Broken Bonds von Shinosuke ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Daniel saß halb aufrecht in dem unbequemen Bett und hatte die Beine angewinkelt. An seinem Oberschenkel lehnte sein Gameboy, eingeklemmt zwischen zwei Falten in der steifen, kratzigen Decke und Daniel drückte lustlos mit der linken Hand darauf rum. Sein rechter Arm lag in einer Schlinge und der Arzt sagte, er müsse ihn ruhig halten und das fiel dem Westsider nicht schwer. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Ruhe gehabt wie hier drin… Was ihn allerdings sorgte, war die Tatsache, dass er –obwohl er schon ein paar Tage hier war- immer noch kein richtiges Gefühl in den Fingern hatte. Der Arzt hatte es ihm erklärt, aber er hatte das Gefühl, dass die Worte nicht ganz zu ihm durchgedrungen waren. Yamato war gestern zu Besuch gekommen und hatte alles noch einmal analysiert, aber wirklich besser klang das auch aus seinem Mund nicht. Die beste Nachricht, die er bisher gehört hatte, war Andys Ausstieg. Wenigstens etwas, worüber er sich freuen konnte, aber ob er das auch genießen konnte? Yamato hatte ihn gefragt, wann er wieder zurückkäme und tatsächlich hatte Daniel keine Antwort darauf. Nunja, im Normalfall hätte er gesagt: „Sobald ich hier raus bin.“, aber jetzt? Im Augenblick war er sich nicht sicher, ob er überhaupt wieder zurückkehren sollte. Er kannte die Drohungen und Mikes Launen, immerhin waren sie seit dem Kindergarten befreundet, aber niemals hätte er gedacht, dass Mike wirklich auf ihn schießen würde. Niemals. Es klopfte, aber Daniel sah nicht auf. Wenn er den Bildschirm jetzt aus dem Blick ließ, hatte er die letzte Stunde umsonst gespielt. „Ja?“, fragte er daher nur. Er hörte wen auch immer eintreten und langsam näher kommen, doch er sah erst auf, als der Bildschirm schwarz wurde. „Shit…“, fluchte er und drehte sich seufzend seinem Besuch zu, woraufhin er plötzlich ernst wurde. „Mike.“, stellte er fest. „Hi.“, erwiederte Mike den Gruß und hob kurz die Hand. „Was machst du denn hier?“, fragte Daniel unsicher und setzte sich etwas gerader hin. Mittlerweile wusste er sich zu bewegen, ohne dass es noch mehr wehtat. Er wollte jetzt vor Mike keine Schwäche zeigen, auch wenn er wusste, wie albern das war. „Blöde Frage.“, murmelte Mike und zog den Stuhl heran, der an Daniels Bett stand. Mit einem erschöpften Seufzen ließ der Gangleader sich seinen Hintern fallen, ehe er Daniel wieder ansah. Für einen Moment fragte er sich, warum er so verändert aussah und es dauerte einen Moment, bis ihm auffiel, was denn so anders war. „Wo is’n deine Mütze?“, fragte er und Daniel sah ihn einen Augenblick lang verwirrt an. „Ähm… Keine Ahnung, die liegt wohl noch im Hauptquartier.“, sagte er verunsichert. Ernsthaft? Das war das erste, was Mike ansprach? „Oh. Ich bring se dir nächstes Mal vorbei.“, sagte Mike geschäftig und in Daniels Kopf begann die Analyse. Mike wusste, wie viel ihm die Cappie bedeutete und auch, warum er sie eigentlich nie ablegte und er war dankbar, dass Mike sie ihm bringen wollte. Außerdem hieß das, dass Mike scheinbar bereit war, ihm zu verzeihen und ihn noch ein weiteres Mal besuchen wollte. So weit, so gut. „Danke.“, sagte Daniel schließlich und nickte kurz. Für einen sehr gedehnten Moment trat Stille zwischen ihnen ein, die Mike dann endlich durchbrach. „Ich bin ein Idiot.“, gab er zu und Daniel schluckte. Sollte er ihm zustimmen? Ihm war sehr danach, aber er nahm diese Situation nicht genug auf die leichte Schulter, um Mike jetzt zu ärgern, also schwieg er. Vielleicht erklärte Mike es ihm von sich aus, bevor er nachfragen musste. „Ich hätt‘ nich‘ auf Andy hören dürf‘n. Der hat mich von Anfang an nur verarscht, ich hab‘ dat bloß nich‘ gemerkt.“ Wieder nickte Daniel. Er kannte die Geschichte, wie Andy schließlich aufgeflogen war und obwohl Mike ihn hierher geschickt hatte, so hatte er sich dennoch gewünscht, dabei gewesen zu sein. Er war dafür da, auf Mike aufzupassen. War er schon immer und er hätte es sein sollen, der Andy auffliegen ließ. Nicht Nicolas Z. Er hätte Mike beschützen müssen, aber vielleicht war es so besser gewesen? Mike verdankte ihm eine Menge, was er sicher nie wahrgenommen hatte und was er sicher längst vergessen hatte, aber das wäre präsent gewesen. Ob er ihn dann einfach so hätte gehen lassen? „Ja, ich weiß. Yamato hat mir alles erzählt.“, riss er sich selbst aus seinen Gedanken. Mike sah ziemlich gebeutelt aus und Daniel konnte sich zumindest ansatzweise zusammenreimen, woher das kam. Dafür hatten Yamato und auch Marianne am Handy ganz gut gesorgt. Mike war auf Entzug, seit Andy ausgetreten war und das setzte ihm natürlich zu. Zumindest dafür musste er Johanna wohl dankbar sein. Die beiden hatten ihm außerdem versichert, dass Mike sich nicht mehr an das … Gespräch erinnerte. Dass er ihnen zuerst nicht geglaubt hatte, wen er da niedergeschossen hatte und dass er das furchtbar bedauerte. Dass er sich kaum getraut hatte, hierher zu fahren, dass ihn wahnsinnige Schuldgefühle plagten und dass es ihm unheimlich Leid tat, aber so albern und pubertär das auch war… Daniel wollte das aus erster Hand hören. Mike hatte sich nach vorne gebeugt und stützte seine Unterarme auf seinen Oberschenkeln ab, während er den Kopf hängen ließ und Daniel sah, wie Mike sich unbehaglich an einem Fingernagel herumpulte. Er schwieg, während Mike nach den richtigen Worten suchte. Ja, der Gangleader der Westside war nicht für seine Eloquenz bekannt, aber Daniel rechnete es ihm schon hoch an, dass er es versuchte. Dass er sich vorher überlegte, was er sagen wollte und nicht einfach drauflos redete. Das hieß, dass ihm das hier wichtig war und das wiederum freute Daniel wirklich, obwohl er nicht wirklich wusste, ob es das sollte. „Ich bin echt nich‘ gut in sowas…“, seufzte Mike nach einer Weile. Daniel ließ das unkommentiert und löste seinen Blick von Mike, der nun wieder aufsah. „Sach du doch auch mal wat!“, verlangte Mike da überfordert und nun war es an Daniel, den Blick zu senken. „Was denn?“, fragte er ruhig und schluckte. Ihm schossen tausend Gedanken durch den Kopf, aber keinen davon wollte oder konnte er jetzt aussprechen. „Keine Ahnung! Irgendwat halt.“, drängte Mike und Daniel atmete durch. Er zwang sich, Mike wieder anzusehen, ehe er den Mund aufmachte. „Dann hab‘ ich eine Frage.“, sagte er und Mike blickte ihm wartend entgegen, obwohl selbst Mike sich mittlerweile sicher denken konnte, was das für eine Frage war. Daniel stellte sie trotzdem. „Wie konntest du abdrücken? Mike, du bist mein bester Freund. Wir haben so viel hinter uns, wie konntest du da auf mich schießen?“, fragte er schließlich. Er konnte sich nicht erinnern, Mike jemals etwas so persönliches gefragt zu haben, aber es gab ja für alles ein erstes Mal, nicht wahr? Mike suchte scheinbar selbst nach einer Antwort und Daniel war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Wollte er den Grund hören, wenn es einen gab? Einen, der nicht Andy oder Drogen hieß? Wollte er sich sagen lassen, dass Mike ihm doch nicht verzeihen konnte? Dass er ihn nun auch nicht mehr in seiner Gang haben wollte? Nein, das wollte er mit Sicherheit nicht hören, aber die Frage war gestellt und er würde sie nun nicht mehr zurücknehmen.  Wenn Mike sich nur nicht so viel Zeit mit seiner Antwort nehmen würde! Gerade als Daniel erneut nachfragen wollte, räusperte Mike sich. „Ich hab‘ keine Ahnung.“, sagte er schließlich. „Ich kann mich an nix erinnern und ich… Ich könnte dat nich‘ nochmal.“, schloss er. „Ich hab‘ dat auch niemandem geglaubt…“ Daniel nickte und wandte den Blick wieder ab, obwohl Mike ihm nun fest in die Augen sah. Er wog Mikes Blick und seine Worte genauestens gegen dieses Gefühl ab, das sich für immer in seine Seele gebrannt hatte. Als er den Schuss hörte, Mikes Finger am Abzug sah, als er realisierte, dass Mike ihn tatsächlich getroffen hatte… Irgendetwas in ihm war in diesem Moment zerbrochen und Daniel wusste nicht genau, ob er das ignorieren konnte. Bisher hatte er Mike ohne zu zögern aus jeder Situation fischen wollen, ihn immer verteidigen wollen und jetzt? Würde er jetzt jedes Mal Mikes hasserfülltes Gesicht vor sich sehen und sich daran erinnern, dass Mike nicht nur der sein könnte, für den er sich eine Kugel einfing, sondern auch der, der sie abschoss? Dass Mike nicht bereit war, das selbe für ihn zu tun? „Komms‘ du wieder in Ordnung?“, unterbrach Mike ihn und Daniel sah ihn mit einem gewissen Maß Überraschung an. Ein bisschen so, als hätte er vergessen, dass Mike ja noch da saß. „Hm?“, fragte Daniel –gänzlich aus dem Konzept gebracht. Als hätte Mike gewusst, worüber er gerade nachdachte. „Naja, die Wunde.“, erklärte Mike. „Dat wird wieder, oder?“ Er nickte zu dem Arm, der in der Schlinge um Daniels Hals lag und überflüssigerweise folgte Daniel seinem Blick. Als ob er nicht wüsste, wo die Kugel ihn getroffen hätte… „Denke schon. Ist noch nicht alles ganz klar.“, sagte er knapp und Mike nickte verstehend. Daniel merkte, dass ihm noch irgendetwas auf den Nägeln brannte und wieder kam Mike ihm zuvor, als er gerade fragen wollte. „Hab‘ ich… Ähm, also hab‘ ich das Tattoo…?“ Scheinbar brachte Mike es selbst kaum über die Lippen, dass er geschossen hatte. Daniel überraschte sich selbst, als er kurz schmunzeln musste. „Nein, das ist noch intakt. Hast es wohl um zwei Zentimeter verfehlt.“, sagte er ruhig. Irgendwie brachte das Ordnung in sein Gedankenchaos. Sollte er das so annehmen? Dass er noch immer ein rechtmäßiges Mitglied der Westside war? Dass die Kugel das Tattoo knapp verfehlt hatte, als sie ihn durchschlagen hatte? „Puh…“, machte Mike erleichtert und ob es nun die Antwort oder Daniels Schmunzeln oder die Kombination aus beidem war, aber Mike musste grinsen. „Dann kannste ja ohne Probleme wiederkommen, wenn du hier raus bis‘.“, verkündete er und Daniel quittierte das mit einem skeptischen Blick. „Ansonsten nicht?“ Mike hob schnell abwehrend die Hände. „Nee, so war dat nich‘ gemeint! Du… Ich hoffe, du komms‘ bald wieder.“, gab er zu und Daniel sah ihn einen Moment lang an und ließ sich von Erinnerungen überrollen. Er wusste wieder, warum er Mike damals in die Westside gefolgt war. Warum er zu Mike gehalten hatte, nachdem der sich an die Spitze der Westside gemordet hatte. Warum er ihm zu Nicos und Julians Duell gefolgt war. Warum er auch bei Mike geblieben war, als er Nicolas Z entführt hatte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er hatte es sich bisher immer nur gedacht und dieses Mal sagte er es. „Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen.“  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)