Kaleidoskop von Puppenspieler (FF fürs Sommer-Wichteln) ================================================================================ Kapitel 1: Kaleidoskop ---------------------- Ⅰ   Sphintus‘ erster Eindruck stellte sich selten als falsch heraus. Er hatte eine gute Menschenkenntnis, er wusste, mit wem er sich wie gut stellen musste, und er wusste, dass Menschen, die er am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft immer noch nicht leiden konnte, definitiv niemals seine Freunde werden würden. Aladdin hatte er am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft zwar auch nicht gerade vergöttert, aber er hatte ihm gegenüber zumindest eine gewisse Sympathie verspürt – von Titus konnte er das nicht behaupten. Entsprechend fand er es überhaupt nicht toll, dass dieser Kerl sich nun einfach dazwischendrängte, das erste Mal, dass sie hinaus in die Stadt durften. Das war doch wohl unverschämt! Sphintus verstand nicht, wieso Aladdin das tatsächlich zuließ, und er trug eine ziemlich säuerliche Miene zur Schau, wann immer er gerade nicht von den Wundern der magischen Schaffenskunst gefangen war, um seine fehlende Begeisterung auch gebührend zu illustrieren.   Außerdem war Titus seltsam. Sphintus mochte Reim nie besucht haben, und er mochte wenig Ahnung davon haben, wie es dort aussah, aber Titus sollte solche langweiligen Belanglosigkeiten wie Katzen oder Babys doch wohl kennen, oder? Allein dieses Verhalten war Grund genug, Titus einfach nur seltsam zu finden. Aladdin war ja manchmal schon entrückt, aber der Kerl toppte einfach alles mit seiner Weltfremdheit. Peinlich. Von der Alexius-Familie hatte Sphintus mehr erwartet. Über den dritten kleinen Laden, der sie wie Könige behandelte, nur weil sie Magier waren, vergaß Sphintus seinen Ärger auf Titus sogar – zugegeben, er vergaß Titus einfach als Ganzes, denn wo der Kerl so viel Freude an nutzlosem Tinnef und langweiligen Belanglosigkeiten hatte, war er im Vergleich wohltuend still, sobald es um solche interessanten Dinge wie Wohlstand und Reichtum ging, um teure Stoffe und seltene Edelsteine.   „Was ist das?“   Sphintus sah verdutzt von den sorgfältig geschnitzten Figuren aus Malachit auf, vor denen er gestanden hatte, um einen Blick an seine Seite zu werfen. Titus stand neben ihm – die Erkenntnis ließ Sphintus das Gesicht verziehen –, ein Röhrchen in der Hand, an dessen einem Ende ein Muster aus bunten Kristallen oder Glas oder was auch immer es war zu sehen war. Die andere Seite hatte lediglich ein Guckloch. Sphintus hob die Augenbrauen, sah Titus einen Moment ungläubig an.   „Ein Kaleidoskop“, erklärte er kopfschüttelnd, „Nutzloser Plunder. Es ist für nichts gut. Du schaust halt auf der einen Seite rein, und wenn du es dann drehst-“ – „Woooooooooooooow! Das ist ja wunderschön! Sphintus, Sphintus sieh mal!“   Und schon hatte er das Kaleidoskop quasi in der Nase hängen, hinter dem bronzefarbenen Metall sah er Titus‘ blaue Augen funkeln wie die Edelsteine, die dem Kaleidoskop erst seine hypnotische Schönheit verliehen. Mit einem angewiderten Schnauben schob er das Kaleidoskop wieder aus seiner Sichtweite, murmelte abwesend „Danke, ich weiß, wie das Zeug aussieht“ und wendete sich wieder seinen Malachitfiguren zu. Eine kleine Schlange hatte sein Interesse geweckt, sorgfältig gearbeitet und schön anzusehen, mit einem kleinen, roten Rubinauge. Ein kurzer Blick zu Titus verriet, dass der längst wieder mit seinem neuen Schatz beschäftigt war. Na, besonders traurig war er ja nicht, dass Sphintus seine Begeisterung nicht teilte. Neben ihm zischte es leise, als er die Edelsteinschlange auflesen wollte. „Keine Sorge, du bist schöner, Kumpel.“ Kukulcan auf seiner Schulter schien damit zufrieden zu sein, ließ den Schlangenkopf einfach wieder sinken. Sphintus seufzte, wandte sich von den Auslagen ab und sah sich suchend um. Aladdin war irgendwo, schon seit sie den verwinkelten Laden betreten hatten, hatte Sphintus ihn nicht mehr im Blick. Titus war ganz in der Nähe, immer noch an dem Kaleidoskop, doch als hätte er den flüchtigen Blick gespürt, mit dem Sphintus ihn streifte, sah er groß auf, ein kindliches Glühen der Begeisterung in seinem Blick.   „Ich frage mich, was für eine mächtige Magie in diesem Artefakt steckt!“, rief er begeistert aus, strahlte Sphintus voller Begeisterung an. Sphintus blähte die Nasenflügel, alles andere als angetan, und sah den Jungen nur wieder mit mehr als skeptischem Blick an. „Das ist keine Magie“, erklärte er, und ein bisschen sonnte er sich darin, dass er mehr wusste als dieses Wunderkind von einem Magier, „Es ist einfache Lichtbrechung. Ist ein ganz natürliches Phänomen.“ Und, weil er es wusste, fügte er unter Titus‘ ungläubig-ehrfürchtigem Blick noch hinzu: „Sie kommen ursprünglich aus Artemyra, und werden auch vor allem dort hergestellt. Artemyras Frauen sind sehr begabt in den schönen Künsten und ein echtes Kaleidoskop aus Artemyra ist um einiges eindrucksvoller als dieser Plunder hier.“ – „Irgendwann möchte ich eines haben!“, verkündete Titus, immer noch mit dem Strahlen eines begeisterten Kindes, doch bis dahin schien ihm sein eigenes Kaleidoskop mehr als genug zu sein, denn schon wieder bedachte er es mit einem liebevollen Blick. Sphintus konnte nur den Kopf schütteln über so viel Dummheit. Was war es mit Titus und Aladdin, dass sie beide so dermaßen kindlich und weltfremd sein mussten? Zog Sphintus solche Menschen an? Mussten seine einzigen engeren Kontakte hier in Magnostadt denn wirklich diese beiden kleinen Kinder sein? War er ein Babysitter, verdammt?!     Am Ende kaufte Sphintus nichts – er musste auf seine Finanzen achten. Seine Mutter würde ihn umbringen, wenn er es nicht tat! – und auch Aladdin blieb ohne Mitbringsel, auch wenn er erzählte, er wolle seinen Freunden etwas mitbringen. „Ich weiß nur nicht, was ihnen gefallen würde“, klagte er, als sie den Laden verließen; Titus hatte das Kaleidoskop gekauft und war nun immer noch damit beschäftigt. „Irgendwas?“, schlug Sphintus wenig hilfreich vor, zuckte mit den Schultern. Konnte doch nicht so schwer sein. Aladdin sah ihn zweifelnd an, schüttelte den Kopf. „Mor mag keinen Schmuck, und Alibaba hat schon Ohrringe, die er bestimmt nicht austauschen will, deshalb… Ich weiß einfach nicht. Ich möchte ihnen doch etwas schenken, das auch von Nutzen für sie sein kann, und kein hübsches Kleinod, das am Ende nur in einer Schublade verstaubt.“ Sphintus brummte, versuchte mitfühlend dabei zu klingen, doch in Gedanken war er längst wieder ganz woanders. Besonders spannend waren Aladdins Geschichten von seinen Freunden nicht unbedingt. Und Sphintus fühlte sich ausgeschlossen. Konnte nicht mitreden. Er mochte es nicht, nicht mitreden zu können. Deswegen mochte er es auch nicht, dass Titus bei ihnen war – Aladdin und Titus hatten irgendwelche Geheimnisse vor ihm. Es war unfair! Sphintus war zuerst da gewesen! Mit einem lautlosen Schnauben wandte er sich zu Titus um, traktierte den Jungen mit den bösesten Blicken, die er aufzubringen vermochte. Schien den Blonden nicht zu stören; entweder, er sah in sein Kaleidoskop, oder folgte der Bewegung eines vorbeihuschenden Tieres, dem Schreien eines Babys, oder dem Lachen von einer Gruppe Kinder, die laufend an ihnen vorbeizogen. Sphintus verstand wirklich nicht, was so toll daran sein sollte. So war das Leben eben. War nichts Besonderes, jeder lebte es, nicht wahr?   Und trotzdem blieb Titus alle paar Schritte stehen, um irgendetwas unwichtiges zu bewundern, und als er schließlich Sphintus‘ missgelaunte Blicke sah, trübte sich sein Lächeln für einen Moment, wich allen Ernstes nicht Verärgerung sondern Besorgnis, dann bückte er sich und las einen winzigen Marienkäfer vom Boden auf, den er Sphintus mit einem warmen Strahlen entgegenreckte. „Ist das nicht wunderschön? Er schaut genauso grimmig wie du!“ Natürlich schaute der Marienkäfer gar nicht, aber ein paar ziemlich speziell geformter, weißer Flecken auf dem schwarzen Teil gaben ihm wirklich den Eindruck von dauerhafter Missgelauntheit. Sphintus schüttelte den Kopf, musste gegen seinen Willen lachen.   „Du bist ein Idiot.“     xXx     Ⅱ   Der Krankentrakt der Akademie war trist, deprimierend, und gab viel zu viel Zeit, um nachzudenken. Sphintus mochte ein Mann von großen Gedanken sein, doch er mochte es nicht, mit seinen Gedanken allein zu sein. Seit Titus‘ Anfall, dass er unbedingt zurück in den fünften Distrikt wollte, seit Rektor Mogametts Zusage, nach der Ideologiereform freien Zutritt dorthin zu haben, dröhnte die Stille im Raum viel zu sehr. Das Personal hatte sich für die Nacht zurückgezogen, und außer fahlem Mondlicht, das durch die großen Fenstern hereinfiel, war es dunkel im Raum. Das Bett neben ihm war ebenfalls still, nur ein leises, rhythmisches Atmen zu hören.   Sphintus hasste es, wenn ihm niemand zuhörte. Er hasste es, Zeit zu haben, über das nachzudenken, was sie gesehen hatten. Über die Goi, ihre Behandlung, über die Magier. Über Aladdin und Titus, und über seine eigene Meinung zu diesem gigantischen Konstrukt an Geschehnissen, die einfach nicht in seine Weltsicht passten.   „Hey. Bist du wach?“   Neben ihm regte sich etwas. Er erkannte, dass Titus sich umgedreht hatte, so dass er nun auf der Seite lag, Sphintus zugewandt. In dem diesigen Dunkel des Raumes war es unmöglich, den Ausdruck auf dem Gesicht des Anderen zu sehen, doch der durchdringende Blick kribbelte Sphintus trotzdem unangenehm im Nacken. „…es tut mir Leid.“ – „Eh?“ Sphintus runzelte die Stirn, setzte sich auf. Er griff instinktiv nach seiner Pfeife, doch natürlich hatte er sie nicht – die Heilmagier hatten sie naserümpfend konfisziert. Als wüsste Sphintus nicht, was er sich leisten konnte, ohne seinem Körper Schaden zuzufügen! Er würde selbst einmal ein großartiger Heiler werden, verdammt! Frustriert von dem Fehlen der Pfeife fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, wirr vom Draufliegen, verschränkte die Arme dann vor der Brust. „Wenn du mir damit sagen willst, dass es dir Leid tut, dass du beinahe dafür gesorgt hättest, dass wir von der Schule fliegen, dann, äh, na ja, ist okay. Wir sind ja nicht geflogen. Aber mach sowas bloß nicht nochmal! Ihr seid doch beide irre, du und Aladdin!“ Und irre war da noch nett gesagt. Sphintus begriff nicht, was mit diesen beiden los war. Aber er hatte beschlossen, er würde nicht nachfragen. Er würde, und das war das eigentlich wirklich Dumme an der ganzen Sache, sie unterstützen. Sie brauchten es offensichtlich. Diese Hohlköpfe würden ohne ihn nirgendwohin kommen! Titus‘ Bettdecke raschelte, als er sich ebenfalls aufsetzte, die Beine vom Bett schwang. Seine Konturen in der Dunkelheit wirkten zerbrechlich. Sphintus konnte verstehen, dass Aladdin hatte glauben können, einem Mädchen gegenüberzustehen.   „Ich habe gesagt, du seist nutzlos. Als Marga zusammengebrochen ist. Das… das war gemein. Danke für deine Hilfe nachher.“   Sphintus war einen Moment ernsthaft verdutzt, er spürte eine unangenehme Wärme in seine Wangen kriechen. Im Schutz der Dunkelheit schnaubte er nur, wedelte in einer Bewegung ab, die viel lässiger war, als er sich fühlte. „Ich hab’s dir ja gesagt. Wenn wir fliegen, geb ich dir und deiner Familie ewig die Schuld daran, dass mein bequemes Leben nicht funktioniert hat!“ Er nickte bekräftigend, ließ sich dann wieder in seine Kissen fallen. „Und ich schlafe nun!“   Titus war einfach seltsam. Als hätte er sonst keine Probleme! So eine Belanglosigkeit hing Sphintus doch nicht nach. Und er freute sich sicher nicht über den Dank von diesem Trottel. Dass er am Ende trotzdem leise „Nichts zu danken“ ins Kissen murmelte, eindeutig bevor Titus eingeschlafen war, lag nur daran, dass die Höflichkeit das eben verlangte. Und als Sohn einer – wenn auch verarmten – Adelsfamilie war er natürlich verdammt gut erzogen!     xXx     Ⅲ   Nachdem er einmal so leichtsinnig gewesen war, diesen Dummköpfen seine Kochkünste zu zeigen, war es eine Art Ritual geworden, dass Sphintus mindestens alle zwei Abende Essen aufzutischen hatte. Er hatte ja sonst nichts zu tun, natürlich. Allerdings, wer wäre Sphintus, so ein bisschen Anerkennung zu verschmähen? Seien das nun Margas leuchtende Kinderaugen – er konnte immer noch nicht glauben, dass sie so einfach bei Titus leben durfte! – oder auch Aladdins wortreiche Begeisterungsstürme. Inzwischen war sogar Titus, der verdammte Snob, soweit, dass er einräumte, dass Sphintus‘ Essen nicht nur nicht schlecht war, sondern verdammt gut. Wurde aber auch Zeit.   Auch an diesem Abend stand Sphintus in der Küche. Aladdin und Marga spielten irgendein Kinderspiel, das Aladdin bei einer Frau namens Baba gelernt hatte, wie er mit einem wehmütig-liebevollen Lächeln erzählt hatte, und Titus, der noch Hausaufgaben für eine Lektion am nächsten Tag machen musste, saß auf einem Hocker an einer Ecke der großen Arbeitsplatte, die Nase halb in den Schriften vergraben und den Blick halb auf Sphintus‘ Arbeiten gerichtet.   „Ich frage mich… wieso kochst du immer das Gleiche, Sphintus?“   Sphintus sah von den Hühnerbrüsten auf, die er gerade in großzügig mundgerechte Stücke zerteilte, wischte sich die Finger an seiner Schürze ab, ehe er Titus skeptisch musterte, die Augenbrauen missgelaunt erhoben und die Arme defensiv verschränkt. „Was soll das für ne Frage sein? Stört’s dich auf einmal, Prinzesschen? Bisher war dir mein Essen auch gut genug!“ Er konnte doch nichts dafür, dass seine Mutter ihre geheimen Familienrezepte eben fast alle nicht weitergeben wollte! Auch das hier hatte er sich mühsam selbst erarbeiten müssen, also bitte. Titus hob nur abwehrend die Hände, lachte leise, doch im nächsten Moment schlug das sanfte Gebaren um und in den Augen des Jungen funkelte Übermut. „Kannst du etwa nichts anderes?“ – „Hmpf. Sei froh, dass ich euch überhaupt Einblick in meine genialen Kochkünste gewähre! Ihr seid eben mehr gar nicht wert, tja.“ Titus‘ Blick sagte ganz genau, dass er ihm nicht glaubte, diese Mischung aus Amüsement und ertappendem Mitleid, doch er nickte nur, verdrehte die Augen. „Natürlich, oh großer Sphintus.“   Dieser elende kleine Wicht! Sphintus hatte ihn irgendwie lieber gemocht, als er noch nicht freiwillig in seiner Nähe gewesen war. Na ja, gut, nicht wirklich. Eigentlich war es ja lustig mit Titus. Und, das musste Sphintus seinen verkorksten Freunden ja lassen, mit ihnen wurde es einfach nie auch nur ansatzweise langweilig. Es passierte immer was. Nicht einmal die großen Knalls wie die Entdeckung des fünften Distrikts, oder Margas Umzug und das damit einhergegangene Chaos, sondern selbst solche Banalitäten wie der alltägliche Tagesablauf wurde mit Aladdin und Titus zum Abenteuer. Sphintus hatte noch nie zwei Menschen kennengelernt, die eine so klare Vorstellung von richtig und falsch hatten – und die sie so lautstark und deutlich vertraten. Aladdin hatte ihn doch allen Ernstes tagelang mit Schmollen bedacht, weil er Rektor Mogametts Einstellung den Magiern gegenüber nicht falsch fand. Ein gutes Essen hatte Aladdin dann aber doch wieder besänftigt, und auch wenn Sphintus immer noch nicht zu hundert Prozent auf der Seite der beiden Jungs stand, so verstand er durchaus, was in Titus und Aladdin vor sich ging. Sie waren eben anders aufgewachsen als er, der am Ende immer noch nur die Wahl hatte zwischen einem Leben in Armut und Verbannung oder als hoheitlichem Attentäter und Giftmischer.   Seufzend kehrte er zu seiner Arbeit zurück, Titus‘ Anwesenheit längst wieder ausgeblendet, ihren kleinen neckenden Streit genauso. Immerhin würde er gern heute noch essen, und wenn man sich selbst darum kümmern musste, dass etwas auf den Tisch kam, war das gar nicht so einfach! „Hey, Sphintus?“   Es waren keine zehn Minuten Ruhe gewesen, glaubte Sphintus. Ein Blick in seinen Kochtopf zeigte ihm aber, dass weit mehr Zeit vergangen sein musste, bis Titus ihn wieder ansprach. Trotzdem war er nicht begeistert, seufzte, sah den Blondschopf stirnrunzelnd an. „Was?“ Titus lachte leise. „Du hast Kräuter an der Nasenspitze“, erklärte er mit einem kichernden Unterton, der an das melodische Plätschern eines kleinen Bachs im Frühling erinnerte. Während Sphintus noch verärgert das Grünzeug abwischte, verblasste das Lächeln auf seinem Gesicht zu einem melancholischen Zupfen im Mundwinkel.   „Weißt du? Ich mag es, dass du immer dasselbe kochst“, erklärte er, zupfte an einer Ecke der Schriftrolle, die er gerade studierte, „Du musst mir das Rezept geben. Wenn ich es irgendwann nach der Schule noch einmal esse, muss ich immer an dich und Aladdin denken.“   Sphintus schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust. Ein seltsames Gefühl zwischen Ärger und Verlegenheit nistete sich in seiner Magengrube ein. „Vergiss es. Familiengeheimnis! Wart’s nur ab, bis meine Ausbildung beendet ist, dann schleich ich mich in deiner Familie ein!“ Warum genau, das wusste Sphintus nicht einmal. Aber es war eine schöne, eindrucksvolle Drohung, die er gern benutzte, seit sie ihm das erste Mal eingefallen war. Titus sah ihn einen kurzen Augenblick mit einem Blick an, den er absolut nicht ergründen konnte, dann sah er wieder hinunter auf seine Papiere.   Sphintus konnte die Augen unter dem Vorhang aus seidigem blonden Haar nicht erkennen, doch Titus‘ Lippen umspielte ein Lächeln, das auf diese ganz besondere Art an seinem linken Mundwinkel zupfte, die Sphintus immer direkt auf den Magen schlug.     xXx     Ⅳ   Heliohapt hatte seine Fehler, zahlreiche davon. Doch Sphintus hatte nie erlebt, was Krieg eigentlich bedeutete. Er hatte in Schriften davon gelesen, Kunde aus fernen Ländern gehört, doch seine Heimat war oberflächlich friedlich gewesen – Konflikte schwelten im Verborgenen, ausgetragen mittels dunkler Drohungen und süßer Gifte, unheilbarer Krankheiten, die so plötzlich verschwanden, wie sie auftauchten.   Aber das hier war neu.   Die verletzten Menschen, blutüberströmt, leidend. Die Schmerzensschreie derer, die hereingebracht wurden. Die Verzweiflung. Die Angst. Dieser Drang, zu flüchten, fortzulaufen, nie wieder kehrt zu machen, und im gleichen Atemzug aber vorzutreten, sich der fremden Macht entgegenzustellen, und zu beschützen, was lieb und teuer geworden war. Es war fast ein Gruppenzwang. Sie alle waren da draußen. Sie alle riskierten ihr Leben. Und Sphintus…   Aladdin war längst an der Front, war losgezogen, um zu helfen – Titus nicht im Stich zu lassen. Sphintus wollte auch helfen. Sphintus half, wo er kann. Heilmagie war seine Spezialität. Einfache Schmerzstiller, Schlafzauber, sie waren nicht kraftaufwändig, aber sie linderten das Leid der Verletzten, erleichterten die Arbeit der Hohemagier. Er musste nicht an die Front. Er konnte von hier aus helfen. Er würde eh nicht helfen können. Was sollte er ausrichten? Wie könnte er Titus helfen? Und Aladdin? Die beiden waren nicht nur stark, die beiden waren verdammt nochmal übermächtig! Sphintus war einfach nur ein Magier, der ein ruhiges Leben wollte!   „Wir brauchen Freiwillige!“   Myers‘ Stimme klang durchschlagend wie ein Donnerschlag, obwohl es in der Krankenhalle vor Geschäftigkeit nur so dröhnte. In ihrem Schatten folgten einige Schüler, die Sphintus teilweise vom Sehen her kannte, teilweise aus dem Unterricht, teilweise waren es fremde Gesichter. In ihren Augen spiegelte sich die gleiche Mischung aus Angst und Entschlossenheit, die all die Magier getragen hatten, die an die Front geschritten waren. Er schluckte, seine Kehle plötzlich viel zu eng, und sein Magen krampfte schmerzhaft. Ein ältlicher Magier, der gebeugt auf seinen Stab gestützt ging, trat einen wackligen Schritt vor. „Wir können niemanden entbehren, Professor Myers. Wir brauchen die Heiler.“ Das Gesicht der Frau verschloss sich, Ärger blitzte hinter der Brille hervor, Verzweiflung. Sphintus ballte die Hände zu Fäusten. Genau. Sie wurden hier gebraucht. Für die Verletzten. Er konnte hier mehr erreichen als an der Front. Er konnte helfen. Er konnte–  „Du musst mir das Rezept geben. Wenn ich es irgendwann nach der Schule noch einmal esse, muss ich immer an dich und Aladdin denken.“   „Ich komme mit.“ Myers warf ihm einen Blick zu, als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob er auch nur eine Sekunde auf dem Schlachtfeld überleben würde, und beinahe wäre es Grund genug gewesen für Sphintus, alles zurück zu nehmen, doch im nächsten Moment nickte sie und der Gedanke erstarb. Sphintus griff fester um seinen Magierstab, trat mit entschlossenen Schritten zu der Gruppe an Freiwilligen. Wartet noch kurz, Titus, Aladdin. Ich bin gleich da. Gewinnt den Krieg nicht ohne mich, ich will auch ein paar Lorbeeren ernten!     xXx     Ⅴ   Es dauerte nicht lange, bis Sphintus den Überblick verlor – und seine Freunde aus den Augen. Ein kurzer Waffenstillstand bot Raum, um durchzuatmen, doch es war ein drückendes, beunruhigendes Gefühl, so ganz ohne zu wissen, was genau mit ihnen geschehen würde. Sphintus war unruhig, hatte Mühe, auszuruhen, doch im Kampf hatte er viel seiner Kräfte verbraucht, weitgehend damit, verletzte Magier zu stabilisieren, und so langsam war er einfach nur noch müde. Wirklich Ruhe fand er dennoch nicht, während er in einer Ecke im großen Speisesaal saß, die Beine angezogen und eine Tasse heißer Suppe in den Händen. Obwohl der Raum bis zum Bersten gefüllt war, war es beinahe totenstill. Niemand wagte zu reden, wagte Ängste oder Hoffnungen auszusprechen, die die Luft schwer werden ließen mit ihrer stummen Last.   Müde hob er den Blick von den Dampfschwaden, die von seiner Suppe aufstiegen, fokussierte ihn auf die Gruppen von Magiern, die im ganzen Raum verteilt saßen, teilweise an den dafür vorhergesehenen Tischen, teilweise an der Wand entlang angelehnt, in kleinen Gruppen in den Ecken des Raumes zusammengerottet, sich stumm Beistand leistend. Von Aladdin und Titus keine Spur. Sphintus wusste, wo sie waren, wusste, dass sie wohl nicht in Gefahr sein dürften, doch das machte es kaum besser, hier allein zu sitzen, zurückgelassen – nutzlos. Er hätte mehr tun müssen. Hätte da sein müssen. Nun hing das Schicksal der Welt an Dingen, die er nicht verstand, von einer Größenordnung, die für ihn unerreichbar war, und alles, was er tun konnte, war, still hier zu sitzen, mit der drückenden Stille, schwer wie ein Leichentuch, geschlagen.     Als der Lärm draußen wieder losging, wünschte Sphintus sich die dröhnende Stille der viel zu kurzen Nacht von ganzem Herzen zurück.   In der grellen Kakophonie aus Explosionen und magischen Angriffen eines Ausmaßes, das Sphintus gar nicht zu begreifen vermochte, verlor er in rasender Geschwindigkeit jedwedes Zeit- und Raumgefühl. Aladdin war irgendwo, an der Front bestimmt, Titus war ganz woanders, doch zweifelsohne auch mitten im Getümmel, und Sphintus wusste nicht, wohin mit sich. Was tun. Den Verletzten helfen, natürlich! Mehr und mehr eskalierte die Situation, und mit jeder Minute glaubte Sphintus weniger daran, dass dieser Krieg jemals ein Ende finden würde. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung lagen greifbar in der Luft, reife Früchte am Baum der Erkenntnis, längst bereit, gepflückt zu werden – sie waren verloren, sie konnten nichts tun. Noch nie hatte Sphintus sich so machtlos gefühlt. Nur der Gedanke daran, dass Titus und Aladdin stur dieser Übermacht trotzten, hielt ihn auf den Beinen.   Und ganz jäh kam ihm die Erkenntnis, dass wenn Aladdin kämpfte, und Titus kämpfte, niemand mehr da war, der die kleine Marga beschützen konnte.   Niemand außer Sphintus.   Durch die Gänge der Akademie, durch Trümmer und an verzweifelten, leeren Gesichtern vorbei irrte Sphintus umher, auf der Suche nach dem kleinen Mädchen, nach einem Lebenszeichen dieses Görs, das warum auch immer Titus so wichtig geworden war. Jeder Schritt hallte hohl auf dem harten Steinboden wider, jedes atemlose Keuchen dröhnte laut in Sphintus‘ Ohren, sein Blut ein geräuschvolles Rauschen, sein Herz schmerzhaft schnell schlagend. Weiter. Irgendwohin. Wo bist du? Sie war bewusstlos, klein und zusammengekauert am Boden eines kargen Gewölbes, und unweit von ihr lag… ein Skelett. Sphintus hielt inne, sein Atem still, angehalten, ohne dass es ihm bewusst war, sein Herzschlag plötzlich kaum noch existent, und für einen Moment schien die ganze Welt einzufrieren, völlig zentriert auf die kümmerliche, kleine Gestalt, die nur noch aus Knochen bestand.   „…Titus?“   Tränen stiegen Sphintus in die Augen, er presste die Lippen fest zusammen, und irgendwo in seinem Hinterkopf erschien das Bild eines kleinen, grimmigen Marienkäfers und Titus lachendes Gesicht mit den blitzenden Saphiraugen.   „…Du bist ein Idiot.“     xXx     Ⅵ   Der Krieg war schlimm. Die Schlacht. Die Verzweiflung, die Angst, die Hoffnung, die Schmerzen und die Schreie, die Qual und die Tränen. Die Stille beim Waffenstillstand, so angespannt von tausenden unausgesprochenen Sorgen und Gedanken.   Die Stille hinterher, die war schlimmer.   Es war nicht einmal still – doch die dröhnende Lautstärke, die Intensität des Krieges war verschwunden, war abgeebbt, und zurück blieb ein dumpfes, hohles Gefühl von Erschöpfung und Hilflosigkeit, Machtlosigkeit im Angesicht der Zerstörung, der Verletzten und der Toten. All das Leid war plötzlich präsent wie nie. Sphintus fühlte sich wie ein in einem bösen Albtraum. Sein Kopf dröhnte, fühlte sich gleichzeitig viel zu voll und viel zu leer an, sein Herz schmerzte, seine Augen tränten, und gleichzeitig wusste er nicht einmal mehr so recht, worum er eigentlich weinte. Er wollte schreien, heulen, klagen, und fand nicht einmal die Stimme, um Aladdin zu begrüßen. Nur eine müde Geste, eine kurze Berührung, dann fiel sein Blick erneut auf das zierliche Mädchen, das ein anderer Magier gerade trug, und mit einem Mal war wie ein Fausthieb der Schmerz zurück.   Was besprochen wurde, hörte Sphintus nicht, Worte drangen wie durch eine dicke Schicht Watte gedämpft kaum bis zu ihm durch, die Welt war schlierig und unscharf unter seinem Tränenschleier. Es war ein seltsames Gefühl, schließlich hier am Boden zu sitzen, mit Aladdin, Marga zwischen ihnen wie ein Bindeglied, immer noch keine Worte im Mund zu haben, keinen klaren Gedanken im Kopf. Der seltsame Drang, zu schreien und zu heulen, war zu einem dumpfen Pochen verkommen, die Tränen, die in seinen Augen brannten und seine Wangen feucht benetzten langsam nur noch eine klamme Erinnerung. Die Welt wirkte entsetzlich klein gerade, als bestünde sie nur aus ihm und Aladdin und Marga – und ihren Erinnerungen an Titus. Er war froh, dass das Mädchen bewusstlos war. Allein der Gedanke, ihr irgendwann erklären zu müssen, dass ihr Titus nicht mehr da war, schnürte ihm die Kehle zu. Er wüsste nicht, wie er es erklären sollte. Wie sie das Mädchen wieder trösten sollten. Wie es überhaupt weitergehen sollte.   Der Drang, aufzusehen, kam plötzlich und ohne jede Erklärung, doch erfasste er nicht nur Sphintus, sondern auch Aladdin. Wie auf ein geheimes Signal hin, das sie selbst nicht kannten, hoben sie die Köpfe. Sphintus erblickte eine schmale, kleine Gestalt nicht weit von ihnen, doch es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich klar genug fokussiert hatten, um zu erkennen, was da vor ihm stand. Der dumpfe Schmerz in seiner Brust wich einer irrsinnigen Hoffnung, die anschwoll, als wolle sie seinen Torso zum Bersten bringen.   Titus.   Das war unmöglich.   Er musste tot sein. Er war tot! Sphintus hatte seine verdammten Knochen in den Händen gehalten! Aber hier stand er. Eindeutig, ohne Zweifel, das gleiche, lang vertraute und geliebte dümmliche Gesicht. Die Frisur war neu, das lächerlich-lange Haar eindeutig nicht schon immer da gewesen, aber das war eindeutig Titus. Mit einem Satz waren sie auf den Beinen, mit zwei großen Schritten beieinander, Marga lachte fröhlich – wann war sie erwacht? – und Titus lachte, und Aladdin lachte, und Sphintus lachte, auch wenn es eher nach verunglücktem, schluchzendem Hicksen klang.   Und plötzlich bemerkte Sphintus, dass die Sonne schien.     Es war das erste Mal, dass ihm der Gedanke kam, dass er Titus wirklich in seine Heimat folgen würde.     xXx     Ⅶ   Reim war kühl, verglichen mit Heliohapt, obwohl das Klima insgesamt noch angenehm warm war. Remano war riesig, die Architektur war fremd und spannend, und alles war anders – Und Titus war da. Titus, der immer noch nicht über einen Haarschnitt nachdenken wollte, Titus, der gesund und munter war, und wahrscheinlich älter werden würde als Sphintus‘ gesamte Familie zusammengerechnet.   „Es ist schade. Ich hätte deine Heimat gern einmal gesehen.“   Sie standen auf einem Balkon, sahen hinunter auf einen großen, sauber gepflegten Garten, der in voller Blüte stand. Titus hatte sich verändert. Er war ruhiger geworden, insgesamt, hatte eine seltsame, mystische Reife erlangt, ein Weltverständnis, das Sphintus völlig fremd war – manchmal erinnerten ihn die altklugen Blicke an Aladdin, die weisen Worte, die aus dem jungen Mund gesprochen völlig fehl am Platze wirkten. Im nächsten Moment sah Titus einen Schmetterling vorbeiflattern und plötzlich war er wieder ein kleines Kind, das sich über Katzen und Kaleidoskope und grimmige Marienkäfer freute, und Sphintus wurde warm, wenn er sich wieder daran erinnerte, wieso er diesen dämlichen kleinen Idioten eigentlich überhaupt mögen gelernt hatte.   „Sei lieber froh. Du hättest eh nur einen Sonnenbrand bekommen“, erwiderte er neckend, grinste Titus ungeniert an. Der schob die Lippen kurz zu einem Schmollmund zusammen, lachte dann aber nur heiter, den Blick wieder hinaus auf den Garten gerichtet. „Immerhin bist du noch da. Es wäre langweilig geworden ohne dich und Aladdin.“   Sphintus brummte vage, für einen Moment fühlte er eine seltsame, nicht erklärbare Abneigung gegen Aladdin, der da so einfach auf einer Stufe mit ihm stand. Aber Aladdin war nicht hier. Aladdin war irgendwo, ging seinem eigenen Leben nach, einem Leben, das er mit diesem seltsamen Jungen Alibaba teilte, das ihn überall und nirgendwohin führte, aber am Ende auf einen Weg, der den ihren nur kreuzen würde und doch immer ein anderer blieb. Er schüttelte den Kopf, zog an seiner Pfeife und stieß genüsslich den Rauch aus. Die grauen Schlieren verloren sich bald in der klaren Nachmittagsluft. „Ich hab doch gesagt, ich werde mich bei dir und deiner Familie einschleichen. Es hat sogar schneller geklappt als gedacht!“   Um einiges hässlicher zwar auch, aber die Details waren am Ende doch nicht wichtig, nicht wahr? Sphintus hatte seine Drohung wahr gemacht, auf die ein oder andere Art, und er konnte nicht behaupten, dass er es bereute. Dieser Dummkopf Titus wäre ohne ihn doch sowieso aufgeschmissen! Und so musste Sphintus immerhin seine geheimen Geheimrezepte nicht rausrücken. Titus neben ihm warf ihm einen amüsierten Blick zu, eine Augenbraue fast spöttisch erhoben, und um seinen linken Mundwinkel zuckte wieder dieses Lächeln. „Interessante Interpretation des Umstands, dass ich dich eingeladen habe, herzukommen“, spottete er, und, längst wissend, worin solcher Spott enden würde, wirbelte er lachend herum und lief durch die Balkontür zurück ins Gebäude und den langen, schattigen Korridor entlang. Sphintus schnaubte. „Warte nur, bis ich dich erwische, du elendes Gör!“, rief er ihm lachend hinterher, ehe er sich selbst in Bewegung setzte. Ihr Gelächter hallte von den steinernen Wänden wider, die kühlen Schatten des Innenraums angenehm nach der warmen Sonne auf dem Balkon.   Sphintus blieb es trotzdem zu warm mit der Erinnerung an Titus schiefes Lächeln, das ihm mit jedem Mal nur noch schlimmer auf den Magen schlug. So langsam kam er immerhin zu der Erkenntnis, dass er schlicht verliebt war, und wohl kaum eine plötzliche Allergie gegen dümmliches Grinsen als Grund vorschieben konnte.     xXx     Ⅷ   Es war einmal, dass Sphintus Reim verließ. Eine Reise, zurück in die Heimat, zur Hochzeit eines zurückgebliebenen Verwandten, die er als ausgewählter Vertreter seiner Familie besuchen sollte. Als Magier, der die Fähigkeit der Gravitationsmagie längst weit genug gemeistert hatte, um mühelos fliegen zu können, war es keine endlos lange Reise bis zurück nach Heliohapt. Es waren die Festlichkeiten, die sich über viele Tage erstreckten mitsamt ihrer Vorbereitungen, die ihn dort festhielten und dafür sorgten, dass er am Ende viel länger unterwegs war, als er es geplant hätte. Und es war der Umstand, dass er auf dem Rückweg einen Umweg über Artemyra machte.   Titus‘ altes Kaleidoskop war in den Trümmern des Krieges verloren gegangen, und obwohl er danach einmal ausgedrückt hatte, dass er gern ein neues gehabt hätte, hatte sich die Anschaffung eben diesen einfach nie ergeben. Es war nicht schwer, ein passendes Kaleidoskop zu finden. Es war ein schlichtes, helles Metallröhrchen von der Farbe von Weißgold, ähnlich wie Titus‘ Haar im Sonnenlicht. Die Muster, die das kleine Zierwerk malte, waren dominiert von klaren, starken Blautönen, die Sphintus an das Leuchten von Titus‘ Augen erinnerten. Weiß und das glühende Gold von hellem Bernstein vollendeten die Farbenpracht, zusammen mit ein paar wenigen Schlieren giftigen Gelbgrüns.     Sphintus war am Ende lange genug unterwegs, dass er bei seiner Rückkehr nach Reim bemerkte, dass Titus gewachsen war. Nicht viel, aber doch, und sein Gesicht hatte ein wenig des kindlichen Babyspecks verloren, die runden, weichen und kindlichen Züge mehr von den vornehmen Zügen eines jungen Erwachsenen bekommen.   „Du alterst“, stellte Sphintus mehr als verdutzt fest. Titus legte den Kopf schief, goss mit der Bewegung eine weite Kaskade blonder Locken auf den Boden zu seiner linken und runzelte einen Augenblick die Stirn. „Aber natürlich. Das ist doch normal.“ Sphintus schüttelte den Kopf, halb hilflos, halb genervt.   „Vergiss es.“ Das Thema war ohnehin nicht angenehm. Lieber, um davon abzulenken, holte er die kleine Schachtel mit seinem Reisemitbringsel aus der Tasche, die er noch bei sich trug. Titus hatte ihn gleich überfallen, noch bevor er sich wieder richtig hätte einrichten können. Mit einem Grinsen, das mitnichten irgendwie verlegen war, sondern absolut nur vor Selbstbewusstsein strotzte, reichte er sie an Titus weiter, der einen langen Moment neugierig auf das Mitbringsel in seiner Hand hinuntersah. „Für mich?“ – „Natürlich. Mach schon auf, verdammt!“ Es wurmte Sphintus, dass er selbst ungeduldiger war, herauszufinden, wie Titus auf sein Geschenk reagieren würde, als Titus ungeduldig war, herauszufinden, was in der Schachtel war. Mit viel zu viel Ruhe und Sorgfalt löste er das breite, samtene Geschenkband um die Schachtel, ließ es in einem sorgfältigen kleinen Häufchen auf einen Tisch ganz in seiner Nähe sinken, und viel zu behutsam öffnete er die schmale Schachtel, um schließlich mit großen Augen das Kaleidoskop hervorzuholen, das auf dunkelrotem Samt gebettet war. „Das…“   Einen Moment war Titus sprachlos, dann hob er das Röhrchen vor sein Gesicht, kniff ein Auge zusammen und linste mit dem Anderen durch das Guckloch. Einige Sekunden – die längsten Sekunden in Sphintus‘ Leben! – war es still, dann lachte Titus sein fröhliches, melodisches Lachen. „Oh Sphintus, das ist wunderbar!“, rief er überwältigt aus, zwei große, glühende Augen sahen ihn einen Moment an, dann hatte er plötzlich Titus im Arm hängen, und überall waren diese verdammten Haare, und Sphintus hatte absolut keine Ahnung, wo er überhaupt hin fassen konnte, ohne welche rauszureißen! Hilflos und ungelenk legte er die Arme um Titus schmalen Körper, während der Junge ihn immer noch mit perlendem Gelächter und heiteren Danksagungen überhäufte, und langsam machte sich ein Lächeln auf Sphintus‘ Zügen breit, das er verbarg, indem er seine Nase in Titus‘ dichten Schopf drückte.     Noch Stunden später hatte Titus das Kaleidoskop keine Sekunde aus der Hand gelegt. Selbst als sie am Abend irgendwann gemeinsam auf einer breiten, mit weichen Kissen bestückten Bank auf dem Balkon saßen, den Blick hinauf zum strahlenden Vollmond gerichtet, lag das Stück noch auf Titus‘ Schoß, seine langen, feingliedrigen Finger drehten das schlanke Röhrchen immer wieder, befingerten, befühlten es, als fürchte er, es würde verschwinden, wenn er nur einen Augenblick davon abließ. Es war warm, der Duft der Sommerblumen hing noch in der lauen Luft.   „Ich hab ganz vergessen, es zu sagen, vorhin“, begann Titus irgendwann unvermittelt, sah Sphintus strahlend an, „Willkommen zuhause!“   Sphintus grinste, verlegen, aber glücklich. „Es ist gut, wieder zuhause zu sein. Auch wenn du dich wirklich verändert hast! Damit hab ich nicht gerechnet!“ – „Du bist auch gewachsen“, gab Titus zurück, und einen Augenblick schwang fast so etwas wie ein leiser Vorwurf in seiner Stimme mit. Sein Blick war unsicher, als er zu Sphintus flackerte, „Wieso soll ich also ewig klein bleiben?“ „Weil du es kannst“, war die einzige Antwort, die Sphintus einfiel, „Ich meine… du bist ein Magi. Wie alt ist Scheherazade geworden? Zweihundertfünfzig? Wenn du so weitermachst, dann…“ Sphintus hielt inne, hob hilflos die Hände. Titus an seiner Seite seufzte leise, den Blick hatte er unter langen Wimpern hinunter auf das Kaleidoskop gerichtet. Doch er hob ihn, ehe er schließlich zu sprechen anhob, sah Sphintus direkt, entschlossen an.   „…dann werde ich altern und sterben wie ein ganz normaler Mensch. Und das will ich, Sphintus. Ich bin ein Mensch! Ich möchte leben wie ein Mensch. Und sterben wie ein Mensch. Mein Reich werde ich in kompetenten Händen hinterlassen. Es ist gut, wie es ist. Lady Scheherazade war ein wunderbarer Mensch, und ein wunderbarer Wegweiser für das Volk von Reim, doch… immer den gleichen Kopf an der Spitze haben, immer die gleichen Ideen und Ideale, bei allem Fortschritt, es führt zu Stagnation auf anderer Ebene. Man wird nie aus alten Mustern ausbrechen können, wenn man immer den gleichen Personen folgt. Ich möchte das nicht. Es ist gut, wenn Reims Herrscherriege sich verändert. Die Menschen werden davon profitieren, es wird ihnen helfen. Es ist besser für Lady Scheherazades und meinen Wunsch, ein Reich zu erbauen, in dem die Menschen eigenständig leben können, ohne die helfende Hand eines Magi oder Hohemagiers.“   Er lächelte behutsam, und eine warme, kleine Hand legte sich auf Sphintus‘ eigene. Verwirrt sah er hinunter, sah auf den Kontrast von milchig heller Haut und sonnengebräuntem Braun, der selbst im Mondlicht mehr als deutlich auffiel.   „Außerdem wäre es langweilig, wenn du alleine alt wirst.“   Sphintus schluckte, sein Mund fühlte sich plötzlich furchtbar trocken an. Das ist… war das…?   Das ist so gut wie eine Liebeserklärung, beschloss er, als er seine zweite Hand auf Titus‘ helle Finger legte und seine Lippen zu einem ersten Kuss auf die des Jungen presste.     xXx     Ⅸ   Jahre und Jahre später war die Welt ein anderer Ort, waren die Menschen, die die Straßen von Remano beschritten, ganz andere. Das alte Mütterchen, das gerade mit flinken Schritten über die gepflasterten Wege schritt, einen großen Strauß mit Blumen auf den Armen, ein paar kleine, lachende Kinder an ihrer Seite, erinnerte kaum noch an das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. Die Kinder an ihrer Seite zupften an ihren Röcken, versteckten sich hinter ihr, erfüllten die Luft mit ihrem Gelächter und ihren fröhlichen Rufen nach ihrer Oma Marga.   Ihr Ziel war ein Mausoleum, das am Ende des Palastgartens errichtet worden war, ein kleines, beschauliches Grabmal verglichen mit den üppigen Grabstätten der Könige ringsum. Im Inneren waren zwei Sarkophage, die das Antlitz zwei erwachsener Männer trugen, der eine hochgewachsen und fremdländischer Herkunft, der andere von zarter Gestalt und mit verblüffender Ähnlichkeit zu Lady Scheherazade, deren Legende immer noch weiterlebte. In den Händen der fremdländischen Steinfigur lag ein Magierstab, dessen Spitze wie der Kopf einer Schlange geformt war. Der andere Mann hielt ein Kaleidoskop in den schlanken Fingern.   Die alte Frau lächelte liebevoll, als sie die Blumen in zwei Sträuße teilte, und sie wie jeden Tag gegen die nicht mehr ganz so frischen austauschte, die am Boden zu Füßen der Männer lagen.   „Bis morgen, Sphintus, Titus. Wir sehen uns bestimmt bald wieder.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)