Der König von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 1: Der König -------------------- Der König Temari klappte den Roman zu, den sie las, und massierte ihre Schläfen. Es war zu dunkel im Raum, um weiterzulesen, doch sie hatte keine Lust aufzustehen und die große Deckenlampe anzuschalten. Sie schloss die Augen und schmiegte ihren Kopf noch ein wenig mehr an die Schulter, an der sie seit zwanzig Minuten lehnte. Draußen in der Öffentlichkeit wäre sie nie auf die Idee gekommen, das zu tun, aber sobald sie mit ihm alleine war, fielen ihr solche Gesten gar nicht mehr schwer. Sie mochte es, die kalten Winterabende mit einem guten Buch auf der Couch zu verbringen und sich dabei wie in einer dieser kitschigen Liebesromanzen von ihm umarmen oder über die Haare streichen zu lassen. Es war schön, wenn man den starken Schein, den sie vor anderen mimte, einfach mal vernachlässigen und normal sein konnte. Und das konnte sie bei ihm. Ohne sich dumme Sprüche anhören zu müssen oder sich anderweitig aufziehen zu lassen, weil sie sich dem Anschein nach untypisch verhielt. Temari zog die Wolldecke höher, bis sie den flauschigen Stoff an ihrem Kinn fühlte. Es war das einzige Teil in der Ausstattung, das nicht dem Vermieter der Gästewohnung gehörte. Nein, er hatte sie mitgebracht und sie roch nach ihm und das mochte sie. Weil sie sich so in diesem Dorf, das ihr trotz ihrer vielen Besuche immer noch fremd war, ein wenig heimischer fühlte. Das Läuten der Türklingel holte sie aus ihrem Dämmerzustand zurück in die Realität. „Soll ich gehen?“, fragte Shikamaru. Sie tat mit einem Seufzen die Decke beiseite, streckte sich und stand auf. „Nein“, erwiderte sie. „Ist wahrscheinlich eh für mich.“ Langsam ging sie zur Wohnungstür und warf dabei einen Blick auf die Uhr im Flur. Es war halb neun, sie war müde und irgendjemand klingelte sie aus dem verdienten Feierabend. Großartig. Sie schloss die Tür auf und öffnete sie. „Entschuldige die späte Störung“, murmelte Sakura, „aber vielleicht hast du ja eine Idee, wo Shikamaru sein könnte. Es ist nämlich dringend! Zu Hause oder bei Chouji –“ „Spar dir den Atem“, unterbrach Temari sie. „Er ist hier.“ Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. „Tatsächlich?“, fragte Sakura in einer Mischung aus Verblüffung und Erleichterung. „Ja, was für eine Überraschung“, bemerkte sie sarkastisch, drehte sich um und schlenderte zurück zum Wohnzimmer. „Für dich“, sagte sie und fläzte sich zurück auf die Couch. „Es ist Sakura.“ Sie hörte ihn seufzen und seine Schritte beim Gehen über den Holzfußboden, bis er die Wohnungstür erreichte. Die beiden wechselten ein paar Worte, das Klappern eines Schlüsselbundes erklang und jemand zog die Tür zu. Temari legte sich hin und griff ihr Buch. Sie schlug es auf, stellte das Lesen aber nach ein paar Zeilen wieder ein. Es war immer noch zu dunkel. Sie platzierte es auf ihrem Bauch, faltete ihre Hände vor der Brust und starrte auf den Lichtkegel, den die kleine Wandleuchte an die Decke warf. Es war langweilig, wenn man alleine war und sonst nichts zu tun hatte. Selbst an einem gemütlichen Dezemberabend. Spontan zog sie den kleinen Briefumschlag heraus, den sie im Roman aufbewahrte, und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. Hin und her, hin und … Sie hielt inne. Am linken oberen Rand der Vorderseite war ein fettiger Daumenabdruck. Er war entstanden, als Kankurou ihn ihr nach dem Genuss einer halben Tüte Chips vor ihrer Abreise abgeluchst hatte. Neugierig, wie ihr Bruder war, hatte er ihn aufgemacht und einen Blick hinein geworfen. Und das hatte ihm schön die Sprache verschlagen. Ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen. Das war ein Anblick für die Götter gewesen. Sie betrachtete noch einmal den Fettfleck. Sie hatte sich wirklich darüber geärgert, aber sie hatte in den letzten drei Wochen nicht daran gedacht, ihn zu ersetzen. Weil es sie an Kankurous Reaktion erinnerte. Etwas, das einsame, farblose Momente wie diesen wieder ein wenig bunter machte. Temari tat den Umschlag zurück ins Buch und warf es auf den Tisch. Seit eineinhalb Wochen lag es schon so sichtbar hier herum und trotzdem war Shikamaru nicht einmal auf die Idee gekommen hineinzusehen. Eine Eigenschaft, die für ihn sprach, auch wenn es ihr in diesem Fall lieber gewesen wäre, wenn es nicht so wäre. Sie drehte sich auf die Seite, schloss die Augen und gähnte. Sie war müde, aber die Aussicht alleine einzuschlafen übte keinen Reiz auf sie aus. Wenn er in einer Stunde noch nicht zurück war, ging sie eben ohne ihn zu Bett, doch sie glaubte nicht, dass er allzu lange wegblieb, ohne ihr Bescheid zu geben. Das hatte er noch nie und damit fing er heute sicher nicht an. Ihre Gedanken schweiften hierhin und dorthin – zu den bevorstehenden Feiertagen; zur kommenden Chuunin-Prüfung im Januar; zum Inhalt des Umschlages – und sie bemerkte nicht, wie sie in einen Dämmerzustand fiel. Ein Licht schimmerte rötlich durch ihre Lider hindurch. Es erinnerte sie an Feuer. Ein knisterndes Lagerfeuer, das Feuerreich mit seinem Willen des Feuers, den sie so überbewertet fand und für den sie als Außenstehende nicht viel übrig hatte … Die Tür fiel ins Schloss und sie schreckte mit klopfendem Herzen auf. „Hab ich dich geweckt?“, fragte Shikamaru. Sie schüttelte den Kopf und da ihr sein nachdenklicher Gesichtsausdruck nicht gefiel, setzte sie nach: „Was wollte sie denn?“ Als sich seine Miene nicht änderte, zog sie die Augenbrauen hoch. „Später“, murmelte er. Dann setzte er sich zu ihr, zog sie an sich und küsste sie. --- Er machte sich von ihr los und legte sich zu ihr. Temari angelte nach der Bettdecke, die auf dem Boden lag, und deckte sich zu. Sie war zufrieden, ja – noch mehr, als sie es beim Herumgammeln auf der Couch gewesen war –, aber seine Aktion irritierte sie. „Was sollte das?“, fragte sie ohne jeglichen Vorwurf in der Stimme. „Ehrlich, wir müssen wirklich darüber reden, wenn dich das Gespräch mit Sakura so –“ „Ich muss weg“, unterbrach er sie. Ein Gefühl der Ernüchterung kam in ihr auf. „Eine Mission?“, fragte sie. „Ja.“ Durch die Fernbeziehung, die sie führten, sahen sie sich schon nur vier Monate im Jahr und dass er in dieser Zeit auch noch auf eine Mission geschickt wurde, gefiel ihr nicht. „Wann musst du los?“ „Ich muss in einer halben Stunde am Haupttor sein.“ Schon in einer halben Stunde … Sie hatte gehofft, dass er wenigstens bis morgen früh bleiben konnte – sie hatte ihm schließlich noch etwas zu sagen, aber … „Und wie lange bleibst du weg?“ Sie fühlte, dass er mit den Schultern zuckte. „Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt lebendig zurückkommen werde“, sagte Shikamaru tonlos. „Wieso denkst du das?“ „Weil ich es offensichtlich nicht mit durchschnittlichen Chuunin zu tun haben werde.“ Temari schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich weiß nur, dass es ein paar Tote gab, darunter Anbu und Jounin“, erwiderte er. „Und kampftechnisch kann ich nun mal wirklich nicht viel.“ Sie seufzte, dann rückte sie noch etwas näher an ihn heran, bis sie seine Haut an ihrer Wange spürte. „Warum gehst du dann überhaupt, wenn es so aussichtslos ist?“ Innerlich musste sie lachen. Sie kannte seine Antwort schon, bevor er nur ein Wort gesprochen hatte. „Irgendjemand muss es tun“, sagte er. „Außerdem möchte ich das beschützen, was mein Lehrer hinterlassen hat. Ich hab es ihm schließlich versprochen.“ Der Wille des Feuers. Natürlich. Im Zweifelsfall drehte sich für ihn alles um diese Mentalität. Es schmeckte ihr nicht, dass dieser Punkt immer an der ersten Stelle bei ihm stehen und sie auf ewig die zweite Geige spielen würde. Sie dachte, dass sie sich damit arrangiert hatte, aber so ganz war es eben doch nicht so. Nicht, wenn sie an den Inhalt des Umschlags dachte, der mit ein Grund dafür war, warum sie sich ihm anpasste. „Und was ist mit mir?“, flüsterte sie in die Stille hinein. „Ich mache das nicht nur für Kurenais Tochter, sondern auch für alle anderen Kinder und Bewohner. Das schließt dich mit ein.“ Das war ein schwacher Trost. Nein, es war gar kein Trost. „Was mache ich, falls du nicht wiederkommst?“, fragte sie weiter. Er nahm ihre Hand und drückte sie. „Das Risiko besteht bei jeder Mission. Bei der einen mehr, bei der anderen weniger.“ „Du weißt genau, wie du mich aufheitern kannst“, bemerkte sie sarkastisch. Sie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und fuhr fort: „Ich habe meine Versetzung beantragt und ehrlich, was soll ich hier, wenn du nicht mehr bist?“ „Dann machst du sie eben wieder rückgängig. Es zwingt dich sicher niemand, hierzubleiben.“ „Na, vielen Dank!“, zischte sie und wand sich aus seinem Griff. „Wenn das alles ist, was du dazu zu sagen hast, kannst du auch gleich verschwinden und es dir sparen, die letzten Minuten mit mir zu verbringen.“ „Genau das möchte ich aber“, gab er mit ruhiger Stimme zurück. „Was ich nicht möchte, ist mich mit dir zu streiten.“ Er tastete sich wieder zu ihr vor und verkreuzte nach einem kurzen Protest von ihr seine Finger mit ihren. „Das möchte ich doch auch nicht“, sagte sie. „Es ist nur nicht schön, wenn man weiß, dass man im besten Fall immer nur an der zweiten Stelle stehen wird.“ „Es gibt keine zweite Stelle“, erwiderte er und drückte ihr einen Kuss auf. „Nur ein einziges Ganzes, von dem du ein Teil bist – ein ziemlich großer Teil sogar.“ Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. So hatte sie es noch nie betrachtet und sie zweifelte nicht daran, dass es der Wahrheit entsprach. --- Shikamaru streifte sich seine Weste über und zog die Wohnungstür auf. „Sieh bloß zu, dass du heil wiederkommst“, sagte Temari. „Wenn nicht, bekommst du es nach meinem Ableben mit mir zu tun und du hast im Jenseits keine ruhige Minute mehr.“ „Ich werd dran denken“, entgegnete er und schmunzelte. Er küsste sie und wandte sich dann um. Sie biss sich auf die Unterlippe. Das war die letzte Möglichkeit, um – „Moment noch“, warf sie ein und er hielt inne. „Hm?“ Sie betrachtete sein Profil im Halbdunkel des Flures. Ja, sie war versucht, es ihm zu sagen, doch irgendwie … Sie wollte es nicht zwischen Tür und Angel tun. Dies war nicht der passende Augenblick. „Ach, ist nicht so wichtig“, sagte sie und winkte ab. „Ich sag’s dir, wenn du wieder hier bist. Vielleicht ist das ja ein kleiner Ansporn für dich, nicht den Löffel abzugeben.“ „Sicher“, erwiderte er belustigt. Er drückte noch einmal ihre Hand, dann trat er durch die Tür und ging. Sie blieb im Rahmen stehen und sah ihm noch nach, als er schon lange aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Sie dachte an den Briefumschlag und lächelte. Das, was sich darin befand, war tatsächlich ein Ansporn und es wert, dafür am Leben zu bleiben. Es war schließlich das, worum es beim Willen des Feuers ging: Der König. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)