Gnade vor Recht von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Gnade vor Recht -------------------------- „Hätten wir nicht ein Iglu bauen können?“, fragte Gai plötzlich. „Das hätte Stil gehabt. Und ich wollte schon immer mal ein Iglu bauen!“ „Gai“, sagte Kakashi bemüht freundlich. „Wir haben uns bei einer A-Mission verlaufen und sind in einen Schneesturm geraten, sodass unser Auftrag wortwörtlich auf Eis liegt. Wir haben Glück im Unglück gehabt, dass Tenzou uns mal eben eine Blockhütte aus dem Boden stampfen konnte. Und deine einzige Sorge ist, dass du lieber ein Iglu gehabt hättest?“ „Ich habe noch nie eines gebaut!“, protestierte Gai. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Kakashi seufzte und ging nicht weiter darauf ein. Tenzou, der im Feuer stocherte, sah unschlüssig zwischen den beiden hin und her. „Ein Iglu ist aus Schnee, Gai. Das übersteigt leider meine Fähigkeiten.“ „Ich bin mit der Blockhütte vollauf zufrieden, Tenzou“, sagte Kakashi beruhigend. „Ignoriere Gai einfach.“ Beleidigt verschränkte Gai die Arme vor der Brust und sah sich in der Hütte um. Sie bestand nur aus einem Raum, etwa drei mal drei Schritte im Grundriss, ohne Fenster und mit einer fest verschließbaren Tür. Das einzige Licht kam von der kleinen Feuerstelle, um die sie sich versammelt hatten. Schatten kauerten in den Ecken des Raumes und zwischen den groben Stämmen, aus denen die Wände bestanden. „Ich wollte nicht undankbar klingen, Tenzou. Das mit dem Iglu ist nur so ein Kindheitstraum von mir.“ „Ach so“, sagte Tenzou. „Ich hatte keine Kindheit.“ Verstört sah Gai ihn an. „Na ja ... es ist nie zu spät, eine zu haben! Und es sind die kleinen Dinge, die das Leben lebenswert machen!“ Kakashi hob die eine sichtbare Augenbraue. „Gai, mitten in einem Schneesturm ein ganzes Iglu zu bauen, ist kein kleines Ding.“ „Woher weißt du das? Hast du es schon ausprobiert?“ „Selbstverständlich. Ich bin Konohas unangefochtener Meister im Iglu-Bauen, wusstest du das nicht?“ „Nein! Lass uns demnächst mal ein Duell austragen und sehen, wer ...“ „Das war ein Scherz, Gai.“ „Oh. Schade.“ Tenzou wirkte verwirrt, und Kakashi winkte ab. „Ignoriere uns einfach beide, Tenzou.“ * Der Winter hatte nicht einfach Einzug in Konoha gehalten – er war plündernd und mordend dort eingefallen, ohne Rücksicht auf Verluste. Der hohe Schnee hatte das öffentliche Leben lahm gelegt, aber Iruka konnte sich glücklich schätzen, dass seine Heizung funktionierte und er ausreichend mit Lebensmitteln eingedeckt war. Morgen war Weihnachten, und unter normalen Umständen hätte er Naruto zu sich eingeladen – die letzten zwei Jahre mit ihm waren erstaunlich gemütlich gewesen. Dieses Jahr aber befand sich der Junge mit Jiraiya auf einer längeren Trainingsreise, und deshalb war Iruka mehr als verblüfft, als es an seiner Tür klopfte. Mit einem mulmigen Gefühl ging er hin, um zu öffnen. Es war eiskalt, der Schnee lag kniehoch, und obwohl es erst fünf Uhr am Nachmittag war, sah man draußen kaum noch die Hand vor Augen. Wenn jemand Iruka unter diesen Umständen aufsuchte, konnte es nur ein absoluter Notfall sein. Als er öffnete, sah er im ersten Moment nur den verschneiten Garten und denn dämmrigen Himmel, aus dem ununterbrochen Schneeflocken quollen. Dann entdeckte er die Schleifspur, die sich vom Gartentor aus zu seiner Tür zog, und schnappte nach Luft. Gleich vor der Schwelle lag etwas. Jemand. Es war ein Mann, unschwer an den breiten Schultern und den groben Händen zu erkennen, das Gesicht von einem Schopf weißgrauer Haare verdeckt, in denen Schneeflocken hingen. „Um Himmels Willen! Hallo? Können Sie mich verstehen?“ Iruka ging in die Hocke und griff nach der Schulter des Mannes, der langsam den Kopf aus dem Schnee hob. Sein Gesicht war blass und ausgemergelt, die Lippen aufgesprungen, die hellen Augen sahen ins Leere. Iruka kannte dieses Gesicht, aber er hatte es nie in einem solchen Zustand gesehen. „Mizuki?“ Mühsam fixierten Mizukis Augen ihn, und kurz flackerte Erkenntnis darin auf. Er sagte nichts. „Was zum Teufel machst du hier?“, fragte Iruka, obwohl die Frage sich erübrigte angesichts von Mizukis grauer Sträflingskleidung und der Tatsache, dass er immer noch im Gefängnis sitzen sollte. Er wusste nicht, ob er lachen oder in Panik geraten sollte. Mizuki runzelte die Stirn und öffnete den Mund, brachte aber zuerst nur ein Husten heraus, das seinen ganzen Körper schüttelte. Als er doch sprach, ballten seine Hände sich vor Anstrengung zu zitternden Fäusten. „Ich versuche, dich umzubringen. Wonach sieht's denn aus?“ Kurz entschlossen verwarf Iruka die Option, in Panik zu geraten. Er lachte auf und griff nach Mizukis Arm. „Ich bringe dich nach drinnen. Du holst dir ja den Tod.“ * Er wusste nicht, woher er kam oder wohin er ging. Im Schneesturm sah alles gleich aus. Er könnte sich umdrehen und in die entgegengesetzte Richtung laufen, und nichts würde sich ändern. Seine Welt war ein Kreis von zwei Schritten Durchmesser. Außerhalb des Kreises verschwamm alles in der ziellosen Wut des Winters. Wenn er doch die Sterne hätte sehen können, dachte er und legte den Kopf in den Nacken. Aber der Himmel war grau. * Tenzou zog die stabile Holztür auf, und der eisige Wind begrüßte ihn stürmisch, indem er ihm Schneeflocken ins Gesicht trieb. Die Kälte raubte ihm den Atem und ließ seine Augen tränen. Blinzelnd versuchte er, durch das graue Schneetreiben wenigstens die nahen Bäume zu erkennen, aber es war hoffnungslos. Mühsam drückte er die Tür wieder zu und atmete auf, als das Heulen des Windes verstummte. Er schüttelte sich Schnee aus Haaren und Kragen und gesellte sich fröstelnd wieder zu seinen Kameraden am Feuer. „Der Sturm nimmt kein Ende.“ „Ich hatte auch nicht so schnell damit gerechnet“, erwiderte Kakashi. „Es wird dauern, bis wir die Mission wieder aufnehmen können.“ Er bemerkte die Unzufriedenheit auf Tenzous Gesicht und zuckte die Achseln. „Wir können nichts daran ändern. Gegen Naturgewalten sind selbst Shinobi machtlos.“ „Bei jeder anderen Mission würde ich es gelassen nehmen“, erwiderte Tenzou. „Aber bei dieser drängt die Zeit. Konoha setzt ja nicht umsonst drei Jounin darauf an, einen einzelnen Sträfling wieder einzufangen.“ „Manchmal kommt eben alles zusammen“, sagte Gai nachdenklich. „Dass Kälte und Schnee die meisten Fallen und Alarmvorrichtungen des Gefängnisses lahmgelegt haben und gleichzeitig der Wassergraben zugefroren ist, dürfte in der Geschichte Konohas auch noch nicht vorgekommen sein. Eigentlich ist es ein Wunder, dass trotz allem nur ein Häftling geflohen ist.“ „Geflohen sind jede Menge, soweit ich weiß“, bemerkte Kakashi. „Aber die meisten werden in dieser Kälte nicht weit kommen, und wenn doch, schadet es auch nicht, wenn wir sie erst im Frühjahr wieder einfangen. Nur mit diesem einen, den wir aufspüren sollen, ist es etwas dringender. Er hat schon früher Anstalten gemacht, zu Suna überzulaufen, und angeblich hat er Interna. Konoha muss ihn dringend wieder einfangen, bevor er die Grenze überquert.“ „Als Missionsbeschreibung kling das einfach.“ Tenzou stupste einige verkohlte Holzstücke zurück ins Feuer. „Wie aus dem Lehrbuch. Schade, dass die meisten Missionen sich weigern, wie im Lehrbuch zu verlaufen.“ „Ja.“ Gai warf Kakashi einen schiefen Blick zu. „Ständig diese Zwischenfälle. Zum Beispiel der, dass wir uns schon vor dem Sturm hoffnungslos verlaufen hatten.“ „Ich bin mir keiner Schuld bewusst“, erwiderte Kakashi arglos. „Euch beiden hätte ja auch auffallen können, dass wir in die falsche Richtung unterwegs waren.“ „Aber du bist der Anführer!“ „Dass mein Orientierungssinn nicht der Beste ist, solltest du doch wissen, Gai.“ „Dein Orientierungssinn ist ganz hervorragend. Du bestreitest es nur, damit du behaupten kannst, du hättest dich verlaufen, wenn du das nächste Mal zu spät kommst.“ „Na schön, du hast mich erwischt.“ „Das war gelogen, Kakashi-senpai?“, fragte Tenzou mit großen Augen. „Auch das eine Mal, als ich zwei Stunden am Tor von Kusagakure auf dich gewartet habe? Ein Vogelpärchen hatte schon sein Nest auf mir gebaut!“ „Ich habe dir immer gesagt, du wirkst zu Baum-artig, wenn du wartest. Du solltest nicht so unbeweglich da stehen und es vermeiden, unkontrolliert Äste aus deinem Rücken wachsen zu lassen.“ „Ich müsste nicht so viel stehen und warten, wenn du etwas pünktlicher wärst!“ „Leute!“, sagte Gai, der die Diskussion zuerst amüsiert, dann zunehmend besorgt verfolgt hatte. „Jetzt streitet euch doch nicht. Es ist Weihnachten!“ „Was?“, fragte Kakashi. Bestürzt sah Gai ihn an. „Weihnachten? Du weißt schon, dieses Fest, wo man einen Tannenbaum mit Kugeln schmückt und ...“ „Ich weiß, was Weihnachten ist, Gai. Mir war nur nicht klar, dass es schon wieder so weit ist.“ „Wir haben den dreiundzwanzigsten Dezember.“ Gai seufzte tief. „Aber wie es aussieht, werden wir es durch all die Zwischenfälle nicht schaffen, zum Fest in Konoha zu sein.“ „Nun, die Gefahr bestand von Anfang an. A-Missionen dauern oft recht lang, selbst, wenn sie nach Plan laufen.“ Gai nickte ernst und musterte Kakashi und Tenzou. „Bestimmt hat Tsunade mit Absicht euch beide auf diese Mission geschickt, weil ihr forever alone seid und euch selbst an Weihnachten niemand vermisst.“ Tenzou blinzelte, als käme ihm der Gedanke zum ersten Mal. „Und warum bist du hier, Gai?“, fragte Kakashi liebenswürdig. Gai grinste und schlang ihm kumpelhaft den Arm um die Schultern. „Ich konnte doch meinen alten Rivalen nicht hängen lassen!“ „Jetzt im Ernst.“ Das Grinsen auf Gais Gesicht verblasste und er ließ den Arm sinken. „Na ja ... um ehrlich zu sein ... ich hätte diesmal ausnahmsweise auch niemanden gehabt, der mit mir hätte feiern wollen. Lee ist auf einer Trainingsreise ...“ „Ohne dich?“ „Ja! Der Junge wollte es so. Er wird langsam erwachsen.“ Gai wischte sich ein Tränchen aus dem Auge. „Und Neji feiert mit seiner Familie.“ „Vielleicht hätten sie dich auch eingeladen, wenn du nett gefragt hättest“, sagte Tenzou. Gai sah ihn schief an. „Die Hyuugas? Erstens bleiben die lieber unter sich, und zweitens – hast du eine Ahnung, wie eine Weihnachtsfeier bei denen aussieht? Sie hocken alle aufeinander und spielen funktionierende Familie, aber hinter der Fassade bricht jedes Mal fast Krieg aus. Wenn Neji dieses Jahr übersteht, ohne ein Messer in den Rücken gestoßen zu bekommen oder die Dekoration anzuzünden, bin ich froh.“ Tenzou wurde blass. „Das wusste ich nicht.“ Gai nickte weise. „Familien können Fluch oder Segen sein, besonders an Weihnachten. Merk dir das.“ „Ich hatte nie eine Familie.“ „Was vermutlich immer noch besser ist, als ein Hyuuga zu sein.“ „Was ist mit Tenten?“, fragte Kakashi. Gai blinzelte verwirrt. „Wer ist Tenten?“ „Vergiss es.“ „Aber in Konoha hätte ich wenigstens zur Shinobi-Weihnachtsfeier gehen können“, fuhr Gai bedauernd fort. „Nicht einmal das werde ich schaffen.“ „Shinobi-Weihnachtsfeier?“, fragte Tenzou. „Da war ich noch nie.“ „Du hast nichts verpasst.“ Kakashi schüttelte den Kopf. „Da war ich nicht mehr, seitdem ich leicht angeduselt mit Genma und Asuma Karaoke gesungen habe, dabei vom Tisch gefallen bin und mir einen Schneidezahn ausgeschlagen habe.“ Fassungslos sah Gai ihn an. „Da warst du fünfzehn!“ „Ja.“ „Und seitdem warst du nicht mehr da? Das ist nicht dein Ernst! Komm, diese Feier ist normalerweise echt lustig. Du kannst auch mitkommen, Tenzou!“ „Wenn ich eingeladen bin“, sagte Tenzou etwas überfordert. „Klar!“, sagte Gai enthusiastisch und griff nach Kakashis Arm. „Alle sind eingeladen! Gehen wir!“ „Nicht dieses Jahr, Gai“, erinnerte Kakashi ihn. Das Strahlen auf Gais Gesicht verblasste, als sein Blick auf die massiven Holzwände der Hütte fiel. „Oh. Stimmt.“ Sie versanken wieder in Schweigen. * Im Nachhinein wusste Iruka nicht mehr, wie er Mizuki aus seinen vom Schnee durchnässten Kleidern heraus und in die Badewanne hinein befördert hatte. Er wusste nur, dass Mizuki nach einer Stunde im warmen Wasser immer noch zitterte vor Kälte. Das Einzige, was aufgetaut zu sein schien, war seine Zunge. „Mir ist kalt.“ „Entkräftung und Übermüdung“, urteilte Iruka. „Womöglich Fieber. Du gehörst ins Bett, dann wird dir sicher warm.“ „Will nicht.“ „Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen.“ „Und wenn nicht?“ „Dann legst du dich mit dem Falschen an. Ich bin Akademielehrer, und wenn ich eins kann, dann trotzigen Kindern meinen Willen aufzwingen. Also komm aus der Wanne raus.“ Mizuki verengte die Augen. „Dreh dich um.“ „Sicher, dass du allein klarkommst?“ „Wenn du nicht wegguckst, bleibe ich hier drinnen. Du bist nicht der Einzige, der trotzigen Kindern seinen Willen aufzwingen kann.“ Seufzend legte Iruka das Handtuch über den Rand der Wanne, stand von den Fliesen auf und ging zur Tür. „Ich hole ein paar von meinen Kleidern, die dürften dir passen. Wenn irgendetwas ist, schrei einfach.“ Mizuki antwortete nicht, und Iruka verließ das Badezimmer. Er rechnete nicht ernsthaft damit, dass Mizuki um Hilfe rufen würde, aber dass er sich allein auf den Beinen halten konnte, war fast ebenso zweifelhaft. Auf dem Flur war es kühl. Er fröstelte und beeilte sich, in seinem Zimmer ein paar Kleider auszusuchen, darunter zwei Pullover. Als er ins Badezimmer zurückkehrte, stutze er. „Was machst du jetzt schon wieder?“ Mizuki hatte sich in das Handtuch eingewickelt und eine Spur aus Wassertropfen auf dem Boden hinterlassen. Er stand am Waschbecken und hatte den Spiegelschrank darüber geöffnet. Als er Iruka hörte, drehte er sich langsam um. „Irgendwas suchen, womit ich dich umbringen kann.“ Seine Stimme klang lustlos, und Iruka wusste beim besten Willen nicht, was er von dieser Aussagen halten sollte. „Aha. Was gefunden?“ Mizuki schüttelte den Kopf. „Hab überlegt, ob man die Nagelfeile wie ein Kunai werfen kann.“ „Und?“ „Geht nicht. Mies ausbalanciert. Keine gerade Flugbahn.“ „Ich werde sie bei Gelegenheit reklamieren.“ Iruka kam näher und hielt ihm die Kleider hin. „Und jetzt hör auf mit dem Unsinn und zieh dich an.“ Verärgert runzelte Mizuki die Stirn. „Du nimmst mich überhaupt nicht ernst! Ich bin hier, um dich umzubringen!“ „Mizuki, du kannst dich mit Mühe auf den Beinen halten. Verzeih mir, wenn ich deine Morddrohungen nicht allzu ernst nehme.“ „Seit wann bist du so herzlos, Iruka? Du hattest noch nicht einmal den Anstand, mich im Schnee verrecken zu lassen, damit ich dich ein bisschen hassen kann.“ Iruka verdrehte die Augen. „So dankst du mir also meine Hilfe, ja?“ „Ist ja nicht so, als hätte ich je darum gebeten.“ „Du musst der abstoßendste Mensch sein, der mir jemals begegnet ist.“ „Na, auf irgendwas muss man ja stolz sein.“ „Zieh dich endlich an. Du tropfst.“ „Und wenn nicht?“ „Dann gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch.“ Mizukis Lippen zuckten, und offenbar gegen seinen Willen musste er lächeln. „Immer noch an der Akademie, Iruka?“ „Sicher.“ „Hast du dir mal wieder von deinen Zweitklässlern einreden lassen, auf deiner Thunfischpizza wäre Delfinfleisch?“ „Das war nicht halb so peinlich wie das eine Mal, als du deinen Erstklässlern erklärt hast, die kleinen Hokages würden aus dem Hokagefelsen schlüpfen. Es hat fast eine Woche gedauert, bis du alle erbosten Eltern beruhigt hattest.“ „Touché.“ Iruka wedelte mit den Pullovern. „Und weil ich diesen Kampf eindeutig gewonnen habe, ziehst du dich jetzt an.“ „Ja ja, Iruka-sensei.“ „Sofort, Mizuki-sensei.“ „So hat mich schon ewig niemand mehr genannt!“ „Keine Ursache. Wird's bald?“ Widerwillig nahm Mizuki die Kleider entgegen. „Dreh dich um.“ „Geht das schon wieder los?“ „Ja.“ „Hast du die Nagelfeile noch in der Hand?“, fragte Iruka skeptisch. „Nein. Geh doch auf Sicherheitsabstand, wenn du Angst hast, ich ersteche dich von hinten.“ „Wer weiß, ob man das Ding nicht doch besser werfen kann, als du behauptest“, sagte Iruka, wandte sich aber ab und ging zur Badewanne. Während er das Wasser abließ, kam ihm plötzlich ein Gedanke. „Sag mal, Mizuki. Glaubst du, sie suchen dich schon?“ Mizuki gab ein Grunzen von sich. „Mich? Als ob Konoha gut bezahlte Shinobi für die Verfolgung eines Ex-Chuunin und Ex-Akademielehrers verschwenden würde. Das ist ja fast so abwegig, wie ... dass du deinen Zweitklässlern das kleine Einmaleins anständig beibringst.“ „Verzeihung? Ich erinnere an deine Drittklässler, die dachten, das Symbol von Kusagakure wäre ein Joint.“ „Ah, herrliche Zeiten.“ Mizuki lachte leise. „Jedenfalls – wenn Konoha ernsthaft Shinobi auf meine Verfolgung angesetzt hat, kann ich die armen Schweine nur bemitleiden.“ * Gai nieste herzhaft und verzog das Gesicht. „Ich bekomme eine Erkältung! Zu Hilfe!“ „Soll ich mehr Holz ins Feuer werfen?“, fragte Tenzou besorgt. „Verheiz lieber nicht alles auf einmal“, sagte Kakashi. „Wer weiß, wie lange wir hier ausharren müssen.“ „Kakashi-senpai, wenn eins nicht unser Problem ist, dann der Nachschub an Holz.“ „Ich leide!“, jammerte Gai. „Meine Jugend rinnt mir durch die Finger!“ „Na schön, dann fache das Feuer weiter an, Tenzou.“ Kakashi seufzte. „Diese Kälte ist wirklich kaum auszuhalten. Falls unser Zielobjekt nicht schon lange irgendwo Unterschlupf gefunden hat, werden wir nur noch seine Leiche bergen können.“ Gai nieste erneut. „Geschieht ihm recht, wenn er uns Weihnachten ruiniert.“ Verblüfft sah Kakashi ihn an. „Warum ruiniert? Ich feiere Weihnachten normalerweise allein vor dem Fernseher. Mit euch beiden in trauter Runde um ein Feuer zu sitzen, ist dagegen durchaus eine Verbesserung.“ „So hatte ich das noch gar nicht betrachtet, Kakashi-senpai“, sagte Tenzou, dessen Augen zu leuchten begannen. „Natürlich gibt es keine Geschenke“, fuhr Kakashi fort und sah sich in der schlichten Holzhütte um. „Und Dekoration schon gar nicht. Wenigstens ein bisschen Tannengrün wäre nett ... Du könntest uns nicht zufällig einen Tannenbaum wachsen lassen, Tenzou? Ganz spontan?“ Betreten sah Tenzou von dem Holzscheit auf, den er eben ins Feuer schob. „Ich habe mich heute schon ziemlich verausgabt, Kakashi-senpai.“ „Dann stellen wir Gai in die Ecke“, entschied Kakashi. „Der ist wenigstens grün.“ „Aber ich habe keine Kugeln!“, protestierte Gai. „Und keine Kerzen!“ „Kannst du nicht das Feuer der ewigen Jugend brennen lassen oder so?“ Gai wurde nachdenklich. „Nun ... das könnte ich ausprobieren.“ „Das war ein Scherz, Gai.“ „Ich kann ein Gedicht aufsagen“, bot Tenzou hilfsbereit an. „Hervorragend“, sagte Kakashi lapidar. „Und ich begleite dich musikalisch. Hat jemand eine Blockflöte dabei?“ * Der Winter wollte ihn töten. Er wusste, dass er bei einer Niederlage keine Gnade zu erwarten hatte, also kämpfte er. Er musste einen Unterschlupf finden, irgendeine Scheune oder Erdhöhle. Vielleicht sogar bewohntes Gebiet. Bald war Weihnachten. Sicher saßen überall Familien zusammen, im Warmen, sangen und lachten und hatten sich gern. Er hatte schon lange keinen Gesang mehr gehört, kein Lachen. Und die Sterne hatte er auch schon lange nicht mehr gesehen. Der Wind heulte um seine schmerzenden Ohren, seine Zähne schlugen aufeinander. Ein letztes Mal die Sterne sehen, dachte er. Das wäre schön. * Mizuki hatte sich ins Bett befördern und mit Tee versorgen lassen, und jetzt schwiegen sie einander an. Es war ein drückendes Schweigen. Etwas hatte sich verändert, auch wenn Iruka nicht wusste, was. Er saß am Fußende des Bettes und musterte Mizuki, der den Kopf gesenkt hatte, sodass die weißgrauen Zotteln ihm ins Gesicht fielen. Sein Körper war mager unter den zwei Pullovern, zusammengekrümmt um die Tasse Tee, die er in beiden Händen hielt. Seine Arme waren so dürr, dass die Hände zu groß wirkten, die Finger grob und kantig. Iruka sah die unzähligen feinen Narben an Mizukis Fingern, die ein Shinobi, der regelmäßig mit Shuriken arbeitete, sich unweigerlich zuzog. Aber da waren andere Narben, halb verdeckt von den Ärmeln, an den Handgelenken und weiter darüber. Tiefe, hässliche Narben, die früher nicht da gewesen waren. Iruka wollte nicht fragen. Ertappt wandte er sich ab, als Mizuki den Kopf hob und ihn ansah. Er wollte nicht fragen. „Ich ... bin nebenan im Wohnzimmer. Wenn du irgendetwas brauchst, schrei einfach.“ Er sagte es, aber er konnte nicht aufstehen und gehen. Es war so still, dass er Mizukis mühsame Atemzüge hören konnte. Hoffentlich holte er sich keine Lungenentzündung. „Weißt du, was mich die ganze Zeit am Leben gehalten hat, Iruka?“ Iruka antwortete nicht. „Hass. Auf alles und jeden, aber ganz besonders auf dich. Und jetzt kommst du guter Mensch und weigerst dich, mir einen Grund zu geben, dich zu hassen.“ Langsam hob Iruka den Kopf und begegnete Mizukis Blick. Er wünschte, er hätte Angst haben können, aber er konnte nicht. „Ich wollte dich vergessen, Mizuki. Ich wollte glauben, dass du bekommen hast, was du verdienst, und nicht nachdenken. Niemals.“ Ein Lächeln zog über Mizukis Gesicht, nicht das aus Fleisch gewordener Arglosigkeit, dessen Falschheit Iruka so lange nicht durchschaut hatte, und auch nicht sein Zähne bleckendes Grinsen aus Mordlust. Es war ein bitteres, ironisches Lächeln. „Schöne Scheiße, Iruka. Und da sind wir nun.“ Iruka verzog das Gesicht. „Sind du und ich plötzlich wieder so dicke Freunde, dass du wir sagst? Das ging mir jetzt zu schnell.“ „Wir ist erste Person Plural. Ich kannte Erstklässler, die ...“ „Halt die Klappe.“ Es klang, als würde Mizuki lachen, aber tatsächlich war es ein Husten. Er beruhigte sich nur mühsam. „Iruka. Eins noch.“ Irritiert runzelte Iruka die Stirn. Mizuki klang beinahe, als wollte er um etwas bitten. „Ja?“ „Sag nicht Schrei einfach.“ Sie sahen einander an, und Iruka wusste, dass Mizuki nicht mehr zu dem Thema sagen würde. Er holte tief Luft und klopfte die Bettdecke auf, weil er nicht wusste, wohin mit seinen Händen. „Alles klar.“ Mizuki nickte und nahm einen Schluck Tee. Die Sache war erledigt. Iruka würde nicht nachfragen. Er gab sich einen Ruck und stand endlich auf. „Du solltest schlafen.“ „Wie spät ist es?“ „Gegen halb sieben wahrscheinlich. Warum?“ „Da ist ja gerade mal das Sandmännchen durch, und du schickst mich schlafen?“ „Du bist krank, das ist eine Ausnahme. Ich kenne Erstklässler, die ...“ „Ja ja, Iruka-sensei“, seufzte Mizuki. „Gute Nacht.“ „Ich bin gleich nebenan. Wenn irgendetwas ist ...“ Er sparte sich das Schrei einfach. Einen Moment glaubte er, Dankbarkeit in Mizukis Blick zu sehen, aber er musste sich getäuscht haben. Es ging hier immer noch um Mizuki. * Bevor er wusste, wie ihm geschah, fiel er der Länge nach hin. Sein Mund öffnete sich, aber der Sturm verschluckte seinen Schrei. Der Geschmack von Schnee und Erde legte sich auf seine Zunge. Es war vorbei. Der Kampf war erbittert gewesen, und der Winter hatte gesiegt. Er würde die Augen schließen und den Tod begrüßen. Seine Beine waren taub vor Kälte und Erschöpfung, die Tränen froren in seinen Wimpern fest. Sein Kopf war so schwer. Ein letztes Mal die Sterne sehen, dachte er. Ein letztes Mal die Sterne. Mühsam öffnete er die Augen und sah direkt vor sich eine Tür. * „Wie sieht er eigentlich aus, unser Flüchtling?“, fragte Gai. „Jounin, 34 Jahre alt“, dozierte Kakashi. „Groß, schwarze Haare, auffällige Narbe unter dem linken Auge.“ „Den müssten wir erkennen.“ „Wenn er noch lebt, ja. Aber falls er tot ist, gibt er kein Chakra mehr ab, und der hohe Schnee könnte ohne Weiteres ...“ „Seid mal still“, sagte Tenzou plötzlich. Sie verstummten. Über das Heulen des Windes hinweg erklang ein schwaches Pochen an der Tür. „Es ist das Christkind!“, rief Gai begeistert. „Ganz sicher nicht, Gai“, sagte Kakashi. „Ich an seiner Stelle würde bei diesem Wetter keine Geschenke verteilen und mich auf höhere Gewalt berufen.“ „Sollen wir aufmachen?“, fragte Tenzou unbehaglich. „Was für eine Frage!“ Ohne auf Kakashis zweifelnden Blick zu achten, ging Gai zur Tür und öffnete. Draußen stand ein Mann in grauen Kleidern, der sich entkräftet am Türrahmen abstützte. Er war groß, mit wirren, schwarzen Haaren und einer auffälligen Narbe unter dem linken Auge. „Entschuldigen Sie“, sagte er bibbernd. „Kann ich mich hier kurz aufwärmen?“ Kakashi und Tenzou tauschten einen fassungslosen Blick. „Aber natürlich!“, antwortete Gai großspurig. „Immer herein in die gute Stube! Fröhliche Weihnachten!“ „Fröhliche Weihnachten“, nuschelte der Mann und grinste verlegen in die Runde. „Tenzou“, sagte Kakashi. „Ja?“ „Festnehmen. Jetzt.“ „Zu Befehl, Kakashi-senpai!“ * Auf der vierten Seite des achtzehnten Kapitels von Anna Karenina musste Iruka auf dem Sofa eingenickt sein. Er erwachte erst wieder von einem heftigen Husten. „Mizuki?“ Das Husten nahm kein Ende, und Iruka beschloss, nach dem Rechten zu sehen. Zu seiner Überraschung wurde er nicht erst in seinem Zimmer, sondern schon im Flur fündig. Mizuki hockte neben der geschlossenen Haustür und schaffte es kurz, mit dem Husten aufzuhören, als er Iruka bemerkte. „Sag jetzt nichts. Halt einfach die Klappe.“ „Was machst du da? Du gehörst ins Bett.“ „Welchen Teil von Halt die Klappe muss ich dir erklären?“ Mit dem Anflug eines Lächelns ging Iruka zu ihm und griff nach seinem Arm. „Was hattest du vor, Mizuki? Gehen?“ „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du die verdammte Tür abschließt.“ „Aber ich habe damit gerechnet, dass du versuchen würdest, abzuhauen. Wenn du in deinem Zustand in die Kälte hinaus gehst, überlebst du das nicht. Und das lasse ich nicht zu.“ Mizuki grummelte irgendetwas, ließ sich aber auf die Beine ziehen. Sie schleppten sich in Irukas Zimmer, und Mizuki seufzte, als er wieder unter die Bettdecke kroch. „Okay. Ich habe mich ein wenig überschätzt.“ „Wäre ja nicht das erste Mal.“ „Halt die Klappe.“ Iruka drückte ihm die Hand auf die Stirn und zog sie wieder weg, bevor Mizuki danach schlagen konnte. „Du glühst förmlich. Aufstehen kannst du in den nächsten Tagen vergessen. Und die Haustür bleibt abgeschlossen.“ „Warum bin ich überhaupt aus dem Knast abgehauen?“ „Keine Ahnung, mein Vorschlag war es nicht. Ich koche neuen Tee. Möchtest du diesmal eine andere Sorte? Weihnachtstee mit Zimt?“ „Igitt.“ „Ich deute das als nein, danke.“ Iruka griff nach dem Tablett auf dem Nachttisch, und Mizuki beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. „Iruka ... lies auf keinen Fall den Brief.“ „Welchen Brief?“ Mizuki drehte ihm demonstrativ den Rücken zu, und Iruka verließ das Zimmer achselzuckend. Kaum, dass er die Küche betrat, fiel sein Blick auf einen gefalteten Zettel, der unter einem Magneten am Kühlschrank klemmte. Es stand sein Name darauf. Verblüfft nahm Iruka ihn ab, entfaltete ihn und las. Iruka, ich bin weg. Erstens bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich dir trauen kann und du mich nicht doch verpfeifst. Und zweitens – wenn du mir helfen willst, wäre es echt undankbar von mir, deine Hilfe anzunehmen, oder? Ausrichten kannst du sowieso nichts, und am Ende verlierst du deinen Job und deinen guten Ruf, weil du einen Schwerverbrecher gedeckt hast. Nimm es mir nicht übel, Iruka, aber das bin ich nicht wert. Falls Konoha Wind davon bekommt, dass ich hier war, kannst du ja sagen, ich hätte dich bedroht oder so. Zieh dich aus der Affäre. Ich werde abhauen. Allein. Mizuki. P.S.: Frohe Weihnachten. Mizuki war ein Dummkopf, dachte Iruka und lachte leise. Aber einer mit Stolz. Sorgfältig zerriss er den Brief in kleine Fetzen und warf sie in den Mülleimer. Die ganze Zeit, während er den Tee kochte, wollte das Lächeln nicht von seinen Lippen verschwinden. „Mizuki?“, fragte er schon an der Tür zu seinem Schlafzimmer. Mizuki wandte sich um und blinzelte ihn an. „Ja?“ Langsam kam Iruka näher und stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab. „Du bist ein verbitterter, paranoider, selbstmitleidiger Mann.“ „Sag mir was, was ich noch nicht weiß“, erwiderte Mizuki unbeeindruckt. „Was du noch nicht weißt? Schön.“ Iruka goss den Tee ein und hielt Mizuki die Tasse hin. „Du bist es wert.“ Es war nicht genau zu erkennen, ob das in Mizukis trüben Augen Spott oder Verlegenheit war. „Und jetzt trink deinen Tee.“ * „Du hast dich selbst übertroffen, Tenzou!“, lobte Gai strahlend. „Ich finde das auch ganz erstaunlich“, sagte der wieder eingefangene Sträfling. Er saß in einem hölzernen Schaukelstuhl und schaukelte sanft hin und her. Stabile Äste fixierten ihn an Rücken- und Armlehnen. „Ja, der Stuhl ist hübsch und gleichzeitig zweckmäßig.“ Tenzou versuchte, trotz der allgemeinen Besinnlichkeit streng zu klingen. „Ich meine, Sie sind immer noch ein Verbrecher. Wir wollen ja nicht, dass Sie uns wieder abhauen.“ Der Mann lächelte höflich. „Bei diesem Sturm bleibe ich lieber hier, vielen Dank. Und ich kann schaukeln.“ „Die Schaukel-Funktion ist faszinierend, Tenzou!“, bekräftigte Gai, der den Stuhl bewundernd unter die Lupe nahm. Fassungslos sah Tenzou zuerst ihn, dann Kakashi an. „Sollten wir nicht ein bisschen ernst bleiben?“ „Wozu?“, fragte Kakashi achselzuckend. „Es ist Weihnachten.“ „Ja, aber ... er da ist ein Schwerverbrecher! Ohne ihn würden wir gar nicht in diesem verdammten Schneesturm stecken!“ „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten gemacht habe“, sagte der Häftling betreten. „Ist ja nicht schlimm“, erwiderte Kakashi und legte Tenzou väterlich den Arm um die Schultern. „Unser junger Tenzou muss lernen, sich ein wenig zu entspannen.“ „Aber ...“, begann Tenzou, der errötet war. Kakashi lachte leise. „Die Prinzipien Konohas sehen nicht vor, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Aber im Moment haben wir keine andere Wahl, und außerdem ist Weihnachten. Also werden wir es heute ausnahmsweise tun.“ „Das haben Sie schön gesagt“, sagte der Häftling verträumt. „Ja!“ Gai wischte sich ein Tränchen aus dem Auge. „Da geht einem ja das Herz auf, Kakashi!“ Etwas befremdet musterte Kakashi ihn. „Wenn du das sagst. Komm wieder ans Feuer, Gai. Dann sagt Tenzou sein Gedicht auf, und dann wird's gemütlich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)