel ihres Körpers war total verkatert, als hätte sie die ganze Nacht wie verrückt trainiert. Mühsam stemmte sie sich auf die Ellenbogen, ihre rote Mähne fiel ihr zerwühlt ins Gesicht und über die Schultern. Soviel zu ihrem Pferdeschwanz, dieses Chaos aus Haaren, Gummis und Spangen wieder herzurichten würde dauern. Erneut machte sich ihr Wecker bemerkbar und mit einem resignierten Stöhnen warf sie die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Auf geht’s, dachte sie wenig optimistisch und machte sich daran, ihre im ganzen Raum verstreuten Klamotten zusammen zu suchen. Gerade als sie ihren Rock vom Boden heben wollte, hörte sie erneut das monotone Klopfen ihres Weckers. Moment, klopfen? Seit wann klopften Wecker? Und wo sie schon dabei war: ließ sie sich nicht normalerweise von ihrem Handy aus den Federn klingeln? Sie hockte immer noch mit ausgestreckter Hand verwirrt am Boden, als sie eine schrecklich bekannte Stimme vernahm: „Hier ist Yukari, bist du wach?“ Entgeistert wurde ihr mit einem Schlag klar: das Klopfen, dass sie gehört hatte, kam von der Tür und wurde von niemand geringerem verursacht als dieser schießfreudigen Brünetten! Oh Gott, musste ihr erster Morgen in dieser Stadt wirklich mit ihr anfangen? Sie wollte ungern die Tür öffnen und wieder in den Lauf einer geladenen Pistole sehen, allein die Vorstellung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, Yukari klang erschreckend fröhlich, als hätte sie das Desaster der vergangenen Nacht komplett vergessen. „Mitsuru-Sempai hat mich gebeten dich zur Schule zu bringen. Bist du fertig zum Aufbruch?“ Auweia, in Unterwäsche, einer zerknitterten Bluse und mit verfilzten Haaren am Boden hockend konnte man wohl kaum ausgehfertig nennen! In Windeseile flitzte sie durchs Zimmer und sammelte die restlichen Teile ihrer Uniform ein, durchwühlte ihre Tasche nach frischen Socken und zog sich hektisch an. Wieso musste Yukari sie auch zur Schule begleiten? Konnte sie nicht einfach allein gehen, wenn sie angezogen und geduscht war? Vielleicht reichte es ja, wenn sie Yukari mit dem Zaunpfahl winkte? Während sie T-Shirts und Hosen aus der Tasche warf um an ihre Bürste zu kommen rief sie: „Ich komm schon allein klar.“ „Oh … Bist du sicher …?“, Yukari klang irgendwie enttäuscht und Yuki atmete erleichtert auf. Doch die Brünette machte es ihr nicht einfach: „Aber, du willst doch nicht riskieren an deinem ersten Tag zu spät zu kommen, oder?“ Oh oh, das klang nicht gut. Offensichtlich erkannte Yukari einen subtilen Wink nicht, möglicherweise verstand sie es ja, wenn Yuki es ihr …? „Komm schon, beeil dich und mach hinne!“ Oder auch nicht. Hastig fuhr Yuki sich mit der Bürste durch die Haare und band sie anschließend zu einem Pferdeschwanz zusammen. Die zu kurzen Strähnen steckte mit Klammern über ihrem linken Ohr fest, die Spangen bildeten die römische Ziffer 13, ihre Glückszahl. Mit ihr am Körper fühlte sie sich all dem Neuen zumindest ein bisschen besser gewachsen. Mit einem Mal wurde die Tür geöffnet und Yukari platzte ins Zimmer. Eine Minute früher und sie hätte Yuki unfrisiert und noch halbnackt erwischt, jetzt aber sah sie durchaus vorzeigbar aus. Naja, vom Zähne putzen mal abgesehen. Sie würde wohl oder übel mit Kaugummis vorlieb nehmen müssen, Yukari sah nicht so aus als würde sie die zwei, drei Minuten noch warten wollen. Die Zwei setzten sich in Bewegung und verließen gemeinsam das Wohnheim. Auf ihrem Weg zur Bahnstation plauderte Yukari munter vor sich hin und erzählte Yuki, wo man die schönsten Blumen bekam, wo man am Günstigsten essen konnte und welche Winkel man am Besten mied, wenn man keinen Ärger mit älteren Jugendlichen kassieren wollte. Yuki hörte ihr geduldig zu, nickte gelegentlich und verhielt sich ansonsten ruhig. Sie hatte die Sache von gestern noch nicht richtig verdaut und traute Yukari nach wie vor zu, die Knarre unter ihrem Rock am Schenkel zu verstecken. Es irritierte sie, dass Mitsuru-Sempai offenbar kein Problem darin sah, eine nervöse Brünette des nachts mit einer Pistole durchs Wohnheim laufen zu lassen. Wenn man mal um 23 Uhr auf die Toilette musste, wie hoch war da die Wahrscheinlichkeit, dass Yukari einen versehentlich erschoss, wenn sie einen am Gang traf? Mittlerweile hatten die beiden die Station erreicht und betraten mit vielen anderen Gekkoukan Schülern den Bahnsteig. Unwillkürlich huschte Yukis Blick dabei auf die große Uhr über ihren Köpfen. Bei Tageslicht kamen ihr die Ereignisse der gestrigen Nacht noch unwirklicher vor. Es waren kaum fünf Minuten vergangen als der Zug auch schon eintraf. Hätte Yukari Yuki nicht geweckt, wäre sie wirklich zu spät gekommen und hätte ihn versäumt. Gemeinsam mit den anderen stiegen sie ein und suchten sich einen Stehplatz nahe der Tür. Als der Zug wieder Fahrt aufnahm, bemerkte Yuki aus dem Augenwinkel, wie einige Mädchen sie mit großen Augen musterten und hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Auch einige der Jungs warfen ihr neugierige Blicke zu. Sie tat, als würde sie es nicht bemerken und drehte ihnen wie zufällig den Rücken zu, den Oberkörper dem Fenster zugewandt, den Blick auf ihre Schuhe gerichtet. Yukari schien ziemlich beliebt zu sein, nicht wenig Schüler beobachteten sie mit unverhohlenem Interesse, allen voran die männlichen. Toll, damit war auch Yuki automatisch die doppelte Aufmerksamkeit sicher, als die „neue Freundin“ der Brünetten. Yukari riss sie einmal mehr aus ihren Gedanken: „Wir müssen die Bahn nehmen um zur Schule zu kommen. Wette deine letzte Schule war nicht so, huh?“ Ihre letzte Schule … Noch konnte Yuki nicht sagen, ob Gekkoukan so viel anders werden würde, das würde der heutige Tag erst zeigen. Sie konnte nur hoffen, dass es hier anders lief als damals in der Mittelschule. Die Erinnerung daran verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend. „Das ist meine Lieblingsstelle“, fuhr Yukari heiter fort ,„wenn es sich anfühlt als würdest du über das Meer gleiten.“ Yuki sah nun ebenfalls aus dem Fenster, und sie musste zugeben: Yukari hatte Recht. Der Zug war in eine Kurve gelangt und fuhr nun mehrere Meter über dem Ozean dahin, rechts und links von ihnen war nichts außer türkisblauem Wasser. Es war wirklich ein schöner Anblick, und Yukis Laune hellte sich tatsächlich ein bisschen auf. „Unsere Station ist Port Island Station am Ende der Strecke. Von dort gehen wir zu Fuß weiter“, sagte Yukari gerade. Sie richtete den Blick wieder auf Yuki als sie fortfuhr: „Hast du je von Tatsumi Port Island gehört?“ Yuki schüttelte den Kopf. „Es ist eine von Menschenhand geschaffene Insel. Sie haben unsere Schule genau in die Mitte gebaut. Oh, schau, du kannst sie jetzt sehen!“ Aufgeregt zeigte Yukari aus dem Fenster und Yuki sah sofort das mächtige Gebäude, das einen Großteil der Insel einnahm. Für eine gewöhnliche Schule war sie ganz schön beeindruckend, ein riesiger rechteckiger Klotz, sehr modern und in weiß gehalten. Der Zug wurde langsamer und hielt schließlich in Tatsumi Port Island an. Yukari stieg aus und Yuki folgte ihr auf dem Fuße, ausgelassenes Lachen und Geplauder erfüllten die Luft um sie herum, hie und da wurde Yukari von einigen Mitschülerinnen gegrüßt. Yuki konzentrierte sich ganz auf ihre Füße, hoffte, dass sie nicht zu viel Aufmerksamkeit erregte und hielt den Mund geschlossen. „Tja, hier wären wir …“ Yuki hob den Kopf als sie Yukaris Stimme hörte. „Willkommen in Gekkoukan High School!“, verkündete sie gerade feierlich ,„Du wirst es hier lieben!“ Zweifelnd schaute Yuki nach vorne und sah zum ersten Mal ihre neue Schule aus der Nähe. Der gesamte Campus war eingezäunt und blühende Kirschbäume säumten den breiten Eingangsbereich. Direkt vor ihnen erhob sich, höher als der Rest, der Mittelteil, ein gewaltiger Quader der nur aus Fenstern zu bestehen schien, mehrere breite Stufen führten zu drei Eingängen. Rechts und links erstreckte sich der dreistöckige rechteckige Körper des Gebäudes, alles wirkte durch die vielen Fenster freundlich und offen. Yukis Herz begann schneller zu schlagen. Jetzt war es so weit, dieser Tag hatte sie in den letzten Wochen einiges an Schlaf gekostet. Aufregung und Nervosität machten sich in ihr breit und ihr Mund wurde trocken. Zögernd folgte sie Yukari die Stufen hinauf und betrat das Gebäude. Am Liebsten hätte sie einfach umgedreht oder sich im Mädchenklo versteckt. Sie mochte es generell nicht, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, aber als „die Neue“ war sie mit Sicherheit spätestens am Ende der ersten Pause DAS Gesprächsthema der Schule. Schlimmer noch, sie würde die komische Fremde mit den roten Augen sein, das Mädchen, das mittendrin noch gewechselt hatte und in einen Haufen von Cliquen und besten Freunden platzte. In der 11. Klasse kannten sich schließlich schon alle, da war für einen Neuankömmling einfach kein Platz mehr. Ihr wurde übel wenn sie an all die fremden Gesichter dachte. Oh Gott, worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Yukari war zwischen mehreren Reihen von Schließfächern stehen geblieben, die direkt nach dem Eingang platziert waren. Sie drehte sich zu Yuki um und fragte: „Du bist okay von hier an, nicht?“ Bei diesen Worten starrte Yuki sie entsetzt an. Wollte Yukari sich jetzt etwa verdrücken? Bevor sie irgendetwas erwidern konnte setzte Yukari hinzu: „Du solltest zuerst zu deinem Klassenvorstand gehen. Das Lehrerzimmer ist gleich hier links. Und das schließt unsere Tour! Hast du noch irgendwelche Fragen bevor ich gehe?“ Ja, und nicht nur eine! Yuki glotzte sie immer noch aus großen Augen an, sie konnte doch nicht einfach abhauen und sie hier allein lassen! Glaubte Yukari etwa, die Beschreibung „hier gleich links“ war ausreichend für Jemanden, der vollkommen neu an dieser Schule war? Sie versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen und fragte stattdessen mit krächzender Stimme: „Wo ist denn meine Klasse?“ Yukari sah sie mit hochgezogener Augenbraue an: „Ich denke sie haben die Klassenaufteilung ans schwarze Brett gehängt, aber ich hab selber noch nicht nachgesehen. Hey“, ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an, „Wegen letzter Nacht … Sag niemandem was du gesehen hast, okay?“ Wie bitte? Als ob Yuki verrückt genug wäre, an ihrem ersten Tag mit einer Story wie dieser um die Ecke zu kommen! Sie hatte nicht vor, ein potentiell stattfindendes Gespräch mit einem ihrer Mitschüler mit den Worten „Yukari trägt ne Pistole unterm Rock“ zu beginnen. Mal ehrlich, sie musste ihnen nicht auch noch einen derart simplen Grund geben, sie für vollkommen irre zu halten, ihre Augenfarbe und ihr Charakter würden das schon früh genug selbst erledigen. Yukari grinste sie nun wieder breit an, rief noch ein „Man sieht sich später“ und spazierte dann schnellen Schrittes davon. Großartig, sie hatte keine Zeit, Yuki zu erklären, wo ihre Klasse war, aber eine Drohung brachte sie schon noch über die Lippen. Mit einem Mal fühlte Yuki sich total verloren und einsam unter all den fremden Menschen. Sie seufzte schwer. Es half ja doch nichts, wenn sie hier stehen blieb und Yukari Vorwürfe machte, es würde sie wohl keiner an der Hand nehmen und herum führen, schließlich war sie keine vier Jahre alt mehr. Also straffte sie den Rücken, reckte das Kinn in die Höhe und machte sich auf den Weg zum schwarzen Brett. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)