Last Desire 9.5 Teil 2 von Sky- (Uncertain Desire) ================================================================================ Kapitel 1: Ezras Geburtstag --------------------------- Die Luft war heiß und stickig in dem Zimmer. Mit aller Mühe versuchten sie nicht zu laut zu sein, denn es war mitten in der Nacht und sie wollten niemanden wecken. Aber andererseits… Sheol hatte sowieso einen tiefen und festen Schlaf, den weckte nichts auf. Und Nastasja schlief sowieso immer mit Ohrenstöpseln, weil sie hingegen einen sehr leichten Schlaf hatte. Rein theoretisch hätte sie also so oder so nichts gehört. Nun, eigentlich konnte es ihnen ja auch egal sein, aber dennoch waren sie beide der Ansicht, dass es nicht die ganze Straße mitkriegen sollte. Schwer keuchend hatte Elion seine Hände ins Laken verkrallt und Schweißperlen glänzten wie Kristalle auf seiner Haut im Schimmer des blassen Mondlichts. Er konnte es kaum mit Worten beschreiben, was er in diesem Moment empfand und hatte das Gefühl, als wäre sein ganzer Verstand mit einem Male wie eine weiße Leinwand. Das Einzige, was er noch wahrnahm, war dieses atemberaubende Gefühl, welches er verspürte, als er dem Menschen so nahe sein konnte, den er liebte. Und obwohl sein Verlangen, Ezra zu spüren, so unfassbar stark war und diese Leidenschaft ihn vollständig erfasst hatte, so hielt er sich dennoch zurück. Er wollte Ezra nicht zu viel zumuten. Dieser brachte ebenfalles nur ein unterdrücktes Keuchen hervor und bebte am ganzen Körper. „Ezra, alles in Ordnung bei dir?“ „Ja. Ha-halt dich aber ja nicht zurück, kapiert? Mach’s richtig!“ Und das ließ sich Elion nicht zweimal sagen. Er hielt Ezras Hüften gepackt und drang tiefer vor, seine Stöße wurden schneller und stärker und seine Stimme drohte außer Kontrolle zu raten, genauso wie Ezras. Es war ein so unbeschreibliches Gefühl und nie hatte sich Elion vorstellen können wie es sich anfühlte, selbst der führende Part zu sein und die Oberhand zu haben. Und nun fehlten ihm einfach die Worte, um es so zu beschreiben, wie er es empfand. Noch nie hatte er jemanden so sehr begehrt wie jetzt und er wollte, dass auch Ezra spürte, wie er fühlte. Als er ihn so da liegen sah, nackt und schweißgebadet, da beugte er sich zu ihm herunter und küsste ihn. Sofort wurde dieser erwidert und der Kleingeratene schlang seine Arme um den Körper des Proxys. Die Atmung fiel ihm schwer und als sich Elions Hand um sein bestes Stück legte, da verkrallte Ezra seine Hände in dessen Rücken und zuckte kurz zusammen. Es war allzu offensichtlich, dass er gleich sein Limit erreichte und er biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Aber das verhinderte Elion, indem er leidenschaftlich seine Lippen liebkoste und dann mit seiner Zunge zu spielen begann. „Wenn du dir auf die Lippen beißt, verletzt du dich noch.“ „Sei still…“, brachte Ezra mit Mühe hervor und konnte dann doch nicht verhindern, dass er laut zu stöhnen begann, als Elion ihn an einem besonders sensiblen Punkt traf. Er verkrallte seine Hände noch fester in den Rücken des Grauhaarigen, hinterließ dabei Kratzspuren und konnte sich kaum noch unter Kontrolle halten. Ein intensives und atemberaubendes Kribbeln durchfuhr seinen gesamten Körper, die Hitze raubte ihm fast den Verstand und es fiel ihm schwer, sich noch irgendwie zusammenzureißen. Es war schon fast zu viel für ihn und er wollte nicht, dass er noch die Kontrolle verlor. Zwar fühlte es sich ähnlich an so wie zuvor, als er noch mit Männern geschlafen hatte, die ihm entweder zuwider waren, oder die ihm überhaupt nichts bedeutet hatten. Sex war nun mal Sex. Zumindest hatte er das so gedacht, denn mit Elion fühlte es sich deutlich anders an. Und zum allerersten Mal verspürte er auch den leidenschaftlichen Wunsch nach mehr und danach, ihn nie wieder loszulassen. Er wollte, dass es noch intensiver wurde und er Elion noch stärker in sich spürte. So etwas wäre für ihn vorher nie vorstellbar gewesen. Während seiner Zeit auf dem Straßenstrich hatte er sich immer gewünscht, dass es möglichst schnell vorbei war, damit er endlich sein Geld bekam und dann schnell verschwinden konnte. Natürlich hatte er sich geschämt dafür, dass er so etwas getan hatte. Aber es war ein Job und er hatte seine Scham irgendwann runterschlucken müssen, wenn er diesen ganzen Schuldenberg zurückbezahlen wollte. Wie so vieles, was er alles hatte schlucken müssen, wenn er daran dachte, was er getan hatte. Allein bei dem Gedanken wurde ihm jedes Mal schlecht, aber bei Elion war es anders. Zumindest war er sich da sicher. Bei ihm wollte er mehr, er wollte ihm nahe sein und genau das kam ihm irgendwie so falsch vor. Denn so etwas hatte er noch nie empfunden und wusste es deshalb auch nicht einzuordnen. Darum hielt er sich wieder an Elion fest, denn es gab ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit und als könnte er sich einfach fallen lassen und ihm blind vertrauen. Aber noch sträubte sich sein altes Ich massiv dagegen, diese letzte Kontrolle abzugeben. Denn diese Ängste und schlimmen Erinnerungen waren noch durchaus präsent in seinem Unterbewusstsein und hielten ihn mit geradezu lärmender Stimme davon ab, so etwas zu tun. Es wäre zu gefährlich… er könnte Elion einfach nicht vertrauen… es würde so werden wie all die Male zuvor… Lucy… Kurz tauchten diese Bilder auf, die ihn wie Geister verfolgten, doch sie wurden schnell wieder verdrängt, als Ezra spürte, dass er nicht mehr lange dazu in der Lage war, sich noch länger zurückzuhalten. Sein Körper entzog sich seiner Kontrolle und passte sich Elions Bewegungen an. Er rang nach Luft und ihm wurde schwindelig. Zwischendurch wurde ihm kalt und er spürte, dass sein Kreislauf wieder Schwierigkeiten machte. Verdammte Anämie… verdammter Eisenmangel. Alles in seinem Kopf begann sich zu drehen und als er dann in einem letzten Kraftakt zu seinem Höhepunkt kam, nachdem eine heiße Flut sein Innerstes erfüllte, da wurde ihm kurzzeitig schwarz vor Augen und erschöpft ließ er seinen Kopf ins Kissen sinken. Sein Haar war zerzaust und der Knoten hatte sich auch schon längst gelöst. Elion verharrte einen kurzen Moment, um sich zu sammeln, bevor er sich von Ezra löste und schließlich aufstand. Er nahm das Döschen mit den Eisenpräparaten von der Kommode und gab Ezra zwei der Kapseln und dazu eine Flasche Wasser. „Du siehst ziemlich blass aus. Ist es schlimm?“ „Das geht gleich wieder. Zwar nehme ich ständig diese blöden Tabletten, aber besser wird es auch nicht.“ Nachdem er die zwei Kapseln geschluckt hatte, setzte er sich auf und versuchte seine Haare etwas zu richten. Eigentlich hatte er die Haare so lang wachsen lassen, weil seine Freier darauf standen, dass er so mädchenhaft und zierlich aussah. So konnte er eine größere Kundschaft gewinnen und einigermaßen über die Runden kommen. Aber selbst jetzt, da es vorbei war und er nicht mehr auf den Straßenstrich gehen musste, trug er seine Haare so lang und es sah auch nicht danach aus, als würde sich daran etwas ändern. Aber das war Elion auch egal, denn er liebte Ezra und da war ihm das Aussehen auch egal. Und außerdem trug er seine Haare ja auch etwas länger, weil er sie nicht abschneiden konnte. Schließlich aber, als Ezra gerade seine Sachen zusammensuchte und sich ins Bad schleichen wollte, da ergriff Elion seine Hand und küsste ihn. „Happy Birthday, Ezra.“ Der nun 16-jährige sagte nichts, versuchte aber seine Verlegenheit hinter einem bösen Gesicht zu verbergen und wurde dennoch rot. „Kommst du mit, oder bleibst du hier?“ fragte er mit gekünstelt gereizter Stimme und sah Elion auch nicht an. Der Proxy erhob sich daraufhin und sammelte ebenfalls seine Sachen auf. „Klar, wenn du nichts dagegen hast.“ „Sonst würde ich ja wohl kaum fragen, oder?“ Gemeinsam gingen sie ins Bad und gönnten sich eine heiße Dusche. Es war schon manchmal etwas merkwürdig, dass Elion und Ezra sich von jetzt auf gleich so viel näher standen als vorher und es fühlte sich für den Proxy immer noch sehr ungewohnt an. Vorher war Ezra immer darauf bedacht gewesen, niemanden an sich heranzulassen und er hatte extrem aggressiv reagiert, als Elion seine Wunden behandeln wollte. Und nun duschte er problemlos mit ihm. Irgendwie war Ezra wie ausgewechselt und schien sich in Elions Nähe auch erheblich sicherer zu fühlen, seitdem der Proxy ihn aus seinem inneren Gefängnis geholt hatte. Zwar waren viele Verhaltensmuster gleich geblieben und Ezra benahm sich manchmal ziemlich rüpelhaft, aber er hing sehr an Elion und das merkten auch die anderen aus der Familie. Zwei Wochen lebte der 16-jährige jetzt bei Nastasja als Pflegekind und hatte immer noch erheblich Schwierigkeiten, sich an diese neue Situation zu gewöhnen. Diese hatte ihn auch schon an seiner neuen Schule angemeldet und voraussichtlich würde er mit Sheol in eine Klasse gehen. Aber da es noch Sommer war, würde es noch dauern, da noch Ferien waren. Mit seinem Pflegebruder verstand er sich bis jetzt ganz gut, da sie bei ihren Interessen viele Gemeinsamkeiten hatten. Außer der Tatsache, dass Sheol eine wahre Sportskanone war und Ezra aufgrund seiner Anämie eine absolute Niete im Sport war und schnell mit dem Kreislauf zu kämpfen hatte. Da waren sie verschieden wie Tag und Nacht. Übrigens hatte sie die Tatsache auch zusammengeschweißt, dass sie sich nicht gerade durch ihre Größe auszeichneten. Denn Sheol war gerade mal 1,60m groß und Ezra sogar noch fünf Zentimeter kleiner. Nun gut, Elion war 1,75m groß und damit auch kleiner als zum Beispiel Oliver, Rumiko oder Beyond und L. Aber dennoch waren 1,55m für einen 16-jährigen ziemlich mickrig. Aber Ezra pflegte einfach zu sagen „Der Wachstumsschub kommt bei Jungs immer auf dem letzten Drücker!“ woraufhin Sheol nur lässig mit den Schultern zuckte und erklärte „Größe wird eh überbewertet.“ Schließlich, nachdem sie fertig geduscht hatten, begann Ezra damit, seine Haare zu föhnen, während Elion sie lieber so trocknen ließ. „Wem habe ich es eigentlich zu verdanken, dass diese ganzen Narben weg sind?“ fragte der 16-jährige, wobei er aber lauter sprechen musste, um den Fön zu übertönen. „Das war Liam. Er war wohl der Ansicht, dass er auch gleich alles zurücksetzen kann, wenn er schon mal dabei ist. Wieso fragst du?“ „Es ist nur ziemlich ungewohnt. Viele davon hab ich ja auch schon seit Jahren. Mein Dad hat früher immer seine Zigaretten auf meinem Arm ausgedrückt, wenn er gestresst war und ein paar der Narben auf meiner Brust hatte ich mir zugezogen, als das mit Lucy passiert ist.“ „Wer ist Lucy?“ Sofort verharrte Ezra und schwieg. Wieder tauchte dieses Bild vor seinem geistigen Auge auf und ihm wurde schlecht. Sein Magen verkrampfte sich und er fühlte sich zunächst, als müsste er sich übergeben. „Niemand“, sagte er hastig und schüttelte den Kopf. „Nur eine alte Bekannte.“ Doch das war eine Lüge und das wussten sie beide. Aber Elion wollte ihn auch nicht bedrängen, wenn es ihn so sehr verletzte. Und als er sah, dass Ezra erheblich damit zu kämpfen hatte, nahm er ihn in den Arm, um ihn zu trösten. „Schon gut, du musst es mir nicht sagen.“ Ezra hasste es in solchen Momenten, wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und dann Elion ankam und ihn genau daran hinderte. Da konnte er doch unmöglich die Tränen zurückhalten. Und als der Proxy das sah, fragte er „Ezra, weinst du etwa?“ „Ich weine nicht, verdammt! Ich hab nur was in den Augen. Wahrscheinlich noch Reste vom Shampoo.“ Doch Elion konnte er schon längst nichts mehr vormachen. Und seitdem er etwas aufgetaut war, hatte sich auch gezeigt, dass er eigentlich recht sensibel war. Nur wollte er das mit aller Macht verbergen, weil er nach wie vor keine Schwäche zeigen wollte. Aber Elion nahm ihn so wie er war und ließ es sich mit der gleichen Seelenruhe gefallen, wenn Ezra ihn mal anschnauzte. Er war einfach zu friedfertig und sanftmütig und er wusste ja sowieso, dass vieles nicht so gemeint war, wie es der 16-jährige sagte. Und wenn Ezra dann mit seinen Gefühlen zu kämpfen hatte, war er da, um ihn aufzufangen. „Schon gut. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit.“ Ezras Arme umschlossen Elions nackten Oberkörper und er drückte sich fest an ihn. In solchen Momenten merkte man, dass er noch nicht erwachsen war und dass ihm einfach diese Liebe fehlte, die er damals kaum erfahren hatte. Und nun, da er erkannt hatte, wie viel er Elion bedeutete, klammerte er sich auch ein Stück weit an ihn und zeigte sich dann auch von einer ganz anderen Seite. Man konnte schon fast sagen, dass er sich sehr auf Elion fixiert hatte. „Mann, bin ich geschafft“, sagte er schließlich und löste sich wieder von seinem grauhaarigen Freund. Wie spät ist es eigentlich?“ „Ich glaube, wir haben jetzt Mitternacht.“ „Meine Fresse, ne halbe Stunde? Kein Wunder, dass mein Kreislauf schlapp gemacht hat…“ Nachdem Ezra und Elion ihre Pyjamas angezogen hatten, überlegte der 16-jährige erst, ob sie wieder in ihre jeweiligen Schlafzimmer gehen sollten. Denn obwohl sie jetzt zusammen waren, hatte jeder im Haus sein eigenes Zimmer. Das Haus hatte Nastasja gekauft, nachdem sie ihre Wohnung gekündigt hatte. Im Grunde war es eine leer stehende Villa, die mal eine Zeit lang als Hotel betrieben worden war. Aber dann war das Hotel Pleite gegangen und nach harten Verhandlungen hatte die Russin es zu einem guten Preis gekauft und war dort mit Sheol eingezogen. Das Geld hatte sie von Eva als „Startkapital“ erhalten, da sie ja gerade erst mit ihrem Job angefangen hatte und ihrer Familie natürlich auch etwas bieten musste. Und obwohl neben Elion jetzt auch noch spontan Ezra mit eingezogen war, blieben dennoch einige Räume unbenutzt. Aber das störte Nastasja nicht, denn sie pflegte zu sagen „Man muss immer Platz für Gäste haben und man weiß ja nie, wer als Nächstes noch hier einzieht.“ Und damit hatte sie ja auch nicht ganz Unrecht. In der letzten Zeit waren immer mehr Neuzugänge in die Familie dazugekommen und es war nicht auszuschließen, dass es vielleicht noch mehr werden könnten. Jedenfalls hatte jeder genug Platz und das Haus war auch modern und hübsch eingerichtet. Als Ezra eingezogen war, hatte es natürlich eine Willkommensparty gegeben und er musste schon zugeben, dass seine neue Bleibe nicht mit seiner alten zu vergleichen war. Sein Zimmer war groß, hell und einladend und er hatte auch alles, was er brauchte. Er bewohnte zusammen mit Elion die erste Etage, Sheol wohnte eine drüber und Nastasja wechselte die Räume je nach Belieben. Einen Grund dafür nannte sie nie, aber man sah es einfach als eine merkwürdige Angewohnheit an. Sie war eben etwas schräg und damit musste man sich anfreunden. Und Ezra hatte schon schnell gemerkt, dass seine Pflegemutter ein Original war. Zwar kochte sie ganz hervorragend und war mit Leib und Seele Mutter, aber sie hatte eine große Schwäche für Lakritz und Prjanik, das sie bei einem russischen Händler kaufte. Es handelte sich dabei um eine Art russischen Gewürzkuchen, der dem Lebkuchen sehr ähnlich war und für den würde sie jederzeit sterben. Wenn sie nachdachte oder bei der Arbeit war, da saß sie nicht vernünftig, sondern hockte sich einfach auf ihren Stuhl, nahm eine etwas krumme Haltung ein und legte dann ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Und manchmal kam sie ganz spontan mit irgendwelchen Fragen und Ideen, die etwas merkwürdig waren. So fragte sie einfach gerade heraus „Was glaubt ihr wohl, wie die Welt aussehen würde, wenn die Affen das Kommando hätten und wir nur die Versuchskaninchen im Labor wären?“ Daraufhin hatte Sheol gelacht und gesagt „Mum, sag bloß du guckst Planet der Affen.“ Doch sie blieb ernst und meinte dann „Was denn? Ist doch eine interessante Frage. Und ich frage mich, wer da wohl das Kommando hätte. Die Schimpansen, die Gorillas oder vielleicht die Orang-Utans.“ Man konnte sie da wirklich nicht ernst nehmen, aber sie stellte solche Fragen ziemlich häufig. Auch äußerte sie die Frage, wie die Erde wohl heute aussehen würde, wenn der Meteorit nicht auf die Erde eingeschlagen wäre und die Dinosaurier ausgerottet hätte. Daraufhin begann sie ein modernes Szenario a la Dinotopia zusammenzuspinnen. Dergleichen Fragen kamen recht häufig und Ezra maß solchen merkwürdigen Fragen keine große Bedeutung mehr zu. Müde streckte sich der 16-jährige und ging in Richtung Küche, um sich noch was zu trinken zu holen, da bemerkte er, dass da Licht in der Küche brannte. Ob Sheol mal wieder einen Mitternachtssnack brauchte? Der Typ aß ja auch immer locker für zwei bis drei Leute. Da leises Geflüster zu hören war, wurde er nun doch misstrauisch. Und dann legte Elion auch noch einen Arm um ihn und lächelte viel sagend. „Och nee, oder?“ Doch der Proxy nickte und sogleich, als sie die Küche betraten, da warteten auch schon Sheol und Nastasja auf sie und riefen breit grinsend „Happy Birthday!“ Ezra erstarrte mit einem Male und sah vollkommen perplex aus. Er wusste gar nicht, was er sagen sollte und auch nicht wie er reagieren sollte. Schon seit Tessas Tod vor knapp sechs Jahren hatte er nie wieder seinen Geburtstag gefeiert und auch nie einen großartigen Anlass gesehen. Schön und gut, er war ein Jahr älter, aber das war es aber auch schon. Aber nun standen Sheol und Nastasja da und hatten alles hergerichtet. Das war doch nie und nimmer real… Wahrscheinlich hatte ich doch einen Kreislaufzusammenbruch und fantasiere mir das hier alles gerade irgendwie zusammen. Ja, das wird es wahrscheinlich sein. Doch dann bekam er auch noch eine feste Umarmung von Nastasja und es war eine sehr liebevolle und herzliche Umarmung… wie die einer Mutter. „Alles Gute zum Geburtstag, Ezra. Und ich wünsche mir so sehr für dich, dass ab jetzt alles für dich besser wird.“ Und da sie etwas emotional wurde, musste sie sich kurz von ihm lösen und ihre Brille abnehmen, da ihr die Tränen kamen. Sogleich gab es noch Glückwünsche von Sheol, der natürlich seine üblichen Scherze nicht lassen konnte und sogleich breit grinsend fragte „Na, hat Romeo seiner Julia auch schon ein besonders heißes Geschenk zum 16. Geburtstag gemacht?“ Und daraufhin bekam er einen strafenden Seitenstoß von seiner Adoptivmutter. „Also wirklich, das ist jetzt absolut unangebracht.“ „Was denn? Die beiden waren zum Schluss ja kaum zu überhören. Man hat es ja quasi durchs ganze Haus gehört.“ Elion reagierte darauf eher gelassen, doch für Ezra war das zu viel und er packte sogleich den vorlauten Rothaarigen am Kragen. „Wie war das? Du willst gleich hier und jetzt sterben?“ Doch Sheol konnte sich vor Lachen kaum einkriegen und ließ den strafenden Schwitzkasten über sich ergehen. Schließlich aber kam die übliche Geburtstagstradition, nämlich das Kerzenausblasen und es kam noch eine russische Tradition dazu. Gemeinsam stießen sie mit einem Gläschen Wodka an, wobei Nastasja erklärte „In Russland stößt man immer mit einem Glas an. Bei euch beiden mache ich mal eine Ausnahme. Ja Sheol, ich meine auch dich, junger Mann.“ „Mum, ich bin schon über 20 Jahre alt und Elion auch! Das ist nicht fair, wieso kriegt er eine Sonderbehandlung?“ „Weil dein Körper der eines 15-jährigen ist und du im Gegensatz zu Elion normal alterst. Und ich diskutier jetzt auch nicht mit dir! Alkohol ist für Jugendliche ohnehin schädlich!“ Damit hatte sie ihre Entscheidung ganz klar gefällt und daran konnte niemand etwas ändern. Genervt seufzte Sheol und grummelte „Gesundheit wird eh überbewertet…“ Nachdem jeder sein Glas Wodka heruntergestürzt hatte, kamen sie mit einem ganz besonderen Geschenk für Ezra. Da sie wussten, dass er sehr tierlieb war, hatten sie sich etwas für ihn überlegt. Und als der 16-jährige einen kleinen Akita-Welpen sah, der eine Geschenkschleife um den Hals trug, da war er vollkommen überwältigt. Bei dem Anblick dieses kleinen Tieres, das eher wie ein kleines Stofftierchen aussah, da wurden seine Augen groß und sogleich hob er den kleinen Welpen hoch. Und in diesem Moment konnte er nicht mehr den Starken markieren. Allein schon die Tatsache, dass die anderen wirklich seinen Geburtstag feierten, obwohl sie ihn doch eigentlich nicht kannten, war einfach zu viel für ihn. Er wandte sich ab und versuchte sich irgendwie zusammenzureißen, doch er konnte die Tränen beim besten Willen nicht zurückhalten. Tröstend legte Nastasja einen Arm um ihn. „Die Reaktion hatte ich jetzt nicht erwartet.“ Ezra wischte sich die Tränen mit seinem Ärmel weg, konnte aber dennoch nicht aufhören zu weinen. Genau das hasste er am allermeisten und er versuchte, endlich damit aufzuhören, aber er konnte es nicht. Es war doch jedes Mal so. Immer wenn ihm so viel Liebe und Zuwendung zuteil wurde, da kam diese so verletzliche und sensible Seite zum Vorschein und da war er nah am Wasser gebaut. Auch wenn er das überhaupt nicht wollte. „Das ist nur wegen euch. Warum müsst ihr auch so etwas machen?!“ „Weil du zu unserer Familie dazugehörst.“ Und da brachen die letzten Dämme, woraufhin seine Pflegemutter ihn erst einmal trösten musste, weil er einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Er vergrub sein Gesicht in ihre Schulter und spürte diese Wärme und die Ruhe, die sie ausstrahlte. Und als sie ihn so im Arm hielt, da war ihm wirklich so, als würde seine Mutter ihn im Arm halten… nicht einmal seine Stiefmutter hatte ihn jemals so umarmt oder überhaupt irgendjemand. Kapitel 2: Familienfeier ------------------------ Am Morgen, nachdem sie sich wieder ein wenig schlafen gelegt hatten, begannen Nastasja und Elion damit, alles vorzubereiten, da die ganze Familie vorbeikommen wollte. Ezra wollte zuerst mithelfen, aber der kleine Welpe, den er Akira genannt hatte, erforderte dann doch seine gesamte Aufmerksamkeit und da Sheol sowieso mit von der Partie war, kam Frederica vorbei, um zu helfen. Seit sie in ihrem neuen Körper aufgewacht war, sah man ihr auch an, wie glücklich sie war und es gab seitdem kaum einen Tag, wo sie nicht von ganzem Herzen strahlte. Äußerlich war sie aber inzwischen um einiges gealtert, sodass sie nicht mehr wie ein 14-jähriges Mädchen wirkte, sondern war um einiges gewachsen, ihre Haare waren nur noch schulterlang und äußerlich schien sie nun eher zwischen 19 und 20 Jahre alt zu sein. Aber obwohl sie sich verändert hatte, so war ihr Haar immer noch so schneeweiß wie ihre Haut und ihre Augen leuchteten rot, wobei auch der goldene Ring in ihrer linken Iris deutlich hervorstach. Sie hatte auch Rumiko dabei, die ebenfalls mithelfen wollte. Ihr Mann Jamie würde später mit den Zwillingen nachkommen. Sie und Nastasja standen in einem sehr freundschaftlichen Verhältnis zueinander und waren schon fast wie Schwestern. Und natürlich war die Russin ganz verrückt nach Rumikos Nachwuchs, da sie Kinder über alles liebte. Sogleich fragten die beiden nach Ezra und überreichten auch ihm neben Glückwünschen ein Geschenk. Und das war ein Smartphone mit hochwertigen Kopfhörern. Natürlich hatte Rumiko einen Schritt weitergedacht und auch bereits sämtliche Songs von „Get Scared“ den „Scorpions“ und einigen anderen Bands gespeichert. Zuvor hatte Ezra ein ziemlich kaputtes Handy gehabt, welches er sich in einem Pfandhaus gekauft hatte. Es war uralt gewesen und im Zeitalter der Smartphones musste man natürlich auf dem neuesten Stand der Technik sein. Zuerst weigerte sich der 16-jährige, so ein Geschenk anzunehmen, aber Rumiko erklärte da nur „Du brauchst keine Gewissensbisse zu haben. Geld ist etwas, worüber ich mir keine Sorgen machen muss.“ Das verstand er nicht so ganz, denn sie war ja eigentlich nur Musiklehrerin an einer Grundschule und ihr Mann Jamie arbeitete in einer Behindertenwerkstatt. Da konnten sie eigentlich nicht viel verdienen. Aber dann erzählte sie ihm, dass sie die letzte Angehörige einer steinreichen japanischen Geschäftsfamilie war und kurz nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben worden und so in Beyonds Familie untergekommen war. „Wirklich alle in unserer zusammengewürfelten Familie sind Waisen oder zumindest Halbwaisen. Und alle haben ihre Geschichte.“ „Inwiefern?“ „Nun, Jamies Mutter ist früh verstorben und sein Vater hat ihn wegen seiner Behinderung oft geschlagen, auch Beyond und ich haben ähnliches durchgemacht. Oliver verlor seinen Vater und seinen Bruder durch einen Serienkiller, Andrews Familie wurde ermordet und was es mit Jeremiel und L auf sich hat, weißt du ja schon. Frederica hatte nie eine Familie und deine Pflegemutter Nastasja auch nicht. Soweit ich erfahren habe, ist sie im Waisenhaus aufgewachsen. Deshalb verstehen wir alle deine Situation und gehen damit ganz anders um als vielleicht andere Menschen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben.“ Ezra war sprachlos als er hörte, dass alle aus der Familie schwere Lasten zu tragen hatten und hatte auch irgendwie nicht damit gerechnet, dass sie alle so eine schwere Vergangenheit hatten. Dazu wirkten sie alle irgendwie so… so unbeschwert. Rumiko und Jamie waren glücklich verheiratet, Oliver nahm das Leben recht locker und Andrew in seiner Gegenwart fast genauso, Beyond machte seine Späße mit L und Jeremiel war auch glücklich mit seinem Leben. Und dass Nastasja nie Eltern gehabt hatte, das hatte Ezra nicht erwartet. Aber wahrscheinlich erklärte das auch, warum sie auf der einen Seite streng, aber auf der anderen Seite so liebevoll und fürsorglich war. Sie wollte wenigstens ihrer jetzigen Familie eine gute Mutter sein. „Deshalb ist sie so…“, murmelte er und dachte nach. „Ja, aber es hat noch einen weiteren Grund: sie ist durch einen angeborenen Gendefekt nicht fähig, lebende Kinder zur Welt zu bringen. Wäre Frederica nicht gewesen, wären L und Jeremiel niemals geboren worden. Natürlich kann sie auch jetzt keine Kinder zur Welt bringen, aber sie sieht es einfach als ein Geschenk Gottes, dass sie jetzt dich, Sheol und Elion hat, um die sie sich jetzt kümmern kann. Und eines kann ich dir schon mal sagen: sie hat dich sehr ins Herz geschlossen, genauso wie der Rest von uns.“ Damit wuschelte sie durch Ezras Haar und grinste. „Wir alle freuen uns sehr, dass du jetzt ein Teil unserer Familie bist. Und egal was auch ist, auf uns kannst du immer zählen. So, jetzt gehe ich besser mal zurück zu den anderen. Die brauchen sicherlich noch Unterstützung.“ Damit verabschiedete sich Rumiko vorerst von Ezra und ließ ihn zusammen mit Sheol und seinem neuesten Haustier allein. Während er mit Akira spielte, war Sheol dabei, dem Beo Sammy ein paar Schimpfwörter beizubringen. Und tatsächlich konnte dieser bereits ein paar der Wörter aussprechen, was aber Nastasja jedes Mal ziemlich sauer stimmte, weil sie solch eine vulgäre Sprache nicht im Haus haben wollte. Dabei wusste doch jeder, dass sie in ihrer Landsprache fluchen konnte wie ein Bierkutscher. Und das tat sie auch, wenn es nicht so lief, wie sie wollte. Sie fluchte nie auf Englisch und Elion, Sheol, Jeremiel und Liam waren die Einzigen, die verstehen konnten, was sie da jedes Mal von sich gab. Und jedes Mal blieb ihnen der Mund offen stehen, da auch Nastasja ein äußerst buntes Vokabular haben konnte, wenn ihr italienisches Temperament zum Vorschein kam. Erst letztens hatte sie die Mitarbeiterin des Jugendamtes „Suka“ genannt, weil diese wieder offenbar ziemlich abfällig über Ezra gesprochen hatte. Nun, die russische Sprache war an sich schon sehr komplex und wortgewaltig, aber im Fluchen verstand sich kaum ein Land besser als die Russen und eben weil es so viele Wörter gab, die sich kaum übersetzen ließen, fluchte Nastasja mit donnernder Stimme auf Russisch, dass man wirklich Angst vor ihr bekommen konnte, wenn sie in Rage war. Und das konnte passieren, wenn man sie genau da traf, wo sie empfindlich war. Und das war nun mal ihre Familie. Schließlich wandte sich Sheol Ezra zu und kam mit einer Idee. „Hey, wie wäre es, wenn wir heute Abend mal einen Ausflug zu dieser alten Fabrik machen, die seit Ewigkeiten stillgelegt ist? Das wird sicher total cool.“ „Ist die nicht abgeriegelt, weil sie seit dem Feuer nicht mehr sicher ist und bald abgerissen wird?“ „Klar, aber vorher können wir ja noch mal da rein und uns umsehen.“ „Ich weiß nicht. Ich bin schon vorbestraft und wenn die mich erwischen, gibt das sicher Knast. Und außerdem ist der Laden doch einsturzgefährdet. Ist das nicht gefährlich?“ „Sicherheit wird doch eh überbewertet.“ Doch Ezra hatte da so seine Zweifel. Manchmal war Sheol schon ein Kindskopf mit seinen bescheuerten Ideen. Der benahm sich echt unreif. Wie ein typischer Teenager eben. In solchen Momenten fragte sich Ezra schon, ob Sheol vielleicht zu unreif, oder er selbst zu reif für sein Alter war. Zugegeben, er konnte sich schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass er jetzt kein Erwachsener war wie zuvor, sondern ein Jugendlicher, der noch erwachsen wurde. Die meisten in seinem Alter hatten nur Spaß im Sinn. Sie wollten über die Stränge schlagen, sich mit den Mädchen vergnügen und hatten hauptsächlich Party im Sinn. Für Ezra nicht vorstellbar, da er noch nie der Partymensch gewesen war, eben weil er weder Freunde noch eine richtige Familie gehabt hatte. Es fiel ihm schwer, einen Gang zurückzuschalten und einfach damit zu warten, erwachsen zu sein. Nastasja hatte ihm auch schon vorgeschlagen gehabt, dass er vielleicht zu einem Psychologen gehen konnte, um seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Er hatte auch schon zwei erste Gespräche gehabt und ging auch einmal die Woche hin. Ezra wandte sich wieder Akira zu, der absolut verspielt und ein richtiges Energiebündel war. Schließlich aber hatte er doch eine Frage an Sheol. „Wieso habt ihr ausgerechnet einen Akita ausgesucht?“ „Weil Mum meinte, dass er gut zu dir passt. Akitas sind ruhige Tiere, sehr loyal und haben einen starken Charakter. Und man muss ihnen zeigen, wer der Boss ist. Außerdem hat Mum die ganze Zeit heulen müssen, als sie diesen Film mit Richard Gere geguckt hat. Da ging es auch um einen Hund, der selbst nach zehn Jahren, nachdem sein Herrchen gestorben ist, am Bahnhof auf ihn gewartet hat. Soll angeblich mal wirklich passiert sein.“ „Ach du meinst Hachiko.“ „Genau. Sie hat dann den Entschluss gefasst, dass es ein Akita werden soll.“ Ezra musste sich Nastasja vorstellen, wie sie bei dem Film geflennt hatte und konnte dann einfach nicht anders als zu schmunzeln. Sie war wirklich eine emotionsgeladene Frau. Entweder war sie die Fürsorglichkeit in Person, dann fluchte sie wie ein Russe nun mal fluchte und dann wiederum konnte sie extrem nah am Wasser gebaut sein. „Irgendwie scheinen alle hier ein bisschen schräg zu sein“, bemerkte er. „Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Bei uns ist nichts normal. Der einzig Normale hier ist Watari und ich sehe es auch so: normale Menschen sind doch eh langweilig.“ Auch wieder wahr. So hatte jeder eben seine Charakterstärken, aber auch seine Schwächen. Und das bekam Ezra auch gleich schon zu spüren, als ein lauter Schrei das Haus erfüllte und es sich auch anhörte, als würde gleich jemand sterben. Es war Nastasja, die wie am Spieß kreischte und das ganze Haus zusammenschrie. Und wahrscheinlich war der Grund nur eine harmlose kleine Spinne, die nicht größer war als eine Cent-Münze. Das war eines der Dinge, die den 16-jährigen schon mal nervte. „Wie zum Teufel kann jemand nur so dermaßen Panik schieben, wenn er ein Insekt sieht? Ernsthaft, wenn die sich wegen einer kleinen Assel oder einer Schabe so dermaßen aufregt, will ich nicht wissen, wie sie bei Ratten und Mäusen reagiert.“ „Gegen die hat sie nichts. Sie überlegt sogar, sich eine Hausratte zuzulegen. Aber sie hat eine gewaltige Phobie vor Ungeziefer, das ist ihr größtes Problem. Jeder hat eben seine Ängste. Ich zum Beispiel hab totalen Schiss vor überfüllten Orten mit extrem lauten Geräuschkulissen, da krieg ich Platzangst. Mum sagt, dass das mit meinem alten Leben zu tun hat, weil ich zuvor stark schizophren war.“ Ezra sagte nichts und spielte weiter mit Akira. Nach einer Weile aber murmelte er dann „Wirklich schon ein verrückter Haufen diese Familie. Zwei Proxys, eine Zeitreisende, ein komisches Albinomädchen mit Superkräften, eine Milliardärin die auf Musiklehrerin macht, ein Behinderter, ein Detektiv und ein Serienkiller, ein Hacker, ein hochrangiger Mafiaboss und so weiter. Normal scheint hier nicht sonderlich groß geschrieben zu werden…“ „Normalität wird eh überbewertet!“ erklärte Sheol und wandte sich wieder seiner eigentlichen Tätigkeit zu, nämlich der, dem Beo Sammy noch ein paar Schimpfwörter beizubringen. Am Nachmittag traf schließlich der Rest der Truppe ein. L, Beyond, Watari, Jamie mit den Kindern, Oliver und auch Andrew. Es wurde eine ziemlich lebhafte Runde und etwas verspätet kamen schließlich auch Jeremiel und Liam. Zugegeben, Ezra war erst ziemlich nervös und auch sehr skeptisch gewesen, als er diesen Riesen von einem Mafiaboss vor sich sah und er wusste auch, wie gefährlich dieser war. Immerhin war der die Nummer zwei in der Bostoner Unterwelt und man kannte ihn als kompromisslosen und grausamen Menschen, der niemals Gnade walten ließ mit seinen Feinden. Dementsprechend stufte Ezra ihn auch so vom Charakter her ein, aber so wie sich herausstellte, verstand sich Liam recht gut mit den anderen. Nur mit L war er wohl nicht ganz grün, da dieser nicht sonderlich begeistert war, dass sein Zwillingsbruder mit einem Mafioso zusammen war. Nastasja sah das etwas entspannter, weil sie Liam von früher schon kannte und als sie zusammen saßen und sich angeregt unterhielten, da erzählte sie auch die Geschichte, wie sie sich kennen gelernt hatten. „Das war kurz nachdem ich die Weltmeisterschaft in Mixed Martial Arts für Frauen gewonnen habe. Ich hatte mich beschwert, dass Frauen und Männer nicht gegeneinander angetreten waren. Und sogleich hatte ich den Champion herausgefordert, um mir das Recht auf Gleichberechtigung einzufordern. Tja und der Champion war damals Liam.“ Der Mafiaboss musste schmunzeln, als er an damals zurückdachte. „Das war wirklich ein verbissener Kampf zwischen uns beiden. Wir waren fast eine halbe Stunde damit beschäftigt, den anderen auf die Matte zu schicken.“ „Du hast mir das Schlüsselbein und den Arm gebrochen und wegen dir hatte ich zusätzlich ein Schädel-Hirn-Trauma. Dafür hab ich dir die Nase, den Kiefer und ein Bein gebrochen und ich fürchte, ich hab dir zwei Rippen gebrochen.“ L und die anderen starrten die beiden an und versuchten sich vorzustellen, wie das wohl ausgesehen haben musste. Beide schwer verletzt und dennoch hatten sie weitergekämpft. Sofort wollten sie wissen, wer von ihnen gewonnen hatte. „Unentschieden“, erklärten die beiden. „Wir konnten beide nicht mehr stehen und so hat jeder von uns die Wette verloren.“ „Welche Wette?“ fragten nun alle und wollten natürlich alles genau wissen. Und natürlich konnte die Russin auch das nicht mehr zurückhalten. „Wenn er gewonnen hätte, dann hätte ich meinen ersten Sohn nach dem ersten Buchstaben seines Namens benennen müssen. Also wurde aus dem Namen Colin nichts und so nannte ich meinen Sohn eben L.“ Beyond prustete vor Lachen und auch Sheol amüsierte sich über diese Geschichte. Der Meisterdetektiv selbst war nicht sonderlich begeistert, dass sein Name von einer verlorenen Wette stammte. Und er hatte ja noch angenommen, seine Eltern wären unkreativ gewesen oder standen auf außergewöhnliche Namen. „Und was musste er tun?“ „Das ist ein Geheimnis“, erklärte Nastasja und schwieg weiter darüber. Und niemand bekam aus ihr oder Liam heraus, welche Wettschuld er bezahlen musste. Aber dafür entschädigte die Russin die Gruppe mit anderen Geschichten. Die meisten handelten davon, wie L als kleines Kind war und was er alles angestellt hatte, sehr zum Leidwesen des Betroffenen. Es war eine sehr ausgelassene Runde und insbesondere Oliver und Andrew konnten von ihrer Weltreise viel erzählen. Sie boten Ezra auch sogleich an, ihn mal in den Ferien mitzunehmen, was er unter der Bedingung annahm, dass wenigstens Elion ihn begleiten würde. Dagegen hatte nun niemand etwas einzuwenden. Schließlich aber hatten sie noch eine kleine Überraschung für Ezra. Und hier übernahm Oliver das Reden. „Da wir erfahren haben, dass du schon immer gerne Gitarre spielen wolltest, bekommst du nicht nur deine eigene Gitarre und ein Zimmer, wo du in voller Lautstärke spielen kannst, sondern auch Unterricht von unserer hübschen Musiklehrerin Rumiko.“ Und damit hatte sich auch das Geheimnis aufgeklärt, wieso Nastasja stets und ständig die Räume im Haus gewechselt hatte. Sie hatte nachgeprüft, welches Zimmer sich am besten schalldicht machen ließ und welches auch genug Platz bot. Dem 16-jährigen fehlten dafür die Worte und sogleich sprang er von seinem Stuhl auf und suchte das Weite. Die anderen waren erst ein wenig verwundert von der Reaktion, aber dann stand Elion auf und erklärte „Er hasst es nur, vor anderen Gefühle zu zeigen. Wahrscheinlich sind ihm schon wieder die Tränen gekommen. Ich geh kurz nach ihm sehen.“ Damit lief er Ezra nach und Nastasja, die sich kurz erhoben hatte, setzte sich wieder und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Und wie geht es deinem Schützling?“ fragte L, um dieses Schweigen zu beenden. Die Russin lächelte zuversichtlich und erklärte „Es geht ihm deutlich besser. Zwar braucht er wohl noch eine ganze Weile, um sich an diese neue Situation zu gewöhnen, aber er wird das schon schaffen. Und dank der Therapie kann er auch seine Vergangenheit aufarbeiten. Dass er so emotional wird, ist eigentlich ein gutes Zeichen dafür, dass er so langsam seine Gefühle zulässt. Insbesondere an Elion klammert er sich sehr, was ich aber gar nicht mal so schlecht finde. Das ist immerhin der erste Schritt in die richtige Richtung und er öffnet sich auch langsam aber sicher.“ „Das klingt ja schon mal gut. Wollen wir mal hoffen, dass er dieses unangenehme Kapitel auch für sich selbst beendet bekommt und einen Neuanfang machen kann.“ Da stimmten sie L zu und sogleich musste Rumiko bemerken „Er benimmt sich sehr reif für sein Alter. Hast du manchmal Schwierigkeiten mit ihm?“ „Nur kleine. Erst letztens hatten wir eine ziemliche Diskussion, weil ich ihm das Trinken und Rauchen verboten habe. Vorgestern hatte ich ihn heimlich beim Rauchen erwischt und dann gab es erst mal Hausarrest. Problem ist leider, dass er sich nicht gerne was sagen lässt und da haben wir beiden manchmal so unsere Differenzen. Aber ansonsten ist er sehr hilfsbereit und zuverlässig. Er erledigt seine Aufgaben sofort und hilft auch im Haushalt, wenn ich arbeiten bin. Elion ist ja ohnehin schon sehr fleißig, weil er ja noch erst genug über die Welt lernen will, bevor er dann sein Studium in Sozialwissenschaft macht. Clever ist er ja.“ „Was will er denn später werden?“ „Streetworker. Er will sich um Kinder kümmern, die auf der Straße leben.“ „Und hat Ezra schon Pläne für die Zukunft?“ Darüber konnte Nastasja leider noch nichts sagen, denn ihr Pflegesohn hatte da genauso wenig Ideen. Da es mit seinem Selbstwertgefühl eh nicht zum Besten stand, wusste er auch selbst nicht, wo seine Stärken lagen. Erst mal war es ja wichtig, dass er die Schule beendete und einen guten Abschluss machte. Und danach kam ja noch das College. „Der Junge soll sich erst mal auf die Schule konzentrieren und er hat ja noch bis zum College Zeit.“ „Ach ja das College“, seufzte Rumiko und schwelgte in Erinnerungen. „Das waren noch Zeiten. Ich war damals die Jüngste gewesen.“ „Ich auch“, sagte Nastasja, klang dabei aber weniger schwärmerisch. „Das war ne Plackerei gewesen.“ „Was hattest du studiert?“ „Nicht studiert. Ich hab damals schon mit 13 Jahren unterrichtet, nachdem ich meinen Doktortitel in der Tasche hatte.“ Und wieder wanderten erstaunte Blicke zu ihr. Denn keiner von ihnen hatte schon so jung unterrichtet. In dem Alter hatte Rumiko gerade ihr Studium an der Harvard Universität begonnen und Andrew und Oliver hatten noch im Waisenhaus gelebt, genauso wie Beyond. „Russische Unis sind der Horror, dagegen sind diese amerikanischen Möchtegern-Studentenverbindungen ein Witz. Wenn man nicht von Anfang an konsequent hart bleibt, fressen sie dich wie die Raubtiere. Glaubt mir, es gibt nichts Schlimmeres als Studenten mit ihren bescheuerten Verbindungen. Die hab ich gefressen. Bei Elion mach ich mir da überhaupt keine Sorgen, was ich ja von Sheol nicht behaupten kann.“ „Hey!“ rief der Rothaarige, als er das hörte und sah seine Adoptivmutter beleidigt mit seinen goldgelben Augen an. „Das habe ich gehört!“ Aber den Schuh musste er sich anziehen. Bei seinem Verhalten war ja klar, dass er noch für Ärger sorgen würde. Schließlich aber meinte Nastasja „Ich könnte es mir jedenfalls gut vorstellen, dass er vielleicht irgendetwas mit Tieren machen wird. Mit Tieren kann er ja offenbar sehr gut umgehen und er ist auch sehr tierlieb. Jedenfalls hab ich schon überlegt, ob wir…“ Doch bevor sie weitersprechen konnte, klingelte es auch schon an der Tür und verwundert sahen sie einander an. „Erwartest du noch Besuch?“ fragten die Lawliet-Zwillinge, doch auch Nastasja war überfragt. „Eigentlich nicht. Vielleicht ist es ein Nachbar oder so.“ „Kann vielleicht sein, dass Delta oder Johnny auf der Matte stehen“, vermutete Liam. Aber um Klarheit zu haben, ging Nastasja hin um nachzusehen, wer da war. Als sie die Tür öffnete, sah sie eine Frau um die 40 Jahre da stehen. Sie hatte schwarzes Haar, das sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte und sie trug eine teure Sonnenbrille und hochwertige Markenkleidung. Auch trug sie hohe Absatzschuhe und einen Sonnenhut. Ungläubig sah die Russin sie an und konnte auch nicht wirklich erkennen, wer diese Frau war und was sie wollte. „Ja bitte, was kann ich für Sie tun?“ „Bonjour, ich bin Monica Denaux. Sie sind sicherlich Miss Lawliet, oder?“ „Ja die bin ich. Und was wollen Sie?“ „Mein Sohn wohnt doch hier, oder etwa nicht?“ Kapitel 3: Monica Denaux ------------------------ Nastasja war so perplex, dass sie erst nicht ganz realisierte, was diese Frau gesagt hatte und starrte sie erst verständnislos an. Und da sie ohnehin einen russischen Akzent hatte, ging die Frau davon aus, sie hätte es nicht verstanden. Daraufhin erklärte sie langsam und deutlich „Ich bin Monica Denaux, die Mutter von Ezra Alexis. Das Jugendamt sagte mir, er würde bei Ihnen als Pflegekind wohnen.“ Sogleich schob sich die recht aufgedonnerte Frau an der gebürtigen Russin vorbei, die dieses Verhalten aber mehr als unmöglich fand. „Entschuldigen Sie, aber ich verstehe Sie ganz gut.“ „Dann ist ja alles geklärt. Also wo ist Ezra?“ Nastasja versuchte dieses Verhalten damit zu erklären, dass diese Frau nicht ganz begeistert von der Tatsache war, dass ihr Sohn bei fremden Leuten lebte. Aber dennoch war sie mehr als überrumpelt und hätte nicht gedacht, dass der heutige Tag so verlaufen würde. „Jetzt warten sie doch erst mal. So einfach geht das nicht.“ „Und warum nicht?“ Mit jeder Sekunde wurde diese Frau Nastasja immer unsympathischer und innerlich hegte sie den Wunsch, diese arrogante Person schnellstmöglich vor die Tür zu setzen. Am besten noch mit einem saftigen Tritt in den Allerwertesten. Verdammte Reiche mit ihren Pradaklamotten… als Kind aus einem armen und verwahrlosten Waisenhaus hasste sie diese ganze Bagage und hatte nun deutlich mehr Mühe, höflich zu bleiben. „Wollen Sie nicht solange Platz nehmen, Miss Denaux?“ „Madame Denaux“, betonte sie und machte dabei eine betonende Geste mit ihrer Hand. „Wollen Sie nicht erst einmal Platz nehmen, Madame Denaux? Ezra rechnet nicht mit Ihnen und er hat auch seit seiner Geburt nie von Ihnen gehört. Da werden Sie doch sicherlich Verständnis haben, wenn er ein wenig überrumpelt sein könnte.“ Nastasja überlegte, wie sie diese heikle Situation am besten regeln konnte, ohne den Wunsch zu verspüren, dieser Person den Hut vom Kopf zu reißen, gleich mitsamt der 500$-Sonnenbrille. Sie ging ins Wohnzimmer, wo der Rest der Familie versammelt war. Und sie alle waren verwundert beim Anblick der unbekannten Frau. Sogleich fragte Sheol „Wer is’n das, Mum?“ „Das ist Madame Monica Denaux, Ezras leibliche Mutter.“ Und als das auf dem Tisch war, fielen die Reaktionen der Familie recht unterschiedlich aus. Rumiko funkelte sie argwöhnisch an und spürte offenbar sofort, dass es mit dieser Person noch Ärger geben könnte. L, Beyond, Watari und Jeremiel hielten sich zurück, wirkten aber auch etwas skeptisch, Oliver hob etwas erstaunt die Augenbrauen und auch Andrew war anzusehen, dass er nichts Gutes ahnte. Frederica lächelte freundlich und grüßte sie höflich, Liam behielt seinen etwas kühlen Blick und ihm war rein gar nichts anzumerken, während Jamie wie immer der gutmütige Sonnenschein war, der keinen bösen Gedanken zu fassen vermochte. Mit einem gewissen Widerwillen setzte sich die 40-jährige und sah sich um. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Wir sind Freunde und Bekannte von Nastasja“, erklärte L und begann nun damit, sich was von der Torte zu nehmen und er genierte sich auch nicht sonderlich, als er seine übliche Sitzhaltung einnahm. Die anderen waren das ja längst gewohnt, aber als Monica das sah, da war sie ein Stück weit entsetzt. Denn was sie da sah, das war ein ungepflegter Kauz mit schlechten Manieren und der Typ neben ihm mit den roten Augen sah genauso schlimm aus. „Und?“ fragte Rumiko und man merkte ihr an, dass sie bereits eine gewisse Antipathie gegen Ezras Mutter hegte. „Was verschafft uns die Ehre Ihres plötzlichen Besuchs?“ „Was für eine selten dumme Frage“, bemerkte Monica trocken und überkreuzte die Beine. „Ich werde doch wohl meinen eigenen Sohn besuchen dürfen, oder nicht?“ „So meinte ich das nicht. Wir sind nur überrascht, dass Sie so plötzlich und unangemeldet kommen, nachdem Ezra uns erzählt hat, er hätte seine Mutter nie kennen gelernt und nie ein Lebenszeichen von ihr erhalten.“ „Das ist doch wohl immer noch meine Angelegenheit, oder nicht?“ Rumiko presste die Lippen zusammen und atmete durch die Nase aus. Dann faltete sie die Hände und warf einen kurzen Blick zu Beyond und was der dachte, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben: Was für eine arrogante Ziege. Ezra merkte derweil noch nichts von dem, was da im Wohnzimmer vor sich ging. Er hatte sich auf die Treppe gesetzt und sich die Tränen hastig weggewischt, als auch schon Elion hochkam und sich zu ihm setzte, wobei er einen Arm um seine Schultern legte. „Alles in Ordnung?“ „Blöde Frage“, gab der 16-jährige zurück. „Mit mir ist nichts in Ordnung, verdammt!“ „Was ist denn los?“ „Äh Hallo? Das ist einfach nicht meine Welt, klar? Ich bin es gewohnt, allein zu sein. Ich war es immer und ich hab damit ganz gut leben können. Und jetzt auf einmal rücken die mir alle auf die Pelle. Ich hab eine Pflegemutter und einen Pflegebruder und ich hab dich, der du auch gleichzeitig mein gottverdammter Pflegevater bist. Das ist alles Scheiße, Mann!“ „Dir fällt es offenbar noch schwer, dich daran zu gewöhnen, dass du jetzt wieder eine Familie hast, oder?“ Ezra sagte nichts und legte seinen Kopf auf seinen Armen ab, die er über die Beine verschränkt hatte. „Das ist alles Scheiße“, wiederholte er und klang irgendwie unglücklich. „Die sind alle so nett und behandeln mich, als wäre ich schon immer ein Teil ihrer Familie gewesen. Aber das bin ich nicht. Ich bin ein Fremder für sie alle und ich hab so eine Familie doch gar nicht verdient.“ „Ach Ezra, wir alle waren mal Fremde in der Familie. Sie sind ja auch nicht alle sofort schon miteinander bekannt gewesen. Jeder kam nach und nach dazu und deshalb haben sie auch kein Problem damit, dich und mich aufzunehmen. Und du solltest aufhören zu denken, du wärst es nicht wert, so eine Familie zu haben. Ich habe doch auch geglaubt, dass ich nicht leben dürfte, weil ich gefährlich bin. Aber du hast mich gerettet und mir gezeigt, dass ich kein Monster bin. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Du bist genauso ein Teil der Familie wie alle anderen und du weißt auch, dass so mancher kein ungeschriebenes Blatt ist. Und auch deine Vergangenheit stellt für uns keinen Grund dar, schlecht über dich zu denken. Oder ist es etwas anderes, das dir Angst macht?“ „Nein“, log Ezra mit niedergeschlagener Stimme. „Es ist nichts.“ Aber der Proxy ahnte schon, was los war. Als er Ezras Hand ergriff (im Haus trug er nie seine Handschuhe), spürte er sofort, was den 16-jährigen bedrückte und was ihm Angst machte. „Verstehe“, sagte er und nickte. „Du hast Angst, du könntest das alles wieder verlieren und erneut vor dem Nichts stehen.“ „Ist das denn nicht auch verständlich?“ rief Ezra und sah wütend aus, aber wahrscheinlich war er bloß wütend auf sich selbst. „Fünf Familien haben es mit mir versucht und mich aufgegeben, selbst meine eigene Mutter wollte mich nie haben! Als ich mich mit Nastasja so gestritten habe, weil ich trotz Verbot geraucht habe, da hatte ich echt Schiss, dass sie die Schnauze voll von mir hat und mich nicht mehr haben will.“ Verständnisvoll nickte der Proxy und dachte nach, wie er Ezra diese Angst nehmen konnte. Dass er sie hatte, war verständlich nach allem, was er durchgemacht hatte. Aus dem Grund hatte er sich auch so dagegen gesträubt, zu anderen Menschen eine Bindung aufzubauen. „Wie wäre es, wenn du offen und ehrlich mit ihr darüber sprichst? Glaub mir, sie wird das auch nicht persönlich nehmen und dann hast du auch Klarheit für dich selbst und musst dich nicht mit dieser Angst quälen. Und wenn du willst, bin ich auch dabei.“ Und damit hob der Proxy Ezras Kinn, sah in seine vor Tränen glänzenden kastanienbraunen Augen und küsste ihn. „Ich mag es nicht, wenn du traurig bist… auch wenn du dabei irgendwie süß aussehen kannst.“ Und sofort fing er sich einen Schlag in den Oberarm ein. „Sag das noch mal und du bist tot.“ Doch Elion lächelte nur gutmütig darüber. „Es ist schon merkwürdig. Bei anderen Leuten bist du doch deutlich selbstbewusster. Erinnerst du dich noch an diese Umweltaktivisten, die uns die ganze Zeit bedrängt haben und was du ihnen dann gesagt hattest? Du sagtest denen einfach „Ich würde Greenpeace ja gerne unterstützen, aber wenn dann die Öltürme alle verschwinden und die Tankstellen dicht sind, wo soll ich dann mein Bier noch spät nachts kaufen gehen?“ Du bist doch eigentlich recht schlagfertig, wenn es darauf ankommt. Aber wenn es um solche Sachen geht, da bist du so verletzlich und unsicher. Schon komisch, nicht wahr?“ „Ach halt doch die Klappe.“ Schließlich hörten sie Schritte die Treppe hinaufkommen und dann tauchte auch schon Nastasja auf. „Hey, alles in Ordnung bei euch?“ „Ja Mum. Ezra hatte nur ein wenig mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Es fällt ihm immer noch schwer, sich an all das hier zu gewöhnen.“ Die 30-jährige nickte und sah ihren Schützling mit einem mitfühlenden Blick an und sogleich strich sie ihm sanft über den Kopf. „Brauchst du etwas Ruhe?“ Doch Ezra schüttelte den Kopf und erhob sich. „Nein, es geht schon wieder.“ Damit wollte er wieder nach unten gehen, da hielt die Russin ihn aber zurück und legte ihm ihre Hände auf die Schultern. „Ezra, da unten ist Besuch für dich gekommen.“ Besuch? Sogleich war alles in dem 16-jährigen auf Alarmbereitschaft, denn er konnte sich niemanden vorstellen, der ihn besuchen wollte. Außer vielleicht das Jugendamt, ein ehemaliger Freier oder vielleicht auch jemand aus seinen letzten Pflegefamilien. Oder war es vielleicht noch einer von Nastasjas Freunden und Verwandten? Nein, dann würde sie ganz sicher nicht so ernst aussehen. „Wer… wer ist denn noch gekommen?“ Die Russin atmete kurz durch und erklärte „Deine Mutter ist unten.“ Ezra verfiel in eine Schockstarre und konnte nicht glauben, was er da hörte. Seine Mutter Monica war hier? Aber wieso denn? Was suchte sie hier und wieso kam sie ausgerechnet jetzt? 16 Jahre lang hatte sie sich nicht gemeldet, hatte ihm nie geschrieben, ihn niemals besucht oder ihn auch nur ein einziges Mal angerufen. „Wieso ist sie hier?“ „Sie will dich besuchen. Alles andere musst du sie schon selbst fragen. Meinst du, du schaffst das oder soll ich ihr sagen, sie soll ein anderes Mal wiederkommen?“ Doch da ging Ezra an ihr vorbei und rannte die Stufen hinunter. Er eilte ins Wohnzimmer und da sah er auch schon diese Frau mit den teuren Klamotten, der riesigen Sonnenbrille und dem Sonnenhut. Als sie ihn bemerkte, nahm sie die Brille und den Hut ab und man sah sogleich, dass vom Gesicht her tatsächlich Ähnlichkeiten mit Ezra zu erkennen waren. Dieselben kastanienbraunen Augen, das gleiche fein geschnittene Gesicht. Zuerst blieb sie stehen, dann aber ging sie direkt mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht auf ihn zu. „Ezra, oh mon dieur bist du groß geworden! Gut siehst du aus.“ Sie umarmte ihn stürmisch, doch Ezra selbst erwiderte die Umarmung nicht. Er konnte das einfach nicht begreifen, was hier gerade geschah. Zu viele Fragen schossen ihm durch den Kopf, das Gefühlschaos war einfach zu groß. Und diese Frau, die angeblich seine Mutter war, war eine völlig Fremde für ihn. Aber dann stieß er sie von sich und ging einen Schritt zurück. „Was soll das?“ rief er und ballte seine Hände zu Fäusten. „Du tauchst einfach so auf, obwohl du mich und Dad zurückgelassen hast. Du bist abgehauen und hast dir ein schönes Leben gemacht, während mich dieser Bastard jahrelang verdroschen und missbraucht hat. Du warst nie für mich da, als ich dich gebraucht hätte und in all den Jahren, wo ich in der Hölle gelebt habe, da hast du nie von dir hören lassen. Wir waren dir vollkommen egal und du hast dich einen Scheißdreck für mich interessiert. Nie habe ich einen Brief von dir gesehen, nie hast du mich angerufen oder mich besucht. Stattdessen bist du einfach nach meiner Geburt abgehauen.“ Ezra war wütend und aufgebracht. Er war immer lauter geworden und man hätte wirklich meinen können, er wolle seiner Mutter gleich eine reinhauen, doch er konnte sich beherrschen und sah sie wütend und zugleich unendlich verletzt an. „Du hast mich einfach aus deinem Leben gestrichen und mich vergessen. Und jetzt stehst du hier und verlangst von mir, dass alles besser wird. Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was ich all die Jahre lang durchgemacht habe? Warum bist du einfach abgehauen? Wieso hast du dich nie gemeldet und warum tauchst du erst jetzt nach 16 Jahren auf?“ Schuldbewusst senkte die 40-jährige den Blick und nickte. „Ich weiß, dass ich damals einen großen Fehler gemacht habe. Ich habe meine Träume über meine Familie gestellt und ich hätte für dich da sein sollen. Aber damals habe ich gedacht, ich könnte das nicht und ich konnte mich beim besten Willen auch nicht als Mutter vorstellen. Ich hatte Angst davor, dass mein Leben komplett vorbei sein würde, wenn ich nicht meine Träume verfolge. Von Declans Tod habe ich auch erst letztes Jahr erfahren und war geschockt als ich hörte, dass du bei Pflegefamilien untergekommen bist. Es tut mir alles so Leid. Aber jetzt bin ich ja hier und ich möchte wieder gut machen, was ich versäumt habe. Ich bitte dich nur um eine einzige Chance.“ Damit nahm sie seine Hände und sah ihn mit einem traurigen Blick an. „Ich verspreche dir, dass ich von jetzt an immer für dich da sein werde, Ezra. Wir… wir können die verlorene Zeit nachholen und uns näher kennen lernen. Natürlich nur wenn du möchtest. Ich will dich jetzt auch nicht bedrängen. Wenn du willst, dann… dann kannst dich bei mir melden. Ich wohne zurzeit im Ritz-Carlton-Hotel. Du kannst mich jederzeit besuchen oder anrufen.“ Damit schrieb sie ihre Telefonnummer und die Adresse des Hotels sowie ihre Zimmernummer auf. Dann schließlich umarmte sie ihn und drückte ihm noch einen roten Umschlag mit einer Geschenkschleife in die Hand und wünschte ihm noch alles Gutes zum Geburtstag, bevor sie ging. Da Ezra völlig überfordert mit der ganzen Situation war, zog er sich erst einmal zurück und Elion begleitete ihn. Nastasja musste erst einmal was trinken und bot auch den anderen was an. Rumiko, Liam, Oliver und Andrew nahmen gerne an, die anderen tranken keinen Alkohol. Schließlich setzte sich die Russin, fand aber keine Worte um zu beschreiben, was ihr durch den Kopf ging. Stattdessen atmete sie laut aus und murmelte etwas auf Russisch. Schließlich aber war Rumiko die Erste, die das Schweigen brach. „Das war also Ezras Mutter“, stellte sie etwas nüchtern fest und sie wirkte auch nicht sonderlich begeistert. „Ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber ich fand diese Person mehr als unsympathisch.“ „Also ich fand sie sehr hübsch“, meldete sich Jamie, der natürlich nichts Negatives über irgendjemanden sagen konnte. Als Nastasja ihr Glas Wodka heruntergestürzt hatte, knallte sie das Glas auf den Tisch und verzog kurz das Gesicht, als der Alkohol ihr augenblicklich zu Kopf stieg. Rumiko stellte es etwas geräuschloser ab und fügte hinzu „Solche Leute kenne ich wirklich zu genüge. Meine leiblichen Eltern waren haargenau so. Viel Prestige und Glamour, aber das war es auch schon. Die geben das Geld mit vollen Händen aus und schauen auf andere herab. Solche Leute achten nur auf die Äußerlichkeiten und sind entsetzlich oberflächlich. Ich habe diese Bagage schon immer verabscheut…“ „Wir sollten nicht vorschnell urteilen“, erklärte die Russin und schüttete sich gleich noch ein Glas nach. Sie konnte das Zeug ohnehin wie Wasser trinken, ohne betrunken zu werden. „Dass sie nicht gerade begeistert reagiert, dass ihr Kind bei fremden Leuten wohnt, ist doch mehr als verständlich. Nun gut, mir gefiel ihre Art ja auch nicht, aber gegenüber Ezra scheint sie ja ganz anders zu sein. Wir wollten uns mit unserem Urteil lieber zurückhalten, bevor wir ihr die Augen auskratzen.“ Nachdem sie auch ihr zweites Glas geleert hatte, schenkte sie noch Liam ein, die anderen verzichteten. Sheol verschränkte die Arme nachdenklich hinter dem Kopf und meinte „Also ich fand sie ziemlich hochnäsig und arrogant. Habt ihr überhaupt bemerkt, wie die uns angeguckt hat?“ Klar hatten sie das alle mitgekriegt und natürlich war es nicht gerade förderlich gewesen, dass Monica sie alle mit einem herabwürdigenden Blick gestraft und auch nicht gerade höflich behandelt hatte. Liam, Jeremiel und L hatte das vollkommen kalt gelassen, aber die anderen waren weniger begeistert. Schließlich aber erklärte Oliver „Also ich finde, Nastasja hat Recht. Mag sein, dass sie von uns nicht viel hält, aber das spielt doch eh keine Rolle. Hauptsache ist doch, dass sich Ezra gut mit ihr versteht, immerhin ist er ihr Sohn!“ „Das schon, aber ich kenne solche Leute sehr gut“, erklärte Rumiko und blieb bei ihrem Urteil, wobei sie die Arme verschränkte und die Beine überkreuzte. „Solche Menschen sind egozentrisch, rechthaberisch und sie kümmern sich einen feuchten Kehricht um andere, weil sie nur sich selbst sehen und sich für etwas Besseres halten. Ich hab es selbst miterlebt. Immerhin war ich doch für meine Familie nur ein Ersatzteillager für meine kranke Schwester. Glaubt mir, die Frau wird noch Ärger machen, das verspreche ich euch.“ Es sah Rumiko überhaupt nicht ähnlich, dass sie ein solch hartes Urteil fällte. Normalerweise war sie viel aufgeschlossener und gab Menschen eine Chance. So hatte sie im Nachhinein auch Oliver sehr lieb gewonnen, nachdem sie erst so sauer war, weil er sie auf eine ziemlich schlechte Art und Weise angebaggert hatte. Aber bei Monica Denaux schien sie wohl bei ihrem Urteil bleiben zu wollen. „Vielleicht bist du auch ein bisschen zu voreingenommen, Schwesterherz“, sagte Beyond schließlich, doch auch er konnte die Halbjapanerin nicht umstimmen. Sie blieb dabei und so sagte Nastasja „Warten wir doch erst ab, was mit Ezra ist. Es ist allein seine Entscheidung, ob er den Kontakt zu seiner Mutter will oder nicht. Er hat ein Recht darauf und da sollten wir ihm auch nicht im Weg stehen. Vielleicht haben wir Monica auf dem falschen Fuß erwischt und sie ist eigentlich nicht so schlimm. Aber wenn sich Rumikos Verdacht bestätigt, dann werde ich auf jeden Fall da sein, um Ezra zu schützen.“ „Wir werden alle da sein“, ergänzte L und nahm sich noch ein Stück Torte, nachdem er das andere verputzt hatte. „Wir sind alle eine Familie und Ezra gehört auch dazu. Das Beste wird sein, wenn wir alles erst einmal beobachten und sehen, wie sich das entwickelt. Und sollte Monica Denaux unlautere Absichten verfolgen, werden wir das herausfinden. Wir haben genug Möglichkeiten, um sie vollständig zu durchleuchten und irgendwo einen schwarzen Fleck auf der weißen Weste zu finden.“ „Also ich weiß nicht, ob das wirklich der richtige Weg ist“, mischte sich Frederica ein, die nicht sonderlich begeistert von dieser Aktion war. „Haben wir wirklich das Recht, einfach so in dem Leben anderer Leute herumzuschnüffeln, nur weil sie uns nicht sympathisch sind?“ „Das Recht vielleicht nicht, aber die Möglichkeiten“, konterte Oliver geschickt und schien wohl schon seine innere To-Do-Liste zu schreiben. „Ich finde das trotzdem nicht richtig. Wollen wir jetzt jeden ausspionieren, wenn er in unser Leben tritt? Das kann es doch auch nicht sein.“ Die Meinungen gingen deutlich auseinander. Watari enthielt sich seiner Meinung genauso wie Jamie, während Oliver, Beyond, L, Rumiko und Liam dafür waren, Monica zu überprüfen. Jeremiel schlug sich auf Fredericas Seite, da er ihre Argumentation durchaus nachvollziehen konnte und Andrew war noch unschlüssig. Sheol schlug sich schließlich auf die Pro-Seite, aber hauptsächlich nur deswegen, weil er neugierig war, was diese Frau für schmutzige Geheimnisse hatte. Nastasja überlegte noch eine ganze Weile und sagte dann schließlich „Ich kann beide Seiten verstehen. Auf der einen Seite will ich ja auch wissen, was Ezras Mutter für eine Person ist und ob sie auch der richtige Umgang für ihn ist. Er braucht ein gefestigtes Umfeld und da kann ich auch eure Sorge verstehen, was ihr Verhalten betrifft. Ich mach mir ja auch Gedanken, für mich ist Ezra genauso wie ein eigenes Kind wie Jeremiel und L. Aber auf der anderen Seite hat auch Frederica Recht: wir dürfen nicht jeden Menschen einfach so ausspionieren, nur weil wir die Möglichkeit haben. Wir sind doch nicht der KGB!“ „KGB?“ fragte Sheol verwirrt, der damit nichts anfangen konnte. Seine Adoptivmutter erklärte es ihm. „Das Komitee für Staatssicherheit. War damals während der Sowjetunion. Die haben uns allesamt ausspioniert und überwacht. Und wer in ihren Augen verdächtig war, wurde weggesperrt und viele wurden nie wieder gesehen.“ „Also so was wie die NSA…“ „Ja, so ungefähr denke ich. Jedenfalls sollten wir uns etwas zurückhalten und erst anfangen herumzuschnüffeln, wenn der Verdacht begründet ist, dass Monica Denaux Ezra in irgendeiner Art und Weise schaden will oder einen schlechten Einfluss ausüben könnte. Bis dahin will ich keine Spionageaktion haben, okay?“ Damit sah sie eindringlich jeden im Raum an und alle gaben ihr Einverständnis. Das war zumindest ein guter Kompromiss fürs Erste. Kapitel 4: Nastasjas Gespräch ----------------------------- Am Abend ließ sich Ezra nicht mehr blicken und kam auch nicht zum Abendessen. Nach Monicas Besuch hatte die Feier ein etwas plötzliches Ende gefunden und während Sheol und Elion aufräumten, ging Nastasja die Treppen hinauf in Ezras Zimmer, um mit ihm zu reden. Der 16-jährige saß auf seinem Bett, blickte böse drein und hatte einen Teddybären im Arm, den er vermutlich aus Elions Zimmer genommen hatte. Die Russin setzte sich schließlich zu ihm und betrachtete ihn nachdenklich, dann aber brach sie endlich das Schweigen und fragte „Wie geht es dir denn?“ „Wie soll es mir denn bitteschön gehen?“ erwiderte Ezra mit verletzter Stimme. „Meine Mutter lässt sich einfach so blicken, nachdem sie es 16 Jahre lang nicht für nötig hielt, sich je bei mir zu melden.“ „Das ist sicher ganz schön viel für dich gewesen“, murmelte die Russin und nickte verständnisvoll. „Ich kann gut verstehen, wie du dich fühlst. Sie nach all den Jahren so plötzlich wiederzusehen, muss sicher einige Fragen aufgeworfen haben. Warum hat sie mich einfach zurückgelassen? Hat sie mich denn nicht geliebt? Hat sie nie daran gedacht, sich früher zu melden? Hat sie in all den Jahren überhaupt an mich gedacht? Das sind doch sicher die Fragen, die dich beschäftigen, oder?“ Ezra nickte und hielt den Blick gesenkt. Aufmunternd legte Nastasja einen Arm um seine Schultern. „Ich kenne das. Früher habe ich mir auch immer die Fragen gestellt, wieso mich meine Eltern weggegeben haben und ich habe sehr darunter gelitten, dass ich sie niemals kennen lernen durfte. Aber dann habe ich erfahren, dass sie mich weggegeben haben, weil sie mich schützen wollten. Sie wurden damals von der russischen Regierung verfolgt, da sie meinen Vater für einen Spion gehalten haben und sowohl ihn als auch meine Mutter verschleppt haben. Und wahrscheinlich hätten sie mich auch getötet, wenn sie mich nicht in ein Waisenhaus gegeben hätten. Es mag zwar schwer nachvollziehbar klingen, aber manchmal geben Eltern ihre Kinder ab, weil sie es als das Beste erachten. Vielleicht hat deine Mutter gedacht, sie wäre nicht in der Lage, sich um dich zu kümmern. Womöglich hat sie gedacht, sie könnte mit der Verantwortung nicht umgehen und hatte Angst davor.“ „Aber warum hat sie sich nie gemeldet?“ „Tja, das kann ich dir leider nicht beantworten. Vielleicht hat sie ja oft daran gedacht, aber sich nicht getraut, weil sie Angst oder ein schlechtes Gewissen hatte. Womöglich hat sie heute all ihren Mut aufbringen müssen, um dich zu besuchen. Aber weißt du, die Antworten wirst du nur dann bekommen, wenn du mit ihr redest.“ Doch Monica Denaux war nicht das einzige Problem, das Ezra beschäftigte. Das verriet Nastasjas mütterlicher Instinkt und sie ahnte, dass ihren Pflegesohn etwas sehr schwer auf der Seele lag. Doch da er nicht mit der Sprache rausrücken wollte, hakte sie nach. „Sag schon, Ezra. Was hast du? Fühlst du dich nicht wohl hier?“ „So ein Quatsch!“ rief er, sank aber dennoch mehr in sich zusammen. Man hätte wirklich Mitleid bekommen, so unglücklich sah er in diesem Moment aus. „Was ist es dann? Hast du vielleicht Probleme mit Sheol oder Elion oder ist es wegen mir? Hey, du kannst mit mir über alles reden, ich bin dir da nicht böse.“ Doch Ezra zögerte noch, denn da war diese Angst, die so präsent war, dass sie alles in ihn blockierte. „Weißt du, ich hab schon längst bemerkt, dass du bereits seit Tagen so still und zurückhaltend bist, wenn ich in der Nähe bin. Das war kurz nach unserem Streit wegen der Raucherei. Kann es sein, dass du Angst vor mir hast oder du dich in meiner Gegenwart unwohl fühlst?“ Immer noch zögerte Ezra und brachte kein Wort hervor. Aber als er diese Ruhe und Wärme spürte, die Nastasja ausstrahlte, da konnte er seine Angst überwinden und erklärte sein Dilemma. „Jeder hat mich bis jetzt aufgegeben und niemand wollte mich je haben. Kaum, dass ich den anderen Pflegeeltern zu anstrengend wurde, wollten sie mich in eine Besserungsanstalt, in eine Klapse oder in ein Internat schicken, um mich loszuwerden. Es war doch immer dasselbe.“ „Und deshalb versuchst du, mir aus dem Weg zu gehen. Weil du Angst hast, ich würde dich ebenfalls irgendwo hinschicken, weil du zu anstrengend werden könntest?“ Zwar sagte Ezra nichts, aber sein Schweigen war mehr als Antwort genug. Und sogleich nahm Nastasja ihn in den Arm. „Das ist doch Unsinn. Ich würde dich doch niemals irgendwohin abschieben, nur weil wir uns mal streiten. Jede Familie streitet sich und Eltern, die von ihren Kindern noch nie gehasst und angeschrieen worden sind, haben in der Erziehung einiges falsch gemacht. Es ist ganz normal, dass auch wir beide uns streiten, weil wir unsere Differenzen haben. Und ebenso ist es auch wichtig, dass wir und streiten. Denn nur so können wir auch unsere Meinung mitteilen und sagen, was uns auf den Keks geht. Aber nur wegen so etwas würde ich dich doch nicht wegschicken. Offiziell bist du zwar „lediglich“ ein Pflegekind, aber du bist genauso meine Familie wie Sheol, Elion und die anderen. Und daran wird sich auch nichts ändern. Egal was auch kommt, du wirst immer einen Platz in diesem Haus haben. Auch wenn du dich eines Tages dafür entscheiden solltest, zu deiner Mutter zurückzukehren, kannst du jederzeit zu uns zurückkommen. Das ist ein Versprechen.“ Und kaum, dass sie das gesagt hatte, klammerte sich Ezra an sie und vergrub sein Gesicht in ihre Schulter. Sanft strich sie ihm durchs Haar und spürte, wie er mit seinen Emotionen kämpfte. „Weißt du Ezra, ich denke, dass der Herr dich mir aus einem bestimmten Grund anvertraut hat, genauso wie Elion und Sheol. Und aus diesem Grund werde ich euch nicht weniger lieben als meine beiden Söhne. Genauso wie für die anderen werde ich auch für dich da sein und dir dieselbe Liebe und Zuwendung geben, wenn du es auch zulässt.“ Nastasja hielt ihn im Arm, bis er sich beruhigt hatte. Dann strich sie ihm eine Träne weg und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich mag zwar streng sein, das stimmt. Und ich werde auch sehr temperamentvoll und laut. Russisches und italienisches Blut ist eben in Kombination etwas ungesund und ich gebe auch zu, dass ich manchmal ziemlich heftig reagieren kann. Aber das bedeutet nicht, dass ich jemals mit dem Gedanken spielen würde, dich oder die anderen einfach so vor die Tür zu setzen. Es ist so, dass ich selbst keine Kinder bekommen kann. Deshalb glaube ich, dass der Herr mir als Ausgleich dafür die Aufgabe übertragen hat, mich um verlorene Kinder zu kümmern und ihnen ein Zuhause zu geben.“ „Und was denkst du, soll ich tun? Soll ich mich mit meiner Mutter treffen oder nicht?“ „Das ist allein deine Entscheidung. Ich denke aber, dass es vielleicht ratsam wäre, wenn du ihr wenigstens die Chance gibst, alles zu erklären. Wer weiß, vielleicht hast du dann endlich Gewissheit und weißt, was du willst. Und vielleicht könnt ihr tatsächlich ein näheres Verhältnis zueinander aufbauen. Diese Situation ist nichts anderes als Schrödingers Katze…“ „Was für eine Katze?“ Nastasja musste schmunzeln und erklärte „Mein Mann Henry war Physiker und kam oft mit diesem Gleichnis. Schrödingers Katze ist ein Experiment, wo eine Katze sich in einer Kiste befindet, zusammen mit einer Kapsel, die zu einem unbestimmten Zeitpunkt ein tödliches Gas freisetzt. Und solange die Kiste nicht geöffnet wird, kann die Katze als tot und lebendig angesehen werden. Heißt also: solange du den Kontakt zu deiner Mutter nicht aufgenommen hast, kann das Verhältnis zwischen euch beiden gut und schlecht sein. Gewissheit wirst du erst haben, wenn du es versuchst. Aber schlaf erst mal eine Nacht darüber. Wenn du Rat oder Hilfe brauchst, kannst du dich jederzeit an mich oder an die anderen wenden.“ Ezra nickte und schien sich nun einigermaßen beruhigt zu haben. Er atmete tief durch und legte den Teddy beiseite. „Nur mal so eine blöde Frage: bist du so etwas wie eine von diesen Bibelfritzen oder so?“ Die Russin hob bei dieser Frage erstaunt die Augenbrauen, dann lachte sie und erklärte „Nein, ich bin Atheistin. Ich bin sozusagen eine freie Gläubige, die sich keiner Kirche verschrieben hat. Keine Religion war passend für mich und ich mag diese Gruppierungen nicht, die andere ausschließen oder unterdrücken. Ich glaube daran, dass jeder in den Himmel kommt, wenn er ein guter Mensch ist, ganz egal ob er an Gott glaubt oder nicht. Der Glaube hat mir oft in schweren Zeiten geholfen. Angefangen damals, als ich im Waisenhaus gelebt habe, als ich nach England kam und als ich erfahren habe, dass ich keine Kinder gebären konnte. Mein Leben bestand aus vielen Kämpfen und damit meine ich nicht nur die im Ring. Aber ich war auch für jeden Kampf sehr dankbar, weil ich dadurch stärker geworden bin. Sowohl für mich selbst, als auch für andere. Der Glaube hilft mir, nicht aufzugeben und wieder aufzustehen, wenn ich am Boden bin. Und auch du wirst stärker durch jeden Kampf, den du bestreitest. Aber von jetzt an musst du deine Kämpfe nicht mehr alleine bestreiten. Denn dafür hast du ja eine Familie.“ Damit erhob sich Nastasja und ging zur Tür. Sie blieb aber noch im Türrahmen stehen und wandte sich noch ein letztes Mal Ezra zu. „Zerbrich dir jetzt nicht den Kopf, wie du dich entscheiden sollst. Schlaf einfach erst mal die Nacht darüber und nimm dir die Zeit, die du brauchst. Dieses Recht darfst du dir ruhig einfordern.“ Damit verließ sie das Zimmer und ging wieder die Treppen runter und so blieb Ezra allein im Zimmer. Er hatte das Gefühl, als würde ihm gleich die Decke auf den Kopf fallen und ihm der Kopf explodieren. Am liebsten hätte er jetzt eine Zigarette geraucht, aber Nastasja hatte all seine Vorräte entsorgt und ihm zur Strafe das Taschengeld gekürzt. Also stand er auf und ging rüber in Elions Zimmer. Der Proxy saß gerade am Schreibtisch und war wie schon so oft am Zeichnen. Dieses Mal handelte es sich bei dem Motiv um ein großes Lavendelfeld. Der Mistkerl hatte so ein Talent, dass Ezra jedes Mal neidisch wurde, wenn er diese Bilder sah. Elion malte fast jeden Tag und hätte eigentlich Künstler werden sollen. Sein ganzes Zimmer war voller Bilder, die er selbst gezeichnet hatte und sie alle waren wunderschön. Er hatte aber auch eine verspielte Seite, die sich mehr als deutlich zeigte, wenn man die vielen Stofftiere sah. Elion hatte eine große Schwäche für so etwas und liebte auch Spieluhren. Insbesondere jene, die er von Nastasja geschenkt bekommen hatte. Diese hatte er Ezra überlassen und die Spieluhr, die immerzu „Tears in Heaven“ spielte, war Ezras wertvollster Besitz, eben weil es ein ganz persönliches Geschenk von Elion war. Jeden Abend hatte er dieser Melodie gelauscht und sich zurückerinnert, als Elion ihm beigestanden hatte, nachdem sein Freier ihn brutal zusammengeschlagen hatte, während er sich an ihm vergangen hatte. Da hatte er einfach nicht verstanden, wieso sich Elion um ihn kümmerte, ohne irgendwelche Hintergedanken zu hegen. Und wenn er daran dachte, wie er ihn behandelt hatte… Der Proxy drehte sich zu ihm um, als er bemerkte, dass da jemand ins Zimmer gekommen war. Und sogleich, als er Ezra sah, legte er die Stifte beiseite und hatte einen fragenden Gesichtsausdruck. Der 16-jährige sah in diese leuchtenden Augen, die so unterschiedlich und einzigartig waren. Das rechte Auge mit einer goldfarbenen Iris und das andere, welches so eisblau war wie Jeremiels Augen. Und dann noch dieses Haar, welches wie Silber war. Selten sah man so etwas wie Härte oder Zorn in Elions Gesicht. Meist war es von Ruhe, Gutmütigkeit und Herzlichkeit gezeichnet. Genauso wie Nastasjas, wenn sie nicht die fluchende Russin, das energische Kampfweib oder die strenge Erzieherin, sondern die liebevolle und einfühlsame Mutter war. Es ist schon komisch, dachte sich Ezra. Ich selbst habe es niemals geschafft, ihn so zu provozieren, dass er die Beherrschung verliert. Er tut nie einer Fliege was zuleide, ist die Friedfertigkeit und die Geduld in Person. Und er nimmt mich so wie ich bin, selbst mit meinen Wutausbrüchen und meinem schwierigen Charakter. „Echt Mann, wo hast du gelernt, so zu malen?“ „Ich hab es mir selbst beigebracht. Genauso wie alles andere auch, weil ich ja kaum jemanden hatte, der mir etwas beibringen konnte.“ „Ach ja, so was nennt sich Autodiktator, oder?“ „Autodidakt“, korrigierte Elion. „Alle Proxys besitzen diese Fähigkeit. Das Malen hat mir schon immer dabei geholfen, meine Fantasien und Träume zu Papier zu bringen.“ Ezra sah sich ein paar der Zeichnungen an und fand auch eine von sich. Es zeigte ihn schlafend und mit offenen Haaren. Es war ein sehr detailliertes Bild und in ruhigen Farben dargestellt. Er betrachtete es eine Weile und fragte schließlich „Wieso hast du mich so gemalt?“ „Weil du so am friedlichsten aussiehst und dich keine Ängste oder schlimme Erinnerungen quälen.“ „Hast du mir etwa beim Schlafen zugeguckt, als du mich gemalt hast?“ „Nein, ich habe es so gemalt, wie ich es mir in meiner Fantasie erdacht habe.“ Ezra sah sich die Zeichnungen an, die aber allesamt das Gleiche ausstrahlten, was Elions Wesen ausmachte. Ruhe, Helligkeit, Wärme… In keinem dieser Bilder war irgendwie Dunkelheit zu sehen. Selbst nicht auf den Bildern, wo er eine große Sternschnuppe am Nachthimmel gezeichnet hatte. „Ernsthaft, dich scheint wohl nie etwas aus der Ruhe zu bringen. Ich kann auch mit dir anstellen was ich will. Nimmst du irgendwelche Beruhigungspillen, oder wie machst du das?“ Elion zuckte unsicher mit den Achseln und erklärte „Ich war schon immer so. Ich sehe einfach keinen Grund, sauer zu werden, wenn man Konflikte auch friedlich lösen kann. Und sich aufzuregen ist sowieso ungesund.“ „Ernsthaft du Pazifist, gibt es überhaupt irgendetwas, was dich total zur Weißglut bringt? Wahrscheinlich nicht, oder?“ Hier aber wurde Elions Blick ernst und das geschah nicht sehr oft bei ihm. „Doch, da gibt es etwas. Und ich habe schon mal die Beherrschung verloren. Insgesamt geschah es zwei Mal.“ „Ach echt?“ fragte Ezra und hob verwundert die Augenbrauen. „Und was hat dich zur Weißglut gebracht?“ „Beim ersten Mal geschah es im Institut. Da gab es jemanden, der entsorgt werden sollte und das wollte ich nicht zulassen. Dabei eskalierte die Situation und ich tötete mehrere Aufseher. Allerdings kann ich mich kaum noch an die Person erinnern, die ich retten wollte und sie ist sowieso inzwischen verstorben. Das zweite Mal war, als ich dich gefunden habe, als dich diese beiden Mafiosi getötet haben. Ich hätte auch sie getötet, wenn mich Liam und Jeremiel nicht aufgehalten hätten.“ Nun war der 16-jährige endgültig sprachlos, als er das hörte. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass ausgerechnet Elion so wütend werden konnte, dass er sogar imstande war, jemanden umzubringen. Dabei war er doch die Friedfertigkeit in Person. „Du… du machst Scherze, oder?“ Doch es war Elions Ernst, das sah er sofort. „Ich habe es nicht zum Spaß gesagt, dass ich gefährlich bin. Denn obwohl ich Gewalt hasse, so hasse noch viel mehr Menschen, die jene töten wollen, die mir wichtig sind und vor allem jene, die ich liebe. Ich mag niemanden töten, aber als ich dich gesehen habe… tot und so entsetzlich zugerichtet, da hatte ich das Gefühl, als würde mit einem Male meine ganze Welt zusammenstürzen. Ich hatte meinen Glauben verloren und dachte mir einfach: wenn es immer nur Gewalt und Elend in dieser Welt gibt, dann kann sie doch aufhören zu existieren. Und da wollte ich einfach nur noch diese Menschen töten. Ich kann leider nichts dagegen tun. Das ist meine dunkle Seite, nämlich die meines Proxy-Ichs, das einzig und allein zu dem Zweck existiert, Menschen zu töten. Und auch wenn ich Gewalt verabscheue, würde ich sie jederzeit anwenden, wenn ich dich und die anderen auf diese Weise beschützen kann.“ Tief bewegt von diesen Worten sah Ezra ihn an, dann beugte er sich zu Elion herunter und küsste ihn. Schließlich stand der Grauhaarige auf und drückte fest ihn an sich. „Für mich bist du das Allerwichtigste auf der Welt, Ezra. Daran wird sich nie etwas ändern. Und eben weil du es bist, wirst du diese dunkle Seite von mir nur sehen, wenn ich dich beschützen will.“ Damit beugte er sich zu ihm herunter und küsste nun ihn. Ohne zu zögern erwiderte der 16-jährige seinen Kuss und stellte sich dabei auf die Zehenspitzen, um sich wenigstens ein bisschen größer zu machen. Sogleich aber hob Elion ihn hoch, woraufhin Ezra sich an ihm festhalten musste. „Was zum… Fuck Alter, lass mich runter!“ Doch Elion hörte nicht auf ihn, sondern brachte ihn zum Bett und ließ ihn auf diesem nieder. Dann setzte er sich neben ihn, beugte sich herunter und strich sanft über die Wange des Kurzgeratenen. Seine verschiedenfarbenen Augen beobachteten jede Reaktion genau, versuchten zu erkennen, ob es einen Widerwillen gab oder nicht. Doch dieser war nicht zu erkennen. Denn obwohl Ezra wie immer diesen verärgerten Gesichtsausdruck hatte, so gab es keinen Widerwillen in seinem Blick oder irgendetwas anderes, was für Elion erkenntlich darauf schließen ließ, dass sein jüngerer Freund es nicht wollte. Zärtlich strich er ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah tief in seine kastanienbraunen Augen. In seinem Blick lag so viel Emotionales. Liebe, Sehnsucht, aber auch ein Stück weit Angst. Angst davor, ihm wehzutun oder ihn zu verlieren. Die Erinnerung an diesen einen Tag, als er zu spät kam und nur noch Ezras Leiche fand, hatte sich tief in sein Herz eingegraben und Spuren hinterlassen. Spuren, die niemals verschwinden würden. Als Ezra das bemerkte, verzog er ein wenig spitzbübisch die Mundwinkel, dann kniff er Elion in die Nase. „Jetzt glotz nicht so doof. Wenn du schon über mich herfallen willst, dann auch richtig. Vom Anstarren werde ich ganz sicher nicht scharf. Bei deiner Trauermiene vergeht mir gleich noch die Lust. Ernsthaft…“ „Tut mir Leid“, sagte Elion und daraufhin ließ Ezra von seiner Nase ab. „Es ist nur so, dass ich unfreiwillig wieder an diesen Anblick denken musste.“ „Keine gute Methode, um heiß zu werden“, entgegnete der 16-jährige frech und legte es offenbar darauf an, Elion zu provozieren, noch weiter zu gehen. „Sei doch froh, dass ich da bin und du mich jetzt an der Backe hast. Wenn hier jemand einen Grund hat, sich irgendwelche Gedanken zu machen, dann ja wohl ich. Denn zufällig ist mein Lover mein Pflegevater, der abgefuckte Kräfte hat wie aus dem Marvel-Universum und der gut und gerne doppelt so alt ist wie ich, wenn nicht sogar noch älter. Meine erste große Liebe habe ich mir da ehrlich gesagt ganz anders vorgestellt.“ „Ach ja? Und wie?“ „Blond und vollbusig wie Pamela Anderson.“ Sie mussten beide darüber lachen, denn natürlich hatte Ezra dies überhaupt nicht ernst gemeint. „Nein jetzt ernsthaft: ich hab mir zwar keine Gedanken gemacht, wie meine erste große Liebe sein würde, aber mit so etwas hab ich nicht gerechnet. Nun, zumindest kann ich von mir behaupten, dass ich wohl den ungewöhnlichsten Freund habe. Mit Ausnahme vielleicht Jeremiel. Der toppt mit seinem Lover ja wirklich alles. Aber scheiß drauf! Lieber hab ich einen außergewöhnlichen Freund, als irgend so ein 08/15 Schlappschwanz, der mir auf die Eier geht.“ Elion schmunzelte und war froh, Ezra heute noch mal lächeln zu sehen. Es war schon sehr selten, dass er lächelte und diese Momente waren besonders für ihn sehr wertvoll. „Das war wohl das größte Kompliment, was du mir je gegeben hast.“ „Und auch das Letzte, wenn es hier nicht langsam mal zur Sache geht. Also was ist? Willst du jetzt ficken oder nicht?“ Und diese direkte Frage war zu viel für Elion. Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Oh Mann, daran merkt man, dass du 16 Jahre alt bist.“ Kapitel 5: Ezra und Elion ------------------------- Elion hatte Ezras Pullover ausgezogen und ließ seine Hände sanft über dessen nackten Oberkörper gleiten. Früher war dieser von Narben verunstaltet. Spuren von Peitschenhieben, Zigaretten und Messern hatten sich auf dieser blassen Haut abgezeichnet. Doch nun waren diese Narben allesamt fort und nichts deutete mehr auf eine Vergangenheit hin, in der es nur Schmerz, Einsamkeit und Demütigung gab. Sanft küsste der Proxy Ezras Hals, wanderte dann langsam hinunter zu seiner Brust. Es war schon etwas merkwürdig, dass er nicht mehr der Passive war wie all die Jahre zuvor, wo er von James oder den Aufsehern vergewaltigt worden war. Aber dieses Verlangen, Ezra nahe zu sein und ihn zu berühren, war einfach zu stark, als dass er hätte dagegen ankämpfen können. Und Ezra selbst wollte offenbar lieber ihm diesen führenden Part überlassen, weil er es selbst nicht anders kannte. Am Anfang hatte Elion noch gezögert und es war ihm erst schwer gefallen, in Ezra kein Kind zu sehen, sondern den Menschen, den er liebte und den er begehrte. Aufgrund seiner Größe sah er schon sehr jung aus und auch von der Figur her war er so zierlich, dass er zusammen mit den langen Haaren schon wie ein Mädchen aussah. Nachdem sie sich zu ihren Gefühlen bekannt hatten, war dieses eine Thema natürlich auch im Raum gewesen. Nämlich als Ezra ganz unverblümt gefragt hatte, ob Elion mit ihm schlafen wollte. Sie hatten die Vereinbarung getroffen, bis zu seinem 16. Geburtstag zu warten, damit er auch die Zeit hatte, diese schrecklichen Erlebnisse sacken und es auch ruhig angehen zu lassen. Elion hätte ihm auch problemlos noch mehr Zeit gelassen. Er hätte es sogar akzeptiert, wenn Ezra es überhaupt nicht wollte, aber der Fall war ja zum Glück nicht eingetreten. Denn auch Ezra wollte es genauso wie Elion und wie ein 16-jähriger nun mal war, konnte er sehr direkt werden und es auch regelrecht darauf anlegen, genommen zu werden. Auch wenn er sensibel und unsicher sein konnte, so durfte man ihn auch nicht unterschätzen, denn er hatte viele Seiten und es war nicht leicht für andere Menschen, ihn zu verstehen. Er konnte eben etwas schwierig sein. Aber nicht für Elion. Er verstand seinen 16-jährigen Freund und konnte zwischen den Zeilen lesen, was er wirklich wollte. Und er wusste genau, wie er mit ihm umzugehen hatte. Spielerisch umkreiste er mit seiner Zunge Ezras Brustwarzen und spürte, wie sie hart wurden. Der Kurzgeratene atmete nun etwas geräuschvoller als gerade eben noch und es war nur schwer zu übersehen, dass diese Berührungen ihn erregten. Und als er dann noch begann, sie vorsichtig zwischen seinen Fingern zu kneten, da biss sich Ezra auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Dieser hatte sichtlich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber das ließ Elion nicht zu. Er küsste Ezra und begann mit seiner Zunge zu spielen. „Wenn du dir so auf die Lippe beißt, tust du dir noch weh.“ „Alte Angewohnheit…“, murmelte Ezra und sah ihm in die Augen. Der Proxy lächelte und küsste ihn wieder. „Dann müssen wir etwas dagegen unternehmen, nicht wahr?“ Als seine Hand zwischen Ezras Beine wanderte, da zuckte der 16-jährige kurz zusammen und klammerte sich an ihn fest. Seine Wangen glühten und er versuchte mit aller Macht, keinen Ton von sich zu geben. Nun begann der Proxy ihm langsam die Hose zu öffnen und sie ihm auszuziehen. Der Jugendliche warf ihm einen provokanten Blick zu und bemerkte „Kannst es wohl nicht abwarten, oder? Du gehst ziemlich flott voran.“ „Ich richte mich eben ganz danach, was du willst.“ „Ich steh eben nicht so auf stundenlanges Vorspiel. Da schlaf ich ja noch ein, bevor es überhaupt angefangen hat.“ Elion konnte einfach nicht anders, als über Ezras Worte zu schmunzeln. Für gewöhnlich verhielt sich der Junge so erwachsen, aber in Situationen wie diesen zeigte sich mehr als deutlich, dass er noch ein Teenager war. „Du bist wirklich wie ein kleines Kätzchen das versucht, wie ein Löwe zu brüllen.“ „Lass gefälligst diese peinlichen Vergleiche. Als nächstes bindest du mir wohl noch ein Glöckchen um, oder was?“ „Dieser Gedanke ist irgendwie ganz süß.“ „Du kannst mich mal!“ Doch bevor Ezra weitermeckern konnte, umschloss Elions Hand auch schon sein bestes Stück und wieder biss sich der 16-jährige auf die Unterlippe. Nun entschied sich der Proxy für eine andere Strategie. Er setzte sich aufs Bett und platzierte seinen jüngeren Lover auf seinen Schoß. Und während er weiterhin sanft dessen Weichteile bearbeitete, schob er zwei Finger zwischen Ezras Zähne um ihn daran zu hindern, sich auf die Unterlippe zu beißen. Zärtlich küsste er seinen Hals und hörte ihn leise keuchen. Er liebte es, ihn so zu hören und er wollte noch mehr hören. Ezra selbst kämpfte immer noch mit sich und versuchte wohl noch, sich nichts anmerken zu lassen. Selbst jetzt noch existierte da dieser Gedanke, er müsse sich aus irgendeinem Grund zurückhalten. Doch dazu ließ es Elion nicht kommen und seine Bewegungen wurden schneller und sein Griff wurde stärker. Der 16-jährige zitterte und seine Widerstandskraft schmolz mit jeder weiteren Sekunde immer mehr dahin. Er legte den Kopf zurück und er versuchte instinktiv wieder, sich auf die Unterlippe zu beißen, doch stattdessen vergrub er seine Zähne lediglich in Elions Finger. „Das scheint dir sehr zu gefallen, oder?“ Ezra sagte nichts, er atmete schwer und verkrallte seine Hände ins Bettlaken. Mit einem Male war der vorlaute Bengel von gerade eben verschwunden und nun war der Junge ganz kleinlaut geworden. Er befand sich in einem inneren Kampf und war gar nicht fähig zu antworten. Er spürte, wie ihm heiß wurde und die Erregung sich immer weiter steigerte. Allein die Tatsache, dass es sich ganz anders anfühlte als diese ganzen Male zuvor, wo er sich an irgendwelche Wildfremden verkauft hatte, machte es für ihn leichter, diese Erinnerungen einfach loszulassen und zu vergessen was war. Elion ging nicht so forsch und direkt vor, er strahlte eine solche Ruhe aus, dass sie auch auf ihn abfärbte und er sich somit einfach fallen lassen konnte. Ja, bei Elion fühlte er sich sicher und geborgen. Er konnte ihm vertrauen… Als sich dieses Gefühl immer weiter steigerte und Ezra spürte, dass er gleich soweit sein würde, verkrallten sich seine Hände nur noch fester in das Laken und sein Herz begann zu rasen. Er war kaum noch fähig, einen klaren Gedanken zu fassen und verlor sich in diesem unbändigen Verlangen nach mehr und diesem atemberaubenden Gefühl der Lust. Er wollte es, wollte es mit aller Macht und doch konnte er es nicht sagen, weil er es aus irgendeinem Grund nicht über seine Lippen brachte. Doch Elion verstand ihn ohne Worte und wusste deshalb genau, was nun zu tun war. Also folgte er Ezras Wunsch und küsste sogleich seinen Nacken. Der 16-jährige, der nicht genau erkannte, was nun passieren würde, hatte Mühe genug, den letzten kläglichen Rest seines Verstandes zusammenzuhalten, um irgendwie seine Stimme zu unterdrücken. Doch als er spürte, wie Elion seine Hand von seinem Mund wegnahm und kurz darauf vorsichtig einen Finger einführte, da bäumte sich Ezra auf und verlor die Kontrolle über sich selbst, woraufhin er laut aufstöhnte. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich zerspringen und ihm wurde fast schwindelig. Seine Atmung ging nun immer schneller und er umklammerte Elions Arm. Sein ganzer Körper wurde von einer intensiven Welle der Lust ergriffen und er fürchtete, in ihr noch zu ertrinken. Dieses Gefühl steigerte sich fast ins Unerträgliche, aber dann entlud sich diese aufgestaute Hitze und dann, als Ezra endlich zu seinem Höhepunkt kam, sank er keuchend zusammen und Elion hielt ihn fest. „Alles in Ordnung?“ „Frag doch nicht ständig nach… natürlich geht’s mir gut, verdammt.“ „Ich meine ja nur. Letzte Nacht hattest du schon wieder Probleme mit dem Kreislauf wegen deiner Anämie.“ Zugegeben, Ezra war ein klein wenig schwindelig und es drehte sich bei ihm so einiges im Kopf, aber das wollte er vor Elion nicht zugeben. Da kam er sicherlich noch auf den Gedanken, jetzt alles abzubrechen, obwohl sie gerade erst angefangen hatten. „Ich kipp schon nicht um und jetzt mach weiter!“ „Na gut, aber du musst dann auch die Konsequenzen tragen.“ Ezra seufzte genervt, als er das hörte, sagte aber nichts und sogleich wechselten sie die Position. Der 16-jährige legte sich bäuchlings aufs Bett und wartete. Er hörte, wie Elion den Reißverschluss seiner Hose öffnete und atmete tief durch, um sich zu entspannen. Und kurz darauf spürte er einen wachsenden Druck in seiner unteren Hälfte. Es schmerzte ein klein wenig, war aber bei weitem erträglicher als die unzähligen Male mit Jeffrey Parson, Tyson, Ramon und all den anderen, die sich mit ihm vergnügt hatten. Elion ging sehr vorsichtig vor und nahm sich die Zeit. Ezra drückte sein Gesicht ins Kissen, um irgendwie seine Stimme zu dämpfen und damit Elion nicht sah, wie er in diesem Moment gerade aussah. Er spürte diese Hitze, die immer tiefer in sein Innerstes vordrang und wie der Druck immer stärker wurde. Es war ein so unbeschreibliches Gefühl und zuerst tauchten wieder diese Bilder vor Ezras Augen auf. Bilder von schrecklichen Erlebnissen, die für ihn die Hölle gewesen waren und er erinnerte sich an all die Emotionen, die er dabei empfunden hatte. Selbsthass, Schmerz, Angst, Scham, Verzweiflung… Als diese Bilder ihn zu übermannen drohten, hob er seinen Kopf und sprach mit schwacher Stimme „Halt mich fest…“ Und so beugte sich Elion zu ihm herunter, schlang einen Arm um ihn und küsste seinen Nacken. „Es ist alles gut, Ezra. Ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Ich hab keine Angst. Und jetzt halt die Klappe und beweg dich endlich!“ Und diesem Wunsch kam der Proxy selbstverständlich nach. Seine Umarmung zu spüren half Ezra, diese ganzen Bilder wieder aus seinem Kopf zu verbannen und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Diese Ruhe, die Elion ausstrahlte, ging direkt auch auf ihn über und er spürte, wie diese Angst sofort wich. Allein Elions Nähe gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit. Solch ein Gefühl hatte ihm sonst niemand geben können und deshalb war der Proxy auch der Einzige, mit dem er jemals wieder Momente wie diese teilen wollte. Elions Stöße nahmen an Härte zu und Ezra war voll und ganz in diesem atemberaubenden Gefühl gefangen. Doch noch war es nicht genug, er wollte noch mehr. „Tiefer…“, brachte Ezra unter Keuchen hervor und hielt sich an Elions Arm fest. Schweres Keuchen erfüllte die Luft im Zimmer und Schweißperlen glänzten auf Ezras Haut und sie beide waren gefangen in dieser unbändigen wunderbaren Leidenschaft und dem Wunsch, dem anderen nah zu sein. Sie wollten einander spüren und diesen Moment ewig währen lassen. Ezra wünschte sich so sehr, für immer bei Elion bleiben zu können. Ganz egal was auch kommen mochte und er allein sollte derjenige sein, den er in so tief in seine Welt lassen würde, um ihn sein Herz zu schenken. „Elion“, brachte er mit keuchender Stimme hervor und beließ es nur bei seinem Namen. Es war so, als versuchte er diesen Namen herauszuschreien, damit die ganze Welt wusste, wem er sein Herz geschenkt hatte. Ein Mal und niemals wieder. Außer Elion würde es nie wieder jemanden geben, dem er sein Herz schenken würde. Das wusste er mit fester Gewissheit und auch wenn er oft etwas gemein war, so würde er mit Sicherheit niemals zulassen, dass sie beide jemals getrennt wurden. Elion gehörte ihm allein, genauso wie er selbst Elion allein gehörte. Womöglich lag es an seinem Alter und seiner mangelnden Lebenserfahrung, dass er so dachte und hätte vielleicht irgendwann mal gedacht, dass es vielleicht nicht immer so sein würde. Aber davon wollte er nichts wissen. Es zählte für ihn einzig und allein, dass Elion bei ihm war. Er hatte ihm einen neuen Lebenswillen gegeben, ihn aus dem Ghetto geholt und ihm trotz aller Zurückweisungen beigestanden und ihm Trost und Kraft gegeben. Obwohl sie in verschiedenen Welten lebten und auch sehr verschieden waren, so teilten sie dennoch das Gefühl, dass der andere ihnen einen Lebenssinn gab. Ezra gab Elion das Gefühl, kein Monster zu sein und dass er menschlich war und als Mensch auch das Recht auf ein Leben hatte. Und Elion gab ihm wiederum das Gefühl, dass er aufrichtig geliebt wurde und ihm bedingungslos vertrauen konnte. Dem 16-jährigen überkam eine Gänsehaut und konnte kaum noch atmen. Die Kontrolle über seine Stimme hatte er schon längst verloren und Lustgestöhne vermischte sich mit schwerem Keuchen. Die Welt um sie herum verschwand in eine unerreichbare Ferne hinter einem dichten Schleier und in ihrem Verstand existierte nichts als diese unzähmbaren Gefühle und ihre diese intensiven Empfindungen. Elion beugte sich zu Ezra herunter und küsste seinen Hals. „Ezra…“, flüsterte er in dessen Ohr und drückte ihn noch fester an sich. Der 16-jährige brachte kein Wort hervor und war überwältigt von diesem Augenblick. Er konnte Elions wie wild schlagendes Herz spüren, den Duft seines Haares riechen und seine Stimme so dicht an seinem Ohr zu hören war fast schon zu viel für ihn. Er spürte, dass sie sich beide langsam aber sicher ihrem Limit näherten und so setzten sie beide zum Endspurt an. Elions Stöße wurden noch stärker, noch schneller und Ezras Körper bewegte sich wie von allein. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte nichts dagegen tun können und so versuchte er es auch gar nicht erst, sondern ließ sich einfach vom Moment hinreißen, genauso wie Elion. Ein elektrisierendes Kribbeln durchfuhr seinen Körper und er bekam eine Gänsehaut. Alles, was er je zuvor wahrgenommen hatte, wenn er mit jemand anderem geschlafen hatte, war bei weitem nicht so stark gewesen wie jetzt. Der Schmerz, den er noch zu Anfang verspürt hatte, war vollständig in dieser heißen Flut der Lust ertränkt worden und es fühlte sich so wunderbar an, dass Ezra es nicht mit Worten hätte beschreiben können. Noch nie hatte es sich so angefühlt wie mit Elion. Sonst war es immer mit starken Schmerzen und Gefühlen verbunden gewesen, welche nichts als Hilflosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hervorgebracht hatten. Er hatte Dinge getan, auf die er gewiss nicht stolz war. Dinge, bei denen so manch anderen wirklich schlecht werden konnte. Aber er hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Er war in einer Welt gefangen gewesen, die ihn wie eine Teufelsspirale unerbittlich in die Tiefe gezogen hatte. Dann war Elion gekommen und hatte ihn da rausgeholt. Er war sein Licht in dieser tiefen Finsternis gewesen und dieses Licht wollte er nie wieder loslassen. Ja, Elion gehört mir, so wie ich ihm gehöre. Er ist mein Licht, ich bin seine Hoffnung. Und ich will, dass er weiß, dass er für mich nicht bloß ein Mensch ist. Er ist für mich der wunderbarste Mensch und ich habe das Glück, bei ihm zu sein. All die Jahre wollte ich überleben und das mit aller Macht und Konsequenz. Ich wollte beweisen, dass ich niemanden brauche, um in dieser Welt überleben zu können. Aber Elion hat mir gezeigt, dass Überleben nicht das ist, was ich wirklich will. Denn Überleben bedeutet noch lange kein Glück, sondern ein bloßes Ausharren und Ertragen mit einem Mindestmaß an Lebensqualität, um nicht unterzugehen. Dank ihm lebe ich und lebe so, wie ich es sollte. In einer Familie und mit der Person, die ich liebe und die ich nie wieder gehen lassen will. Ich habe ein richtiges Leben und die Aussicht auf eine Zukunft. Das alles hätte ich jetzt nicht, wenn Elion nicht da gewesen wäre. „Ezra, ich… ich komme…“ Der 16-jährige war nicht mehr fähig, Worte zu formulieren und nickte nur stattdessen. Seine Finger verkrallten sich in Elions Arm und als er spürte, wie eine heiße Flut sein Innerstes durchströmte, da kam auch er zu seinem Höhepunkt und ließ sich erschöpft aufs Bett fallen. Elion legte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Eng umschlungen lagen sie da und beinahe wäre der klein geratene Teenager noch weggedöst, da klopfte es an der Tür und blitzschnell kroch er unter die Decke, als auch schon Sheol hereinkam und die Situation schnell erkannte. „Meine Fresse, seid ihr etwa schon wieder dran?“ „Das geht dich ja wohl gar nichts an, Sheol“, warf Ezra grimmig zurück und funkelte ihn angriffslustig an. „Bist doch wohl neidisch, dass deine erste Freundin bloß deine Hand ist! Zum Geburtstag kriegst du von mir ne Gummipuppe mit dem Namen Doris!“ Zur Antwort streckte der Rothaarige ihm den Mittelfinger entgegen. „Ich bin auch nur hier, weil ich Elion was fragen wollte.“ „Was denn?“ „Kannst du mich für morgen decken? Ich wollte ein paar Erledigungen machen und Mum soll nichts davon erfahren.“ „Okay. Solange es nichts Verbotenes ist.“ „Ist es nicht, keine Sorge. Yo, das war es dann. Dann spielt mal weiter Schiffe versenken, ich geh in mein Zimmer und zieh mir einen Lesbenporno rein.“ Damit wandte er sich zum Gehen, da rief Ezra ihm noch hinterher „Viel Spaß noch mit deiner Hand!“, um zur Rache ein wenig nachzutreten. Als die Tür wieder geschlossen wurde, schüttelte Elion den Kopf und stand schließlich auf. „Ihr beide redet ja wirklich sehr heftig miteinander.“ „Wir reden, wie Jungs in diesem Alter eben reden, verdammt. Ist ja nicht jeder so ein wohl erzogener Sonnyboy wie du.“ „Wenn das Mum mitkriegt, holt ihr euch beide noch einen Satz heißer Ohren ab, das ist dir ja wohl klar, oder? Wenn sie etwas hasst, dann ist das so eine Sprache wie die von gerade eben.“ Aber das interessierte Ezra in diesem Moment auch nicht sonderlich. Schließlich stand auch er auf und sammelte seine Sachen zusammen. „Gehen wir zusammen ins Bad?“ „Klar können wir machen.“ „Okay, dann können wir da noch eine kleine Nachrunde einlegen. Denn wenn mir eins überhaupt nicht passt dann die Tatsache, dass du von der ganzen Sache weniger hattest als ich. Und deshalb werde ich gleich mal schön für Ausgleich sorgen!“ „Das musst du doch nicht. Wirklich nicht.“ „Keine Widerrede!“ rief Ezra streng und hatte seinen Entschluss gefasst. Und da er manchmal auch sehr dickköpfig sein konnte, brachte es nichts, ihm das wieder auszureden. Gerade wollte der 16-jährige aufstehen, aber da wurde ihm ein wenig schwindelig und sicherheitshalber setzte er sich erst einmal. Elion legte eine Hand auf seine Schulter und betrachtete ihn besorgt. „Wie geht es dir eigentlich? Wie hast du das mit deiner Mutter verarbeitet?“ „Nastasja kam vorhin zu mir und wir hatten ein langes Gespräch gehabt. Dabei haben wir auch alles soweit geklärt. Ich denke mal, dass ich morgen meine Mutter anrufen werde. Zwar bin ich immer noch total wütend auf sie, weil sie mich einfach im Stich gelassen und sich nie bei mir gemeldet hat, aber… sie ist meine Mutter. Außer ihr habe ich keine lebenden Verwandten und wenn sie das alles wirklich bereut, dann will ich ihr wenigstens eine Chance geben. Außerdem will ich schon gerne wissen, was sie in all den Jahren gemacht hat. Da sie jetzt einen anderen Nachnamen hat, scheint sie ja wieder geheiratet zu haben und wer weiß… vielleicht hat sie ja eine neue Familie.“ Elion schwieg und senkte den Blick. Natürlich freute er sich für Ezra und hoffte auch für ihn, dass er sich gut mit ihr verstand. Aber da gab es schon ein Gedanke, der ihm Sorge bereitete. Und diese sprach er auch direkt an. „Und was wirst du tun, wenn du dich gut mit ihr verstehst und sie dich bittet, zu ihr nach Frankreich zu kommen?“ Da war auch Ezra überfragt und zuckte unsicher mit den Achseln. „Ich weiß es nicht.“ „Nun, selbst wenn du dich entscheiden solltest, zu ihr nach Frankreich zu reisen, dann werde ich mit dir kommen, wenn du willst.“ Als der 16-jährige das hörte, stand er auf und umarmte Elion. Egal was auch kam, sie wollten um nichts in der Welt voneinander getrennt werden. So viel stand fest. Kapitel 6: Ein Tag mit Monica ----------------------------- Die Nacht hatte Ezra in Elions Zimmer verbracht und war am nächsten Morgen früh aufgestanden. Nach dem Frühstück hatte er seine Mutter angerufen und mit ihr ein Treffen vereinbart. Nachdem er Nastasja und den anderen Bescheid gesagt hatte, suchte er sich ein paar ordentliche Klamotten raus und ließ sich von seiner Pflegemutter zum Hotel bringen. Nastasja setzte ihn direkt vor der Tür ab, wünschte ihm viel Glück und bat ihn, sich telefonisch zu melden, wenn sie ihn abholen sollte. Ezra stieg aus dem Wagen aus und ging direkt auf das Hotel zu. Es war eines der teuersten in Boston und seine Mutter war in einem der teuersten Zimmer untergebracht. Das einzige Mal, wo er im Ritz gewesen war, das war, als Parson ihn herbestellt hatte, um mit ihm zu schlafen. Na hoffentlich traf er niemanden aus seinem alten Leben, darauf konnte er nun wirklich verzichten. Gleich schon, als er die Eingangshalle erreichte, wurde er schon vom Concierge aufgehalten, bevor er überhaupt den Fahrstuhl erreichte. Er erklärte mehrmals, dass er zu Monica Denaux wollte, nannte die Zimmernummer und erklärte auch, dass er ihr Sohn sei. Da er aber mit seiner recht gewöhnlichen Kleidung sehr stark danach aussah, als könne sich seine Familie nie und nimmer das Penthouse leisten, fiel es dem Mann nicht gerade leicht, ihm das zu glauben. Ein Anruf verschaffte schließlich Klarheit und Ezra konnte dann endlich rauf. Sichtlich genervt drückte er den Knopf für das oberste Stockwerk und hätte diesem blöden Concierge am liebsten zwischen die Beine getreten. Er hasste diese Luxushotels und freiwillig hätte er nicht einen Fuß hier reingesetzt. Aber er wollte seine Mutter besuchen und da nahm er das eben in Kauf. Als er das oberste Stockwerk erreichte, ging er zu der Zimmernummer hin, die auf seinem Zettel geschrieben stand und er klopfte an. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet und tatsächlich stand Monica Denaux vor ihm. Sie trug ein hochwertiges Chanelkleid und hatte sich die Haare elegant hochgesteckt. Zudem trug sie teuren Schmuck. „Ezra“, rief sie und war hocherfreut, ihn zu sehen. Sie umarmte ihn und führte ihn sogleich ins Penthouse. Es war luxuriös eingerichtet und dem 16-jährigen blieb fast der Mund offen stehen. Zugegeben, er war schon mal in einem so luxuriösen Zimmer gewesen, aber da hatte er nicht viel davon gesehen. Allerhöchstens vom Schlafzimmer. Sogleich führte Monica ihn zur Couch und bot ihm Getränke und Snacks an. Als er sah, dass es Sushi war, lehnte er ab. „Tut mir Leid, aber ich esse keine Tiere.“ „Wirklich nicht? Aber wenn du keine Proteine zu dir nimmst, wirst du immer so klein und dünn bleiben!“ „Mit Tierprodukten wie Eier und so habe ich ja keine Probleme. Aber ich will eben keine Tiere essen.“ „So eine Schande, du weißt nicht, was du verpasst.“ Monica trank ein Glas Champagner und Ezra bekam einen alkoholfreien Cocktail. Irgendwie kam er sich schon ein wenig deplatziert vor. Insbesondere weil er immerzu dran denken musste, wann er überhaupt mal solche Bonzenhotels betreten hatte. Er war nervös und unsicher, was er jetzt sagen sollte. Dann aber fiel ihm wieder ein, wieso er in erster Linie hierher gekommen war und fragte „Was hast du in den 16 Jahren gemacht und wieso bist du gegangen?“ Monica überkreuzte die Beine und trank noch einen Schluck Champagner. „Damals war ich eine aufstrebende Künstlerin gewesen und habe auch Kunst studiert gehabt. Ich wollte eine weltberühmte Künstlerin werden und habe von einer großen Karriere geträumt. Dein Vater Declan hat mich nie verstanden oder unterstützt. Wir haben uns hinterher nur noch gestritten und da kam vieles zum anderen. Zwischen uns war es wirklich nicht rosig und es gab hinterher ziemlich viel böses Blut. Wir hatten uns schon vor deiner Geburt getrennt und dann gab es einen schlimmen Sorgerechtsstreit. Ich wollte dich mit nach Frankreich nehmen, aber dein Vater hat eine Intrige nach der anderen gesponnen. Da habe ich zum ersten Mal gesehen, was für ein Mensch er wirklich war. Er hat das alleinige Sorgerecht gewollt, um mir heimzuzahlen, dass ich ihn verlassen habe. Also hat er mich vor dem Jugendamt als eine Rabenmutter dargestellt, die ihr Kind vernachlässigt und quält. Letzten Endes lief es darauf hinaus, dass er das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekam und ich dich nicht mehr sehen durfte. Das war ein wirklich harter Schicksalsschlag für mich und so habe ich den Kampf aufgegeben und mich stattdessen meinem Ziel gewidmet. Ich bin nach Frankreich ausgewandert und lebte seitdem in Montmartre. Dort habe ich auch meinen jetzigen Ehemann Jean kennen gelernt. Er ist erfolgreicher Modedesigner und wir sind seit knapp 14 Jahren verheiratet.“ „Und hast du es geschafft, deinen Traum zu verwirklichen?“ „Aber natürlich habe ich das. Was für eine Frage. Meine Gemälde und Skulpturen sind selbst auf den internationalen Kunstmärkten sehr gefragt und schließlich habe ich es im Gegensatz zu deinem Vater wenigstens zu etwas gebracht. Er war ja nur ein Cop. Soweit ich gehört habe, scheint er ja auch in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen zu sein. Das passt zu einem Versager wie ihn.“ „Er hat sich auf Glücksspiele und Drogengeschäfte eingelassen…“ „War ja zu erwarten. Und mit Sicherheit hat genau das ihm das Genick gebrochen. Hab gehört, dass jemand ihn getötet hat.“ Ezras ganzer Körper verkrampfte sich und er betete inständig, dass sie nicht näher fragen würde. Doch leider kam es anders als erhofft. „Sag mal, weißt du näheres?“ Innerlich bereitete er sich darauf vor, dass seine Mutter genauso entsetzt und angewidert reagieren würde, wenn er ihr die Wahrheit sagte. „Ich war es“, sagte er und seine Hände verkrallten sich in seine Jeanshose. „Dad war high gewesen und hatte immense Schulden. Nachdem er mich vergewaltigt hat, ist ihm eingefallen, dass auf meinem Namen eine Lebensversicherung läuft und wollte mich töten. Ich hab ihn daraufhin aus Notwehr getötet und kam daraufhin diverse Pflegefamilien, weil das Jugendamt dich nicht finden konnte.“ „Nun, ich war ja auch sehr beschäftigt gewesen. Ich war in Budapest, Rom und Venedig, in London und vielen anderen Ländern zu Kunstausstellungen. Dabei habe ich wirklich viele Persönlichkeiten kennen gelernt. Sogar mit Schauspielern und Politikern habe ich das Vergnügen gehabt.“ Ezra verstummte und war ziemlich irritiert, dass seine Mutter nicht mal näher auf diese Geschichte einging, sondern gleich sofort davon sprach, wo sie überall gewesen war und was sie für Leute getroffen hatte. Interessierte sie das etwa gar nicht, oder fand sie das nicht so schlimm? Nun, wenigstens verurteilte sie ihn nicht und das war ja auch was. „Nun, jedenfalls ist es ganz gut, dass ich jetzt hier bin. Da kann ich mich jetzt um dich kümmern und du kommst endlich von diesen schrecklichen Leuten weg.“ „So schlimm ist Nasta… ähm… Natascha nicht. Sie kümmert sich gut um mich.“ „So meine ich das auch nicht. Aber mir behagt der Gedanke nicht, dass mein einziges Kind bei so einer Person lebt, die noch nicht einmal Amerikanerin ist. Man hört ja von solchen Leuten vieles.“ Ezra wurde langsam etwas unruhig und so wirklich gefiel ihm nicht, was seine Mutter da über Nastasja sagte. Sie kannte sie doch überhaupt nicht, wie konnte sie sich da so ein Urteil bilden? „Nur weil sie Russin ist, ist sie noch lange kein schlechter Mensch. Im Gegenteil, sie hat schon mit 13 Jahren an der Uni unterrichtet und arbeitet nun an der Harvard Universität.“ „Hm, sieht man ihr aber nicht gerade an. Nun ja, zum Glück bin ich ja jetzt da und kann mich um dich kümmern. Und keine Sorge, dieses Mal wird Declan uns nicht auseinander reißen. Was du als Erstes brauchst, ist erst einmal anständige Kleidung.“ „Wieso?“ fragte Ezra und sah seine Sachen an. Zugegeben, es waren keine teuren Markenklamotten, aber sie sahen doch ganz anständig aus und taten ihren Zweck. „Stimmt etwas nicht mit meinen Sachen?“ „Ich kann doch nicht mit ansehen, wie du in so gewöhnlichen Sachen herumläufst. Und deine Haare erst. Die sind doch viel zu lang und damit siehst du wie ein Mädchen aus! Weißt du was? Wir machen uns einen schönen Tag und werden dich ganz neu einkleiden. Und eine neue Frisur bekommst du auch gleich. Glaub mir, du wirst formidable aussehen!“ „Ich fühl mich aber so ganz wohl, auch mit den langen Haaren.“ „Ach papperlapapp! Das sagst du doch nur, weil du nichts anderes gewöhnt bist. Aber glaub mir, es gibt Besseres und das kannst du auch haben.“ Damit verwies sie mit einer ausladenden Handbewegung auf den gesamten Raum und meinte damit den Luxus, den sie führen konnte. „Glaub mir, aus dir können wir noch einen richtig ansehnlichen jungen Mann machen. Wir werden dich erst mal komplett neu einkleiden und einen neuen Look für dich finden.“ Immer noch war Ezra etwas unschlüssig, was diese Idee betraf, aber es fiel ihm schwer, Widerworte zu geben. Eigentlich war das ja eine wirklich lieb gemeinte Geste seiner Mutter, dass sie das für ihn tun wollte. Aber dennoch fühlte er sich nicht ganz so wohl dabei. Schließlich aber willigte er dann doch ein und so erhob sich Monica und rief sogleich telefonisch einen Chauffeurdienst. Nachdem sie sich noch einen Mantel angezogen und eine passende Handtasche ausgesucht hatte, setzte sie noch eine Sonnenbrille auf und verließ zusammen mit Ezra das Hotel. Direkt vor der Tür wartete eine große schwarze Limousine. Immer noch fühlte sich der 16-jährige irgendwie ziemlich deplatziert. Diesen ganzen Luxus hatte er nie gekannt und war es gewohnt, in mehr als bescheidenen Verhältnissen zu leben. Wenn er daran zurückdachte, wo er zuvor gewohnt hatte, bevor er zu Nastasja kam… Seine Mutter hingegen schien das Leben in purem Luxus vollkommen gewöhnt zu sein und schien es auch ein Stück weit als Normalität anzusehen. Und sogleich erzählte sie ihn auch, dass sie in Montmartre in einer ansehnlichen Villa wohnte und sowohl sie als auch ihr Mann eine eigene Galerie hätten. Überhaupt erzählte sie ziemlich viel, während er selbst kaum zum Reden kam. Trotzdem war er schon sprachlos, wie viele Prominente sie alle schon kennen gelernt hatte. Sie redete fast ohne Punkt und Komma und sogleich, als sie das erste Geschäft erreichten, stiegen sie aus der Limousine aus. Gleich schon vom Umsehen erkannte Ezra, dass sie im Bonzenviertel waren. Hier gab es Geschäfte, wo man sich Klamotten nur dann leisten konnte, wenn man sich deutlich von der Mittelschicht abhob. Und irgendwie kam er sich ziemlich ärmlich vor. Ein weiterer Grund, wieso er um diese Gegend meist einen großen Bogen machte. Sogleich suchten sie einen Friseur auf, der Preise verlangte, die ja eigentlich schon unverschämt waren. Monica wandte sich direkt an dem Chef und erklärte „Mein Sohn braucht einen ordentlichen Haarschnitt. Was können Sie uns empfehlen, damit er nicht mehr wie ein Mädchen aussieht?“ Ezra wurde nervös, denn obwohl er ja selbst wusste, dass man ihn mit den langen Haaren schnell mit einem Mädchen verwechselte, mochte er seine Haare auch eigentlich so wie sie waren. Er stand nicht so wirklich auf kurze Frisuren, wo sich diese ganzen Leute so viel Gel in die Haare schmierten, dass es schon wieder hässlich und übertrieben aussah. Zu einem Ken-Verschnitt wollte er sicherlich nicht werden und so erklärte er „Ich möchte meine Haare aber nun mal etwas länger haben!“ „Das ist kein Problem“, erklärte der Chef und führte ihn direkt schon zu einem Stuhl hin. „Wir werden die Haare auf Schulternlänge kürzen und den Scheitel begradigen.“ Am liebsten wäre Ezra aufgestanden, denn so wirklich wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, sich die Haare kürzer schneiden zu lassen. Zugegeben, sie waren schon ziemlich lang und es war nicht immer sehr praktisch. Insbesondere weil es immer so lange dauerte, bis sie endlich trocken waren. Er konnte sich eigentlich nicht erinnern, sich überhaupt jemals die Haare geschnitten zu haben. Nur widerwillig ließ er sich darauf ein, hauptsächlich um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, denn im Grunde wollte sie ihm ja nur eine Freude machen. Ach jetzt stell dich mal nicht so an, Ezra. Es sind bloß Haare und die wachsen nach. Der Einzige, der sich gegen solch eine Prozedur sträuben darf ist Elion, weil der höllische Schmerzen kriegt, wenn jemand ihm an die Haare geht. Na hoffentlich wurde die Frisur nicht allzu schlimm. So wurde es schließlich ernst und Ezras Haare wurden geschnitten. Aber das Ergebnis konnte sich hinterher doch sehen lassen. Seine Haare waren für seinen Geschmack noch lang genug, aber es sah bei weitem besser aus als vorher. Und tatsächlich gefiel es ihm auch wirklich. Schließlich begutachtete seine Mutter das Ergebnis, war aber weniger begeistert. „Naja, sie sind zwar immer noch viel zu lang, aber es ist zumindest annehmbar.“ Damit bezahlte sie den Friseur und sogleich ging es in ein Modegeschäft. Ezra weigerte sich vehement, Hemden und Anzüge zu tragen, weil das einfach nicht sein Stil war. Zum Glück beharrte seine Mutter nicht allzu sehr darauf und teilte dieselbe Meinung. Und da sie sowieso Künstlerin war und es sich bei ihrem zweiten Mann um einen Modedesigner handelte, hatte sie ganz andere Pläne. Zuerst betrachtete sie ihn nachdenklich. „Du bist wirklich furchtbar klein, da wird es schwierig, etwas in deiner Größe zu finden. Das Beste wird sein, dass wir die Kleidung anpassen. Wichtig wird erst einmal sein, dass wir einen Stil für dich finden, der zu deinen langen Haaren passt und dich nicht wie ein androgynes magersüchtiges Mädchen aussehen lässt. Aber überlass das ruhig mir. Ich finde schon etwas, das perfekt zu dir passt.“ Und gleich, als die Verkäuferin zu ihnen kam, um sie zu beraten, bekam Monica ein Glas Sekt und Ezra etwas Alkoholfreies zum Trinken. Im Grunde konnten sie sich ganz entspannt hinsetzen, die Verkäuferin suchte alles heraus, was Monicas Ansprüchen gerecht war und beriet auch ausführlich. Ezra selbst war da ein klein wenig überfragt in der Situation. Er hatte sich noch nie für Mode interessiert, immerhin hatte er sich doch sowieso so etwas niemals leisten können. Die meisten Klamotten, die er hatte, stammten von der Altkleiderspende. Ein paar neue Sachen hatte er von Nastasja bekommen, weil viele der alten Klamotten schon ziemlich ramponiert waren. Aber so eine komplette Stylingberatung war für ihn völlig neu und er hatte da auch überhaupt keine Vorstellung, was eigentlich am besten zu ihm passte. Und insgeheim fragte er sich auch, wozu er das überhaupt brauchte. Immerhin war er ein stinknormaler 16-jähriger, der in die Mittelschicht hineingeboren wurde, jahrelang in der Unterschicht gelebt hatte und nun wieder in die Mittelschicht zurückgekehrt war. Jetzt kam seine Mutter an und schon fand er sich im High Society Leben wieder. Und ehrlich gesagt war er sich auch nicht sicher, ob das auch wirklich seine Welt war. Das alles kam ihm irgendwie… oberflächlich und falsch vor. Und auf die Frage, wieso es unbedingt wichtig war, ihn mit solchen Markenklamotten einzukleiden, da antwortete Monica „Nun, man muss eben auf das Erscheinungsbild achten. Wenn man in den höheren Kreisen verkehrt, muss man sich eben anpassen.“ „Aber ich gehöre doch gar nicht dahin.“ „Jetzt nicht, aber schon bald. In Frankreich wird dich ein herrliches Leben erwarten. Da wirst du dein eigenes Haus bekommen und deinen eigenen Privatlehrer und eigene Angestellte. Dann wird Geld das letzte sein, worum du dir Gedanken machen musst. Du brauchst mir nicht zu danken. Als deine Mutter mache ich das natürlich gerne.“ Als Ezra das hörte, sah er sie schon fast entgeistert an. „Wie jetzt? Ich soll mit nach Frankreich?“ „Na selbstverständlich. Sobald ich die Formalitäten mit dem Jugendamt geklärt habe und ich endlich das Sorgerecht bekomme, kann ich dich dann zu mir holen und kann dir ein deutlich besseres Leben bieten, als diese Pflegefamilie. Glaub mir, du wirst es lieben, wenn du dich daran gewöhnt hast. Dann kannst du nicht mehr ohne den Luxus leben!“ „Aber man kann doch auch ohne Geld glücklich sein.“ Als Monica das hörte, lachte sie, so als hätte ihr Sohn einen ziemlich guten Witz erzählt. „Du bist wirklich sehr blauäugig. Fakt ist nun mal, dass man für alles Geld braucht, ganz egal was es ist. Und wer viel Geld hat, kann sich auch viel erlauben. Reisen auf die Malediven oder in die Dominikanische Republik, Jachtausflüge und Privatinseln… Der Luxus, den du ausleben wirst, davon können andere nur träumen. Dann wirst du auch endlich dieses klägliche Leben in Armut vergessen, glaub mir.“ „Aber Rumiko ist Milliardärin und sie ist mit ihrem normalen Leben als Musiklehrerin glücklich.“ „Das sieht man auch an ihrem Kleidungsstil. Lass mich dir eines sagen, Ezra: wenn du erst mal auf den Geschmack gekommen bist, wirst du nichts anderes mehr wollen. Du kannst dir alles leisten, was du dir je gewünscht hast und kannst das Leben führen, von dem andere nur träumen können. Oder glaubst du, dass wir so eine Sonderbehandlung wie diese hier in einem gewöhnlichen Geschäft bekommen? Nein, dort würde man sich einen Dreck um uns scheren. Und wir könnten dann auch nicht mit einer Limousine fahren so wie jetzt. Wer kein anderes Leben gewöhnt ist, kann sich eh nichts Besseres vorstellen.“ Ezra wurde schließlich in die Umkleidekabine geschickt und probierte die Klamotten an, die ihm herausgesucht wurden. Als er diesen kurzen Augenblick alleine war, musste er nachdenken. Seine Mutter wollte tatsächlich nach Frankreich zurück und er sollte mit ihr mitkommen. In ein für ihn vollkommen fremdes Land, weitab seiner Heimat. Auch wenn er viele schlimme Erinnerungen mit Boston verband, es war immer noch sein Zuhause! Und der Gedanke, für immer von hier fortzugehen, behagte ihm nicht. Was sollte er tun? Hier bleiben, oder seiner Mutter nach Frankreich folgen? „Scheiße verdammt“, murmelte er und begann sich umzuziehen. Irgendwie hatte er sich das alles anders vorgestellt. Wozu war seine Mutter denn sonst nach Boston gekommen? Kaum, dass er sie endlich kennen lernte, musste er auch schon eine Entscheidung treffen, ob er nach Frankreich auswanderte, oder nicht. Was sollte er nur tun? Er wusste es einfach nicht. Schließlich, nachdem die Shoppingtour beendet war, nahm seine Mutter ihn noch in eine Luxus-Wellness-Oase mit und zum ersten Mal in seinem Leben bekam Ezra so etwas wie eine Maniküre und Dinge, von denen er eher gedacht hätte, dass das typischer Weiberkram war. Und so wirklich geheuer war es ihm nicht, dass da irgendwelche fremden Leute an seinen Fingernägeln herumschnibbelten, wenn er das auch verdammt noch mal selbst machen konnte. Er fragte auch „Ist so etwas denn wirklich nötig?“, aber seine Mutter war der Ansicht, dass es das war und sie erklärte „Wenn man gepflegt erscheinen will, dann muss man auch auf solche Dinge achten. Und glaub mir, nichts entspannt mehr als sich verwöhnen zu lassen. Jean und ich gönnen uns so etwas regelmäßig, um uns von der Arbeit zu entspannen.“ Und wieder begann sie zu reden. Überhaupt schien sie ein Mensch zu sein, der gerne und vor allem viel erzählte, insbesondere über ihre eigene Person. So ging das die ganze Zeit weiter, bis sie schließlich so ganz nebenbei fragte „Sag mal Ezra, hast du schon eine Freundin?“ Und hier musste er schlucken, denn er wusste, dass nicht alle Mütter so begeistert reagierten wie Rumiko und auch nicht so entspannt und tolerant waren wie Nastasja. Da war schon fraglich, wie Monica erst reagieren würde. Schließlich aber dachte er sich „Ach scheiß drauf. Entweder akzeptiert sie es, oder sie akzeptiert es nicht“ und antwortete „Nicht direkt. Ich bin mit jemandem zusammen, allerdings nicht mit einem Mädchen.“ Und hier ließ seine Mutter ihr Glas fallen und starrte ihn fassungslos an. „Um Gottes Willen, soll das etwa heißen, du bist…“ Sie brachte das letzte Wort nicht hervor und es schien ihr im Hals stecken geblieben zu sein. Oder aber sie sträubte sich einfach, dieses für sie so fürchterliche Wort auszusprechen. Ezra seufzte und nickte. „Ja verdammt. Ich bin schwul!“ „Seit wann das denn?“ „Woher soll ich das denn wissen? Es ist einfach so.“ „Mit Sicherheit ist es die Schuld deines Vaters. Hätte er sich anständig um dich gekümmert und dich vernünftig erzogen, dann wäre das ganz sicher nicht passiert. Aber mach dir keine Sorgen, das kriegen wir schon wieder in Ordnung.“ „Ich bin doch nicht kaputt oder so!“ rief der 16-jährige und stand auf. Zu hören, wie seine Mutter über dieses Thema redete, verunsicherte ihn total und sogleich ging alles in ihm auf Abwehr. „Ich hab es mir nicht ausgesucht, klar? So etwas ist doch keine Krankheit und ich bin glücklich damit.“ „Ezra, so meine ich das doch nicht. Aber das hat doch keine Zukunft. Du wirst niemals eigene Kinder haben, ist dir das denn gar nicht wichtig?“ „Ich will doch gar keine Kinder! Elion bedeutet mir alles und er hat mich aus dem Ghetto rausgeholt. Er hat mir das Leben gerettet und mir geholfen, vom Straßenstrich wegzukommen, damit ich ein anständiges Leben führen kann. Du hast nicht das Recht, dich da einzumischen.“ Die Situation war sehr angespannt und schließlich schaltete Monica einen Gang zurück als sie merkte, dass ihr Sohn sehr empfindlich auf das Thema reagierte und schaffte es schließlich, die Situation schnell wieder zu entschärfen und Ezra zu beruhigen. Sie verbrachten den ganzen Tag zusammen und Monica bot auch an, dass Ezra bei ihr im Hotel wohnen könnte, aber er wollte lieber zurück nach Hause. Kapitel 7: Ernüchterung am Abend -------------------------------- Die Limousine fuhr bis vor das Haus von Nastasja und sogleich stieg Ezra aus, verabschiedete sich von seiner Mutter und bekam noch die ganzen Taschen in die Hand gedrückt. Sie gab ihm noch einen Kuss auf die Wange und sagte „Ich bin noch ein paar Tage hier in Boston, solange können wir ja die Zeit nutzen und uns weiter kennen lernen.“ Als er mit den Sachen ausgestiegen war, fuhr die Limousine weiter und er stieg die Eingangsstufen hoch, als sich auch schon die Tür öffnete und Sheol breit grinsend aufmachte. „Hey Julia Roberts, ist dein Richard Gere schon abgehauen?“ „Lass die dummen Witze und hilf mir mal.“ Sogleich drückte er dem Rothaarigen ein paar der Tüten in die Hand und ging ins Haus. Er war echt erschöpft und war froh, sich endlich ausruhen zu können. Seine Mutter hatte ihn wirklich durch sämtliche Geschäfte geschleift und so langsam festigte sich bei ihm die Ansicht, dass Shoppen reinster Ausdauersport war. Etwas anderes war doch glatt gelogen und es war ihm ein Rätsel, wie die ganzen Frauen das alles überhaupt durchhielten. Sogleich bemerkte Sheol auch „Hey, warst du beim Friseur? Sieht ja stark aus.“ „Ja, meine Mutter meinte, ich bräuchte ein komplett neues Styling. Und sie hat mich komplett, aber auch wirklich komplett neu eingekleidet. Jacken, Hosen, Shirts, Schuhe. Ich war ja schon froh, dass sie nicht auch noch auf den Trichter kam, mir meine Unterwäsche auszusuchen. Ich bin echt erledigt und der Magen hängt mir auch in den Kniekehlen. Wo ist Nastasja?“ „Mum kommt gleich zurück. Sie bringt was vom Chinesen mit und Elion müsste wahrscheinlich noch unterwegs sein. Er geht gerade mit Akira Gassi.“ Nachdem sie alle Taschen in Ezras Zimmer verstaut hatten, ließ sich der 16-jährige müde auf sein Bett fallen und spürte, dass ihm die Füße wehtaten. Oh Mann, dieses Neueinkleiden war bei weitem anstrengender und zeitaufwendiger gewesen, als er gedacht hatte. Und irgendwie war das alles nicht ganz so abgelaufen, wie er sich gedacht hatte. Nun, was hatte er denn überhaupt erwartet? Seine Mutter hatte sich doch Mühe gegeben und sich um ihn gekümmert. Sie hatten den ganzen Tag zusammen verbracht und doch war er nicht ganz so euphorisch, wie er vielleicht erwartet hatte. Eigentlich hätte er sich doch wahnsinnig freuen müssen, dass seine Mutter sich so für ihn bemühte, aber dennoch… es schien irgendetwas quer zu liegen und er konnte nicht genau bestimmen, was es war. Und das beschäftigte ihn wirklich. Schließlich setzte er sich auf, holte sein Smartphone und die Kopfhörer heraus, suchte sich von Queen etwas raus und drehte die Musik auf. Rockmusik war jetzt genau das, was er jetzt brauchte. Die passende Musik, um einfach die Gedanken loszulassen und zu chillen. Nachdem er eine Weile der Musik gelauscht hatte, öffnete sich seine Zimmertür und Elion kam zusammen mit Akira herein. Sofort nahm Ezra die Kopfhörer ab und bemerkte „Oh, da bist du ja. Ist Nastasja auch schon wieder zurück?“ „Ja, du kannst gleich zum Essen runterkommen. Dann kannst du auch erzählen, wie der Tag mit deiner Mutter so war. Ich sehe auch, du trägst die Haare ganz anders. Steht dir wirklich sehr gut.“ „Danke.“ Sie gingen zusammen runter in die Küche, wo Nastasja gerade dabei war, den Tisch zu decken. Sheol saß bereits und wartete ungeduldig. Die Russin schien guter Laune zu sein und summte ein Lied vor sich hin. Ezra und Elion nahmen ebenfalls Platz und sogleich bemerkte auch Nastasja „Oh, du warst ja beim Friseur.“ „Jaha…“, sagte Ezra und versuchte, nicht ganz so genervt zu klingen. Trotzdem war es ätzend, diese Bemerkung gleich drei Mal zu hören. „Du siehst ganz schön geschafft aus, Ezra. Hattest du einen schönen Tag mit deiner Mutter?“ Sie gab ihm sein Essen, was sich als gebratene vegetarische Nudeln mit scharfer Soße herausstellte. Auch Elion bekam Vegetarisches, während Sheol Pekingente und sie Reis mit Erdnusssoße und Krabbenchips nahm. Fast Food vom Chinesen war jetzt genau das, was Ezra jetzt am liebsten wollte und erst jetzt bemerkte er auch, wie ausgehungert er war. „Wir waren den ganzen Tag shoppen. Sie meinte, ich bräuchte ein neues Styling und hat mich komplett neu eingekleidet.“ „Wo seid ihr gewesen?“ „Im Bonzenviertel.“ Nastasja entging nicht, dass ihr Pflegesohn deutlich wortkarg war. Normalerweise, wenn der Tag gut gelaufen war, dann hörte man doch nicht auf zu erzählen. Also erkundigte sie sich gleich, ob es denn überhaupt gut gelaufen war. Unsicher zuckte der 16-jährige mit den Achseln und begann zu essen. „Eigentlich war es ganz nett, dass wir den Tag zusammen verbracht haben. Sie hat sich ja auch Mühe gegeben, aber trotzdem bin ich irgendwie nicht so ganz zufrieden. Weiß nicht, vielleicht habe ich ja auch zu viel erwartet oder es ist einfach nur deshalb, weil wir uns beide nicht kennen.“ „Was ist es denn? Sag es einfach.“ Einen Moment lang zögerte er noch und erklärte „Irgendwie hab ich das Gefühl, sie lebt in ihrer eigenen Welt und zu der gehöre ich nicht dazu. Sie ist dieses ganze Schickimicki gewöhnt und redet auch die ganze Zeit über sich selbst und irgendwie fühle ich mich, als würde ich in diese Welt nicht hineingehören und als hätte ich dort nichts verloren.“ „Was is’n mit dir los?“ rief Sheol und hatte noch nicht mal sein Essen heruntergeschluckt. „Die bietet dir den ganzen Luxus und das gefällt dir nicht? What the fuck?!“ „Sheol, man spricht nicht mit vollem Mund, also benimm dich am Tisch“, tadelte Nastasja und warf ihm einen strengen Blick zu. „Und außerdem ist Ezra sicherlich nicht fertig mit reden. Also Ezra, du hast das Gefühl, du und deine Mutter wären nicht auf einer Wellenlänge.“ Der 16-jährige nickte und trank noch einen Schluck Wasser, bevor er weitererzählte. „Sie scheint irgendwie in einer ganz anderen Realität zu leben als ich. Ich meine, ich weiß wie hart das Leben ist und habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Zum Leben brauch ich nicht viel und ich kann auf diesen ganzen Luxus verzichten. Aber meine Mutter lebt das schon seit Jahren aus und hält überhaupt nichts von einem gewöhnlichen Leben. Und genauso redet sie auch über andere. Ich fand es echt heftig, dass sie einfach so über andere urteilt, ohne sie zu kennen.“ Verständnisvoll nickte die Russin und dachte einen Moment nach, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Dann aber erklärte sie „Natürlich ist es nicht leicht, weder für dich, noch für deine Mutter. Wie du schon richtig erkannt hast, lebt ihr in verschiedenen Welten. Ihre Welt ist die des Geldes und des Luxus und du hast andere Prioritäten, weil du nie das Geld hattest. Das alles braucht seine Zeit und ich glaube, auch deine Mutter muss sich erst einmal an diese neue Situation gewöhnen.“ „Mag sein… aber sie erwartet von mir, dass ich zusammen mit ihr nach Frankreich abreise und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Auf der einen Seite würde ich schon gerne bei euch bleiben, aber auf der anderen Seite ist sie meine Mutter. Ich kann mich einfach nicht entscheiden.“ Nastasja stand auf, ging zu ihm herüber und tauschte kurzerhand mit Sheol die Plätze. „Du musst dich ja nicht sofort entscheiden, Ezra. Das kann niemand von dir verlangen. Mensch, du hast gerade erst deine Mutter nach 16 Jahren kennen gelernt und solange das Jugendamt das Sorgerecht für dich hat, können weder ich noch deine Mutter dich zu irgendetwas zwingen. Ich kann verstehen, dass das nicht einfach für dich ist. Es ist schön zu hören, dass du dich hier bei uns wohl fühlst und du gerne bei uns bleiben willst. Wenn es nach mir ginge, könntest du für immer bei uns bleiben. Aber ich verstehe auch, wenn du sagst, dass du lieber bei deiner Mutter bleiben willst. Verbringe doch erst einmal ein paar Tage mit ihr und wenn sie das Sorgerecht für dich beantragen sollte, wird sich das Jugendamt ja auch noch mit uns in Verbindung setzen. Und selbst wenn du dich am Tag ihrer Abreise immer noch nicht entscheiden kannst, so hast du auch die Möglichkeit, sie während der Schulferien besuchen zu gehen. Dann verbringst du die Zeit eben in Montmartre. Zwar bist du noch minderjährig, aber da du bereits 16 Jahre alt bist, hast du das Recht, dich zu entscheiden, bei wem du bleiben willst. Und ich bin mir sicher, es wird sich eine Lösung finden. Ich werde gleich morgen beim Jugendamt nachfragen, welche Möglichkeiten wir haben und was für Rechte deine Mutter momentan hat. Jetzt lass mal nicht den Kopf hängen. Wir finden schon gemeinsam eine Lösung, da mach dir mal keine Sorgen.“ Etwas niedergeschlagen nickte der 16-jährige und fühlte sich in diesem Moment, als würde ein ganzer Berg auf seinen Schultern lasten. Aber er war froh, dass Nastasja ihm helfen wollte und sein Problem verstand. Schließlich sah er zu Elion, der ein wenig nachdenklich und ernst wirkte. Was ihm wohl gerade durch den Kopf ging? Schließlich seufzte er und legte den Kopf in den Nacken. „Warum gibt es das Leben nicht mit Komplettlösung? Dann wäre alles viel einfacher.“ „Dann wäre es aber recht langweilig, oder?“ „Mag sein. Was mich nur so stört ist, das war die Tatsache, dass sie so abfällig über dich und Rumiko gesprochen hat, nur weil ihr euch nicht wie diese High Society Bonzen kleidet. Dann hatte sie ein Problem damit, dass du Ausländerin bist und sie meinte, dass die schlechte Erziehung meines Vaters schuld ist, dass ich schwul bin.“ Hier aber blieb Sheol der Mund offen stehen, als er das hörte und sogleich rief er auch „Wie bitte?“ Wenn er eines überhaupt nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn man abfällig über Nastasja oder seine Familie sprach. „Was bildet sich diese Puderquaste bloß ein? Die hat sie doch nicht mehr alle, so über uns abzulästern!“ „Sheol, jetzt beruhige dich doch erst mal“, rief Nastasja und drückte ihn wieder auf seinen Stuhl. „Natürlich ist das nicht gerade prickelnd. Aber du sagtest, sie hätte nicht gerade begeistert über dein Outing reagiert.“ „Nicht begeistert ist gar kein Ausdruck“, erwiderte Ezra mit einem bitteren Lächeln. „Der sind fast die Augen rausgefallen und sie meinte, sie würde das schon irgendwie wieder hinkriegen. Als wäre ich irgendwie krank! Natürlich weiß ich, dass ich nicht von jedem Menschen erwarten kann, dass er so locker reagiert wie du. Ich bin ja nicht dein Sohn und selbst du freust dich für deine beiden Söhne. Aber… ich hätte mir zumindest gewünscht, dass sie es wenigstens akzeptiert und nicht gleich so tut, als wäre das eine Krankheit oder als wäre ich gestört.“ Nastasja ergriff seine Hand und sah ihn mit ihren himmelblauen Augen an. „Natürlich tut das weh. Aber es wird immer Menschen geben, die so etwas verurteilen. Und es gibt viele Homosexuelle, deren Eltern sehr ablehnend reagieren. Manchmal kann man sie umstimmen, wenn man lange genug kämpft, aber manchmal werden sie ihre Meinung nie ändern. Du kannst gern versuchen, zu kämpfen und deiner Mutter klar zu zeigen, was Sache ist. Ich unterstütze dich dabei gerne und ich bin mir sicher, Elion würde das auch tun. Aber eines ist wichtig und das darfst du niemals vergessen, Ezra: du darfst dich nicht verstellen. Weder für deine Mutter, noch für sonst irgendjemanden auf der Welt. Dass du schwul bist, ist etwas ganz Natürliches und dafür kann niemand etwas. Es ist einfach so, genauso wie es nun mal Menschen gibt, die im falschen Körper geboren wurden.“ „Genau, ich wollte eigentlich im Körper von Orlando Bloom geboren werden.“ „Sheol, du hast jetzt Sendepause!“ Und dieses Mal klang die Russin noch strenger, woraufhin der Rothaarige doch lieber die Klappe hielt. „Also wo war ich? Ach ja, solche Dinge sind genauso normal wie heterosexuelle Beziehungen. Lass dir von niemandem einreden, dass es eine Störung oder Krankheit ist, die man heilen könnte. Das ist totaler Schwachsinn und führt nur dazu, dass du dich selbst verleugnest. Du kannst stolz darauf sein, dass du den Mut hast, offen dazu zu stehen. Und wenn irgendjemand meint, so etwas wäre unnatürlich oder so, dann ist er einfach nur ein intoleranter Dreckskerl und dann hast du es auch nicht nötig, dich länger mit ihm abzugeben.“ Es war wirklich unglaublich, wie Nastasja zu den Dingen stand. Vor allem sie, da ihre beiden Söhne schwul waren und sie wohl niemals Enkelkinder haben würde. „Wie kommst du überhaupt damit klar, dass L und Jeremiel schwul sind?“ Die Russin lächelte und erklärte „Ich bin dem Herrn dankbar genug, dass er mir gesunde Kinder geschenkt hat. Die Hauptsache ist doch, dass die beiden gesund und glücklich sind. Das ist doch das Wichtigste, was zählt. Beyond ist zwar manchmal etwas seltsam, aber er würde für L jederzeit einem Löwen an den Hals springen und Jeremiel ist bei Liam auch gut aufgehoben. Was würde es denn bringen, wenn ich mich darüber aufrege? Es würde an der Entscheidung nichts ändern und ich würde meine Kinder verlieren. Man liebt, wen man liebt. Zugegeben, ich bin nicht so wie Rumiko, die völlig verrückt nach schwulen Beziehungen ist. Bei ihr dreht sich neben ihrer Familie fast alles darum und das wäre mir persönlich zu viel. Ich würde jetzt auch keine Schwulenromane lesen oder so. Aber ich stehe hinter meiner Meinung, dass Homosexualität, Bisexualität und Transsexualität genauso normal ist wie Heterosexualität. Und wenn der Herr das als falsch erachtet hätte, dann hätte er sie allesamt schon längst mit dem Blitz erschlagen. Und da er das nicht getan hat, kann es doch wohl nicht so falsch sein, wie mancher Priester das sagen will. Liebe ist in Ordnung, solange es einvernehmlich zwischen zwei Menschen ist und der Partner voll zurechnungsfähig ist und weiß, worauf er sich einlässt.“ Damit hatte sie ihren Standpunkt klar gemacht und erhob sich nun. Sie begann alles aufzuräumen und trug nebenbei Sheol auf, den Müll rauszubringen und endlich mal sein Zimmer aufzuräumen. Er sagte nur genervt „Ja Mum…“, aber so wie man ihn kannte, würde Nastasja ihn noch mindestens zehn Mal daran erinnern müssen, bevor er es endlich machte. Ezra ging rauf in sein Zimmer und Elion begleitete ihn. Man sah dem Proxy an, dass er sich Sorgen machte und gleich schon, als sie alleine waren, fragte Elion „Soll ich vielleicht mit deiner Mutter reden?“ „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich meine, offiziell bist du mein Pflegevater und wenn meine Mutter das erfährt, wird das sicherlich nicht viel dazu beitragen, dass sie mein Outing akzeptiert. Ach Mensch, das ist alles totaler Bullshit.“ Ezra begann nun damit, seine neuen Klamotten in den Schrank einzuräumen und sortierte zugleich noch ein paar alte aus, die er noch aus seiner alten Bleibe hatte. „Irgendwie ist das alles ganz schön viel auf einmal und mir brummt der Schädel. Bin ja mal gespannt, wie es die nächsten Tage laufen wird. Und? Wie schaut’s bei dir aus?“ „Bei mir? Nun, Mum hatte die Idee, dass ich während der Wartezeit als ihr Assistent arbeiten könnte. Ich werde die Termine machen, die Arbeiten korrigieren und andere Tätigkeiten übernehmen. So habe ich zumindest etwas zu tun und kann Mum unterstützen.“ „Aha“, murmelte Ezra tonlos und klang nicht sonderlich begeistert. Natürlich freute er sich, dass Elion eine solch verantwortungsvolle Aufgabe bekam, aber im Moment fehlte ihm irgendwie die Kraft dazu, oder aber es drehte sich einfach zu viel in seinem Kopf. „Elion, was denkst du über die ganze Sache? Du hast rein gar nichts dazu gesagt.“ Der Proxy setzte sich und nahm Akira auf seinen Schoß, woraufhin er ihm den Hals zu kraulen begann. Dem Welpen gefiel das sichtlich und sogleich begann er mit Elion zu spielen. „Nun, was soll ich dazu sagen? Ich finde es natürlich nicht schön, dass du dich nicht ganz so gut mit deiner Mutter verstehst. Aber ich kenne das ja auch. Meine leibliche Mutter hat in mir nur ein Teil eines Projektes gesehen, aber sie sah mich nie als ihr Kind. Das muss ja nicht heißen, dass es bei dir genauso sein wird wie bei mir. Vielleicht hast du ja Glück und es wird sich klären und du verstehst dich dann besser mit ihr. Ich für meinen Teil finde, dass sie nicht gerade eine sympathische Person ist und sie sich sehr vorschnell ein Urteil über andere Menschen bildet. Aber Mum hat Recht. Vielleicht taut sie ja noch auf, wenn sie dich erst mal näher kennen lernt. Doch selbst wenn es zwischen euch nicht klappen sollte, so hast du immer noch uns. Und egal wie du dich entscheiden solltest, ich werde dir folgen. Ich habe auch schon mit Mum darüber gesprochen und sie hat nichts dagegen. Ich habe dir versprochen, dich niemals allein zu lassen und da zu sein, wenn du mich brauchst und dieses Versprechen werde ich halten.“ Der 16-jährige schwieg und fühlte sich trotz Elions Versprechen irgendwie einsam in diesem Moment. Er konnte nicht sagen, warum er sich so einsam fühlte. Er hatte doch jetzt eine Familie, einen Freund und außerdem seine leibliche Mutter. Warum also fühlte er sich so verloren? „Elion, hast du dich noch nie gefragt, wieso deine Mutter dich nicht liebt?“ „Natürlich habe ich das. Jeden einzelnen Tag, wo ich diesen schmerzhaften Experimenten ausgesetzt wurde und allein in meiner Zelle lag. Aber irgendwann habe ich aufgegeben, nach der Antwort zu suchen. Denn ich habe einsehen müssen, dass es nun mal Eltern auf der Welt gibt, die nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu lieben. Sie wachsen ohne Liebe und Zuwendung auf, werden allein gelassen und werden zu verlorenen Kindern. Und im Grunde ist Mum, also Nastasja jemand, der diese verlorenen Kinder aufnimmt und ihnen ein Zuhause gibt. Im Grunde sind wir alle verlorene Kinder. Alleine, ohne Familie… im Stich gelassen und gehasst, mit dem Verlust der Liebsten konfrontiert und auf uns allein gestellt. Alles was wir haben, sind wir selbst und das, was uns miteinander verbindet. Und das ist der Wunsch, eine Familie zu haben. Ich habe es irgendwann einfach akzeptiert, dass meine Mutter mich nicht liebt und in mir nichts anderes als ein Werkzeug sieht. Hätte ich es nicht akzeptiert, dann wäre ich daran noch zerbrochen. Und indem ich es akzeptiert habe, tut es wenigstens nicht mehr so sehr weh. Aber ich bin auch froh und dankbar, dass Nastasja da ist.“ Warum muss es nur so etwas geben, fragte sich Ezra und fühlte sich in diesem Moment furchtbar elend. Warum gibt es Eltern, die ihre Kinder nicht lieben? Wieso setzen sie dann überhaupt erst Kinder in die Welt? Ich verstehe das einfach nicht. Meine Mutter sagte zwar, dass sie mich mitnehmen wollte und mein Vater das verhindert hat, aber trotzdem hat sie nicht um mich gekämpft. Sie hat einfach aufgegeben und ist gegangen. Wenn sie mich wirklich geliebt hätte, dann hätte sie doch alles versucht, um das Sorgerecht zu bekommen. Stattdessen ist sie gegangen, weil ihr damals ihre Träume wichtiger waren als ich. Im Grunde kann ich ihr damals doch nicht so wichtig gewesen sein, oder? Wieso hat sie mich dann überhaupt erst zur Welt gebracht, wenn sie mich nicht wollte? Elion, der spürte, was Ezra gerade durch den Kopf ging, erhob sich und ging zu ihm hin, dann nahm er ihn in den Arm. „So etwas darfst du nicht denken, Ezra. Mum würde jetzt sagen, dass jedes Leben ein Geschenk ist. Und wärst du nicht geboren worden, dann hätten wir beide uns jetzt nicht. Dafür sollten wir dankbar sein und uns nicht länger mit dem Gedanken aufhalten, wieso wir überhaupt geboren worden sind, wenn wir von unseren Eltern nicht geliebt werden. Es wird immer jemanden geben, der uns liebt. Und es gibt genügend Menschen, die dich sehr lieben.“ Kapitel 8: Falsches Spiel? -------------------------- Am nächsten Tag hatte sich Nastasja früher auf den Weg zur Uni gemacht und als sie nach der ersten Vorlesung in ihrem Büro saß und gerade die Materialien für die nächste Stunde heraussuchen wollte, da öffnete sich die Tür und Monica Denaux kam herein. Die Russin hob erstaunt die Augenbrauen und grüßte sie höflich „Guten Tag, Madame Denaux. Was kann ich für Sie tun?“ Wortlos, mit hochgereckter Nase und eleganten Schritten kam sie näher und war wie immer sehr vornehm gekleidet. Schließlich aber blieb sie direkt vor der Russin stehen und erklärte „Ich bin hier um Ihnen zu sagen, dass ich Ezra Alexis zu mir nehmen werde. Es wird Zeit, dass er zu seiner richtigen Mutter kommt.“ Die 30-jährige war ein wenig überfahren und verstand erst nicht so wirklich, worum es ging und was Monica von ihr wollte. Als sie aber dann registriert hatte, was diese Frau verlangte, da legte sie die Unterlagen weg, faltete die Hände und atmete tief durch. „Das ist nicht meine Entscheidung, Madame. Das Sorgerecht für Ezra liegt beim Jugendamt und überhaupt: lassen Sie dem Jungen doch die Zeit, sich an diese Situation zu gewöhnen. Es hilft doch nichts, wenn er so bedrängt wird.“ „Verstehe“, sagte die 40-jährige, ohne ihr groß zugehört zu haben und kramte aus ihrer Prada-Handtasche einen Umschlag heraus und reichte ihn Nastasja. Diese öffnete ihn und sah sogleich diverse Geldbündel. „Ich denke mir, dass 50.000$ für Sie mehr als ausreichend sind. Das Geld werden Sie sicherlich gut gebrauchen können und im Gegenzug werden Sie Ezra gehen lassen.“ Nun begann die Wut in der gebürtigen Russin aufzukochen. Sie knallte die Hände auf den Tisch, dann gab sie Monica energisch den Umschlag zurück. „Jetzt hören Sie mal gut zu: ich bin nicht käuflich und ich habe Ihr Geld ganz gewiss nicht nötig.“ Als sie das sagte, lächelte die Künstlerin amüsiert und blickte die 30-jährige abfällig an. „Das sieht mir ganz anders aus, meine Liebe.“ „Mag ja sein, dass ich mir keine schicken Klamotten kaufe wie Sie, aber ich setze meine Prioritäten anders und ich werde mich ganz gewiss nicht kaufen lassen oder Ezra in irgendeiner Weise in seiner Entscheidung beeinflussen. Ich weiß wirklich nicht, was Sie sich einbilden, mich bestechen zu wollen, aber Ezra zuliebe werde ich darüber hinwegsehen und nichts darüber sagen. Lassen Sie dem Jungen doch Zeit und die Ruhe, sich selbst zu entscheiden. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde den Jungen nicht davon abhalten, Sie zu sehen. Da brauchen Sie mir auch kein Geld zu geben.“ Hier aber wurde Monicas Blick ganz eiskalt und ein giftiges und bedrohliches Funkeln lag in ihren Augen. Zum ersten Mal zeigte sie ihr wahres Ich. „Das will ich Ihnen auch geraten haben. Denn sollten Sie es wagen, mir meinen Sohn vorzuenthalten, dann werde ich Sie vernichten. Das verspreche ich Ihnen.“ Und diese Drohung ließ Nastasja nicht auf sich sitzen. Sie baute sich zu ihrer ganzen Größe auf und wirkte nun sehr furchteinflößend. Zwar konnte sie sich beherrschen, aber so leicht würde sie Monica nicht davonkommen lassen. Tief atmete sie durch und sah die Künstlerin fest an. „Nun passen Sie mal auf. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie über meine Herkunft oder meine finanzielle Situation herziehen, darüber kann ich wegsehen. Ich weiß nicht, wieso Sie Ezra so plötzlich und dann noch unter allen Umständen zu sich holen wollen, aber eines sag ich Ihnen: passen Sie ja auf, sonst werden Sie es noch sein, die hier vernichtet wird. Ich habe genug Möglichkeiten, um herauszufinden, was Sie im Schilde führen und wenn Sie es wagen sollten, Ezra oder meine Familie in Schwierigkeiten zu bringen, dann werden Sie noch Ihr blaues Wunder erleben. Man nennt mich nicht umsonst die „Eisenfaust von Tscheljabinsk“ Nehmen Sie Ihr Geld und verschwinden Sie sofort aus meinem Büro!“ „Das werden Sie noch bereuen. Aber diese Kommunisten sind doch sowieso alle gleich.“ „Suka!“ zischte Nastasja verächtlich und ergänzte noch „Und im Übrigen: ich besitze sowohl englische als auch amerikanische Staatsbürgerschaft.“ Damit verschwand Monica Denaux und knallte die Tür hinter sich zu. Nastasja blieb einen Augenblick lang stehen, dann schnappte sie sich ein Wasserglas und drückte zu. Sie drückte es in ihrer Wut so fest, dass es zersprang und die Scherben fielen zu Boden. Aber ihre Hand selbst war unversehrt. Nun, wenn sie ein normaler Mensch gewesen wäre, dann hätte sie sich mit Sicherheit verletzt. Aber inzwischen war ihr Körper durch das jahrelange Training in diversen Kampfsportarten so abgehärtet, dass sie sich bei solchen Sachen allerhöchstens harmlose Schrammen zuzog. Während sie die Scherben aufsammelte, klopfte es an der Tür und L kam herein. „L, was machst du denn hier? Gibt es Schwierigkeiten mit Beyond oder ist irgendetwas passiert?“ „Ich wollte dich besuchen. Sag, ist irgendetwas passiert?“ „Ich hab das Glas zu fest gehalten und da ist es kaputt gegangen. Und zudem hatte ich ein Gespräch mit Ezras Mutter gehabt.“ „Ach ja, ich hab sie gesehen, als sie direkt an mir vorbeigestürmt ist.“ L half seiner Mutter, die Scherben aufzusammeln und als das kleine Durcheinander beseitigt war, setzten sie sich. Nastasja erzählte von dem Bestechungsversuch und wie sie darauf reagiert hatte. Der Detektiv begann nachdenklich an seinem Daumennagel zu kauen und betrachtete seine Mutter eine Weile, bevor er schließlich fragte „Und was willst du nun tun?“ „Ezra werde ich erst mal nichts sagen. Ich will keine Stimmung gegen Monica machen, auch wenn sie in meinen Augen ein ausgekochtes Miststück ist. Aber ich finde es langsam merkwürdig, dass sie unbedingt das Sorgerecht für Ezra haben und ihn zu sich nach Frankreich holen will. So langsam bekomme ich das Gefühl, dass sie etwas im Schilde führt und ich mache mir ernsthaft Sorgen um Ezra. L, könntest du mir einen Gefallen tun und mehr über Monica in Erfahrung bringen?“ „Klar, kann ich machen. Dieser Bestechungsversuch war in der Tat sehr merkwürdig und wenn diese Frau irgendwelche Hintergedanken hat, werde ich es herausfinden. Da mach dir mal keine Sorgen. Aber was ist mit dir und den anderen?“ Nastasja fuhr sich seufzend durchs Haar und nahm schließlich ihre Brille ab, um die Gläser zu putzen. „Ach weißt du, ich mache mir einfach große Sorgen um Ezra. So wie ich erfahren habe, scheint es zwischen ihm und seiner Mutter nicht gerade gut gelaufen zu sein und es beschäftigt ihn schon sehr, dass sie sehr oberflächlich und egozentrisch ist. Die meiste Zeit hat sie offenbar nur über sich selbst geredet und nicht sehr viel Interesse an ihm gezeigt. Ich hoffe, dass sich das irgendwie wieder einrenken wird, aber ich will ihn auch gerne ein Stück weit schützen vor dieser Frau. Sie ist… sie ist eine… na eine verdammte…“ Und damit sprach sie mit donnernder Stimme etwas auf Russisch, da sie keine passenden englischen Worte fand, um Ezras Mutter zu beschreiben. „Naja, ich will mal nichts weiter dazu sagen. Wie läuft es denn bei euch? Wie weit sind Oliver und Andrew mit den Hochzeitsvorbereitungen?“ „Es geht gut voran. Der Termin steht für übernächste Woche und Frederica wird wohl Andrews Trauzeugin. Und Oliver wollte dich anrufen, ob du seine Trauzeugin sein willst.“ „Ich?“ rief Nastasja und war sprachlos. „Wieso denn ich?“ L kam sogleich mit der Erklärung und die haute die Russin nun echt aus den Socken. „Na ohne deine Forschungen wäre Andrew nicht hier, genauso wenig ohne Fredericas Hilfe. Von dir stammen doch die Konstruktionspläne vom elektrischen Gedankenschaltkreis und diese haben Andrew ein neues Leben ermöglicht. Außerdem hast du ihm geholfen, als seine Seele durch diesen Parasiten angegriffen war und es ihm nicht gut ging. Wahrscheinlich hätte es wahrscheinlich keine weiteren Hochzeitspläne mehr gegeben. Deshalb ist es den beiden wichtig, dass du die zweite Trauzeugin wirst.“ Nastasja fehlten immer noch die Worte, immerhin kannte sie Andrew und Oliver kaum. „Ja aber so etwas sollte man doch besser enge Freunde fragen oder enge Verwandte!“ „Mag sein, aber Oliver hat bei seiner Entscheidung gesagt: Wenn sie nein sagt, dann werde ich ihr so lange damit auf die Nerven gehen, bis ihr keine andere Wahl mehr bleibt, als ja zu sagen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um mich für das zu bedanken, was sie für uns beide getan hat.“ „Ach Mensch“, sagte Nastasja und fast wären ihr noch die Tränen gekommen. „Das ist wirklich süß von den beiden. Wenn dein Vater noch leben würde. Ich weiß noch, wie wir beide geheiratet haben. Da waren du und dein Bruder schon unterwegs gewesen. Ich hatte ein schlichtes weißes Kleid getragen, aber dein Vater meinte, er wäre der glücklichste Mann auf der Welt und er hatte dabei sogar Tränen in den Augen. Mein Make-up hat auch nicht lange gehalten. Selbst Alice musste heulen, als sie unsere Trauzeugin war.“ Als sie wieder an Henry denken musste (und das tat sie fast immer, wenn sie L sah), da kamen ihr die Tränen. „Mum…“ L wollte schon aufstehen und zu ihr hingehen, doch sie schüttelte nur den Kopf und wischte sich die Tränen weg. „Schon gut, es geht schon. Ich freue mich wirklich darüber und werde natürlich zusagen. Es ist nur so, dass ich mich immer noch sehr schwer damit tue, dass ich deinen Vater nie wieder sehen werde. Natürlich wusste ich, worauf ich mich einlasse und ich bin ja auch glücklich mit meiner kleinen Familie. Elion ist wirklich ein Goldschatz und hilft mir sehr, Ezra taut auch langsam auf und Sheol… nun ja, er ist eben Sheol. Aber dennoch fühle ich mich in manchen Momenten schon etwas einsam, weil mir einfach dein Vater fehlt. Aber lass uns nicht länger darüber reden, solche Themen sind ohnehin zu deprimierend. Außerdem muss ich noch gleich in den Hörsaal und diesen Spatzenhirnen beibringen, wozu der Blinddarm gut ist. Ich bin ohnehin entsetzt, wie viele Idioten sie heutzutage auf die Uni lassen. Zu meiner Zeit in Russland hätte es das nicht gegeben.“ Da sie noch einiges vorbereiten musste, verabschiedete sich L wieder von ihr und versprach ihr, sich zu melden, wenn er etwas herausgefunden hatte. Damit war Nastasja wieder alleine in ihrem Büro und ahnte noch nicht, was sich da zusammenbraute. Als Ezra sich am Nachmittag mit seiner Mutter verabredet hatte, war die diesmalige Adresse der Club „Black Lotus“, ein sehr teurer und edler Schuppen, der seinem Wissen nach Liam gehören musste. Gleich schon am Eingang wurde er abgefangen wie im Ritz, aber der Türsteher hatte schon Bescheid bekommen und ließ ihn durch. Monica wartete in einem der Privaträume und als er hereinkam, unterhielt sie sich gerade mit einer jungen Frau, die sehr kurz geschnittenes schwarzes Haar hatte und vom Gesicht her ein bisschen wirkte wie die Protagonistin aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“. Sie unterhielten sich auf Französisch und die Frau hatte ein Diktiergerät dabei und schien offenbar eine Journalistin zu sein. Ezra kam etwas zögernd herein und sagte auch „Hi Mum“, aber sie war so in ihrem Gespräch mit der Frau vertieft, dass sie ihn erst gar nicht bemerkte. Aber dann unterbrach sie kurz und wandte sich ihm zu. „Ezra! Wie schön, dass du gekommen bist.“ Damit ging sie zu ihm hin, gab ihm eine Umarmung zur Begrüßung und erklärte sogleich „Das ist Jeanne Dubois, eine gute Freundin von mir. Sie arbeitet für die Pariser Zeitung und begleitet mich überall hin.“ „Hallo“, grüßte er etwas zögerlich und sogleich grüßte die Französin ihn auch schon in ihrer Landessprache, da erklärte Monica „Jeanne versteht leider kein Englisch. Die Franzosen sind ohnehin sehr eitel, was Sprachen betrifft. Die meisten weigern sich aus Prinzip, Englisch zu sprechen, also brauchst du es gar nicht erst zu versuchen. Glaub mir, ich habe mich furchtbar schwer getan, aber inzwischen beherrsche ich Französisch schon wie meine eigene Muttersprache.“ Und daraufhin begann sie mit Jeanne zu reden, die von dem Gespräch der beiden rein gar nichts verstanden hatte. „Also Ezra, ich hatte da eine ganz fabelhafte Idee, von der du sicherlich begeistert sein wirst. Morgen Abend steigt hier im Club eine exklusive Party. Es treffen sich viele Prominente und ich hätte dich gerne dabei.“ Als er hörte, dass er auf eine Party gehen sollte, war er mehr als skeptisch und das sah man ihm auch an. „Eine Party im Club? Ich weiß nicht, ich pass da doch nicht hin.“ „Natürlich passt du dorthin. Immerhin gehörst du zu mir und damit zur gehobenen Gesellschaft. Glaub mir, mit ein bisschen Arbeit verpassen wir dir noch den nötigen Feinschliff und dann wird noch ein anständiger Kerl aus dir.“ Doch Ezra hatte da ganz andere Dinge im Kopf, denn er musste sich an ein paar Erlebnisse erinnern. An sehr unangenehme Erlebnisse. Als seine Mutter merkte, dass da wohl irgendetwas nicht stimmte, fragte sie auch direkt „Was ist los? Sag schon.“ „Ich glaube nicht, dass das unbedingt jeder mitkriegen sollte.“ „Ich sagte doch, Jeanne versteht kein Englisch. Ich könnte sie auch eine dumme Schlampe nennen. Da siehst du? Sie lächelt nur und versteht rein gar nichts. Also schieß los. Was hält dich davon ab, zu so einer wichtigen Party zu gehen?“ Ezra atmete tief durch und sah zu Jeanne, die einen komplett fragenden Blick hatte und anscheinend tatsächlich nicht verstand, was gesagt wurde. Also konnte er es doch erzählen. Früher oder später würde seine Mutter sowieso davon erfahren. „Mum, ich hatte schon Kontakt mit den Bonzen… geschäftlich.“ „Oh, so jung und schon geschäftstüchtig? Na das lobe ich mir, das hast du mit Sicherheit von mir. Natürlich musst du das von mir haben, von deinem Vater sicherlich nicht.“ „Mum, lass mich bitte ausreden. Ich habe nicht die Art von Geschäften gemacht, die du dir vielleicht vorstellst.“ „Hast du sie etwa beklaut? Nun, da dein Vater ja offensichtlich versagt hat, wundert es mich nicht, dass es hinterher so schlecht stand, dass du so etwas machen musstest.“ „Nein!“ rief Ezra und wurde langsam richtig genervt, weil seine Mutter nicht endlich mal aufhören konnte, die ganze Zeit nur über sich selbst zu reden oder über andere zu lästern, anstatt ihm einfach mal zuzuhören. Und als wolle er es darauf anlegen, dass sie gleich mit Entsetzen und Ablehnung reagierte, damit es sich nicht immer nur um sie drehte, rief er schon fast „Ich habe für Geld mit diesen Kerlen geschlafen!“ Und hier ließ seine Mutter das Glas fallen. Jeanne, die sichtlich verwirrt war, fragte sie leise etwas auf Französisch, doch Monica erwiderte nur irgendetwas, was wie eine Abweisung klang und sogleich sah sie ihren Sohn schon fast mit einem gewissen… Ekel an. Sie konnte nicht fassen, dass ihr eigenes Kind so tief gesunken war und sich prostituierte. „Um Gottes Willen, du hast dich verkauft?“ „Ich hatte keine Wahl!“ rief der 16-jährige und stand auf. „Die Mafia hat uns bedroht und Dad sagte mir, wenn ich nicht mit denen in die Kiste steige, bringen sie ihn um. Und nach seinem Tod haben sie mich nicht in Ruhe gelassen und so musste ich die Schulden abbezahlen. Da ich mit fünf Pflegefamilien eine Vollpleite erlebt habe, habe ich mich als 18-jähriger ausgegeben und bin neben meinem Job als Packer im Supermarkt auf den Strich gegangen, um über die Runden zu kommen. So sieht mein Leben aus, Mum. Beschissen und ganz tief unten angelangt. Ich bin ganz gewiss nicht stolz darauf, was ich getan habe. Aber es war der einzige Weg für mich, um zu überleben!“ Nachdem er alles gesagt hatte, wollte er gehen, weil er nicht mehr miterleben wollte, wie seine Mutter darauf reagierte. Doch dann rief sie überraschend „Warte Ezra!“ und daraufhin blieb er stehen. Sie wirkte bestürzt und zwar immer noch ein wenig angewidert von dieser Erkenntnis, aber sie wollte ihn dennoch nicht gehen lassen. „Wir… wir kriegen das gemeinsam wieder hin, okay? Tut mir Leid, ich wollte diese Wunde sicherlich nicht noch weiter aufreißen und ich werde dir helfen, das durchzustehen. Ich werde dich unterstützen.“ Erstaunt und auch ein Stück weit sprachlos sah Ezra sie an und hätte nicht gedacht, dass sie tatsächlich so etwas sagen würde. Er hatte eher damit gerechnet, dass sie sich von ihm abwandte und angewidert war. Aber stattdessen wollte sie für ihn da sein. „Meinst du das ernst?“ „Natürlich, du bist doch mein eigen Fleisch und Blut! Gemeinsam finden wir schon einen Weg, das zu regeln. Und mach dir keine Sorgen, auf der Party sind anständige Leute und ich bin auch da, wenn etwas sein sollte. Wir gehen dir gleich ein schönes Outfit besorgen.“ „Okay, ähm… darf ich jemanden mitbringen?“ Und diese Frage sorgte für ein herablassendes und hochnäsiges Lächeln. „Ezra, das ist ein exklusiver Club und nichts für die gewöhnlichen Leute. Wenn wir jeden Dahergelaufenen mitnehmen würden, dann wäre es nicht mehr exklusiv.“ „Ich würde gerne Elion mitbringen, damit du ihn besser kennen lernen kannst. Er ist ganz in Ordnung und er wird auch keinen Ärger machen. Versprochen.“ Doch immer noch war Monica alles andere als begeistert. Aber da sie wohl merkte, dass sie Ezra diese Idee nicht ausreden konnte, gab sie schließlich nach. „Also gut, dann kann er kommen. Das ist aber eine Ausnahme und wenn er nicht entsprechend gekleidet ist, kommt er erst gar nicht in den Club.“ Okay, das war zumindest etwas. Und insgeheim war der 16-jährige froh, dass wenigstens Elion mitkam. Denn er traute diesen Bonzen nicht und er hatte auch Sorge, dass er vielleicht irgendjemanden von Parsons Leuten begegnen könnte und da wollte er wenigstens, dass Elion in der Nähe war. Noch ein Mal wollte er sicher nicht von diesen Schlägern verprügelt und im Anschluss vergewaltigt werden. Aber dann fiel ihm noch was ein. Nämlich die große Frage, was Nastasja dazu sagte, denn sie war ja Erziehungsberechtigte und er brauchte ja auch ihre Erlaubnis. „Entschuldige mich kurz, ich muss eben Natascha anrufen und sie fragen, ob das klar geht.“ „Ach Ezra, du kannst doch auch mal etwas lockerer sein. Sie ist nicht deine Mutter, sondern ich.“ „Ich weiß, aber ich will keinen Stress. Ich hab schon zwei Vorstrafen und wenn ich mir in irgendeiner Form wieder etwas leiste, dann gibt es noch richtig Probleme.“ „Du bist was?!“ „Ja. Ich musste für Dad Handys stehlen und verticken, um seine Schulden zu bezahlen und eines Tages wurde ich erwischt. Und dann habe ich wegen Sachbeschädigung Sozialstunden aufgebrummt bekommen. Ich will einfach keinen Ärger mehr. Entschuldige, ich muss kurz raus, irgendwie krieg ich hier drin keinen Empfang.“ Damit ging Ezra raus, um in Ruhe mit Nastasja zu telefonieren. Diese war alles andere als begeistert und erlaubte ihm auch erst gar nicht, zu der Party zu gehen, weil er ihrer Meinung nach noch zu jung war. Als er aber anbot „Wenn Elion mit mir mitkommt, ginge das dann in Ordnung?“, schien sie sich deutlich kompromissbereiter zu zeigen. Eine Weile überlegte die Russin noch und war anscheinend noch etwas unschlüssig. Dann aber sagte sie „Okay. Wenn Elion mitkommt, dann geht das in Ordnung. Aber du bist um halb elf Uhr wieder zuhause und du trinkst auch keinen Alkohol. Das sind die Bedingungen.“ „Ach Mann, sei doch mal etwas lockerer! Das ist eine Party und kein Seminar.“ „Nun gut, du darfst zwei Bier trinken. Harte Sachen sind verboten.“ Mit diesem Kompromiss war er einverstanden und er versprach auch, sich an die Bedingungen zu halten. Als das geklärt war, ging er wieder zurück zu seiner Mutter, die sich wieder mit Jeanne unterhielt. Wenig später gingen sie los, um für ihn ein passendes Outfit für die Party zu besorgen. Doch die Stimmung zwischen ihnen war etwas anders als zuvor. Denn Monica verhielt sich nun deutlich distanzierter als zuvor und sie vermied es auch, Ezra anzufassen. Dem 16-jährigen fiel das nicht auf und er dachte sich auch nichts sonderlich dabei. Aber hätte man die beiden gesehen, hätte man sie niemals für Mutter und Sohn gehalten. Kapitel 9: Schlechte Stimmung ----------------------------- Da Elion noch etwas Anständiges für die Party morgen Abend brauchte, hatte er kurzerhand Rumiko gefragt, ob sie ihm helfen könnte. Die zweifache Mutter machte das gerne, wobei sie aber Nastasja bat, solange auf ihre Kinder aufzupassen, da ihr Mann noch arbeiten war. Die Russin übernahm diese Aufgabe gerne, da sie ja ohnehin sehr kinderlieb war. Sie brachte aber noch jemanden mit und das war Oliver. Fröhlich lächelnd wie immer kam er mit seiner Laptoptasche herein und sogleich empfing Nastasja die beiden herzlich und auch Sheol grüßte sie, bevor er nach draußen geschickt wurde, damit er endlich mal den Müll rausbrachte. „Der Frechdachs scheint sich ja ganz gut zu machen“, bemerkte Oliver und sah ihm nach, als er nach draußen ging. „Eigentlich ist er ja gar nicht mehr wiederzuerkennen.“ „Das stimmt“, seufzte Nastasja und goss den beiden je eine Tasse Kaffee ein. „Aber manchmal frage ich mich, woher er das hat. Ich muss ihn manchmal bis zu fünf Mal daran erinnern, sein Zimmer aufzuräumen. Jedes Mal, wenn ich reinkomme, sieht es aus wie bei den Hottentotten.“ „Manche Leute können eben keine Ordnung halten.“ „Natürlich können sie das, wenn sie sich die Mühe machen würden. Alles andere ist nur eine faule Ausrede.“ „Hey, ich kann keine Ordnung halten. Aber dafür kümmert sich Andy darum. Ich übernehme das Kochen, die Reparaturen und den ganzen Rest. So haben wir uns auch gut arrangiert.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile und tauschten sich aus, was es Neues gab und wie das Treffen mit Ezra und seiner Mutter verlaufen war. Als Rumiko ihren Kaffee ausgetrunken hatte, verabschiedete sie sich und machte sich mit Elion auf den Weg. Oliver blieb da und holte seinen Laptop heraus. „Da L und Beyond gerade verhindert sind, dachte ich, dass ich eben vorbei komme und dir das Ergebnis der Recherchen überbringe. Ich hab da so ein paar interessante Sachen erfahren.“ Nastasja ahnte Schlimmes, war aber auf alles gefasst und sagte „Erzähl ruhig. Bei dieser Frau kann mich eh nichts mehr überraschen.“ Oliver suchte ein paar Dateien heraus und was er alles erfahren hatte, deckte sich so ungefähr mit dem, was Nastasja insgeheim schon geahnt hatte. „Die Frau hat mehr Lügen erzählt als der Baron von Münchhausen. Dass sie um das Sorgerecht gekämpft hat und sie sich von ihrem Mann getrennt hat, stimmt gar nicht. In Wahrheit hatte Monica eine Affäre mit einem anderen Kerl gehabt und das Kind wollte sie abtreiben lassen. Sie hat aber viel zu spät gemerkt, dass sie schwanger war und da konnte sie es nicht mehr. Deshalb hat sie das Kind weggegeben und ist abgehauen. Und ich hab mir von alten Bekannten von ihr sagen lassen, dass Monica Kinder verabscheut und niemals Kinder haben wollte. Tja und da die Affäre ans Licht gekommen war, kam ihr das alles ganz recht. Also hat sie die Geburt eben schnell hinter sich gebracht, Ezra bei seinem Vater gelassen und reiste noch vom Krankenhaus aus nach Frankreich, ohne sich zu verabschieden.“ Als Nastasja das hörte, schüttelte sie nur verständnislos den Kopf. Wie konnte eine Frau nur so kaltherzig und egoistisch sein? Das war ihr einfach ein Rätsel. Sie selbst hätte sogar ihre größten Träume aufgegeben, weil das Glück ihrer Kinder an oberster Stelle stand und sie sowieso Kinder liebte. „Und wie ist sie nach 16 Jahren so?“ „Nun, sie ist eine absolute Glamourdame, die es liebt, im Rampenlicht zu stehen. Sie führt ein ziemlich luxuriöses Leben mit ihrem zweiten Mann Jean Denaux, die Ehe ist aber kinderlos geblieben. Der Mann ist ein sehr berühmter Modedesigner und die beiden sind verdammt reich. Sie gehören zu den reichsten Leuten in Frankreich und leben diesen Luxus auch entsprechend aus. Tja, was gibt es da noch? Nun, die Presse hat in der letzten Zeit nicht mehr viel über sie berichtet und es ist recht still um die beiden geworden. Aber soweit ich weiß, soll Monica derzeit an einer Biografie arbeiten.“ „Eine Biografie?“ fragte die Russin und horchte auf. „Hat das etwa mit ihrem Besuch in Boston zu tun?“ Diesbezüglich wollte Oliver noch keine direkte Aussage machen, aber er hatte da schon so seine Vermutung. „Es kann sein, dass sie Ezra in ihre Biografie einbinden will und da wäre es authentisch, wenn sie sich als die betrogene und aufopferungsvolle Mutter darstellt, die ihr Kind aus der Gosse holt und aus dem Stricherjungen einen vornehmen Jungen aus der Oberschicht macht. Wie bei „der kleine Lord“ oder „Pretty Woman“. Das würde für Schlagzeilen sorgen, weil so etwas ja auch nicht alle Tage vorkommt. Und wenn sie die Zeugen besticht, die etwas anderes behaupten, dann wird sie die große Mutter Teresa sein, die ihr Kind aus der Hölle geholt hat.“ „Deshalb will sie ihn unbedingt nach Frankreich holen. Sie will ganz einfach für Schlagzeilen sorgen und benutzt eiskalt Ezras Vergangenheit aus. Ich hab es doch geahnt.“ Nastasja sah betrübt aus und man sah ihr an, dass diese Situation schwer für sie war. Sie hatte ja insgeheim gehofft, dass Ezra wenigstens zu seiner Mutter ein gutes Verhältnis aufbauen konnte. Aber stattdessen erklärte sich nun, wieso sie ihn unbedingt verändern wollte und trotzdem so wenig Interesse an ihm selbst zeigte: sie wollte ihn benutzen, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken. „Was für eine widerwärtige Person“, sagte sie und ihre Stimme zeugte von Verachtung. „Wie kann man nur so etwas tun und die Lage seines Kindes zu seinem persönlichen Vorteil ausnutzen und es quasi als Vorzeigeidioten benutzen, nur damit sie besser da steht. Aber das ist auch genau das, was von so einer wie ihr zu erwarten war. Rumiko hatte von Anfang an Recht: diese Frau macht uns noch echt Probleme. Nun gilt es zu überlegen, was wir tun sollen. Ezra ist morgen mit Elion im „Black Lotus“, wo eine Party stattfinden soll und seine Mutter will ihn dabei haben. Wahrscheinlich freut er sich darauf und da will ich ihm die Freude auch nicht verderben. Ich werde es ihm nach der Party schonend beibringen und dann noch mal das Gespräch mit Monica aufsuchen und sie auch zur Rede stellen. Ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass sie Ezras Vergangenheit benutzt, um sich selbst ins Rampenlicht zu stellen. Der arme Junge hat doch schon genug durchgemacht.“ Oliver war derselben Meinung und lehnte sich schließlich zurück, wobei er die Arme verschränkte. „Ich kenne das von meiner Mutter. Sie wollte mich und meinen Bruder auch nie haben und hat uns deshalb direkt nach unserer Geburt abgegeben und ist abgehauen.“ „Ehrlich gesagt kann ich nicht verstehen, wieso es Menschen gibt, die Kinder in die Welt setzen, obwohl sie sich nicht um sie kümmern wollen. Vielleicht bin ich auch in meinen Ansichten zu altmodisch.“ „Daran liegt es nicht. Manche machen sich eben keine Gedanken drum. Ich liebe Kinder und ich habe auch Spaß daran, mit den Hospizkindern irgendwelche Aktivitäten zu unternehmen. Ehrlich gesagt fände ich es schön, auch selbst Vater zu sein. Zugegeben, ich mag nicht der Ordentlichste sein und hab da so meine Schwächen, aber so ein eigenes Kind wäre vielleicht schön. Wenn ich die beiden Kleinen hier so sehe, da würde ich sie am liebsten mitnehmen.“ Und als hätte Faith das verstanden, begann er übers ganze Gesicht zu strahlen, fröhliche Gluckslaute von sich zu geben und streckte seine Hände nach dem gebürtigen Iren aus. Eden hingegen sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen und so nahm Nastasja sie auf den Arm, um sie zu beruhigen. „Ich muss da immer an L denken, als er noch klein war. Als Kind hat er ziemlich viel geweint und war auch oft krank. Einmal hatte er so hohes Fieber, dass wir wirklich Angst um sein Leben hatten und als wir ihn ins Krankenhaus bringen mussten, haben mein Mann und ich große Ängste ausgestanden. Und als er älter wurde, war er ein richtiger kleiner Satansbraten gewesen und hat jeden erdenklichen Blödsinn angestellt. Aber wenn ich so sehe, wie er sich in den letzten Jahren gemacht hat, scheint er ja nicht nur meine schlechten Seiten geerbt zu haben. Ich bin ja froh, dass Ezra charakteristisch nichts von seiner Mutter hat. Er ist ein anständiger Junge, auch wenn er manchmal genauso ein trotzköpfiger Teenager sein kann wie Sheol.“ Dem konnte der Ire nur zustimmen. Denn obwohl er Ezras Mutter nur ein Mal gesehen hatte, so war sie ihm alles andere als sympathisch. Dahingegen war ihr Sohnemann deutlich besser geraten. Schließlich aber kam Oliver auf ein anderes Thema zu sprechen. „Was ich dich noch fragen wollte: würdest du vielleicht gerne meine Trauzeugin für die Hochzeit sein?“ „Ja gerne, L kam schon heute Morgen vorbei und hat mir schon davon erzählt. Ich finde es wirklich süß von dir, aber… wäre dein bester Freund Ridley nicht die bessere Wahl?“ Aber Oliver hatte sich schon genug Gedanken gemacht und erklärte „Erstens ist Ridley die nächsten Monate im Ausland und hat keine Zeit und zweitens finde ich, dass die Ehre dir zuteil werden sollte, weil Andy ohne dich jetzt nicht hier wäre. Du hast ihm schon zwei Mal geholfen und ohne dich und Frederica würde es wohl keine Hochzeit geben. Du hast Andys Leben gerettet und damit den Menschen, den ich schon damals so sehr geliebt habe.“ Und da konnte Nastasja einfach nicht mehr nein sagen. Sie gab ihr Wort, dass sie die zweite Trauzeugin sein würde und bemerkte dann gleich nebenbei „Mensch, das ist das erste Mal, dass ich eine Schwulenhochzeit miterlebe. Das wird sicher schön.“ Der Hacker war zufrieden über die Zusage und so unterhielten sie sich eine Zeit lang und wie immer hatte Oliver viel zu erzählen. Dann aber wurde es ernster, als er dann schließlich einen Anruf von L bekam. Da der Anruf auch für Nastasja interessant war, schaltete der Ire das Gespräch auf laut. „Liam hatte mir eine Nachricht geschickt, dass Monica Denaux mit einer Französin im Black Lotus war. Bei der Frau handelt es sich um eine gewisse Jeanne Dubois. Sie ist Journalistin und Klatschreporterin für ein Magazin und berichtet hauptsächlich über Monica und ihren zweiten Ehemann.“ „Aha… und worüber haben sie gesprochen?“ „Nun, Die Kameras sind ohne Ton, aber was Liam von den Lippen ablesen konnte war, dass Monica über ihren Sohn gesprochen hat.“ „Das ist doch nicht ungewöhnlich. Ezra ist immerhin ihr Kind.“ „Dachte ich mir auch. Wenn es nicht darum gehen würde, was sie ihr erzählt hat. Und das sind alle unschönen Geschichten aus Ezras Vergangenheit. Angefangen davon, dass sein Vater ihn verprügelt und missbraucht hat und dieser von seinem Sohn in Notwehr umgebracht wurde, bis hin zu der Tatsache, dass ihr Sohnemann schwul ist und ihr Ex sich mit der Mafia angelegt hat.“ Nastasja und Oliver sahen sich mit einem viel sagenden Blick an, dann aber wurde die Russin richtig sauer und rief mit grollender Stimme ein paar heftige Flüche auf Russisch, als hätte sie Monica Denaux die Pest an den Hals gewünscht. „Ich fasse es nicht“, rief sie und schlug mit der Faust an den Tisch. „Ich reiß dieser arroganten und aufgeblasenen Barbiepuppe ihre Haarextensions einzeln raus und hoffe, dass ihr die Silikonkissen auslaufen! Die wagt es, Ezra zu benutzen, um sich ins Rampenlicht zu stellen und veröffentlicht seine Leidensgeschichte auch noch in irgendeinem billigen Klatschmagazin. Na warte, die kann was erleben. Ich geh zu ihr hin und breche ihr die verdammten falschen Fingernägel ab!“ Damit wollte sie schon gehen, doch da hielt Oliver sie auf und hielt sie fest. „Nastasja, jetzt krieg dich doch bitte wieder ein. Es bringt doch nichts, sich jetzt so aufzuregen. Und wenn du sie in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit reinziehst, verklagt sie dich noch.“ „Soll sie doch machen. Ich mach die blöde Kuh fertig. Der werde ich den Arm abreißen und ihr so tief in den Allerwertesten reinschieben, dass sie sich von innen den Hals kratzen kann.“ Doch Oliver schaffte es mit Mühe, die vor Wut rasende Nastasja aufzuhalten. Denn so wie sie drauf war, stand wirklich zur Befürchtung, dass sie noch eine Dummheit begehen würde. Auch L klang am Telefon mehr als besorgt und fragte sicherheitshalber „Mum, du wirst doch wohl jetzt nicht wirklich rausgehen und Monica etwas antun?“ „Oh ich schwöre in Gottes Namen ich würde es am liebsten tun, wenn ihr mich lassen würdet und mich auch nicht mein verdammter gesunder Menschenverstand davon abhalten würde.“ „Hat Jesus denn nicht immer gepredigt, man solle seinen Feinden vergeben?“ fragte nun Oliver, der sogleich einen finsteren Blick von Nastasja zugeworfen bekam. „Diese Frau ist nicht mein Feind. Sie ist eine dicke fette Schmeißfliege auf der Windschutzscheibe meines Seelenfriedens und ich schwöre bei meinem Rosenkranz, dass ich nicht zulassen werde, dass diese Frau Ezra noch weiter für ihre Pläne missbraucht. Ich werde ihn davor beschützen, so viel steht fest.“ Oliver redete ihr noch eine ganze Weile beschwichtigend zu, genauso wie L und so gelang es ihnen, ihr aufgebrachtes Gemüt zu beruhigen. Schließlich, als sich ihr überhitztes Gemüt wieder abgekühlt hatte, trank sie noch ihren Kaffee aus und atmete tief durch. „Der einzige Leidtragende bei dieser ganzen Geschichte ist Ezra. Dabei hat er schon die Fehler seines Vaters ausbügeln müssen. Ich werde ganz gewiss nicht zulassen, dass er vor der Öffentlichkeit vorgeführt wird wie in einer Freakshow! Und deshalb werde ich ihn davon abhalten, zu dieser Party zu gehen.“ Nastasja war stinksauer und erneut kurz vorm explodieren. Fest stand jedenfalls, dass Monica Denaux sich noch auf einiges gefasst machen konnte, wenn sie sich hier blicken ließ. Ezra ahnte derweil nichts von alledem, was sich zuhause zutrug. Bereitwillig ließ er sich wieder von seiner Mutter durch diverse Geschäfte schleifen und durfte sich anhören, dass sein Haar viel zu lang und er selbst zu dünn und zu klein war. Da war es nicht eben einfach, passende Sachen für ihn zu finden. Insgeheim war er diese Shoppingtouren langsam leid und wünschte sich, dass sie auch mal etwas anderes unternehmen konnten. Na hoffentlich ging es bei der Party etwas interessanter zu. Was ihn am allermeisten störte war die Tatsache, dass seine Mutter kurzerhand beschlossen hatte, ihre gute Freundin Jeanne einfach mitzunehmen und das nervte ihn. Wieso zum Henker schleppte sie diese Frau mit? Und die ganze Zeit unterhielten sie sich nur auf Französisch und er verstand kein einziges Wort davon. Warum nur musste sie unbedingt dabei sein? Am liebsten hätte er etwas gesagt, aber er ließ es dann doch und ließ sich bereitwillig von seiner Mutter einkleiden. Aber sie war nie zufrieden und wurde immer ungehaltener. Sie ärgerte sich richtig, dass fast alle Sachen für Ezra entweder zu groß, zu weit oder gleich beides zusammen waren. „Du bist viel zu mager, Ezra. So kann das nicht weitergehen. Wir werden nie anständige Sachen für die Party finden, wenn das so weitergeht. Wie wäre es, wenn wir erst einmal was essen gehen? Ich habe uns einen Tisch reservieren lassen.“ „Ist es wieder eines von diesen Schickimicki-Restaurants?“ „Also bitte, Ezra. Das Amethyst ist eine exklusive Lokalität, wo du endlich auch mal etwas Anständiges zu essen bekommst. Du bist doch sicherlich so dürr, weil du nur so schlechtes Zeug gegessen hast.“ „Nastasja und Elion geben sich viel Mühe mit der vegetarischen Küche“, wandte Ezra ein und klang nun deutlich gereizter. „Und überhaupt: ich bin kein Veganer, sondern esse auch tierische Produkte, aber eben keine Tiere selbst. Mag sein, dass ich vielleicht nicht gerade den größten Hunger von allen habe so wie Sheol, der locker für eine ganze Mannschaft spachteln kann. Aber meine Größe ist genetisch bedingt. Ich kann immer noch einen Wachstumsschub kriegen.“ Doch Monica hörte ihm nicht richtig zu und hatte sich ihr Urteil gebildet. Sie blieb dabei, dass ihr Junge nur deshalb so mickrig geraten war, weil sich seine Pflegefamilie nicht vernünftig um ihn kümmerte. Die Diskussion wurde schließlich beendet und so gingen sie ins Restaurant Amethyst. Ezras Laune war fast auf dem Tiefpunkt und er hatte keine Lust, in so einen Laden zu gehen, wo man mehr Gabeln hatte, als man eigentlich brauchte. Da blamierte er sich doch nur. Und als sie das Fünf-Sterne-Restaurant betraten, sah er sofort, was hier los war. Es war alles edel eingerichtet, Geschäftsleute saßen an den Tischen und ihm schwante, dass da noch einiges auf ihn zukommen würde. „So Ezra, das ist die perfekte Gelegenheit um dir ein paar Tischmanieren beizubringen.“ „Ich kenn die die wichtigsten und die reichen: Ellebogen vom Tisch, Mund zu beim Essen und körpereigene Gase besser für sich behalten.“ „Also wirklich, das sind doch die primitivsten Zustände! Für die gehobene Küche braucht es schon mehr als das. Welches Besteck wird wofür benutzt, wie isst man Hummer, welche Konversationen sind bei Tisch passend oder unpassend und wie sie verhält man sich gegenüber Damen? Das sind Dinge, die du noch lernen musst.“ „Muss ich das denn unbedingt? Ernsthaft, ich verstehe es ja, wenn manche etwas feiner essen wollen. Aber so etwas ist doch wirklich übertrieben und ich werde ganz bestimmt keinen Hummer essen!“ „Dann wirst du hier nicht viel Glück haben. Denn hier gibt es keine vegetarischen Gerichte.“ So langsam ahnte der 16-jährige, worauf seine Mutter hinauswollte und er überlegte schon, ob er nicht doch lieber abhauen sollte. Zumindest, solange er noch die Chance dazu hatte. Aber er wollte seine Mutter ja auch nicht enttäuschen, wo sie doch extra einen Tisch reserviert hatte. Oh Mann, dachte er sich. Hoffentlich geht das gut und es trifft nicht der Fall ein, von dem ich befürchte, dass er eintreten wird. Sie wurden schließlich zu ihrem Tisch geführt und bekamen auch gleich die Speisekarten. Genauso gut hätte jemand Chinesisch reinschreiben können, Ezra verstand überhaupt nichts und kurzerhand bestellte seine Mutter einfach etwas für ihn. Während sie warteten, redete Monica in aller Seelenruhe mit Jeanne auf Französisch und die nahm alles mit dem Diktiergerät auf. Ezra fragte sich so langsam wirklich, was die beiden die ganze Zeit besprechen mussten, dass diese Frau ständig ihr Diktiergerät laufen ließ. Aber er sagte nichts und versuchte, nicht allzu genervt auszusehen. Ungeduldig sah er sich um, rutschte auf seinem Stuhl hin und her und fragte sich, ob Elions Shoppingtour wesentlich entspannter ablief als seine. Mochte vielleicht daran liegen, weil er einfach keine Lust mehr auf dieses ganze Gehobene hatte, wo es einfach nur protzig war und er nichts als Oberflächlichkeit sehen konnte. Kaum zu glauben, dass er mal in so einer Welt leben würde. Und kaum zu glauben, dass seine Mutter so etwas toll fand und sie beide tatsächlich miteinander verwandt waren. Na komm Ezra, jetzt stell dich nicht so an und versuch dich etwas zusammenzureißen. Mum meint es doch bloß gut mit mir, also sollte ich mich da nicht so anstellen. Ezra schaffte es, sich einigermaßen wieder zu fangen und nicht ganz so genervt dreinzublicken. Doch als dann das Essen kam und er vor sich nichts anderes als Schnecken vor sich sah, da drehte sich ihm fast der Magen um und fassungslos sah er seine Mutter an. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst. So etwas… so etwas isst man doch nicht!“ „Jetzt stell dich nicht so an“, gab Monica in einem gereizten Ton zurück und funkelte ihn warnend an. Ihre Stimme klang nun viel tiefer und bedrohlicher als sonst und sie ergriff dabei auch sein Handgelenk, wobei sie ihn auch grob festhielt. „Weinbergschnecken sind eine französische Delikatesse. Anstatt immer nur herumzunörgeln, könntest du dich endlich mal etwas zusammenreißen. Ich gebe mir solche Mühe, aus dir etwas halbwegs Anständiges zu machen, da kann ich doch wohl ein bisschen Dankbarkeit von dir erwarten.“ „Aber ich hab doch gesagt, dass…“ „Du kannst es wenigstens versuchen. Mir zuliebe.“ Ezra zögerte und sah auf seinen Teller. Innerlich sträubte sich alles in ihm, weil er sich geschworen hatte, niemals Tiere zu essen. Und nun verlangte seine Mutter, dass er es doch tat. Und dann ausgerechnet Schnecken. Nur mit äußersten Widerwillen schaffte er es unter Anleitung Monicas, diese widerspenstigen kleinen Tierchen aus den Häuschen rauszuholen und dann herunterzuwürgen. Wirklich alles in ihm sträubte sich und allein der Gedanke daran, was er da aß, machte es nicht besser. „Nun hör auf dich so anzustellen“, kam es von Monica, die da deutlich weniger gehemmt an ihr Essen ging. Sie hatte sich aber auch keine Weinbergschnecken bestellt so wie für ihren Sohn. Ezra stürzte hastig ein Glas Wasser hinterher, um den widerlichen Geschmack herunterzuspülen, doch sein Magen begann sich trotzdem umzudrehen. Ihm wurde schlecht und er eilte zu den Toiletten, wo er sich schließlich erbrach. Der Tag war für ihn nun endgültig gelaufen. Kapitel 10: Zwischen zwei Welten -------------------------------- Als Ezra am späten Nachmittag von seiner Mutter zurückgebracht wurde, ging er sofort rauf in sein Zimmer und legte sich ins Bett. Nastasja ging besorgt zu ihm rauf und fragte auch was los war, da erklärte der 16-jährige auch gleich „Mir ist schlecht und ich musste kotzen, als meine Mutter auf den Trichter kam, mich dazu zu bringen, Weinbergschnecken zu essen.“ „Igitt, das ist wirklich widerlich. Und das, obwohl du ihr gesagt hast, du wärst Vegetarier?“ Ezra nickte und zog die Decke über seinen Kopf. Sanft streichelte Nastasja seinen Kopf und fragte „Der Tag war wohl nicht sonderlich schön für dich, oder?“ Er schüttelte den Kopf und starrte nachdenklich ins Leere. „Am Anfang war es ja noch ganz okay gewesen“, murmelte er leise. „Aber irgendwie dreht sich bei ihr alles ums Shoppen und so. Wir haben nichts Passendes für die Party gefunden, weil alle Sachen zu groß oder zu weit waren. Und da hatte sie keine Lust mehr gehabt, woraufhin wir dann in eines dieser teuren Restaurants gegangen sind. Tja und da meinte sie eben, dass ich auch mal zumindest versuchen könnte, Tiere zu essen. Immerhin gibt sie sich solche Mühe mit mir, da kann ich ihr auch entgegenkommen.“ „Hast du das gesagt oder sie?“ „Ist doch eh egal. Ich will mich einfach nur etwas aufs Ohr hauen, dann geht es mir sicherlich morgen besser, damit ich auf die Party gehen kann.“ „Nun, wegen der Party“, sagte Nastasja langsam und zögerte noch. Immer noch streichelte sie dem angeschlagenen Ezra durchs Haar und sah ernst aus. „Ich möchte nicht, dass du da hingehst.“ „Wie?“ fragte der 16-jährige und setzte sich auf und sah sie verwundert an. „Warum das denn? Meine Mutter hat mich schon für diese Party angemeldet und rechnet fest mit mir. Wieso darf ich da auf einmal nicht mehr hingehen?“ „Weil es das Beste ist, glaub mir“, erklärte die Russin und sah ihn ernst durch ihre Brille an. „Weißt du, L und Oliver haben da so einige Dinge über deine Mutter erfahren, die nicht sehr schön sind. Und deshalb will ich dich auch ein Stück weit schützen.“ „Mich vor meiner Mutter beschützen?“ Ezra wurde misstrauisch, denn er wusste diese Situation überhaupt nicht einzuordnen und sah Nastasja fragend an. „Was meinst du damit?“ Die 30-jährige Russin rückte nicht sofort mit der Sprache raus, sondern ließ sich mit der Antwort etwas Zeit, bevor sie erklärte „Es gibt da etwas, das deine Mutter vor dir verschwiegen hat. Du musst wissen, dass sie gewisse Hintergedanken hatte, als sie zu dir Kontakt aufgenommen hat. L hat herausgefunden, dass deine Mutter eine Journalistin beauftragt hat, eine Biografie zu schreiben und dabei werden auch Dinge aus deiner Vergangenheit erwähnt. Zum Beispiel, dass dein Vater mit der Mafia Schwierigkeiten hatte, dich missbraucht und geschlagen hat und dass er durch deine Hand starb. Auch, dass du auf den Strich gegangen bist…“ Ezra sah sie an und sagte nichts. Es war auch schwer zu sagen, was er dachte und wahrscheinlich wusste er selber gerade nicht, was er denken sollte. „Ja und?“ begann er nach einer Weile zögernd. „Immerhin bin ich ihr Sohn, da ist es doch normal, dass ich auch in die Biografie reinkomme, oder etwa nicht? Und überhaupt: woher willst du das wissen? Habt ihr alle etwa meine Mutter ausspioniert?“ „Nein, so ist es nicht“, erklärte Nastasja und blieb ruhig, während Ezra selbst langsam aggressiv wurde. „Deine Mutter war heute Morgen bei mir im Büro gewesen und hat mir Geld geboten, damit ich ihr das Sorgerecht für dich überlasse. Das kam mir irgendwie seltsam vor, deshalb habe ich L gebeten, mehr darüber herauszufinden, wieso Monica unbedingt das Sorgerecht haben will, obwohl sie sich doch vorher nie für dich interessiert hat.“ „Sie hat eben aus ihren Fehlern gelernt, klar? Sie hat mir alles erzählt. Mein Vater hat behauptet, sie würde mich misshandeln und sie durfte mich deshalb nicht mehr sehen.“ „Ezra, es tut mir Leid, aber das ist nicht so. Deine Mutter hat gelogen. Sie ist damals direkt vom Krankenhaus aus nach Frankreich abgereist und hat dich bei deinem Vater gelassen. Sie hatte schon vorher eine Affäre gehabt und hatte kein Interesse an einem Familienleben. Stattdessen wollte sie unbedingt ihren Traum verwirklichen und ist deshalb gegangen. Und der Grund, wieso sie Kontakt zu dir aufgenommen hat, war der, weil sie Publicity haben wollte. Verstehst du? Deshalb möchte ich dich vor ihr schützen. Ich mache mir Sorgen, dass sie dich noch enttäuschen könnte und sie deine Lage nutzt, um sich selbst ins Rampenlicht zu stellen.“ „Das ist doch Quatsch!“ rief Ezra und war nun deutlich aggressiver. Man sah ihm an, dass er sehr verunsichert war und nicht wusste, was er tun sollte. Und Nastasja hatte auch Verständnis für seine Lage, aber dennoch wollte sie an ihrem Entschluss festhalten, Ezra vor seiner Mutter zu schützen. „Warum sollte meine Mutter mich belogen haben? Sie kümmert sich um mich und sie will mir helfen, mich in ihrer Welt zurechtzufinden, damit ich zu einem Teil ihrer Familie werde. Und überhaupt: du kennst sie doch gar nicht, da kannst du dir ja wohl kaum ein Urteil bilden. Außerdem bist du nicht meine Mutter, verdammt. Du bist nur meine Pflegemutter und sonst nichts.“ Damit sprang er vom Bett auf und verließ das Zimmer. „Ezra!“ rief Nastasja und folgte ihm. Doch obwohl Ezra nicht gerade zu den Sportlichsten zählte, war er aus dem Haus gestürmt und verschwunden. Die 30-jährige ging noch zur Straße und suchte nach Ezra, fand ihn aber nicht. Dafür kam Sheol raus und fragte „Mum, was ist los?“ „Ezra ist gerade weggelaufen.“ „Wieso denn das?“ „Ich hab versucht, ihm das mit seiner Mutter beizubringen und ihm auch gesagt, dass ich nicht will, dass er zu dieser Party geht. Aber er ist weggerannt.“ „Willst du ihn suchen gehen?“ „Nein, er soll sich erst einmal beruhigen. Vielleicht braucht er auch erst einmal seine Ruhe, um das zu verarbeiten. Wenn er vor elf nicht zurück ist und sich nicht gemeldet hat, werde ich seine Mutter anrufen und fragen, ob er bei ihr ist. Und wo willst du hin?“ „Ich wollte gleich ein bisschen um die Häuser ziehen.“ „Okay, aber kommst spätestens um halb elf Uhr zurück und wenn ich merke, dass du getrunken hast, gibt es Ärger. Dann hagelt es nämlich Hausarrest und dein Taschengeld wird dann ebenfalls gestrichen.“ „Ja Mum…“, stöhnte er genervt und verdrehte dabei die Augen. „Ich hab’s kapiert.“ Ezra war über den Zaun geklettert, um über ein paar Umwege zu flüchten und auf die Weise sicherzugehen, dass Nastasja ihm nicht folgte. Er hatte echt keine Lust darauf und konnte sich auch bei weitem was Besseres vorstellen. Jetzt brauchte er einfach mal etwas Ruhe und vor allem Abstand von dieser ganzen Sache, um irgendwie wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Inzwischen war es kühler geworden und die frische Luft half auch gegen seine Übelkeit, oder zumindest ein bisschen. Er steuerte instinktiv den Hafen an, wo er öfter hingegangen war, wenn er einfach mal diesen ganzen Mist vergessen wollte, der auf seinen Schultern lastete. Irgendwie war das alles momentan echt beschissen und er wusste nicht, was er tun sollte. Insbesondere stellte er sich die Frage, wem er glauben sollte. Zugegeben, seine Mutter hatte etwas eigenwillige Ansichten und die Kommunikation zwischen ihnen beiden stimmte auch nicht so wirklich. Aber würde sie deswegen gleich so etwas tun? Vielleicht hatte sie das ja auch nicht aus böser Absicht getan, als sie seine Lebensgeschichte in ihrer Biografie erwähnen wollte. Nun gut, sie hätte ihn wenigstens vorher fragen können, aber er konnte einfach nicht glauben, dass sie wirklich so abgebrüht war und nur deshalb nach Boston gekommen war, weil sie für Schlagzeilen sorgen wollte. Oder… wollte er es vielleicht nicht glauben? Er wusste es einfach nicht und als er den Park erreicht hatte, setzte er sich auf eine Bank, lehnte sich zurück und betrachtete das Rot der untergehenden Sonne. Während er die Wolken betrachtete, musste er wieder an das Gespräch mit Nastasja denken. Er hatte ihr vielleicht ziemlich vor den Kopf gestoßen als er ihr vorgehalten hatte, sie wäre nicht seine Mutter. Nun, es stimmte ja auch, aber sie war doch eigentlich genau das, was er sich unter einer guten Mutter vorstellte. Sie war liebevoll und bemühte sich sehr, ihn zu unterstützen. Sie war sehr tolerant, was seine Liebe zu Elion anging und war sogar selbst der Meinung, dass diese Beziehung ihm gut tat. Immer, wenn er Probleme oder Sorgen hatte, konnte er sich ihr anvertrauen und sie hatte zusammen mit den anderen eine Geburtstagsfeier für ihn organisiert. Sie hatte ihn in die Familie aufgenommen und ihm gut zugeredet, was seine Mutter anging. Und nun kam sie plötzlich damit an, ihn von ihr fernhalten zu wollen, weil sie der Meinung war, dass seine Mutter ein falsches Spiel trieb. Große Klasse. Was sollte er denn bitteschön denken und wem sollte er denn mehr glauben? Nastasja oder seiner eigenen Mutter? Zugegeben, es war nicht sonderlich nett, Nastasja an den Kopf zu werfen, dass er nur ihr Pflegekind war. Denn eigentlich hatte sie ihn immer wie ihr eigenes Kind behandelt und ihm auch nie das Gefühl gegeben, dass er nur ein Pflegekind war. Sie war ganz anders als seine anderen Pflegemütter. Anders als… Unfreiwillig musste er wieder an Audrey denken. Audrey… Lucy… Wieder wurde ihm schlecht bei den schrecklichen Bildern, die er vor seinem inneren Auge sah. Es gelang ihm nur mit Mühe, sie wieder aus seinem Kopf zu verbannen und sich nicht mehr zu erinnern. Es reichte schon, wenn sie ihn in seinen Träumen verfolgte. Da musste es nicht auch noch in der Realität sein. Ezra merkte, dass er langsam müde wurde. Es fiel ihm immer schwerer, die Augen offen zu halten und sich zu konzentrieren. Wahrscheinlich war das ganze Hin und Her doch etwas zu anstrengend gewesen und er brauchte einfach eine Mütze voll Schlaf. Aber so wirklich Lust, nach Hause zurückzugehen, hatte er nicht und er überlegte erst, ob er die Nacht nicht besser auf der Bank schlafen sollte. Er hatte schon zwischendurch auf der Straße gelebt, da war so etwas nicht sonderlich neu für ihn. Aber andererseits hatte er ja auch die Möglichkeit, seine Mutter anzurufen und sie zu fragen. Zum Glück hatte er sein Smartphone bei sich, da er seine Jacke noch gar nicht ausgezogen hatte. Er suchte die Telefonnummer heraus und rief Monica direkt an. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich ranging und fragte auch sofort „Ja bitte?“ Ezra zögerte noch, wobei er sich aber auch selbst nicht erklären konnte, wieso er zögerte. Vielleicht, weil ihm die Sache mit den Schnecken noch zu schaffen machte? Nun, das war auch nicht gerade toll von ihr gewesen. Dann aber nahm er doch seinen Mut zusammen und fragte „Mum, wäre es möglich, die Nacht bei dir zu schlafen? Ich hatte etwas Zoff mit meiner Pflegemutter…“ „Tja Ezra, wie stellst du dir das vor? Ich wollte eigentlich gleich zu einem Clubbesuch gehen und bin deshalb nicht im Hotel. Aber du kannst gerne mitkommen und danach die Nacht im Penthouse verbringen. Damit kannst du auch dein unmögliches Benehmen im Restaurant wieder gut machen.“ Zwar hätte sich Ezra lieber hingelegt, aber er willigte ein. Einfach nur, weil seine Mutter ja Recht hatte. Im Restaurant hatte er sich nicht gerade gut benommen, aber ihm war wegen der Schnecken einfach nur schlecht gewesen und weil er ja so sehr dagegen war, Tiere zu essen, hatte sein Magen eben rebelliert. Nur hatte er damit seine Mutter blamiert und da war eben eine Wiedergutmachung fällig. „Okay, dann komme ich gleich vorbei.“ „Hast du wenigstens etwas Anständiges an?“ „Ich trag noch die Sachen vom Restaurant.“ „Nun gut, sie sind zumindest einigermaßen akzeptabel. Also gut, ich bin im Rose Diamond und werde Bescheid sagen, dass du kommst. Und ich hoffe, dass du dich dieses Mal anständiger benimmst.“ „Mach ich, keine Sorge.“ Damit war das Gespräch beendet und Ezra machte sich auf den Weg. Zuerst überlegte er, ob er Nastasja vielleicht Bescheid sagen sollte. Er wollte ja nicht, dass sie sich noch Sorgen machte, aber andererseits hatte er keine Lust, dass sie noch eine Szene machte, wenn er sich trotz ihres Verbots mit seiner Mutter traf. Die würde mit Sicherheit ganz schön sauer werden, wenn Nastasja im Club noch einen Streit anfing und sie blamierte. Hinterher würde die Schuld auf ihn zurückfallen und das wollte er ganz sicher nicht. Da er kein Geld dabei hatte, musste er zu Fuß gehen und war gut eine halbe Stunde unterwegs. Als er schon fast da war, klingelte sein Handy und er sah, dass es Elion war. Zuerst überlegte er noch, ihn wegzudrücken, aber dann entschied er sich doch anders und nahm den Anruf an. „Elion, was gibt es?“ „Ich bin gerade nach Hause gekommen und Mum sagte, dass du weggegangen bist. Ich wollte mich nur erkundigen, ob ich zu dir kommen soll.“ „Nein, nicht nötig. Ich treffe mich mit meiner Mutter im Rose Diamond und ich hab keine Lust darauf, dass Nastasja noch irgendeine Szene macht, nachdem ich meine Mutter schon im Restaurant blamiert habe. Sag ihr einfach, dass alles in Ordnung ist und sie sich keine Sorgen zu machen braucht.“ Doch Elion schwieg und der 16-jährige ahnte, dass der Proxy sich schon wieder irgendwelche Sorgen machte. Also blieb er stehen und fragte direkt „Was hast du denn?“ „Ich mache mir Sorgen um dich“, erklärte Elion mit etwas gedämpfter Stimme. „So wie ich gehört habe, scheint es im Restaurant nicht gut gelaufen zu sein und deine Mutter hat dich gezwungen, Fleisch zu essen.“ „Sie hat mich nicht gezwungen“, rief Ezra aber tief in seinem Inneren wusste er doch, dass es gelogen war. Doch er wollte es einfach nicht wahrhaben und es ging ihm einfach gegen den Strich, dass alle so auf seine Mutter herumhackten. „Sie macht sich eben Sorgen, weil ich so dünn und klein bin und wollte bloß helfen.“ Immer noch sagte Elion nichts und so langsam wurde der 16-jährige nervös. Was zum Teufel sollte dieses Schweigen und was ging Elion wohl gerade durch den Kopf? Schließlich aber sagte der Proxy „Ich will nicht auf dich einreden oder so, versteh mich da bitte nicht falsch. Aber findest du nicht auch, dass es nicht gerade in Ordnung von deiner Mutter war, dass sie dich dazu gebracht hat, Fleisch zu essen?“ „Sie hat es nur gut gemeint.“ „Mag sein, aber ich denke mir einfach, dass sie es auch hätte respektieren sollen, dass du Vegetarier bist.“ Elion hatte ja Recht, aber Ezra hatte keine Lust auf Diskussionen und wollte allein schon aus Trotz bei seiner Meinung bleiben. Natürlich sagte der logische Teil seines Verstandes, dass das Verhalten seiner Mutter unmöglich gewesen war. Er hatte noch daran zu knabbern, aber dennoch sagte der unreife Teenager in ihm, dass das alles Blödsinn war und dass das nicht stimmte. Ja er wollte aus bloßer Sturheit einfach nicht wahrhaben, dass seine Mutter sich absolut falsch verhalten hatte und wollte deshalb weder auf Nastasja, noch auf Elion hören. „Ja und? Es war zumindest mal einen Versuch wert und dass mir davon so schlecht wurde, dass ich kotzen musste, konnte keiner wissen. Jedenfalls habe ich meine Mutter blamiert und da ist es nur selbstverständlich, dass ich das wieder gut mache. Ich geh gleich zu ihr in den Club und versuche das wieder auszubügeln.“ „Du willst in einen Club gehen?“ „Wehe du sagst Nastasja etwas davon, kapiert? Sag auch nur einen Mucks und zwischen uns beiden ist es aus. Ich hab nämlich keine Lust, mich mit Ratten abzugeben.“ „Jetzt beruhige dich doch, Ezra. Ich will dich doch nicht einfach so verraten. Ich mach mir bloß Sorgen, dass irgendetwas passieren könnte.“ „Wird es aber nicht, weil ich bei meiner Mutter bin. Ernsthaft, ich bin kein Kleinkind mehr und ich kann auf mich selbst aufpassen. Echt Mann, ihr solltet das endlich mal schnallen, dass ich nicht aus Glas bin. Ich weiß mich schon durchzusetzen und zu wehren, immerhin bin ich schon 16 Jahre alt!“ Ezra wurde immer gereizter und lauter, während Elion ruhig blieb. Manchmal ging ihm das richtig auf die Nerven und insgeheim wünschte er sich auch mal, dass Elion laut wurde und auch mal schrie. Aber nein, der Kerl war nie aus seiner verdammten Ruhe zu bringen. Allerhöchstens wenn jemand, der ihm wichtig war, in Lebensgefahr schwebte. Wieso nur konnte er nicht auch mal so gereizt darauf reagieren, wenn man ihm irgendeine Beleidigung um die Ohren haute? Manchmal gab es Momente, in denen sich Ezra genau so etwas regelrecht wünschte. Aber selbst wenn er ihn einen Freak, einen Vollidioten und ein Arschloch nannte, wurde Elion nicht sauer. Wofür hält der mich überhaupt, fragte sich der 16-jährige. Für einen kleinen Jungen oder was? „Jetzt lass dir mal eines gesagt sein: ich bin kein kleines Kind, verdammt! Ich kann gut auf mich selbst aufpassen und du bist nicht mein Babysitter, klar? Wir beide sind zusammen.“ „Das weiß ich und ich sehe dich auch nicht als Kleinkind. Versteh das bitte nicht falsch. Aber es ist so, dass ich mir Sorgen mache und nicht nur ich. Sheol und Mum machen sich Sorgen, auch der Rest der Familie. Keiner will dich einsperren oder wie ein kleines Kind behandeln. Aber wir wollen eben auch nicht, dass du noch in irgendeine Situation gerätst, wo du nicht weiter weißt und dich vollkommen hilflos fühlst. Es mag für dich vielleicht dumm klingen, aber wir wollen nur dein Bestes. Ich weiß, dass du das von allen anderen auch gehört hast, die dir im Nachhinein nur geschadet und dich im Stich gelassen haben. Aber inzwischen müsstest du uns doch gut genug kennen, um zu wissen, dass wir das ehrlich meinen. Und ich habe dir doch versprochen, dass ich für dich da sein werde, wenn du in Schwierigkeiten stecken solltest und dass ich dich niemals verletzen werde. Ich halte meine Versprechen und das weißt du auch.“ Natürlich wusste Ezra das. Und gerne hätte er gesagt, dass er diese Oberflächlichkeit und dieses ganze Leben voller herabwürdigender Arroganz und übertriebenem Luxus hasste. Dass es ihm wehtat, wenn seine Mutter über sein Erscheinungsbild herzog und ihn oft als kleinwüchsiges und magersüchtiges Mädchen bezeichnete, nur weil er so dünn und klein geraten war und seine Haare lang gewachsen waren. Dass er am liebsten ausgerastet wäre, als sie meinte, dass sie das mit seiner Homosexualität schon irgendwie wieder hinbiegen würde, weil es in ihren Augen eine kranke Störung war. Oder dass sie die Tatsache nicht akzeptieren konnte, dass er Vegetarier war und es einfach nicht übers Herz brachte, Tiere zu essen. Er gab sich ja Mühe, sich besser in ihrer Welt zurechtzufinden und ihr zu zeigen, dass er sie glücklich machen wollte. Ja, er wollte doch, dass sie sagte, dass sie ihn so liebte wie er war. Aber sie selbst machte sich nicht die Mühe, seine Welt kennen zu lernen und sich mehr auf sein Level zu begeben. Wie würden es die anderen beschreiben? „Sie kommt dir nicht entgegen.“ Ja, sie kam ihm nicht entgegen und erwartete stattdessen, dass er sich auf ihr Niveau begab. Ganz egal wie viel sie dafür an ihm verändern musste. Und so langsam begann er sich ja auch zu fragen, was denn so falsch an seinem Äußeren war, dass sie ihn nicht so lieben konnte, wie er wirklich war. Und das gab ihm eben das beschissene Gefühl, er sei nicht liebenswert. Immerhin war sie doch seine Mutter und wenn sie ihn nicht liebte, wer denn dann? Nastasja hingegen hatte ihn so akzeptiert wie er war. Sie gab ihm die gleiche Aufmerksamkeit wie ihren anderen Kindern und sie veränderte ihn nicht. Stattdessen kam sie ihm entgegen, hörte ihm aufmerksam zu und gab ihm das, was er sich immer gewünscht hatte: eine liebevolle Familie. Okay, sie war streng und konsequent und sie stritten sich auch hin und wieder mal, aber am Ende vertrugen sie sich wieder und Nastasja sagte dann einfach „Lass uns das Kapitel abhaken und dafür sorgen, dass es beim nächsten Mal besser wird, okay?“ Und dann war sie ihm auch nicht nachtragend. Warum? Warum kann meine Mutter nicht mehr wie Nastasja sein? Nur ein kleines bisschen… „Ezra, was ist los? Weinst du?“ „Ach fahr doch zur Hölle.“ Damit legte der 16-jährige auf, steckte sein Handy wieder ein und lehnte sich gegen die Häuserwand. Er wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und nachdem er tief durchgeatmet hatte, betrat er den Club. Kapitel 11: Horrortrip ---------------------- Die Luft im Club war heiß und stickig, die Musik dröhnte laut aus den Lautsprechern und die Party war bereits im vollem Gange. Alles drängte sich dicht an dicht und Ezra, der ohnehin schon recht klein war, konnte sich kaum durchkämpfen und fragte sich auch ernsthaft, wie er seine Mutter denn finden sollte. So wie es schien, musste er sich irgendwie an der Tanzfläche vorbeikämpfen, um weiterzukommen. Na toll, wo zum Teufel steckte sie denn bloß? Ezra holte sein Handy raus und wählte ihre Nummer. Es dauerte eine Weile, bis sie ranging und sie klang etwas genervt. „Ezra, was gibt es denn nun schon wieder?“ „Ich bin im Club drin, aber ich kann dich nirgends finden. Wo bist du denn?“ „Im V.I.P.-Bereich, wo denn auch sonst? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, ich würde bei diesen Leuten bleiben. Warte einfach an der Bar, ich komme später vorbei, um dich abzuholen. Ich bin hier gerade noch mit wichtigen Geschäftspartnern im Gespräch und kann mich jetzt nicht um dich kümmern.“ „Ja aber…“ „Mensch Junge, du bist schon 16, da kann ich doch wohl erwarten, dass du auf mich warten kannst.“ Und damit war das Gespräch beendet. Ezra sah ein, dass ihm wohl nichts anderes übrig blieb, als tatsächlich zu warten und so kämpfte er sich durch die Menge voran, bis er endlich die Bar erreichte. Er setzte sich direkt an den Tresen und bestellte sich einen Cocktail. Was für ein Mist, dachte er und stützte seinen Kopf auf seiner Handfläche ab. Jetzt durfte er hier warten, bis seine Mutter mit dem Geschäftsgespräch fertig war. Das konnte sicher noch lustig werden. So verging die Zeit und der Club wurde immer voller. Es wurde später und später und schließlich wurde Ezra die Warterei zu dumm. Inzwischen wartete er schon eine Stunde, ohne dass sich etwas tat. Schließlich aber klopfte ihm jemand auf die Schulter und als er zur Seite schaute, bemerkte er einen jungen brünetten Mann von knapp 23 oder 24 Jahren. „Was machst denn du hier? Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“ „Sehr witzig“, gab Ezra genervt zurück und nahm noch einen Schluck von seinem Cocktail. „Ich bin schon 16. Meine Mutter hängt drüben im V.I.P. Bereich mit irgendwelchen Geschäftskollegen ab. Wer bist du denn überhaupt?“ „Mein Name ist Joel, mein Dad besitzt eine Baufirma und über ihn habe ich Zutritt zum Club. Wie eigentlich alle hier, weil sie die Kinder reicher Eltern sind und zum Feiern herkommen. Und was ist mit dir? Wie heißt du und was machen deine Eltern so?“ „Mein Name ist Ezra. Meine Mutter ist Künstlerin.“ „Cool. Was für Kunst?“ Unsicher zuckte der 16-jährige mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich hab sie erst vor kurzem kennen gelernt, weil sie die Jahre zuvor in Frankreich gelebt hat.“ „Wie heißt sie denn?“ „Monica Denaux.“ „Oh Mann, du bist echt mit der verwandt? Cool, Madame Denaux ist eine der berühmtesten Künstlerinnen! Hey, da haben wir ja einen richtigen Promi hier.“ Sogleich bestellte sich Joel auch einen Drink und kam mit Ezra ins Gespräch. Dieser fragte sich aber schon, was so ein Typ wie Joel von ihm wollte. Aber wenigstens hatte er ein bisschen Unterhaltung und langweilte sich dann nicht noch mehr als ohnehin schon. Als er dann aber auf die Uhr schaute und bemerkte, dass er jetzt schon geschlagene zwei Stunden wartete, wurde es ihm langsam zu blöd und er entschied sich, mal nach seiner Mutter suchen zu gehen. „Ich muss mal kurz nach meiner Mutter schauen und sehen, wo sie bleibt.“ „Okay, ich halte dir den Platz frei.“ Damit nahm Ezra noch einen Schluck von seinem Cocktail, ließ ihn stehen und machte sich auf die Suche nach dem V.I.P.-Bereich. Die Musik dröhnte nun noch lauter und sein Kopf schmerzte so langsam. Länger als nötig wollte er nicht unbedingt hier bleiben, so viel stand fest. Mit Mühe kämpfte er sich durch die Massen und erreichte schließlich den abgesperrten V.I.P. Bereich und sah seine Mutter mit ein paar Leuten ausgelassen sprechen, die ihre Nasen mindestens genauso hoch trugen. „Mum!“ rief Ezra und winkte zu ihr herüber. Und sie sah auch kurz zu ihm herüber, dann sprach sie den anderen kurz zu und erhob sich von ihrem Platz, woraufhin sie auf ihn zukam und gereizt fragte „Was ist? Ich bin noch in wichtigen Geschäftsgesprächen.“ „Ernsthaft? Ich warte schon zwei Stunden und ich fühl mich eh nicht sonderlich gut.“ „Jetzt stell dich mal nicht so an. Ein bisschen kannst du ja wohl noch warten. Also wirklich, du blamierst mich hier noch. Geh wieder zurück und warte.“ Da es offenbar keinen Sinn hatte, weiter mit ihr zu streiten, ging er wieder zurück zur Bar, wo Joel wie versprochen seinen Platz freigehalten hatte. Ezra setzte sich und stützte wieder den Kopf auf seiner Handfläche ab. Sein Kopf schmerzte fürchterlich und die Musik war einfach zu laut. Außerdem war er ziemlich müde. „Hey, was ist denn mit dir los?“ „Nichts, bloß Kopfschmerzen.“ „Kopfschmerzen? Da hab ich was, das dir helfen könnte. Hier!“ Damit holte Joel zwei weiße Pillen hervor und gab sie Ezra. „Damit wird es dir gleich wieder besser gehen.“ Dankend nahm Ezra sie an, schluckte sie unzerkaut und nahm noch einen Schluck von seinem Cocktail. Zwar tat ihm der Kopf immer noch weh, aber er ging davon aus, dass es sich gleich etwas bessern würde. Schließlich aber fragte er nach einer Weile „Sag mal Joel, warum hast du mich angesprochen?“ Der junge Mann lächelte und hatte dabei einen seltsamen Glanz in den Augen. Irgendetwas Seltsames ging von ihm aus und Ezra konnte nicht genau erkennen, was es war. „Ich habe mich einfach gewundert, was ein Kind hier macht und ich dachte mir, du hättest dich hierher verirrt. Aber wie sich herausgestellt hat, bist du doch nicht so jung, wie ich dich zuerst eingeschätzt habe. Und du bist wirklich 16?“ „Natürlich bin ich das“, rief Ezra gereizt. „Ich krieg noch meinen Wachstumsschub, verdammt.“ Joel lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Schon gut, ich war früher auch immer der Kleinste in der Klasse gewesen. Das wird schon noch, glaub mir. Willst du noch einen Drink?“ Dazu sagte Ezra nicht nein und bekam dieses Mal was Alkoholisches. In dem Moment verschwendete er auch keinen einzigen Gedanken daran, was seine Pflegemutter dazu sagen würde. Das war ihm in diesem Moment völlig egal. So saßen sie knapp eine halbe Stunde noch zusammen und unterhielten sich, ohne dass sich Ezras Kopfschmerzen besserten. Aber irgendwie wurde ihm nun ganz seltsam zumute. Er fühlte sich ein wenig schwindelig und alles um ihn herum begann zu wanken. Die Lichter der Scheinwerfer waren grell und Sterne tanzten vor seinen Augen. Ihm war, als würden sie miteinander verschmelzen und die unmöglichsten Farbkombinationen erzeugen, die sich außerhalb des menschlichen Verstandes befanden. Alles begann sich zu verzerren, vor seinen Augen flimmerte es und auch die Musik hörte sich mit einem Mal so seltsam verzerrt und fast schon verstörend an. Er sah auf seine Hände und irgendwie kamen sie ihm so merkwürdig vor. Als er sie nämlich bewegte, schien es so, als würden die Bewegungen vor seinen Augen völlig verwischen und wirkte ungewohnt und fremd auf ihn. Sogar seine Hände selbst wirkten so seltsam fremd auf ihn, obwohl sich doch gar nichts verändert hatte. Ob das am Alkohol lag? Oder waren das die Pillen? „Was… was ist mit mir?“ „Nichts Schlimmes. Nur ein kleiner Stimmungsaufheller. Glaub mir, gleich wirst du dich deutlich besser fühlen.“ Der 16-jährige stand auf und hatte das Gefühl, kaum noch atmen zu können. Alles wurde so ohrenbetäubend laut, seine Sinne wurden mit unzähligen Reizen überflutet und in den Gesichtern der Clubbesucher sah er bizarre und monströse Fratzen, wirklich alles nahm immer mehr die Kulisse einer surrealen Szene an, die einfach nicht mit Worten zu beschreiben war. Beklemmung machte sich in ihm breit und er verstand nicht, was hier vor sich ging. Und dann begann es auch noch auf seiner Haut zu jucken. Als er hinsah, sah er unzählige kleine Tierchen, die sich unter seinem Arm tummelten, sich ihren Weg durch seine Haut bohrten und sich in erschreckenden Massen auf seinem ganzen Körper ausbreiteten. In diesem Moment überkam ihm die nackte Angst. Alles um ihn herum begann sich in eine einzige Horrorkulisse zu verwandeln und als er sich setzen wollte, da sah er ein riesiges Maul mit blutverschmierten Zähnen auf dem Barhocker und wie dieses Maul nach ihm schnappte. Ezra schrie auf und wich zurück, dabei stürzte er zu Boden. Ein paar der Clubbesucher drehten sich zu ihm um, manche begannen zu lachen, andere ignorierten ihn und wiederum versuchten einige, ihm zu helfen und ihn anzusprechen. Doch was Ezra sah, waren keine Menschen, sondern monströse Gestalten, die aus den Tiefen der Hölle entsprungen zu sein schienen. Und jedes entsetzliche Detail wurde in den grellsten und unwirklichsten Farben vor seinen Augen offenbart, dass er das Gefühl hatte, gleich den Verstand zu verlieren. Für ihn war es ein einziger Alptraum und er hatte entsetzliche Angst. Dann schließlich packte ihn etwas. Knochige Hände schossen aus dem Boden und versuchten ihn in die Tiefe zu ziehen. In diesem Moment setzte bei dem 16-jährigen endgültig alles aus. Er riss sich los und schaffte es mit Mühe, sich durch die Menge zu den Toiletten zu schleppen und diesem Chaos zu entkommen. Eigentlich wollte er den Club so schnell wie möglich verlassen, doch er konnte in dem Durcheinander einfach nicht den Ausgang finden. Und er wollte nur so schnell wie möglich weg von dieser monströsen Meute. Als er endlich die Toiletten erreicht hatte, gaben seine Beine endgültig nach und er fiel zu Boden. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und er zitterte am ganzen Körper. Sein Herz raste wie verrückt und er hatte einfach nur Angst. „Daddy…“ Er hob den Kopf und sah etwas, das unmöglich real sein konnte. Er sah ein Mädchen, aus dessen Kopf ein Arm wuchs und auch aus ihrem Unterarm. Ihre Augen tränten und schielten in verschiedene Richtungen. Ein Speichelrinnsal lief aus ihrem Mund und mit wankenden Schritten kam sie auf ihn zu. „Daddy“, klagte das Mädchen mit gebrochener Stimme und kam auf ihn zugewankt. Ihre Beine waren jedoch so deformiert, dass sie kaum vorwärts kam. Sie stürzte und kroch nun auf ihn zu, wobei sie flehend ihre Hand nah ihm ausstreckte. „Daddy… warum hast du zugelassen, dass sie mich töten?“ Ezra erstarrte und sah sie mit Tränen in den Augen an. Lucy… warum nur holten ihn diese entsetzlichen Bilder nur wieder ein? Wieso? „Daddy…“ Er hatte solch eine Todesangst vor diesem Mädchen, dass er kein einziges Wort hervorbrachte, geschweige denn, dass er klar denken konnte. Sein ganzer Körper war wie gelähmt und er war nicht imstande, überhaupt um Hilfe zu rufen. Schließlich wurde die Tür geöffnet und Joel kam herein. Er sah mit einem amüsierten Lächeln auf den völlig verstörten Ezra herab und bemerkte „Meine Fresse, das Zeug scheint dich ja richtig umzuhauen. Scheinst ja einen richtigen Bad Trip zu haben, oder? Nun, die Alte hat mir zwar schon genug Geld dafür gezahlt, aber ich finde, dass da ein kleines Extra mit drin ist. Du siehst nämlich verdammt niedlich aus, Ezra.“ Der 16-jährige verstand nicht wirklich, was hier vor sich ging und was Joel von ihm wollte. Er konnte auch nicht darauf reagieren, als dieser ihn hochzerrte und ihn eine der Kabinen brachte. „Ich muss schon sagen, du bist wirklich süß. Ich frag mich, ob du wirklich so ein notgeiles Luder bist, wie es heißt.“ Nachdem Joel hinter sich die Tür abgeschlossen hatte, wurde Ezra gegen die Wand gedrückt und sogleich wurden seine Lippen durch Joels versiegelt. Gierig küsste dieser ihn und begann mit seiner Zunge zu spielen. Sogleich versuchte Ezra ihn wegzudrücken, aber irgendwie fehlte ihm einfach die Kraft dazu. Ihm war so heiß, sein Mund fühlte sich trocken an und ihm war furchtbar schwindelig. Er wollte um Hilfe rufen, doch selbst das schaffte er nicht. Es war so, als wäre sein ganzer Körper auf einmal wie gelähmt und er hätte nicht mal mehr die Kraft, wegzulaufen, zu schreien, oder zu atmen. Hilfe… wieso kommt niemand? Wieso nur passiert das alles und was ist mit mir los? „Was… was hast du mir…“ „Ich sagte doch, dass es etwas ist, wovon du dich schön entspannen kannst. So können wir beide jetzt unseren Spaß haben, ohne dass du allzu sehr verkrampft bist. Lass mich dir aber eines sagen: ich hab diesbezüglich keine Erfahrungen. Kann also sein, dass es gleich ziemlich wehtun wird.“ „N… nein…“, brachte Ezra mit Mühe hervor und versuchte sich zu wehren, doch er brachte nur mit Mühe überhaupt Worte zustande und versuchte sogleich, Joels Hand wegzudrücken, als diese in seine Hose wanderte. „Es macht keinen Sinn, dagegen anzukämpfen. Dein Körper ist gerade auf LSD und Beruhigungsmitteln. Also entspann dich einfach und lass es zu. Sonst muss ich dir noch wehtun und das willst du sicher nicht.“ Nein, ich will das nicht. Hör auf, hör sofort auf damit und nimm deine dreckigen Pfoten von mir. Hör auf damit, mich anzufassen! Ezra mobilisierte den letzten kläglichen Rest seiner Kraftreserven und versuchte sich aus Joels Griff zu befreien und aus der Toilettenkabine zu flüchten, aber sogleich ging dieser nur noch forscher vor und schob nun Ezras Shirt hoch, wobei er ihm über die Brust strich. „Bist ganz schön zierlich. Fast wie ein Mädchen.“ Als seine Hand Ezras Weichteile umschloss, begann dessen Herz nur noch schneller zu schlagen und er spürte diese Hitze in seinem Körper. Er rang nach Luft und begann unkontrolliert zu zittern. Erneut begannen unzählige Farben vor seinen Augen zu leuchten und sein Verstand war wie gelähmt, sodass er es nicht schaffte, sich gegen Joel zu wehren. Er ahnte, dass er es nicht schaffen würde, sich gegen ihn zu wehren und dass gleich das folgen würde, was er befürchtete. Warum nur muss mir das schon wieder passieren? Reicht es denn nicht schon, dass ich jahrelang mit irgendwelchen Perversen schlafen musste, weil mein Vater mich dazu gezwungen hat? Reicht es nicht schon, dass das mit Lucy passiert ist und dass mich Parsons Leute sogar schon umgebracht haben? Verzweiflung überkam Ezra und er hatte einfach nur Angst. Wieso kam denn niemand, um ihn zu retten? Und wieso kam seine Mutter nicht? Hilfe… hilf mir doch irgendjemand… Joel beugte sich zu ihm runter und küsste seinen Hals. Gerade wollte er Ezras Hose öffnen, da wurde die Tür zu den Toiletten geöffnet und sogleich hielt der dem 16-jährigen den Mund zu um zu verhindern, dass dieser um Hilfe rufen konnte. Er wartete und horchte. Jemand durchschritt den Raum und dann rief eine Stimme „Ezra, bist du hier?“ Ezras Augen weiteten sich als er diese Stimme wiedererkannte. Das war Elions Stimme. Ja aber was macht er denn hier? Ich hab doch gesagt, er soll nicht hierher kommen. Er hat wieder mal nicht auf mich gehört und ist trotzdem gekommen. Gott sei Dank… Ezra versuchte sich zu befreien, doch Joel war stärker und so schaffte er es nicht einen Ton von sich zu geben. Hoffentlich ging Elion nicht. Bitte er muss doch spüren, dass ich hier bin. Er kann so etwas doch! Schließlich verstummten die Schritte und Elion war stehen geblieben. „Ezra, du bist da drin, oder?“ Joel drückte sein Opfer noch fester an sich und dachte zuerst, der Kerl würde wieder verschwinden. Doch dann wurde ohne Vorwarnung die Tür einfach herausgerissen und das mit einer Kraft, die schon unmenschlich war. Als wäre sie aus Papier, wurde sie einfach aus den Angeln gerissen und sogleich stand da ein grauhaariger junger Mann vor ihm, der nicht älter als er selbst sein konnte. Sein rechtes Auge war goldgelb und sein anderes eisblau. Um seinen Hals trug er einen bläulich schimmernden Würfel, in dessen Inneren sich noch ein weiterer Würfel befand. Er trug schwarze Lederhandschuhe und strahlte etwas Ruhiges aus. Doch kaum, dass er Joel und Ezra sah, da verdüsterte sich sein Blick leicht und sogleich packte er die Hand des jungen Mannes und drückte sie so fest, dass es fast die Knochen brach. „Ich möchte Sie bitten, Ihre Hände von Ezra zu lassen.“ „Scheiße Mann, was fällt dir ein? Lass mich los du Freak, oder ich…“ Damit ließ Joel sein Opfer los und holte ein Springmesser hervor. Er richtete die Klinge direkt auf den Fremden, der sich aber überhaupt nicht davon beeindrucken ließ. Nein, er schien die Klinge nicht mal zu sehen und sah seinen Gegner mit einem nun deutlich bedrohlicheren Blick an. „Was haben Sie mit Ezra gemacht?“ „Ich hab nichts mit ihm gemacht, er ist über mich hergefallen, kapiert? Der ist doch komplett abgegangen, als ich ihm meine Hand in die Hose gesteckt habe.“ „Wie bitte?“ Nun wurde der Grauhaarige immer ungehaltener und Joel begann nun langsam unruhig zu werden. Er ahnte, dass dieser Kerl noch Ärger machen würde und so entschied er sich deshalb für den Frontalangriff. Mit dem Messer in der Hand ging er auf seinen Gegenüber los und wollte ihm das Messer in den Bauch rammen, doch Elion gelang es ohne Mühe, ihm den Arm zu verdrehen und das so, dass Joel das Messer fallen ließ. Als nächstes kassierte dieser einen Schlag ins Gesicht und einen Tritt in die Magengrube, da stürzte er zu Boden und wurde von dem Proxy von den Füßen gerissen und gegen die Wand gedrückt. In diesem Moment hatte er echt Angst vor diesem Kerl, der wirklich danach aussah, als wolle er ihm gleich die Eingeweide rausreißen. „Ich hasse Gewalt“, sagte der Grauhaarige ruhig und holte mit der einen Hand aus, während er Joel mit der anderen festhielt. Im nächsten Moment schlug er zu und die Faust verfehlte das Gesicht des jungen Mannes nur knapp und zerbrach die weißen Fliesen und hinterließ eine riesige Delle in der Wand. „Aber noch mehr hasse ich Leute, die Gewalt anwenden, um andere zu quälen.“ Der Kerl meint es ernst, schoss es Joel durch den Kopf und sah sich jetzt schon im Krankenhaus auf der Intensivstation oder sogar schon im Leichenschauhaus. Der wird echt noch Hackfleisch aus mir machen. „Nein… bitte…“, stammelte er und schon war sein ganzer Mut davon. „Mach keinen Scheiß, ja?“ Elion sah ihn fest an und es sah fast danach aus, als wolle er ihn umbringen. Aber dann schleuderte er Joel zu Boden und sagte mit eiskalter und bedrohlicher Stimme „Ich will dich nie wieder in der Nähe von Ezra sehen, hast du kapiert? Fass ihn noch ein einziges Mal an und ich werde nicht mehr so nachsichtig sein. Dann gnade dir Gott…“ Joel kam hastig auf die Beine und stürmte nach draußen, Elion selbst steckte das Messer ein und ging zu Ezra hin. Dieser lag auf dem Boden und zitterte. Schon als er seine Hand nahm, nachdem er die Handschuhe ausgezogen hatte, spürte Elion, dass da etwas nicht in Ordnung war. Seine Körpertemperatur war erhöht, ebenso wie sein Puls und sein Herzschlag. „Ezra, sieh mich an.“ Doch der 16-jährige schien irgendwie nicht reagieren zu können. Irgendetwas war los mit ihm und er war nicht fähig zu erkennen, was hier gerade passierte. Als Elion in seine Augen schaute und die geweiteten Pupillen sah, erkannte er, dass ihm irgendetwas verabreicht worden war. Schnell holte er sein Handy hervor und rief Nastasja an. Diese war ebenfalls mit in den Club gekommen, als sie hörte, dass er ein ganz mieses Gefühl hatte und ernsthaft besorgt um Ezras Sicherheit war. Da hatte sie nichts zuhause halten können und so hatte sie alles stehen und liegen lassen, um mitzukommen. „Mum, ich hab Ezra gefunden. Er ist bei den Toiletten und zittert am ganzen Körper. Seine Pupillen sind geweitet und er ist kaum ansprechbar.“ „Scheiße, dann sind wahrscheinlich Drogen im Spiel. Höchstwahrscheinlich Halluzinogene. Ich ruf eben den Notarzt und komm dann zu euch. Versuch ihn zu beruhigen, okay? Wenn er es nicht unter Kontrolle hat, kann er einen absoluten Horrortrip erleiden und schlimmstenfalls bleibende Schäden davontragen. Ich bin gleich bei euch.“ Elion steckte sein Handy ein und wandte sich Ezra zu. Dieser sah aus, als hätte er die Hölle gesehen und er war kalkweiß im Gesicht. Die Todesangst stand ihm ins Gesicht geschrieben und Tränen liefen seine Wangen hinunter. „Ezra, es wird alles gut. Keine Angst. Ich bin hier und Mum ist auch gleich da.“ „Es tut mir Leid“, brachte der 16-jährige hervor und zitterte immer noch heftig. „Es tut mir Leid, Lucy. Ich wollte doch nicht, dass sie dich töten. Ich wollte das wirklich nicht, aber ich habe sie nicht aufhalten können. Es tut mir Leid!“ „Ezra, versuch dich auf meine Stimme zu konzentrieren. Es ist niemand außer uns beiden hier.“ Elion nahm ihn in den Arm und versuchte ihm seine Angst zu nehmen. Und tatsächlich gelang es ihm, Ezra zu beruhigen und ihn ein Stück weit wieder in die Realität zurückzuholen. Aber dann entwich dem 16-jährigen das letzte bisschen Kraft und er verlor das Bewusstsein. Nastasja traf ein und leistete so gut es ging Erste Hilfe, bis dann der Notarzt eintraf und Ezra ins Krankenhaus brachte. Kapitel 12: Die Lage spitzt sich zu ----------------------------------- Ezra wachte am nächsten Tag im Krankenhaus auf, fühlte sich aber noch ziemlich benommen. Das Erste, was er wahrnahm war, dass jemand seine Hand hielt. Zuerst hatte er die Hoffnung, es wäre seine Mutter, aber als er aufsah erkannte er, dass es Elion war. Sein Kopf fühlte sich schwer wie Blei an und an die Geschehnisse des letzten Abends konnte er sich nur etwas lückenhaft erinnern. Er wusste, dass er in den Club gegangen war und auf seine Mutter gewartet hatte. Und dann hatte dieser Joel ihn angesprochen und ihm nachher Kopfschmerztabletten gegeben. Nein, das waren keine Tabletten gegen Kopfschmerzen gewesen. Er war dann zu den Toiletten geflüchtet, weil er Panik bekommen hatte und dort hatte Joel ihn in eine der Kabinen gezerrt. Was war dann passiert? Ja richtig, Elion war dann gekommen und hatte Joel verjagt. Danach fehlten jegliche Erinnerungen. „Ezra, wie geht es dir?“ Er sah in Elions Gesicht und erkannte die Sorge und Angst darin. Sicherlich hat er sich wegen mir Sorgen gemacht. „Es geht. Sag mal, wie lange war ich denn weggetreten?“ „Ein paar Stunden. Du hattest LSD und eine gefährliche Menge Beruhigungsmittel im Körper. Momentan bist du noch auf der Intensivstation.“ Intensivstation? Ach du Scheiße, dann scheint es ja schlimmer um mich zu stehen, als ich selbst geahnt hätte. Erschöpft legte Ezra seinen Kopf zurück ins Kissen und fühlte sich furchtbar elend. Nun erhob sich Nastasja und streichelte ihm sanft über den Kopf. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, irgendwelche Pillen von Fremden anzunehmen? Jeder vernünftige Mensch weiß doch, dass man so etwas nicht tun sollte, weil es gefährlich ist.“ „Tut mir Leid“, gab Ezra mit müder Stimme zurück. „Ich dachte, dieser Joel wäre ganz nett und ich war eh schon etwas neben der Spur, weil ich tierische Kopfschmerzen hatte und müde war. Mum sagte, ich solle an der Bar warten und sie war eben noch in einem Gespräch mit Geschäftskollegen. Sag mal, wo ist sie denn eigentlich? Ist sie nicht hier?“ Nastasja senkte den Blick und schüttelte verneinend den Kopf. „Sie ist im Hotel und weiß Bescheid. Die Polizei kommt gleich, um ein paar Fragen zu stellen. Wenn du möchtest, bleiben wir bei dir.“ „Polizei?“ Ezra musste instinktiv wieder an seinen Vater denken. Sein Vater, der drogensüchtige Cop, der seinen Sohn missbraucht und geschlagen hatte. Er hatte sich oft an die Polizei gewandt, um Hilfe zu finden, doch keiner hatte ihm geglaubt. Cops hielten eben immer zusammen. „Was wollen die von mir?“ „Ezra, in deiner Jackentasche wurden Drogen gefunden. Und in deinem Blut ebenfalls.“ Drogen? In seiner Tasche? Ja aber wie kamen die denn da hin? Er hatte noch nie etwas mit Drogen zu tun gehabt. „Das sind nicht meine, das müsst ihr mir glauben!“ „Wir glauben dir auch. Die ganze Familie steht hinter dir und meine Söhne arbeiten derzeit an dem Fall um zu beweisen, dass du das Opfer einer Intrige geworden bist. Wir vermuten, dass dieser Mann, den Elion bei dir gefunden hat, beauftragt wurde, dir Drogen zu verabreichen und dir auch welche unterzujubeln, um dir Drogenbesitz und Drogenkonsum anzuhängen. Mach dir keine Sorgen, Ezra. Du musst den Polizisten nur das sagen, was du erlebt hast und bei der Wahrheit bleiben.“ Doch für den 16-jährigen war das alles gerade ein bisschen viel und er begriff noch nicht so ganz, was hier ablief. Irgendjemand hatte vorgehabt, ihm eine Drogengeschichte anzuhängen? Ja aber wer denn? Etwa Parson, weil er sich rächen wollte? „Wer soll das denn getan haben?“ „Das finden wir noch heraus. Aber mach dir keine Sorgen, wir werden nicht zulassen, dass du in irgendwelche Schwierigkeiten gerätst. Ruh dich aus, Elion bleibt hier und ich werde mich mit L und den anderen besprechen, ob sie schon etwas Neues wissen.“ Damit erhob sich die Russin, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und flüsterte Elion noch etwas zu, dann verließ sie das Zimmer. Draußen warteten Oliver, Andrew, Rumiko, Sheol und Liam. „Und?“ fragte Sheol sofort und sprang von seinem Platz auf. „Wie geht es ihm?“ „Er ist wieder bei Bewusstsein und es geht ihm wieder einigermaßen gut. So wie es scheint, hat er die Drogen, die man ihm gegeben hat, für Kopfschmerztabletten gehalten. Er sagte, dass der Mann, der ihm die Drogen verabreicht hat, Joel heißt und er hat auch keine Ahnung von den Drogen in seiner Tasche gehabt. Anscheinend stimmt es und jemand hat den Kerl beauftragt, Ezra Drogenkonsum und Drogenbesitz anzuhängen. Aus welchem Grund auch immer. Und das Problem ist, dass er schon zwei Mal vorbestraft ist. Wenn der Haftrichter also will, kann er Ezra in Untersuchungshaft nehmen und bei einer Verurteilung würde es mindestens zwei Jahre Gefängnis für ihn bedeuten. Im allerschlimmsten Fall sogar bis zu zehn Jahre, weil Drogenhandel in diesem Land extrem hart bestraft wird. Liam, hast du schon Neues von Jeremiel und L gehört, wie weit sie mit den Ermittlungen sind?“ „Sie sind noch bei der Beschaffung des Videomaterials. Wenn irgendwo eine Aufnahme sein sollte, wo Ezra drauf ist, wie er mit diesem Joel redet, dann wird Beyond mithilfe seines Augenlichts den Mann identifizieren und danach werden wir ihn schön ausfragen, wer ihn beauftragt hat.“ „Ich wette, das war seine gestörte Mutter“, meinte Sheol und nahm eine ähnliche Sitzhaltung wie Beyond ein, da ihm das normale Sitzen wohl nicht reichte. „Ich meine, die will doch unbedingt Publicity und wenn Ezras Alter schon Drogen genommen hat, dann werden viele denken, dass er selbst auch was nimmt.“ Doch Rumiko schüttelte den Kopf und konnte das nicht glauben. „Dass Monica ein wenig schwierig ist, wissen wir ja alle inzwischen. Aber dass sie dermaßen skrupellos ist und ihren eigenen Sohn vergiften lässt, glaube ich nicht. Und überhaupt: das würde sich doch negativ auf sie auswirken, wenn man erfährt, was ihr Sohn für Probleme hat.“ Aber Beyond fand Sheols Theorie gar nicht mal so verkehrt. Dass die Mafia damit zu tun hatte, bezweifelte er genauso wie Liam, denn die würden mit Sicherheit ganz anders vorgehen. Höchstwahrscheinlich hätten sie Ezra entführt, oder ihm weitaus Schlimmeres angetan. Und auch Nastasja hatte da so einige Theorien und meinte „Das würde zumindest erklären, wieso ausgerechnet LSD im Spiel war. Man müsste schon extrem hohe Mengen nehmen, damit es tödlich wirkt und bis heute sind noch keine Fälle bekannt, in denen LSD selbst tödlich war. Die einzigen Todesfälle ereigneten sich, weil die Betroffenen nicht in der Lage waren, Halluzination und Realität voneinander zu unterscheiden und deshalb aus dem Fenster gesprungen oder vor ein Auto gerannt sind. Außerdem macht LSD nicht abhängig so wie Heroin. Es wäre die ideale Droge, die deutlich zeigt, dass Ezra ein Drogenproblem hat und gleichzeitig ausschließt, dass es ihn töten könnte. Es würde nur für einen unkontrollierten Trip sorgen. Und die Beruhigungsmittel sollten wohl verhindern, dass er irgendeine Dummheit macht.“ „Ja aber wenn man Ezra etwas anhängen wollte, dann hätte man es doch unauffälliger gestalten können. Ich meine, wenn das alles wirklich auf Kamera aufgezeichnet wurde, dann würde man doch sehen, dass dieser Joel sie ihm gibt.“ „Das schon“, entgegnete Beyond und begann auf seiner Daumenkuppe herumzukauen. „Aber da die Kameras ohne Ton laufen, könnte man genauso gut davon ausgehen, dass Ezra sie ihm abkauft und Joel wäre der Dealer. Und gehen wir mal davon aus, dass tatsächlich die Mutter hinter der Tat steckt. Was wäre, wenn sie in ihrer Biografie schreiben würde, dass sie mit allen Mitteln versucht hätte, Ezra zu helfen und sich regelrecht für ihn aufgeopfert hat und er nicht in der Lage wäre, sein Drogenproblem in den Griff zu kriegen? Monicas Biografie würde sich besser verkaufen als Schokolade in einem Diätcamp. Wer würde denn nicht gerne von einem verkommenen Sohn mit Drogenproblemen lesen wollen, der sich dann auch noch an ältere Männer prostituiert? Da passt die Drogengeschichte einfach perfekt rein. Viele, die auf den Strich gehen, nehmen Drogen und es ist bekannt, dass Ezra schon mit zehn Jahren mit dem Rauchen und Trinken angefangen hat. Dann noch die ganzen Geschichten mit seinen Pflegefamilien und der Tatsache, dass er mit der Mafia zu tun hatte. Eine Drogengeschichte wäre ihm da durchaus zuzutrauen und das wird auch die Polizei so sehen. Ezra wird einen verdammt guten Anwalt brauchen.“ „Den kriegt er auch“, meldete sich Liam, der sich bei der ganzen Sache eher im Hintergrund gehalten hatte und den anderen lieber zuhörte, als selbst irgendwelche Theorien zu spinnen. „Marcel ist nicht nur mein Buchhalter, sondern auch Anwalt. Wenn die Polizei auf den Trichter kommen sollte, Ezra zu verhaften, wird er ihn schon wieder rausboxen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ Na, dann war das wenigstens schon mal geklärt. Nun lag der Rest der Arbeit bei L und Jeremiel. „Was genau ist eigentlich mit dem Messer, mit dem Elion angegriffen wurde? Da müssten ja die Fingerabdrücke drauf sein.“ „Wurde der Polizei übergeben, nachdem wir selbst die Fingerabdrücke eingescannt haben. So haben wir uns für den Fall abgesichert, falls durch „Zufall“ irgendwelche Beweise verschwinden sollten.“ Nun, dann war eigentlich das Meiste erledigt. Nachdem sie sich besprochen hatten, machte sich Beyond auf den Weg, da er L und Jeremiel helfen wollte und die Polizei eh im Anmarsch war und es deshalb besser war, wenn die nicht von ihm erfuhren. Das hätte nur für Komplikationen gesorgt. Liam begleitete ihn, da auch er der Ansicht war, dass es nicht gerade förderlich für Ezra und Nastasja war, wenn sich herausstellte, dass er mit ihnen gut bekannt war. Immerhin war es kein Geheimnis, dass er ein Mafiaboss war. Sheol, Nastasja, Rumiko, Oliver und Andrew blieben da und warteten unruhig. Schließlich traf Marcel Lewinski ein, der zu Liams Leuten gehörte und Ezra helfen sollte. Er begrüßte die Anwesenden höflich und ging sogleich ins Zimmer des 16-jährigen, um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen. Soweit hatten sie alles getan, was sie tun konnten. Nun hieß es nur noch abzuwarten. Schließlich traf die Polizei ein und befragte nicht nur Ezra, sondern auch Elion und Nastasja, die ja ebenfalls im Club gewesen waren. Sie waren immerhin wichtige Zeugen und machten wahrheitsgemäß ihre Aussagen und dank Marcels Überzeugungskunst und seiner mehr als zweihundertjährigen Erfahrung als Anwalt durfte Ezra nach seiner Krankenhausentlassung nach Hause gehen. Das war für sie alle eine große Erleichterung, insbesondere als die Polizei nach der Auswertung des Drogenbefundes nicht mehr davon ausging, dass Ezra drogenabhängig war oder schon öfter solche Mittel genommen hatte. Denn der Befund bewies eindeutig, dass er gestern Nacht das allererste Mal Drogen genommen hatte. Nun aber wollte man noch die Aussage seiner Mutter hören. Nachdem Oliver, Andrew und Rumiko dem angeschlagenen Ezra einen kurzen Besuch abgestattet hatten, gingen sie nach Hause. Nastasja ging zum Arzt, der Ezra behandelte und fragte sogleich nach den näheren Einzelheiten und wie sein Zustand war. „Nun, da wir ihn wieder stabilisieren konnten, werden wir ihn auf die fünfte Station verlegen und ihn noch zwei Nächte da behalten. Danach können wir ihn entlassen.“ Erleichtert atmete die Russin auf und war heilfroh, dass alles so gut verlaufen war und Elion noch rechtzeitig da gewesen war, um Schlimmeres zu verhindern. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn dieser Joel Ezra noch mehr angetan hätte. Denn so wie Elion geschildert hatte, schien dieser Kerl nichts Gutes vorgehabt zu haben. Doch trotzdem machte sie sich Vorwürfe, dass sie nicht viel früher da gewesen war, um zu verhindern, dass Ezra mit Drogen vollgepumpt und fast vergewaltigt worden war. Sie hatte ja schon mit einigem gerechnet, als sie erfahren hatte, was Monica für eine falsche Schlange war, aber dass sie selbst dazu fähig war, ging einfach über ihr Fassungsvermögen. Sie verstand einfach nicht, wie manche Eltern so kaltblütig sein konnten und einfach die Gesundheit ihres Kindes aufs Spiel setzen konnten, nur um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Nastasja setzte sich wieder und begann Lakritz zu essen. Ihr Adoptivsohn Sheol saß neben ihr und dachte nach. Nach einer Weile fragte er schließlich „Wäre es eigentlich möglich, dass Ezra ganz zu uns kommt? Ich meine, es wäre doch das Beste, wenn er adoptiert werden würde. So wäre er zumindest vor seiner bescheuerten Mutter sicher.“ „Die Idee ist gut“, gab Nastasja zu und begann damit, eine Lakritzschnecke auseinanderzudrehen. „Aber das wird nicht ganz einfach. Das wird das Vormundschaftsgericht entscheiden müssen. Zugegeben, ich hab auch schon mit dem Gedanken gespielt. Das Risiko ist einfach zu groß, dass Monica irgendwelche Beziehungen spielen lassen könnte, selbst beim Jugendamt. Inzwischen traue ich ihr wirklich alles zu und wenn ich das Sorgerecht für Ezra verliere, kann ich nichts mehr ausrichten, um ihn zu schützen. Bei einer Adoption wäre das wesentlich besser geregelt, allerdings wird Monica nicht so schnell aufgeben, da bin ich mir sicher. Sie wird um das Sorgerecht für ihren Sohn kämpfen und so wie ich sie einschätze, wird sie die Drogengeschichte mir noch unterschieben wollen.“ „Wieso das denn?“ „Weil ich ihr klar gemacht habe, dass ich Ezra beschützen will und mich nicht bestechen lasse. Ich bin diejenige, die zwischen ihr und ihrem Sohn steht und deshalb muss sie mich als eine schlechte Mutter darstellen, in deren Umfeld Ezra nicht sicher ist. Oder aber sie manipuliert Ezra und treibt einen Keil zwischen uns. Das sind momentan die einzigen Taktiken, die ihr bleiben, damit sie das Sorgerecht bekommt. Und mit Sicherheit wird sie auch das Jugendamt bestechen wollen. Deshalb wird es das einzig Richtige sein, dass ich mir bloß keine falschen Schritte erlaube und den Antrag auf Adoption sehr gut begründe. Wenn Ezra schildert, dass seine Mutter ihn im Club allein gelassen hat, dann hat sie ihre Aufsichtspflicht verletzt und das wird man vor Gericht nicht gerne sehen. Und wenn sich herausstellt, dass sie Joel beauftragt hat, Ezra die Drogen unterzuschieben, wird sich das für uns wiederum positiv auswirken. Denn dann wird sie das Sorgerecht nicht bekommen und die Chancen stehen gut, dass ich Ezra adoptieren kann.“ Der Rothaarige nickte und verstand die ganze Situation. Er war ja nicht dumm und konnte schon mit den Gedankengängen seiner Adoptivmutter mithalten. Dann aber lächelte er und meinte „Schon cool, dass wir ihr immer zwei Schritte voraus sind.“ „Ich hab ihr auch gesagt, sie soll mich besser nicht unterschätzen. Ich hab nicht umsonst mit elf Jahren meinen Doktortitel in Medizin und Humanbiologie und mit 13 Jahren schon unterrichtet. Die mag zwar Kunst studiert haben und ein tolles Leben führen, aber die Suppe werde ich ihr gehörig versalzen. So schnell wird sie das Sorgerecht für Ezra nicht kriegen. Da muss sie schon früher aufstehen.“ Insgesamt blieb Ezra noch zwei Tage im Krankenhaus, bis er endlich nach Hause gehen durfte. Während der ganzen Zeit waren L und die anderen natürlich nicht untätig geblieben und hatten den Kerl aufspüren können, der sich als Joel ausgegeben hatte, in Wirklichkeit aber Nick Jacoby hieß. Derzeit war die Polizei noch dran, ihn zu verhören und ihn wegen Drogenhandels, Drogenbesitz, gefährlicher Körperverletzung und sexueller Nötigung dranzukriegen. Ezra selbst konnte und wollte einfach nicht glauben, dass seine Mutter damit etwas zu tun haben könnte und wollte sie selbst zur Rede stellen. Nastasja selbst war nicht sonderlich begeistert von der Idee. „Ezra, du solltest vielleicht erst mal Abstand von ihr nehmen und etwas zur Ruhe kommen.“ „Nein, ich will es selbst von ihr wissen. Wenn sie mir das tatsächlich angetan hat, dann werde ich es herausfinden. Deshalb werde ich mich mit ihr treffen und außerdem in Erfahrung bringen, wieso sie mich noch nicht mal im Krankenhaus besucht hat.“ „Also schön, aber ich möchte, dass wenigstens jemand mit dir mitgeht. Nur zur Sicherheit. Und da ich sowieso noch ein Wörtchen mit ihr zu reden habe, komme ich mit dir mit.“ Damit war Ezra einverstanden und so vereinbarten sie telefonisch ein Treffen mit Monica im Black Lotus. Sheol hatte derweil andere Pläne und wandte sich an Elion. „Hey Elion, könntest du mich vielleicht für die nächsten zwei bis drei Stunden decken? Ich hätte da nämlich etwas Wichtiges zu erledigen.“ „Was denn?“ „Es gibt da etwas, das ich herausfinden will und dazu brauch ich ein Alibi.“ „Okay. Solange es nichts ist, das uns alle noch in Schwierigkeiten bringt. Du weißt, dass wir noch richtig Ärger kriegen können.“ „Pah, Regeln werden eh überbewertet. Also ich verlass mich auf dich.“ Damit schnappte sich Sheol seinen Rucksack und machte sich auf den Weg. Er rief Beyond an und hatte Glück, denn der BB-Mörder hatte gerade nichts zu tun. „Hey Zwerg, was gibt’s?“ „Nenn mich nicht immer Zwerg“, gab Sheol genervt zurück. „Und überhaupt: Größe wird eh überbewertet! Hör mal, ich ruf dich an, weil ich einen Plan habe, wie wir diese Zicke Monica drankriegen können. Ezra und Mum treffen sich gerade mit ihr im Black Lotus und ich hatte vor, mich ein wenig in ihrem Hotelzimmer umzusehen, um dort irgendwelche Indizien zu finden. Allerdings hab ich keine Ahnung, wie ich das am besten anstellen soll, ohne dass ich gleich auffliege.“ „Hey, nun mal langsam mit den jungen Pferden. Wenn du dir irgendeine unüberlegte Aktion erlaubst, wird das nicht gerade hilfreich sein. Überlass das besser den Profis.“ „Ja aber… Ezra ist auch Teil der Familie und ich dachte, in einer Familie hilft man sich gegenseitig. Ich lasse doch nicht zu, dass diese Bekloppte ihn noch zu sich nach Frankreich holt und Mum hinterher Probleme bekommt, nur weil sie ihn schützen wollte!“ „Na gut. Ich spreche mit L darüber und dann überlegen wir uns was.“ Na toll… War ja klar, dass Beyond erst mal seinen Babysitter um Erlaubnis fragen musste. Oh Mann, dabei hab ich gedacht, er wäre viel cooler drauf. Anscheinend hat er zu viel Zeit mit L verbracht. Na was soll’s, Hauptsache der hilft mir und wir finden einen Weg, um dafür zu sorgen, dass Ezra bei uns bleibt. Wäre doch echt das Letzte, wenn er zu so einer bescheuerten Mutter kommt. „Pah, Blutsverwandtschaft wird eh überbewertet.“ Und diese Worte meinte der ehemalige Proxy mehr als ernst. Denn was verband seine neue Familie denn? Jedenfalls keine Blutsverwandtschaft. Außer Jeremiel, L und Nastasja war keiner mit dem anderen verwandt und dennoch hielten sie mehr zusammen als so manch andere Familien. Und lieber hatte Sheol eine liebevolle Adoptivfamilie, als eine beschissene leibliche Familie, die ihn so mies behandelte wie all die anderen, die Unglück mit ihrer eigenen Familie hatten. Rumiko wurde von ihrer reichen Familie nur als lebendes Ersatzteillager für ihre Schwester benutzt, Jamie wurde von seinem Vater misshandelt, genauso wie Beyond und die anderen hatten ihre Eltern sehr früh verloren. Ezra gehörte zu dieser Familie genauso dazu wie alle anderen auch. Deshalb würde er genauso wenig zulassen wie die anderen, dass Monica mit ihrer Masche durchkam und ihn noch ins Verderben stürzte. Natürlich wusste er, dass das, was er vorhatte, kriminell war, aber manchmal heiligte der Zweck die Mittel und wenn er tatsächlich auf die Weise Beweise finden konnte, dann war ihm das wert. Schließlich, knapp eine Viertelstunde später rief Beyond zurück. „Also ich hab mich mit den anderen abgesprochen. Ich komme gleich zum Hotel und dann werden wir uns gemeinsam im Zimmer umsehen. Aber nur unter der Bedingung, dass du keinen Alleingang machst und auf alles hörst, was ich sage. Ich kenne mich mit solchen Aktionen deutlich besser aus.“ „Ja ist gut. Du hast mein Wort. Dann treffen wir uns gleich am Hotel.“ Kapitel 13: Liebe und Verzweiflung ---------------------------------- Als sie den Club erreichten, war Ezra nervös und ehrlich gesagt froh, dass Nastasja bei ihm war. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass seine Mutter irgendetwas mit dieser Drogengeschichte zu tun hatte und er wollte es auch nicht glauben. Wieso sollte sie denn auch so etwas tun? Er sah einfach keinen Grund und er wollte es auch selbst nicht glauben. Natürlich war sie nicht gerade das, was er sich unter einer liebevollen und aufopfernden Mutter vorstellte so wie Nastasja. Sie war ein bisschen oberflächlich, aber deswegen beging man doch nicht gleich so eine Straftat, oder? Welche Mutter machte denn so etwas? Das wollte ihm einfach nicht in den Kopf und allein der Gedanke daran, dass sie etwas damit zu tun hatte, tat ihm weh. Es reichte doch schon, wenn sein Vater ihn hintergangen und verletzt hatte, da konnte seine Mutter ihm doch so etwas nicht auch noch antun. Als sie vor dem Eingang standen, blieb Ezra stehen und aufmunternd legte die Russin einen Arm um ihn. „Keine Angst, ich bin bei dir. Gemeinsam schaffen wir das schon.“ Schön und gut, dachte Ezra und ließ ein wenig den Kopf sinken. Aber was ist, wenn der Sachverhalt so ist, wie ich befürchte? Was, wenn meine Mutter tatsächlich damit zu tun hat? Was, wenn ich ihr nach Frankreich folgen muss und all das hier hinter mir lassen soll? Würde Elion mir wirklich folgen, so wie er es versprochen hat, oder sind das nur irgendwelche leeren Versprechungen? Insgeheim hatte er Angst und das spürte auch Nastasja deutlich. Gemeinsam betraten sie den Club und gingen zu den Privatzimmern, wo sie Monica zu finden hofften. Doch als sie die Tür erreichten, hörten sie Stimmen und sogleich legte Nastasja signalisierend ihren Zeigefinger auf die Lippen. Daraufhin horchte sie an den offenen Türspalt und Ezra tat es ihr gleich. Sie hörten Monica mit jemandem reden und wie es der Zufall wollte, war es nicht auf Französisch, sodass sie es beide verstehen konnten. „…ja. Es ist schon schwer mit einem solchen Kind. Aber ich bin bereit, sämtliche Mühen auf mich zu nehmen, um ihm zu helfen. Das ist alles wirklich so tragisch. Declan, mein erster Mann hatte einen wahrlich schlechten Einfluss auf ihn ausgeübt und nun liegt es an mir, diese schlechten Verhaltensweisen auszumerzen. Ich frage mich ohnehin, womit ich das verdient habe. Ich meine, ich opfere mich mit meinem ganzen Herzblut für diesen Jungen auf und wie dankt er es mir? Er nimmt Drogen, holt sich irgendwo Geschlechtskrankheiten her und ist noch nicht mal bereit, im Entferntesten an seinen Problemen zu arbeiten. Aber ich werde sehen, dass ich sein Drogenproblem in den Griff bekomme. Ich kenne da eine hervorragende Entzugsklinik in Paris, wo es ihm an nichts mangeln wird und wo ihm mit Sicherheit geholfen werden kann.“ Entzugsklinik? Ezra hatte genug gehört. Ohne noch eine weitere Sekunde zu warten, betrat er das Zimmer und fand seine Mutter mit einem Journalisten vor. Sie war überrascht und fragte „Was machst du denn schon hier, Ezra? Ich dachte, ich hätte ganz klar und ausdrücklich gesagt, wie spät du hier sein sollst.“ „Wieso denn? Um dein tolles Interview zu stören?“ Ezra hatte die Hände zu Fäusten geballt und sah wirklich danach aus, als würde er gleich ausrasten. Für gewöhnlich war er ja ein sehr hilfsbereiter Mensch, der ziemlich viel einstecken konnte, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen, aber das hier war eindeutig zu viel. Er wusste nicht einmal, ob er wütend, enttäuscht oder verletzt sein sollte. Wahrscheinlich war er alles zusammen und er hatte wirklich Mühe, sich zusammenzureißen. „Du hast dich ja schnell damit mit dem Gedanken angefreundet, dass ich angeblich ein Junkie bin, genauso wie Dad. Aber hast du mich nur ein Mal im Krankenhaus besucht und dir mal meine Version der Geschichte angehört? Ich hab die ganze Zeit an der Bar auf dich gewartet und Todesängste ausgestanden, als dieser Hurensohn mir das LSD untergejubelt hat. Wegen ihm ist die ganze Scheiße mit Lucy wieder hochgekommen und ich dachte echt, ich müsse sterben. Wäre Elion nicht gekommen, hätte mich dieser Scheißpenner vergewaltigt, während du dich mit deinen tollen Geschäftskollegen amüsiert hast. Das kann dein toller Journalist mal schön in seine Klatschkolumne schreiben.“ „Ezra, wie redest du mit mir?“ rief Monica empört und sogleich als sie Nastasja sah, lächelte sie verächtlich und verschränkte die Arme. „Ach so ist das. Jetzt verstehe ich das alles. Sie versuchen einen Keil zwischen mir und meinen Sohn zu treiben. Ich weiß, was Sie vorhaben. Nur weil Sie unfähig sind, eigene Kinder zu zeugen, wollen Sie mir meinen Sohn wegnehmen und hetzen ihn gegen mich auf. Dabei will ich nur das Beste für meinen Sohn. Ich werde ihn mit nach Paris nehmen und ihm ein anständiges Zuhause geben und mich wegen seines Drogenproblems um ihn kümmern.“ „Lass Natascha aus dem Spiel“, rief Ezra und baute sich zu seiner ganzen (wenn auch eher kümmerlichen) Größe auf und sah sie wutentbrannt an. „Sie war für mich da und hat Erste Hilfe geleistet, als es mir schlecht ging, sie hat mich jeden Tag im Krankenhaus besucht und ihre ganze Familie hat mir geholfen der Polizei zu beweisen, dass ich keine Drogen nehme. Sie sind mir untergeschoben worden und das konnte auch bewiesen werden. Dieser Joel ist von irgendjemandem beauftragt worden und es wird sich nur um eine Frage der Zeit handeln, bis feststeht, wer dahinter steckt. Und eines sage ich ganz klar: ich gehe auf keinen Fall in eine Entzugsklinik und was deine Parispläne angeht: hast du überhaupt mal nachgefragt was ich will? Ob du es glaubst oder nicht, aber es gefällt mir hier sehr. Natascha und die anderen kümmern sich gut um mich und sie glauben mir auch im Gegensatz zu dir.“ „Ich würde dir ja gerne glauben“, erklärte Monica, ließ aber keinen Moment lang von ihrer herablassenden Art ab und wirkte sogar noch verärgert über den Gefühlsausbruch ihres Sohnes. „Aber wer ein Mal Drogen nimmt, der nimmt sie garantiert wieder und ich will einfach kein Risiko eingehen und dafür sorgen, dass es nicht wieder passiert und du von diesem schrecklichen Zeug wegkommst. Ich will dir nur helfen und so dankst du es mir? Du blamierst mich vor allen Leuten und benimmst dich so aufmüpfig und respektlos nach allem, was ich für dich getan habe? Ich bin deine Mutter.“ Und dieses Argument war zu stark, als dass Ezra noch hätte etwas erwidern können. Mit einem Mal war seine ganze Energie weg und er sah schon fast danach aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Aber in dem Augenblick legte Nastasja eine Hand auf seine Schulter und trat vor. Sie hatte sich so lange rausgehalten, wie Ezra noch den Mut hatte, selbst etwas zu sagen. Doch nun, da Monica anfing solche Geschütze aufzufahren, da war nun ihr Part und sie wirkte in dem Moment wie ein Boxer, der gerade den Ring betrat und bereit war, seinen Gegner mit einem gewaltigen Schlag auf die Matte zu schicken. „Wo waren Sie ihm denn eine gute Mutter?“ fragte sie mit donnernder Stimme und in dem Moment klang ihr russischer Akzent umso bedrohlicher, tiefer und aggressiver, dass man fast geglaubt hätte, man hätte es mit einem Kerl zu tun. In dem Moment bemerkte auch niemand, dass der Journalist, der gerade noch die Diskussion verfolgte und aufnahm, sogleich einen Anruf bekam und den Raum verließ. „Sie haben sich nicht ein Mal die Mühe gemacht, sich mehr auf ihn einzulassen. Ezra hat sich wirklich Mühe gegeben und alles getan, um Ihre Zuneigung zu gewinnen. Er hat sich Ihnen zuliebe verändert und obwohl Sie wussten, dass er Vegetarier ist, haben Sie ihn dazu genötigt, Schnecken zu essen. Ich habe Sie und Ihre bescheuerten Ansichten verteidigt und versucht, ein wenig zu vermitteln, weil ich wollte, dass wenigstens Ezra eine richtige Familie hat. Ich dachte, dass er so vielleicht glücklich wird. Aber kaum, dass Sie aufgetaucht sind, hat es nur Unglück gegeben. Wegen Ihnen leidet der Junge richtig und hätten Sie wenigstens ein bisschen Sorge um ihn gehabt, dann hätten Sie ihn nicht ganz allein im Club gelassen. Dann hätte so ein Vorfall verhindert werden können. Ihnen habe ich ja einiges zugetraut, aber dass Sie so dermaßen verantwortungslos sind, hätte selbst ich nicht gedacht.“ „Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden? Und überhaupt: Ezra ist 16, da kann man wohl doch erwarten, dass er auf sich selbst aufpassen kann. Was kann ich denn dafür, dass der Junge zu dumm dazu ist?“ „Wagen Sie es ja nicht noch mal, Ezra dumm, klein, mager oder mädchenhaft zu nennen. Ich warne Sie, ich war sehr geduldig mit Ihnen aber ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn weiterhin so herabwürdigen, obwohl Sie eigentlich stolz sein können, einen so wunderbaren Sohn zu haben. Ezra mag zwar vielleicht ein paar Macken haben, aber er ist ein sehr cleverer und willensstarker Junge, hilfsbereit und unglaublich selbstständig für sein Alter. Er musste all die Jahre ganz allein zurechtkommen und hat es geschafft, obwohl er noch so jung war und sogar die Mafia am Hals hatte. Er hatte niemanden, der ihm geholfen hat und trotzdem hat er es geschafft, nicht auf der Straße zu landen. Es ist eine Schande, dass er mit solch einer Mutter gestraft ist, die nicht mal dazu fähig ist, ihr eigenes Kind zu lieben.“ „Das verbitte ich mir“, erwiderte Monica und wurde nun richtig sauer. „Wie können Sie es wagen, mir zu unterstellen, ich würde mein eigenes Kind nicht lieben?“ Hier verschränkte nun auch Nastasja die Arme und sah sie mit einem herausfordernden und sogleich überlegenen Blick an. „Ach ja?“ fragte sie und ihr Ton nahm etwas Kühles an und auch sie selbst war nicht mehr so laut und kampflustig wie vorher. „Ich mag zwar keine aufgedonnerte High Society Dame sein wie Sie, aber seit wir reingeplatzt sind, haben Sie Ezra nur mit Herablassung und Ekel angesehen. Wenn Sie Ihr Kind wirklich lieben, dann nehmen Sie es in den Arm, wie es eine gute Mutter nun mal tut.“ Hier aber schaltete Monica deutlich einen Gang zurück. Und es war allzu offensichtlich, dass Nastasja sie an einem wunden Punkt erwischt hatte, wo sie unmöglich etwas dagegensetzen konnte. Doch trotzdem versuchte sie noch den Schein zu wahren und lachte. „So ein Unsinn“, rief sie und lachte wieder. Aber jeder konnte deutlich hören, dass es gekünstelt war. „Natürlich liebe ich meinen Sohn. Was fällt Ihnen ein, so eine unverschämte und absurde Behauptung in den Raum zu stellen?“ „Dann beweisen Sie es.“ „Ich muss Ihnen gar nichts beweisen. Diese ganze Scharade ist doch mehr als lächerlich.“ „Mum…“ Ezra trat nun vor und sah zu ihr auf. Sein Blick wirkte nun nicht mehr so mürrisch, abweisend und kühl wie sonst, sondern sehr verletzlich, beinahe flehend. Er wirkte wie ein kleines Kind, das völlig allein gelassen war und sich nichts Sehnlicheres wünschte, als die liebevolle Umarmung einer Mutter. Und ihn so zu sehen, tat Nastasja unendlich weh im Herzen und sie wünschte sich, sie könnte ihm diesen Schmerz ersparen. Aber da mussten sie jetzt durch. Denn nur so konnte Ezra die Wahrheit erkennen und mit diesem Thema abschließen. „Mum, was hält dich davon ab, mich in den Arm zu nehmen?“ fragte er mit fast schon zitternder Stimme, die von einem tief sitzenden Schmerz zeugte. „Bin ich denn so abstoßend für dich, dass du dich so sehr dagegen sträubst, mich in den Arm zu nehmen?“ „Das bist du nicht“, stritt sie energisch ab, aber sie machte immer noch keine Anstalten, ihm näher zu kommen. „Du bist doch nicht abstoßend für mich. Das ist doch nur der Mist, den dir diese Russin da einredet. Und damit eines klar ist: ich will dich mit zu mir nach Frankreich nehmen, weil ich dich liebe und ich dich bei mir haben will, damit wir eine richtige Familie werden können.“ Ezra ging einen weiteren Schritt auf ihn zu und immer noch zögerte Monica. Aber dann, um zu beweisen, dass sie es ernst meinte, nahm sie ihn in den Arm. Doch der 16-jährige spürte sofort, dass es sie Überwindung kostete und diese Umarmung gab ihm einfach nicht dasselbe Gefühl wie bei Nastasja. Es fühlte sich falsch an, geheuchelt und gelogen. Deshalb befreite er sich von ihr und ging einen Schritt zurück. „Lass es gut sein, Mum. Es bringt doch nichts. Du kannst mich nicht so lieben, wie ich bin. Und ich… ich will diesen ganzen Luxus und das Geld nicht. Deine Welt ist nicht meine Welt, genauso wenig wie meine Welt deine ist. Wir sind einfach zu verschieden und du bist einfach nicht fähig, so etwas wie Liebe für mich zu empfinden. Also warum willst du mich dann überhaupt bei dir haben, wenn du mich nicht lieben kannst? Das hat doch keinen Sinn. Wieso willst du mich von hier wegholen?“ „Na weil sie den ganz großen Rummel bekommen würde, wenn herauskommt, dass ihr Sohnemann ein sich prostituierender 16-jähriger Junkie ist.“ Die Tür hatte sich geöffnet und da kamen auch schon Sheol und Beyond herein. Sowohl Nastasja als auch Ezra waren komplett überrascht, die beiden zu sehen und hatten auch nicht mit ihnen gerechnet. Insbesondere die 30-jährige Russin war vollkommen perplex und fragte „Was macht ihr denn hier?“ „Wir können ein klein wenig Licht in die Angelegenheit bringen“, erklärte der Serienmörder und hatte eine CD bei sich, die er mit einem fast schon triumphierenden Lächeln zeigte. Monica verstand immer noch nichts und erkannte die beiden auch nicht, da sie die beiden ohnehin nur ein Mal gesehen und ihnen auch keine sonderliche Beachtung geschenkt hatte. „Was hat das zu bedeuten und wer sind diese Leute?“ „Mein Name ist Ryuzaki“, log Beyond und ging nun direkt zu ihr hin, wobei er sie mit seinen Shinigami-Augen mörderisch anfunkelte. Und allein bei seinem Anblick lief der High Society Künstlerin ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Ich arbeite im Auftrag für einen sehr hochrangigen Detektiv, der sich mit dem Fall beschäftigt. Auf der Festplatte des Laptops habe ich einige interessante E-Mails gefunden. Angefangen von Suchverläufen bezüglich halluzinogenen Drogen und ihre Wirkungen und Nebenwirkungen, und Korrespondenzen mit einem gewissen Nick Jacoby, der sowieso derzeit in Untersuchungshaft ist, weil er wegen Drogenhandels, Drogenbesitzes, sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung beschuldigt wird. Glauben Sie etwa, es würde allein reichen, die E-Mails zu löschen? Sie waren noch alle im Papierkorb und ich habe sowohl sämtliche E-Mailkorrespondenzen, als auch ihre Suchverläufe im Web auf CD gespeichert und sowohl eine an die Polizei und eine an die Presse geschickt. Und das hier ist eine Kopie für meinen „Chef“.“ „Und nicht nur das hat Sie verraten“, ergänzte nun Sheol, der auch seinen Teil zu der ganzen Geschichte beitragen wollte. „Sie waren ja sehr fleißig mit dem, was Sie in Ihrer Biografie geschrieben haben. Aber es ist doch seltsam, dass Sie schon über Ezras Drogenkonsum im Club berichten, bevor es überhaupt passiert ist. Nun, dass von dem Übergriff keine Rede war, spricht zumindest dafür, dass Sie das nicht beabsichtigt haben und Ezra lediglich die Drogen unterjubeln wollten. Im Grunde war die ganze Aktion im Rose Diamond bloß gestellt, damit alles dem Inhalt Ihrer Biografie entsprach. Allerdings war die Aktion erst für die Party im Black Lotus geplant gewesen, deshalb haben Sie so viele Spuren hinterlassen und unvorsichtig gearbeitet. Dass Ezra so kurzfristig zu Ihnen kommen würde, war gar nicht eingeplant, aber es passte Ihnen dennoch ganz gut in den Kram.“ „Also haben Sie Nick Jacoby kontaktiert. Er kam in den Club, sprach Ezra an und gab ihm schließlich das LSD und die Beruhigungsmittel. Auf der CD ist auch belegt, dass Sie ihm 20.000$ überwiesen haben, plus noch das Geld für die Drogen. Dabei haben Sie extra ein Konto unter einer falschen Identität angelegt, damit die Polizei nicht auf Sie schließen kann. Stattdessen sollte es heißen, dass Ezra sich bei einem Drogendealer Stoff besorgt hätte. Es wäre für die Polizei sogar nachvollziehbar gewesen, weil Jugendliche, deren Elternteile mit Drogen zu tun hatten, oft selbst welche nehmen. Genauso ergeht es jenen nicht anders, die auf den Strich gehen. Keiner hätte großartig Fragen gestellt und Ezra wäre als Junkie abgestempelt worden. Sein Leben wäre ruiniert und Sie hätten ihn in irgendeine Entzugsklinik und dann wahrscheinlich danach noch in eine geschlossene Anstalt einweisen lassen. Irgendwelche Gründe hätten Sie dafür sicherlich finden können. Man hätte ihn dort für die nächsten Jahre isoliert und mit irgendwelchen Drogen vollgepumpt, um ihn ruhig zu stellen. Und Sie wären in den Augen der Öffentlichkeit die verzweifelte Mutter, die alles in ihrer Macht stehende getan hat, um ihrem Kind zu helfen. Nur dumm, dass wir dahintergekommen sind, bevor Sie damit durchgekommen wären. Die Polizei ist übrigens gleich hier.“ Damit wandte er sich an Nastasja und machte seinen Rücken krumm. „Mein Job ist erledigt. Ich verschwinde lieber und überlasse euch den Rest. Wir sehen uns später.“ Damit verließ Beyond das Zimmer und als Monica merkte, dass dieser vermeintliche Ryuzaki ein Bekannter von Nastasja sein musste, da weiteten sich ihre Augen und wutentbrannt sah sie die Russin an. „Sie haben irgendwelche Detektive angeheuert, um mich zu diffamieren?“ „Nein, das habe ich nicht“, erklärte Nastasja und blieb immer noch so ruhig und kalt wie zuvor. „Ich sagte doch, dass Sie mich nicht unterschätzen sollten, weil ich die Mittel habe, Sie zu zerstören, wenn Sie es wagen sollten, meiner Familie drohen zu wollen. Zufälligerweise ist mein Sohn ein Detektiv und dazu noch ein verdammt guter. Ich habe meine Familie gebeten, Sie näher unter die Lupe zu nehmen, weil ich sichergehen wollte, dass Sie bezüglich Ezra ehrliche Absichten verfolgen. Und so wie es aussieht, war es die richtige Entscheidung gewesen. Sie sind wirklich das Allerletzte. Dass so etwas wie Sie überhaupt Mutter ist, ist einfach nur eine Schande!“ „Das… das ist nicht wahr“, rief Monica und wandte sich an Ezra. „Du darfst davon kein Wort glauben. Sie und ihre Familie versuchen doch nur, uns gegeneinander auszuspielen. Glaub mir, ich will nur dein Bestes, Ezra. Das ist alles nur eine Lüge.“ Doch der 16-jährige schüttelte nur den Kopf und senkte den Blick. „Nein“, sagte er mit kraftloser Stimme. „Deine Aufmerksamkeit und deine Sorge um mich waren die einzigen Lügen. Und ich war so dumm und habe gedacht, es läge ganz allein bei mir und ich müsse es mir unbedingt verdienen, von dir geliebt zu werden. Immer, wenn wir uns getroffen haben, da kam von dir doch immer nur Ablehnung. Ablehnung gegen mein Aussehen, gegen meine Vergangenheit, meinen Charakter, meine Liebe zu Elion, einfach alles. Du hast mich die ganze Zeit schon abgelehnt und ich war trotzdem so blöd und hab versucht, es dir irgendwie recht zu machen, weil ich nur von dir geliebt werden wollte. Verstehst du das denn nicht, Mum? Ich wollte niemals Geld, schicke Klamotten oder ein eigenes Haus mit Limousine und so. Alles was ich wollte, war eine Familie. Ich wollte doch nur, dass du mich lieb hast und mir das Gefühl gibst, dass du mich so liebst wie ich bin und dass ich auch liebenswert bin. Mir ist es doch völlig egal, ob du arm oder reich bist. Ich hätte dir sogar verziehen, wenn du dich erst jetzt gemeldet hättest, wenn du wenigstens dann für mich da gewesen wärst. Aber jetzt… jetzt wünschte ich mir ehrlich gesagt, ich hätte dich nie getroffen. Verdammt Mum, du hast über meine Vergangenheit, meine Homosexualität und mein Aussehen hergezogen. Du hast mir Drogen verabreicht und mich damit ins Krankenhaus gebracht. Und wofür? Damit sich die Presse um dich reißt? Soll ich dir was sagen? Du kannst mich mal, du bist für mich gestorben. Ich habe keine Mutter mehr! Ich will dich nie wieder sehen und ich will auch nicht zu dir nach Frankreich. Werde doch glücklich mit deinem Reichtum, aber werde es bitte ohne mich. Für mich bist du keine Mutter und bist es auch nie gewesen. Ich hasse dich und ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest!“ Die letzten Worte hatte Ezra förmlich herausgeschrieen, als wollte er es die ganze Welt wissen lassen. Es war so unendlich viel Wut, Schmerz und Verzweiflung in seinen Worten, dass er jeder damit gerechnet hätte, dass er weinen würde. Doch er tat es nicht. Selbst dann nicht, als Monica nur die Nase rümpfte und meinte „Bitte, dann sieh doch zu, wie du alleine klar kommst. Ich brauch dich eh nicht und ich habe dich sowieso nie gewollt. Wäre es damals nicht dafür schon längst zu spät gewesen, dann hätte ich dich ohnehin abgetrieben.“ Und hier platzte Nastasja endgültig der Kragen. Sie gab Monica eine so heftige Ohrfeige, dass es die 40-jährige fast von den Füßen riss. Diese konnte es nicht fassen und drückte eine Hand auf ihre gerötete Wange. „Dafür verklage ich Sie“, brachte sie hervor und musste sich aber dann doch abstützen. „Das werden Sie mir büßen.“ „Tun Sie sich keinen Zwang an. Das war noch nicht mal im Ansatz genug für das, was Sie Ezra angetan haben.“ Damit legte Nastasja einen Arm um Ezra und ging mit ihm zusammen nach draußen. Sheol machte erst Anstalten, ihnen zu folgen, blieb dann aber doch stehen, um selbst noch mal etwas loszuwerden. „Ich hoffe, Ihr Gesicht war noch nicht abbezahlt. Im Ernst: wie kann man nur so kaltherzig sein? Wahrscheinlich haben Sie zu viel Botox abgekriegt und davon ist die Hirnhälfte fürs logische Denken komplett zerstört worden. Ernsthaft: fahren Sie zur Hölle, Sie olle Barbiepuppe.“ Damit knallte er die Tür hinter sich zu und verließ den Club. Er eilte zu Nastasja und Ezra, um nach dem Rechten zu sehen. In dem Moment kamen auch schon die Polizisten und er gab ihnen noch den Tipp, wo sie Monica finden konnten. Als er nach draußen kam, fand er seine Adoptivmutter zusammen mit Ezra. Dieser hatte sich an sie geklammert und weinte bitterlich. Kapitel 14: Wassermelonen ------------------------- Die Polizei verhaftete Monica wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung und Drogenhandel und noch einiger anderer Delikte. Sie wurde nach mehreren Tagen Verhandlung zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren verurteilt. Ihr bester Anwalt hatte sie nicht davor bewahren können und sie selbst war von Marcel Lewinski gnadenlos vor dem Staatsanwalt, dem Richter und der Jury auseinandergenommen worden. Ezra hatte seine Aussage nur widerwillig gemacht und wirkte teilnahmslos und niedergeschlagen. Die Presse riss sich förmlich darum und hätte den 16-jährigen wahrscheinlich noch länger in die Mangel genommen, hätten Nastasja und die anderen ihn nicht schnell weggebracht. Seitdem er mit seiner Mutter endgültig gebrochen hatte, war er kaum aus seinem Zimmer rausgekommen und lag die meiste Zeit nur im Bett und sprach mit niemandem. Schließlich aber kam Elion zu ihm ins Zimmer, nachdem er mit Akira rausgegangen war und hatte auch etwas mitgebracht. „Ich hab dir gebratene Nudeln mit extra scharfer Sauce vom Chinesen mitgebracht.“ „Danke, hab aber keinen Hunger…“ Elion nahm Akira von der Leine, der sofort zu Ezra eilte und damit begann, ihm das Gesicht abzulecken. Doch selbst er konnte die getrübte Stimmung des 16-jährigen nicht heben. Dennoch wollte Elion nicht so einfach aufgeben. Er setzte sich zu ihm ans Bett und zog seine Handschuhe aus. „Das mit deiner Mutter beschäftigt dich immer noch sehr, nicht wahr?“ Er bekam zwar keine Antwort darauf, wusste aber, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. „Glaub mir Ezra, ich kenne das sehr gut. Mit mir ist es ja auch nicht anders. Meine Mutter hat mich auch nie geliebt und es ist hart zu hören, wenn die eigene Mutter einen nicht liebt. Aber du weißt: sowohl ich als auch Mum und der Rest der Familie sind für dich da und wir werden dich nicht alleine lassen. Mag sein, dass dich deine leibliche Familie nicht liebt, aber du hast doch jetzt eine Familie. Mum liebt dich nicht weniger als Sheol, mich oder ihre Söhne und wenn du dich erinnerst, dann ist sie doch eigentlich das, was du dir immer von deiner Mutter gewünscht hast.“ Ja, das stimmte und natürlich wusste Ezra das. Aber es tat ihm einfach so weh zu wissen, dass seine Mutter ihn am liebsten abgetrieben hätte, wenn es nicht zu spät gewesen wäre. Und als er wieder daran dachte, kamen ihm wieder die Tränen. „Bin ich… bin ich denn so abstoßend, dass sie es nicht fertig bringt, mich zu lieben? Ist es denn so schlimm, mich als Sohn zu haben?“ „Nein, so etwas darfst du nicht denken, nicht mal für eine Sekunde. Nicht du bist es, der irgendetwas falsch gemacht hat. Der Fehler liegt einzig und allein bei deiner Mutter und nicht bei dir. Du bist ein wunderbarer Mensch und das darfst du nicht vergessen. Und wenn du abstoßend oder nicht liebenswert wärst, dann würde ich doch wohl das nicht machen.“ Und damit ergriff Elion Ezras Hand, zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Es war ein liebevoller und inniger Kuss und sogleich drückte der Proxy ihn aufs Bett nieder, wobei er ihm tief in die Augen sah. „Ezra, ich liebe dich und es kümmert mich nicht, wenn du mich beleidigst, mir eine reinhaust oder mir sogar an den Haaren ziehst. Für mich wirst du immer das Wichtigste im Leben sein und ich werde niemanden so sehr lieben für dich. Deshalb werde ich auch in Zukunft nicht auf deine Zurückweisungen hören, wenn ich spüre, dass du in Gefahr bist oder es dir nicht gut geht. Das habe ich dir versprochen. Selbst wenn die ganze Welt sagt, dass du abstoßend bist, für mich wirst du es niemals sein. Denn… dafür liebe ich dich einfach viel zu sehr.“ „Warum?“ brachte Ezra mit Mühe hervor, ohne dass seine Stimme zu zittern begann und schlug Elion das Kissen ins Gesicht. „Warum sagst du immer solche Sachen? Verdammt noch mal, immer sagst du irgendetwas, woraufhin ich dann nicht weiß, was ich sagen soll, weil ich total durcheinander bin und am liebsten würde ich nur heulen. Ich kann das nicht abschalten und ich hasse das! Ich hasse es, die ganze Zeit immer nur weinen zu müssen. Warum immer bei euch? Warum?“ Und während er das rief, schlug er wieder mit dem Kissen nach Elion und traf ihn wieder und wieder, wobei er seine eigenen Gefühle nicht mehr unter Kontrolle bekam. Daraufhin nahm der Proxy ihn in den Arm und heftig schluchzend vergrub Ezra sein Gesicht in dessen Schulter. „Du hast einfach zu viel in dir aufgestaut. Und irgendwann muss das mal raus. Und als du diesen LSD-Trip hattest, warst du ohnehin so verstört gewesen, dass wir echt Angst um dich hatten. Und immerzu hast du einen Namen gerufen… Lucy war das.“ Als Ezra sich wieder an diese schrecklichen Horrorbilder erinnerte, die er im Club gesehen hatte, da drückte er sich noch fester an Elion und zitterte am ganzen Körper. „Es ist meine Schuld, dass sie tot ist…“, brachte er hervor und konnte kaum seine Stimme unter Kontrolle bringen. „Ich hätte sie damals beschützen sollen. Sie… sie ist direkt vor meinen Augen gestorben.“ „War sie eine Freundin?“ Ezra schüttelte den Kopf und versuchte sich die Tränen wegzuwischen, doch seine Hände zitterten so heftig, dass er sie kaum unter Kontrolle halten konnte. „Lucy war Audreys Tochter. Das war meine zweite Pflegefamilie, die mich ja exorziert hat. Sie kam mit schrecklichen Entstellungen zur Welt. Aus ihrem Kopf und aus ihren Unterarmen wuchsen noch mehr Arme und sie wurde im Keller gehalten wie ein Tier. Ich wurde genauso im Keller eingesperrt und da Lucy nie einen richtigen Bezug zu ihren Eltern hatte, hielt sie mich irrtümlich für ihren Vater. Sie… sie war damals vier Jahre alt gewesen und ich hab gesehen, wie sie sie umgebracht haben. Audrey hat ihr mit einem Beil die überflüssigen Arme abgetrennt und sie… sie ist…“ Ezra sprach nicht weiter und weinte. Er brauchte auch nicht weiterzusprechen, denn Elion wusste schon, was los war. Der arme Junge musste damals mit ansehen, wie das Mädchen verblutet ist. Kein Wunder, dass dieser LSD-Trip so traumatisierend für ihn war, wenn diese Erinnerungen an damals wieder in seinem Kopf herumgespukt waren. „Ezra, dafür kannst du nichts. Mensch, was dir alles passiert ist, das war furchtbar und dass das mit deiner Mutter dich so sehr an dieses kleine Mädchen erinnert, wusste doch keiner von uns. Warum hast du denn nicht mit uns darüber geredet?“ „Na weil… ich hatte doch sonst nie jemanden zum reden. Mein ganzes Leben ist schon beschissen und ich wollte nicht, dass es noch beschissener aussieht, wenn auch noch das mit Lucy rauskommt. Ich hatte eben Angst. Und ich… ich hab selbst jetzt noch verdammt große Angst. Da hörst du es, ich bin ein Angsthase und ein Feigling und ich hasse das. Ich hab Angst davor, dass du mich eines Tages verlassen könntest, dass Nastasja mich nicht mehr haben will und dass ich wieder im Ghetto lande und mit diesen ganzen Drecksäcken schlafen muss, um über die Runden zu kommen.“ „Du bist kein Feigling, Ezra. Ein Feigling ist jemand, der einfach wegläuft. Aber du besitzt den Mut zu sagen, dass du Angst hast. Du hast dich deiner Mutter gestellt und ihr die Meinung gesagt. Du hast den Mut besessen, vor Gericht gegen sie auszusagen und ihr die Stirn zu bieten. Glaub mir bitte wenn ich dir sage, dass ich selten einen so mutigen Menschen wie dich getroffen habe. Aber dass du Angst hast, ist nicht schlimm. Du bist eben noch ein Kind und man hat immer Angst, egal wie alt man ist. Wichtig ist nur, dass wir uns nicht von unserer Angst beherrschen lassen.“ Elion wollte noch weiterreden, doch da küsste Ezra ihn schon und umarmte ihn. Sofort erwiderte der Proxy den Kuss und hielt den 16-jährigen fest, wobei er ihm durchs Haar streichelte. Schließlich, als Ezra sich beruhigt hatte und er nun doch Hunger bekam, aß er die gebratenen Nudeln und wenig später kam Nastasja rauf und klopfte an die Tür. „Ezra, Elion, kommt ihr mit? Wir fahren zu Andrew und Oliver.“ „Wozu denn?“ „Eine kleine Überraschung.“ Beide sahen sich etwas überrascht an und verstanden nicht so ganz, doch Nastasja blieb verschwiegen und neben ihnen kam natürlich auch Sheol mit. Schließlich, als sie bei den beiden Verlobten waren, wurden sie auch schon aufs Dach gebeten. Und bei sich hatten sie einige Kisten. Sheol war der Erste, der verwundert war, als er sah, dass Oliver eine Wassermelone rausholte. „Feiert ihr Iren eure Polterabende immer mit Wassermelonen?“ Oliver und Andrew lachten, als sie das hörten und erklärten „Nein, das ist kein Polterabend. Der kommt ja erst morgen. Das Melonenwerfen ist so eine kleine Tradition bei uns und wir wollten euch mal herzlich dazu einladen. Es ist eigentlich ganz banal und simpel: jede der Melonen steht für ein Problem, was euch auf den Schultern lastet. Ihr könnt es auch gerne laut rausschreien und dabei werft ihr mit voller Kraft die Melone vom Dach.“ „Ihr seid doch bescheuert“, rief Ezra sofort und schüttelte den Kopf, denn er konnte nicht glauben, dass das wirklich etwas bringen sollte. Nastasja zeigte sich erstaunt über diese etwas unkonventionelle Therapie und Sheol kugelte sich vor Lachen. „Das ist ja geil“, rief er und musste wieder lachen. „Wer hat sich das denn ausgedacht?“ „Mein verstorbener Freund Elijah“, erklärte Oliver und nahm eine Wassermelone in die Hand. „Als er, Ridley und ich uns damals im Krankenhaus kennen gelernt haben, waren wir alle todkrank. Ich brauchte ein Spenderherz, Ridley eine Knochenmarkspende und Elijah hatte eine kaputte Lunge. Wir waren oft mit unserem eigenen Tod konfrontiert, als wir noch jung waren und die Melonentherapie hat uns ein Stück weit geholfen, den Frust loszulassen. Und da diese etwas unschönen Ereignisse mit Monica waren, dachten wir uns, dass wir für euch ein paar Wassermelonen organisieren, falls jemand mal Frust abbauen will. Also, wer will als Erstes?“ „Ich will!“ rief Sheol sofort und nahm sich eine. Er stellte sich direkt ans Geländer des Daches und holte aus, wobei er laut rief „Diese blöde Barbiepuppe soll unsere Familie in Ruhe lassen. Ich finde sie zum Kotzen!“ wobei er die Melone nach unten schleuderte. Und daraufhin zerschlug sie auf dem Boden. Und natürlich war er absolut begeistert davon. Sinnlose Zerstörung und Melonenzerdeppern war eben etwas, wofür man ihn sofort begeistern konnte. Als Nächstes wollte es Nastasja ausprobieren. Und sie hatte gleich mehrere Baustellen, die sie loswerden wollte. Angefangen davon, dass sie Sheol ständig daran erinnern musste, dass er gefälligst sein Zimmer aufzuräumen habe (wobei er nebenbei behauptete, dass Ordnung eh überbewertet wurde) bis hin zu Joseph Brown und seinem Sohn, die sowohl ihre Familie auseinandergerissen, als auch Elions und Sheols Leben fast zerstört hätten. Und natürlich erwähnte sie auch Monicas Aktion, als sie die nächste Melone herunterwarf. Elion selbst verzichtete darauf. Er hatte nicht wirklich etwas, worüber er sich so dermaßen aufregte und außerdem traute er sich nicht ans Geländer, weil er eben etwas unter Höhenangst litt. Schließlich war Ezra der Letzte, der übrig geblieben war. Immer noch zögerte er und verstand nicht so wirklich den Sinn hinter dieser Aktion. „Das ist doch bescheuert“, rief er und schüttelte den Kopf. „Wie sollen mir denn ein paar olle Melonen helfen, meine Probleme zu lösen?“ „Es geht einfach um das Sinnbild“, erklärte Andrew. „Am Anfang fand ich diese Idee genauso bekloppt und hab Oliver damals noch für einen durchgeknallten Spinner gehalten. Nun, heute halte ich ihn nur noch für einen besonders liebenswerten Spinner. Jedenfalls muss man das wenigstens ein Mal selbst gemacht haben. Mag sein, dass davon die Probleme nicht weggehen, aber zumindest fühlt man sich besser. Nimm dir einfach eine Melone, denk dann an etwas, das dich vollkommen zur Weißglut bringt und wirf mit aller Kraft die Wassermelone runter. Du wirst sehen, dann wirfst du auch gleichzeitig diese Last von dir ab, wenn du es tust.“ Nachdem Andrew ihm gut zugeredet hatte, nahm Ezra eine Wassermelone in die Hand und stellte sich ans Geländer. Tief atmete er durch und versuchte an irgendetwas zu denken, was ihn aufregte. Seine Mutter… Parson… seine ganzen Freier… die Pflegefamilien… Und so erhob er die Wassermelone und rief mit lauter Stimme „Du kannst mich mal Mum, steck dir dein bescheuertes Geld in den Arsch und sieh zu wo du bleibst!“ und damit warf er die Melone mit aller Kraft herunter. Er spürte, wie sehr es seine Arme beanspruchte und dass es sich irgendwie ganz komisch anfühlte. Nun, es war nicht so, dass er hundert Prozent glücklich war, aber er fühlte sich dennoch so erleichtert. Sogleich wurde ihm die nächste Melone in die Hand gedrückt. „Parson, ich wünsche dir die chemische Kastration an den Hals und dass du im Gefängnis verrottest! Fick dich und deine scheiß Geldeintreiber ebenfalls.“ Und kaum, dass die Melone nach unten segelte, bekam er auch schon die nächste. „Ramon, Tyson, Jack und Ronnie. Ich wünsche mir, dass sie euch im Knast genauso die Ärsche aufreißen wie ihr mir. Ich wünsch euch ein Krebsgeschwür an den Arsch!“ Nach und nach segelte eine Melone nach der anderen nach unten. Irgendwann taten Ezra die Arme weh und er hatte kaum noch Kraft, aber er machte trotzdem weiter. Er machte so lange weiter, bis er wirklich alles gehabt und jedem eine Melone gewidmet hatte, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte. Und als er so über das Geländer gebeugt da stand und auf das Obstschlachtfeld hinabsah, da konnte er einfach nicht anders als zu lachen. Es war total verrückt, aber irgendwie hatte diese bescheuerte Aktion geholfen und er fühlte sich tatsächlich erleichtert. Und sogleich hakte sich Nastasja bei ihm ein und wuschelte ihm durchs Haar. „Weißt du Ezra, mein Mann pflegte immer zu sagen „Das Schöne daran, wenn man ganz unten angelangt ist, dann ist das die Tatsache, dass es nur noch bergauf gehen kann.“ Und ich denke, er hat da mehr als Recht. Mag sein, dass es mit dir und deiner Mutter nicht geklappt hat, aber du hast immer noch uns.“ „Genau“, stimmte Sheol mit ein. „Und wer würde einen so verrückten Haufen wie uns denn eintauschen wollen? Na?“ Und Ezra konnte in diesem Moment einfach nicht anders als zu lachen. Sheol und Nastasja hatten vollkommen Recht. Im Grunde passte er doch perfekt in diese bunt zusammengewürfelte Familie. Und im Grunde hatten genau diese verrückten Leute mehr zu ihm gehalten, als seine leibliche Mutter. Mochte vielleicht sein, dass Monica ihn nicht liebte und ihn auch nicht haben wollte. Aber Nastasja und die anderen waren immer für ihn da gewesen. Sowohl, als er nichts und niemanden hatte und eine neue Bleibe brauchte, als auch dann, als Monica aufgetaucht war und er wie hin und her gerissen war. „Ja, da habt ihr eigentlich Recht. Im Grunde habe ich doch Glück, dass ich hier bei euch bleiben darf.“ „Ja und ich habe mir auch schon etwas überlegt, worüber ich mit dir sprechen wollte.“ Damit schaute Ezra fragend zu Nastasja auf und wunderte sich natürlich, was sie denn wollte. Und als hörte, worum es ging, schaltete er zuerst instinktiv wieder auf Defensive. „Da du mein Pflegekind bist, hat das Jugendamt die alleinige Entscheidung über deinen weiteren Verbleib. Meine Idee wäre, dass ich die Adoption beantrage. Da wären wir nicht den Launen des Jugendamts ausgesetzt und es bestünde auch kein Risiko, dass Monica nicht noch irgendetwas drehen könnte.“ „Echt? Das geht, dass du mich adoptieren kannst?“ Nastasja nickte und erklärte weiter „Ich könnte dich alleine adoptieren und damit wäre das Pflegeverhältnis zwischen Elion und dir beendet und so kannst du problemlos mit ihm zusammen sein. Und du bist dann ein vollwertiger Teil unserer Familie. Dann würdest du allerdings Ezra Alexis Lawliet heißen.“ „Ist mir egal“, sagte der 16-jährige sofort. „Der Name erinnert mich eh nur an meinen Vater. Und wenn ich wirklich für immer bei euch bleiben kann, wenn ich adoptiert werde, dann… dann können wir es doch machen. Aber nur unter der Bedingung, dass Elion nicht mein Adoptivvater wird!“ Nastasja gab ihr Wort und so war es beschlossene Sache. „Okay“, sagte die Russin und nickte zufrieden. „Morgen werde ich den Antrag beim Vormundschaftsgericht einreichen. Mit Monica werden wir auch noch ein ernstes Wörtchen reden, damit sie dem Antrag zustimmt. Wir kriegen das schon geregelt, zusammen als Familie.“ „Die Puderquaste mit ihren aufgespritzten Lippen wird noch sehen was es heißt, sich mit der Familie Lawliet anzulegen“, rief Sheol und grinste breit. Sogleich kniff Nastasja ihm aber auch in die Wange. „Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Dass du und Beyond Beweise sammeln wolltet, war ja schön und gut, aber ich möchte ganz bestimmt nicht, dass du noch auf den Trichter kommst, dass es in Ordnung wäre, bei anderen Leuten einfach so einzubrechen und in ihren Sachen herumzuschnüffeln. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, hm? Wenn man dich erwischt hätte, dann hättest du eine Strafanzeige kriegen können.“ „Weiß ich doch. Deshalb habe ich ja Beyond angerufen, damit er mir hilft. Und er sagte auch, dass es vernünftig war, ihn anzurufen.“ Eines musste sie dem Bengel lassen. Er hatte zwar ziemlich viele Flausen im Kopf, aber er war dennoch vernünftig genug, um wenigstens L oder Beyond um Unterstützung zu bitten. Und letzten Endes hatte er es ja getan, weil er Ezra helfen wollte. Man konnte von ihm sagen was man wollte. Dass er ein typischer Teenager war, der lieber unterwegs war und um die Häuser zog, als seinen Pflichten nachzukommen. Aber war bereit, alles zu tun, um seiner Familie zu helfen. „Wir werden noch eine richtige Familie und dann gehört Ezra ganz zu uns. Dann kann diese Botox-Barbie sehen, wo sie bleibt.“ „Wie ist das denn jetzt eigentlich mit Monica ausgegangen?“ fragte Andrew, der noch nicht auf dem neuesten Stand der Dinge war. „Wir waren leider so mit den Vorbereitungen für die Hochzeit beschäftigt, dass wir kaum etwas mitbekommen haben.“ „Monica wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und muss außerdem 1,8 Millionen Schmerzensgeld an Ezra zahlen. Ehrlich gesagt finde ich diese Summe ein bisschen zu hoch… Selbst für ihre Verhältnisse.“ „In Amerika ist das eben üblich“, erklärte Oliver. „Da hat sich zum Beispiel mal jemand an seinem Kaffee verbrüht und McDonalds auf Schadensersatz verklagt, weil auf dem Becher nicht draufstand, dass das Getränk heiß ist. Und er hat, soweit ich mich recht entsinne, 700 Riesen gekriegt.“ Verständnislos schüttelte Nastasja den Kopf. „Und deshalb nennen die meisten Menschen auch Amerika das Land der unbegrenzten Dummheiten. Naja, das Geld kann diese Frau ja wohl verschmerzen. Die 1,8 Millionen werden erst mal ordentlich zur Seite gelegt und später kann Ezra seine Ausbildung davon finanzieren, oder sich eines Tages mal ein Auto kaufen, wenn er seinen Führerschein hat.“ „Oder er könnte mal irgendwo hinfahren.“ Und sogleich hatte Andrew eine Idee. Er reichte Nastasja einen Flyer und sogleich als sie näher hinsah, bemerkte sie, dass es der Flyer für einen Ausflugsort an der kalifornischen Küste war. „Ridley hat dort ein Strandhaus und da er sowieso die nächsten drei Monate in Japan ist, stellt er uns das Haus schon mal zur Verfügung. Wir haben schon mit ihm Rücksprache gehalten und er würde euch gerne für die nächste Zeit das Haus überlassen, damit ihr dort Urlaub machen könnt. Nach dem ganzen Stress mit Monica wird das euch allen ohnehin ganz gut tun.“ „Ja aber… wie stellt ihr euch das vor? Ich hab einen Job und…“ „Schon erledigt.“ Die Russin sah das Paar verdattert an und war ein wenig überrumpelt von der Aktion. Diese beiden Schlitzohren hatten einfach so einen Urlaub für sie und ihre Familie geplant, ohne sie einzuweihen? Oh Mann, das war typisch Oliver. Der überrumpelte einfach alle mit seinen komischen Aktionen. Aber es war schon echt lieb von ihnen, dass sie sich solche Gedanken machten. Sie konnte nicht anders als den Kopf zu schütteln und darüber zu schmunzeln. „Ihr seid echt verrückt.“ Und so saßen sie noch den Rest des Tages zusammen und aßen die restlichen Wassermelonen, die bis dahin noch verschont geblieben waren. Gleich am nächsten Tag reichte Nastasja den Antrag auf Adoption beim Vormundschaftsgericht ein und dabei erhielt sie von Marcel Lewinski Unterstützung bei ihrem Plan. Zunächst sah es danach aus, als würde der Plan zum Scheitern verurteilt sein, denn das Gericht sah erst keinen Anlass, etwas am Pflegeverhältnis zu ändern. Doch dann lenkte ganz überraschend Monica ein und erklärte, dass sie Ezra zur Adoption freigeben wollte. Keiner erfuhr, warum sie sich so plötzlich dafür entschieden hatte. Sie sagte auch niemandem ihre Gründe, aber L ließ durchblicken, dass er da was gedreht hätte, um sie zu überzeugen. Und unauffällig wanderte dabei sein Blick zu Beyond, der seinerseits unheilvoll grinste, aber nichts weiter dazu sagte. Da nun Ezra von seiner Mutter zur Adoption freigegeben worden war, lief der weitere Vorgang deutlich leichter ab und so gab es seitens des Vormundschaftsgerichts keine Einwände mehr. Ezra wurde adoptiert und bekam nun den Namen „Lawliet“ als neuen Familiennamen. Als wäre das nicht schon Grund genug zum Feiern, kam selbstverständlich noch endlich die lange erwartete Hochzeit von Oliver und Andrew, wo wirklich alle eingeladen waren. Alle freuten sich und insbesondere Frederica freute sich für Andrew, dass er sein großes Glück gefunden hatte und war eigentlich diejenige gewesen, die am Altar am meisten geheult hatte. Nastasja war da nicht so nah am Wasser gebaut, aber sie feierte ordentlich mit und die ganze Familie war dabei, auch die Hospizkinder, um welche sich Andrew und Oliver in ihrer Freizeit kümmerten. Streng genommen hätte man eigentlich sagen können, dass an diesem besonderen Tag zwei Feste zusammengefeiert wurden. Sowohl Olivers und Andrews gemeinsame Hochzeit, als auch Ezras Adoption in die Familie Lawliet. Was Monica betraf, so kamen noch schwere Zeiten auf sie zu. Nachdem es ihr gelungen war, sich nach der Urteilsverkündung abzusetzen und nach Frankreich abzureisen, kam es zwischen der französischen und der amerikanischen Regierung zu einigen Diskussionen. Man einigte sich darauf, Monica nach Amerika auszuliefern, damit sie dort ihre Strafe absaß. Was ihren Mann Jean betraf, so reichte dieser direkt die Scheidung ein. Seine Begründung war recht einfach: er wolle keine Kriminelle als Frau haben, welche nur seinem Image schadete. So stand Monica am Ende ganz alleine da. Ohne Familie, ohne Mann und ohne Freunde. Und selbst das Geld würde verfließen, denn wer würde schon von einer Künstlerin eine erlogene Biografie kaufen, geschweige denn ihre Bilder, nachdem sie für so große Skandale gesorgt hatte? Im Grunde wussten alle bereits, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Monica Denaux, geborene Grimes endgültig ruiniert war. Wie es Nastasja prophezeite, war sie vernichtet worden. Und zwar erbarmungslos durch ihre eigene Schuld. Epilog: Fluchtversuch --------------------- Gepolter war im Haus zu hören, welches sich mit dem lauten und aufgeregten Gebell von Akira vermischte. Nastasja eilte die Treppen hinunter und wandte sich an Sheol. „Schnell, lauf zur Haustür und versuch ihn dort abzufangen. Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen.“ „Okay!“ Der Rothaarige, der ohnehin zu den Schnellsten in der Familie zählte, spurtete los und übersprang gleich mehrere Stufen. Nun rief die Russin Elion zu „Geh zur Terrasse, falls er versuchen sollte, durch den Garten zu flüchten. Los, schnell!“ Sofort machte sich Elion auf den Weg und inständig hoffte die Russin, dass sie noch nicht zu spät war. Dieser kleine Mistkerl hatte sich schon viel zu oft davonstehlen können, aber dieses Mal würde er nicht so leicht davonkommen. Nicht, solange sie noch das Sagen hatte. Nachdem Nastasja das Erdgeschoss erreicht hatte, sah sie sich um in der Hoffnung, den Flüchtigen irgendwo zu finden und ihn noch rechtzeitig zu erwischen, bevor er endgültig weg war. Dieses Mal würde sie nicht wieder zulassen, dass er sich einfach so aus dem Staub machte. „Also gut, wo hast du dich verkrochen?“ Gerade wollte sie sich vergewissern, dass er sich nicht vielleicht im Keller verstecken könnte, doch da hörte sie auch schon Elion rufen. Also doch, dachte sie und machte sich auf den Weg zur Terrasse. Er versucht durch den Garten zu flüchten. Aber nicht mit mir! Da musst du schon viel früher aufstehen, wenn du die berüchtigte „Eisenfaust von Tscheljabinsk“ austricksen willst. Na warte Bürschchen, jetzt gibt’s Saures. Nastasja rannte in den Garten und sah sogleich einen Schatten vorbeisausen. Doch sie reagierte geistesgegenwärtig genug und warf sich auf die Gestalt, die an ihr vorbeieilen wollte. Sie landeten beide im Gras und sogleich hörte sie die wütenden Schreie. „Verdammt noch mal, bist du bekloppt oder was? Du erdrückst mich noch!!!“ Nastasja ging von Ezra runter, der offenbar versuchen wollte, über den Zaun zu klettern, um auf diese Weise zu flüchten. Doch zum Glück hatte sie das noch im allerletzten Moment verhindern können. „Selbst schuld“, sagte sie und versuchte selbst wieder zu Atem zu kommen. „Ich hab dir ganz klar gesagt, dass du dich nicht davor drücken kannst und dass mein Entschluss feststeht. Du gehst heute zu deinem Termin und ich lasse auch nicht mit mir reden.“ „Ums Verrecken nicht“, entgegnete der 16-jährige genervt und versuchte sich irgendwie davonzustehlen, doch Nastasja hielt ihn am Kragen gepackt und seufzte genervt. Herr, dachte sie und versuchte ruhig zu bleiben. Bitte schenk mir die Kraft, diesem frechen Rotzbengel nicht gleich den Hals umzudrehen. „Ich sagte, du gehst da hin und ich lasse auch nicht mit mir reden! Schluss mit den Diskussionen.“ „Nein, ich geh da nicht hin.“ „Mensch, jetzt stell dich doch nicht so an. Später bereust du es noch.“ „Ich bereue gar nichts und mich kriegen keine zehn Pferde dorthin. Vergesst es, ich mach es nicht!“ Doch Nastasja ließ sich nicht umstimmen und sie blieb bei ihrem Entschluss. Es war ihr einfach unverständlich, wieso sich Ezra so sehr dagegen sträubte, obwohl es doch nur seinem eigenen Wohl diente. Manchmal stand sich dieser Dummkopf eben selbst im Weg. Da sie aber recht schnell merkte, dass sie auf die harte Tour nicht weiterkam, versuchte sie eine andere Strategie bei Ezra. Und sie wusste, dass sie ihn damit kriegen konnte. Also schaltete sie einen Gang runter und nahm ihre diplomatische Seite an. „Jetzt hör mal zu. Ich weiß ja, dass du vor so etwas Angst hast…“ „Ich hab keine Angst!“ rief Ezra sofort, aber sie alle wussten, dass das gelogen war. Aber so war Ezra eben. In solchen Situationen, wo er quasi in die Ecke gedrängt war, gab er niemals freiwillig so etwas wie Schwäche zu. „Ich hab einfach nur keinen Bock, dorthin zu gehen.“ „Jetzt hör mal gut zu. Deine Weisheitszähne müssen gezogen werden, auch wenn das sehr unangenehm für dich ist. Ich musste auch da durch und hab mich nicht beschwert.“ Nun, das war eigentlich gelogen, aber zum Glück wusste niemand das. Denn als Nastasja die Weisheitszähne rausoperiert worden waren, hatte sie vorher genauso lautstark protestiert und danach stundenlang gejammert. Und wenn Henry, Watari und Alice nicht genauso beharrlich gewesen wären, dann hätte sie das noch ewig vor sich hingeschoben. Aber das musste Ezra ja nicht wissen. „Wie wäre es, wenn wir einen Kompromiss machen? Wenn die Zähne draußen sind und alles gut überstanden ist, dann lass ich dich mit Elion in Begleitung nach Deutschland fliegen, damit du auf das Konzert der „Scorpions“ gehen kannst. Ist das ein Angebot?“ Und das war ein mehr als kluger Schachzug. Denn keine Band vergötterte Ezra so sehr wie die Scorpions. Und mit diesem Kompromiss war er mehr als einverstanden. Um nichts in der Welt hätte er die Gelegenheit verpasst, seine Lieblingsband ein einziges Mal Live mitzuerleben. Trotzdem fragte er „Warum müssen die denn unbedingt raus? Und überhaupt: Zahnärzte werden eh überbewertet.“ „Hey, das ist mein Spruch“, warf Sheol ein, aber niemand schenkte ihm sonderlich Beachtung in dem Moment. „Na weil deine ganzen Zähne krumm und schief werden, wenn deine Weisheitszähne nicht entfernt werden. Es ist nun mal Tatsache, dass einfach nicht genügend Platz ist und somit alles zusammengeschoben wird. Und außerdem musst du ohnehin zur Kontrolle und das mindestens ein Mal im Jahr. Wenn wir schon den Genuss einer Krankenversicherung haben, dann sollten wir sie auch nutzen. In diesem Land ist das nicht so selbstverständlich wie etwa in England oder Deutschland, wo jeder Mensch Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung hat. So und außerdem musst du noch zur Blutkontrolle, um deine Werte prüfen zu lassen. Nicht nur, dass deine Eisenwerte schon so niedrig sind, du musst auch noch geimpft werden.“ „Das kannst du dir mal schön abschminken“, rief Ezra, als er allein schon daran dachte, dass er eine Spritze bekommen könnte. Schon das sorgte bei ihm für bloße Panik. „Ich geh nicht zum Arzt und dabei bleibt es auch.“ „Nun sei doch nicht so“, sagte Elion und lächelte gutmütig. „Wenn du willst, kann ich deine Hand halten, damit es nicht so schlimm wird.“ „Hört gefälligst auf damit, mich wie ein Kind zu behandeln. Ihr seid doch wahnsinnig. Ich lass mir keine Spritze geben und mir irgendein Teufelszeug spritzen, was allerhöchstens an Affen getestet wurde und ich lass mir auch nicht in meinen Adern herumpieksen. Ums Verrecken nicht, ich geh da nicht hin, niemals!!!“ Und nun wurde es Nastasja endgültig zu blöd. Sie war ja noch geduldig gewesen, aber in dem Moment holte sie ein Magazin hervor, welches sie zuvor gelesen hatte, rollte es zusammen und gab Ezra dann einen Klaps auf den Kopf. „Hey“, protestierte der klein geratene 16-jährige und sah sie giftig an. „Was sollte der Scheiß denn jetzt?“ „Wer sich wie ein Kleinkind benimmt, wird auch wie eines behandelt, du Holzkopf! Ich verstehe dich, dass du Spritzen hasst und ich habe auch Verständnis dafür. Aber immerhin geht es um deine Gesundheit. Die Blutuntersuchungen sind ja auch dazu da um festzustellen, ob irgendetwas bei dir nicht in Ordnung ist. Ob du willst oder nicht, da musst du jetzt durch. Aber unser Angebot steht: wir begleiten dich und wenn es dir hilft, bleiben wir während der ganzen Prozedur bei dir. Trotzdem kommst du nicht drum herum. Die Weisheitszähne müssen raus, du musst regelmäßig zur Blutkontrolle und du musst geimpft werden! Du kannst dich gerne weiter so stur und bockig stellen, aber das wird dir auch nichts nützen. Denn eines steht fest: ich hab von uns beiden eindeutig den größeren Dickschädel. Gewöhn dich besser daran. Sheol musste diese Prozedur auch hinter sich bringen und er hat auch Angst vor Spritzen. Wenn du willst, kann ich dir auch die Impfung geben und die Blutuntersuchungen machen.“ „Damit du mich noch umbringst?“ Und wieder setzte es einen Klaps mit dem zusammengerollten Magazin. Es brachte alles nichts. Ezra sah so langsam ein, dass er nicht drum herum kam. Egal wie viel er auch protestieren würde, Nastasja würde bei ihrer Entscheidung bleiben. Eben weil sie den größeren Dickschädel hatte und sie als seine Adoptivmutter nun mal das Sagen hatte. Da kam er einfach nicht drum rum. „Ich mag diese verdammten Arztpraxen einfach nicht. Allein schon von diesem widerlichen Gestank der Desinfektionsmittel krieg ich Herzrasen. Und jedes Mal, wenn man mir Blut abnehmen will, kommt nichts, weil sich durch den Stress alle Venen verengen.“ Die 30-jährige nickte verständnisvoll und legte schließlich eine Hand auf Ezras Schulter. „Also gut, dann mach ich dir einen Vorschlag: Die Untersuchungen kann auch ich durchführen. Ich bin zwar keine zugelassene Ärztin, aber ich habe immerhin Medizin studiert und hab genug Ahnung davon. Und ich bin ohnehin für Fredericas, L’s und Elions medizinische Betreuung zuständig, da kann ich mir auch mal deine Werte etwas genauer angucken und sehen, was wir gegen deine chronische Anämie machen können. Aber das mit den Zähnen kann ich leider nicht machen. Da muss schon ein richtiger Zahnarzt ran. Also mein Angebot steht: wenn alles gut überstanden ist, darfst du mit Elion als Begleitperson nach Deutschland zum Konzert der Scorpions.“ Und so hatte Nastasja das Problem gelöst. Und Ezra überstand die Tortur beim Zahnarzt fast klaglos und ließ sich von seiner Adoptivmutter bereitwillig untersuchen. Als sie ihm dann aber Blut abnehmen wollte und Ezra viel zu früh die Augen wieder öffnete, da sah er den Schlauch in seinem Arm und wurde sogleich ohnmächtig. Während er so bewusstlos da lag, machte die Russin einfach weiter und gab ihm im Anschluss noch die Impfungen. Und als Ezra wieder aufwachte, war die Prozedur längst überstanden. Als er aber erfuhr, dass Nastasja einfach weitergemacht hatte, obwohl er ohnmächtig geworden war, da begann sich ein Gedanke in seinem Kopf festzusetzen: seine Adoptivmutter hatte zwar ein großes Herz, aber sie konnte auch echt gruselig sein, wenn sie wollte. „Ernsthaft, hattest du keinen Schreck gekriegt, als ich in Ohnmacht gefallen bin? Hattest du nicht mal daran gedacht gehabt, mich vielleicht aufzuwecken oder so?“ „Nö, wieso denn?“ fragte sie einfach und zuckte mit den Achseln. „Traf sich doch eh ganz gut. So hattest du die ganze Prozedur hinter dir und hast nichts gemerkt. Du wirst dich wundern, wie viele Leute schon bei der Blutabnahme ohnmächtig geworden sind.“ „Na toll. Und da hast du einfach mal so beschlossen, mich da liegen zu lassen und einfach weiterzumachen?“ „Jep.“ „Manchmal bist du echt krank…“ „Aber wenigstens hast du es schnell hinter dir gehabt.“ „Dir fällt wohl auch immer ein Argument ein.“ „Selbstverständlich.“ Und von da an stand für Ezra fest, dass seine Adoptivmutter zwar sehr liebevoll und fürsorglich war. Aber sie hatte ganz eindeutig einen Knall. Und dem konnte der Rest der Familie nicht viel entgegensetzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)