Last Desire 6.5 von Sky- (Just another Desire) ================================================================================ Kapitel 9: Liams Geständnis --------------------------- Jeremiel hatte sich in eines der Zimmer zurückgezogen und sich in eine Ecke gekauert. Er saß da wie ein kleines verängstigtes Kind, das sich verstecken wollte. Tränen kamen ihm und sein ganzer Körper bebte. Das alles wurde einfach zu viel für ihn und er wusste einfach nicht, was er tun sollte und fühlte sich vollkommen verloren. Wer oder was war er denn überhaupt? Wieso hatte man ihn nicht einfach sterben lassen und warum nur konnte er sich an nichts erinnern? Sein Leben kam ihm wie eine einzige Lüge vor. Wie sollte er damit leben, was er getan hatte? Was sollte er tun und überhaupt: wo sollte er hingehen? Vielleicht war es das Beste, wenn er einfach aus dieser Welt verschwand. Denn damit würde wenigstens ein brutaler Serienkiller sterben. Was berechtigte ihn überhaupt dazu, mit diesen unverzeihlichen Verbrechen weiterzuleben, die da auf seiner Schulter lasteten? Und vor allem: durfte er überhaupt existieren, wenn er doch nur eine Schöpfung Evas war? Jeremiel befand sich in einer furchtbaren Identitätskrise und konnte nicht sagen, wer oder was er war. Er war so durcheinander und aufgewühlt, dass er gar nicht merkte, wie die Tür geöffnet wurde und Liam schließlich vor ihm stand. Wieder sah er ihn mit diesem seltsamen Blick an, der Jeremiel einfach nicht losließ. Schließlich sagte er „steh auf“ und der 25-jährige folgt seiner Anweisung nach einigem Zögern. Immer noch flossen Tränen und er zitterte am ganzen Körper. „Was willst du von mir?“ fragte er, hatte aber Mühe, dass seine Stimme nicht allzu heftig zitterte. Doch Liam sagte nichts, sondern legte seine Hände an die Schläfen des Aufgewühlten und dann berührte er seine Stirn mit der seinen. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr Jeremiels Kopf, dann versank die Welt um ihn herum in völlige Dunkelheit. Als er wieder aufwachte, fand er sich an einen Ort wieder, der vollkommen leer war. Es gab hier nichts, weder Finsternis noch Licht, geschweige denn Wärme und Kälte. Er verstand nicht, wo er war und vor allem, was mit ihm passiert war. Dieser Ort kam ihm so fremd vor. Es gab nichts als die unendliche Leere und er fühlte sich überhaupt nicht wohl hier. Hier gab es nicht einmal Geräusche und es war ziemlich beklemmend hier. Irgendwie musste er hier doch rauskommen. Also ging er los und suchte nach irgendetwas, was ihm vielleicht helfen konnte zu verstehen, was hier passierte und wie er von hier wegkommen konnte. „Hallo?“ rief er und lief weiter. „Ist hier jemand? Hey!“ Keine Antwort, es gab nicht einmal ein Echo. Stattdessen hatte er das Gefühl, als würde etwas Unsichtbares den ganzen Schall schlucken. Nicht einmal seine Schritte waren zu hören. Er rannte nun, aber es gab hier rein gar nichts außer der Leere und dem Nichts. Angst überkam ihn und er wollte einfach nur weg hier, da berührte ihn plötzlich jemand an seiner Schulter. Er blieb stehen und er sah, dass es Liam war. „Wie gefällt dir dieser Ort?“ fragte er und sah ihn mit seinen blutroten Augen an, ohne dass erkennbare Emotionen darin zu sehen waren. Jeremiel hingegen war völlig durcheinander und fragte „Wo sind wir hier und was ist mit mir passiert?“ „Ich habe eine Verbindung geschaffen, damit du es selbst sehen kannst. Das hier ist die Welt von Sam Leens. All das, was er in seinem Herzen trug, bevor er starb.“ Wie bitte? Das war seine Welt? Aber das konnte doch nicht möglich sein. Niemandem würde so etwas hier gefallen. „Hier ist gar nichts“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Nichts… nicht einmal hell oder dunkel oder schwarz oder weiß… Keine Farben und kein Leben…“ „Natürlich. Weil Sam Leens auch nichts empfunden hat. Er war die Leere und deshalb gab es auch in seinem Herzen rein gar nichts, was sich hier in seiner Welt hätte widerspiegeln können. Nicht einmal Erinnerungen.“ Jeremiel konnte nicht fassen, dass das hier wirklich das Herz eines Menschen widerspiegelte… sein eigenes Herz. Wie konnte man nur so einen Zustand überhaupt ertragen? Er verstand das einfach nicht. „Ich kann es nicht glauben, dass das hier wirklich zu mir gehört.“ „Das tut es auch nicht. Die Tatsache, dass du nicht verstehen kannst, wie man so nur leben kann, ist genau das, was dich von Sam Leens unterscheidet und dich anders macht als er. Er hat mit dieser Welt gelebt, er war ein Teil von ihr und war nichts Weiteres als eine leere lebende Hülle. Ihm war nichts und niemand wichtig. Er hat nicht gelebt, sondern nur funktioniert. Du lebst und du empfindest Gefühle. Du fühlst Schmerz und Traurigkeit und deshalb bist du nicht er. Und nun werde ich dir meine Welt zeigen.“ Damit wich die Leere und es wurde mit einem Male finster. Ein tiefer Nachthimmel mit schwach leuchtenden Sternen und einem blassgelben Vollmond erschien und um sie herum bildeten sich ebenso schwarze und finstere Gebäude. Es war die Kulisse einer riesigen Stadt inmitten einer tiefen Nacht. „In mir hingegen lebt die Finsternis. Ich lebe in der Dunkelheit und sie lebt in mir. Lange Zeit gab es nichts außer der Dunkelheit, deshalb wurde ich von allen gemieden und gefürchtet.“ Sie gingen die Straßen entlang und Jeremiel sah die unzähligen finsteren Gassen. Wahrscheinlich hätte jeder Mensch Angst bekommen, wenn er hier gewesen wäre. Vor allem, weil sich überall zwielichtige Gestalten herumtrieben. Aber seltsamerweise nicht Jeremiel. Nun gut, er war noch ziemlich durcheinander und diese entsetzliche Leere in der Welt von Sam Leens verfolgte ihn immer noch wie ein schlimmer Alptraum. Doch diese finstere Welt war nicht so schlimm. Irgendwie hatte er das Gefühl, als wäre sie ihm vertraut. Nach einer Weile erreichten sie eine Art Kathedrale inmitten der Stadt. Sie wirkte vollkommen deplatziert und Liam ging direkt darauf zu. Als er das Tor erreichte, öffnete er es und ging hindurch und was Jeremiel dahinter fand, war gleißendes Licht. Eine seltsame Wärme erfüllte ihn und mit einem Mal vergaß er auch all den Schmerz und die Verzweiflung, die er bis dahin gefühlt hatte. Was war das nur für ein Licht? Seltsamerweise blendete es ihn gar nicht… „Einst gab Eva mir einen Teil ihres Lichts und sie nahm einen Teil meiner Finsternis in sich auf. Somit waren wir imstande im Gleichgewicht zu bleiben. Dieses Licht hier ist das Einzige, was auch wirklich gut an mir ist. Alles andere ist nur tiefe Finsternis. Das ist meine Welt.“ Jeremiel sah sich um und bemerkte, dass im ganz anders wurde. Er fühlte sich so… so leicht und ihm war, als würde mit einem Male all der Schmerz von ihm genommen werden. „Sam Leens wäre nicht in der Lage, den emotionalen Unterschied von Licht und Finsternis zu erkennen. Das Licht wäre ihm genauso fremd und gleichgültig gewesen. Deshalb bist du auch nicht er.“ „Ja aber was bin ich dann? Im Grunde bin ich doch nur eine Schöpfung Evas und mein Körper ist noch nicht mal menschlich. Ich bin kein Mensch, kein Unvergänglicher, ich bin nichts und gehöre nirgendwo dazu!“ „Jetzt hör mir mal gut zu“, sagte Liam und sein Griff um Jeremiels Schulter verstärkte sich. Sein Blick nahm etwas Düsteres an und es sah zunächst danach aus, als wäre er verärgert. „Es sind nicht unsere Fähigkeiten oder die Umstände unserer Geburt, die uns zu dem machen, was wir wirklich sind. Es sind unsere Entscheidungen. Ich habe mich damals entschieden, nach den Regeln der Menschen zu spielen und unter ihnen zu leben, weil ich weder ein Gott, noch ein parasitäres Wesen sein wollte, das nach Lust und Laune mit dem Leben anderer spielen kann. Die Menschen sind ein interessantes Völkchen und auch wenn ich nicht immer die besten Absichten habe, so wäre es sehr bedauerlich, wenn es sie eines Tages nicht mehr gäbe. Aber… du bist anders. Du bist für mich wichtig und ich wollte dich an mich binden, dich sogar zwingen, bei mir zu bleiben. Für mich warst du nie ein Laborexperiment oder ein Mörder wie Sam Leens. Für mich bist du auch nicht bloß ein Mensch wie jeder andere. Mag sein, dass du kein vollwertiger Mensch bist, weil du durch Evas Gene verändert wurdest, aber was sagt das über deinen Charakter aus? Es sind nicht deine Gene oder dein Aussehen, geschweige denn deine Vergangenheit, die auch nur irgendetwas darüber besagen, wer du wirklich bist. Es ist dein Herz. Du willst niemandem wehtun und das beweist, dass du nicht Sam Leens bist. Es beweist, dass du ein gutes Herz hast.“ Ein gutes Herz. Dann hieß das, er war ein guter Mensch? „Es stimmt schon, dass du in deinem letzten Leben eine Schöpfung Evas warst. Aber das bedeutet nicht, dass du weniger wert bist als ein Mensch. Du bist damals gestorben und als normaler Mensch mit einer menschlichen Seele geboren worden. Darum bist du auch kein Monster, keine Marionette oder ein Spielzeug. Ich wollte dir diesen Schmerz ersparen und dich beschützen. Auch davor, dass du das erfährst. Aber stattdessen habe ich dir immer nur wehgetan.“ „Warum tust du das? Siehst du in mir vielleicht Nikolaj?“ „Ich sehe dich, Jeremiel. Es stimmt schon, dass mir Nikolaj sehr viel bedeutet hat. Er hat mir gezeigt, dass ich nicht bösartig bin, nur weil ich die Dunkelheit verkörpere. Durch ihn weiß ich, dass ich auch etwas Gutes in mir trage, solange ich es nicht verwerfe und mich daran erinnere, dass es allein meine Entscheidungen sind, die mich entweder gut oder schlecht machen. Ich habe Nikolaj geliebt, das stimmt. Ich habe ihn verloren und wollte nicht noch einmal diesen Schmerz erleben, indem ich dich auch verliere. Deshalb wollte ich mit aller Macht verhindern, dass du von mir gehst. Ich wollte dich beschützen, aber… anstatt dies zu tun, habe ich dich nur eingesperrt wie ein Tier und dir wehgetan. Und ich will dass du weißt, dass es mir leid tut.“ Bevor Jeremiel etwas darauf erwidern konnte, küsste Liam ihn plötzlich. Es kam so überraschend, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. Und ehe er sich versah, fand er sich plötzlich im Zimmer wieder. Offenbar waren sie wieder zurückgekehrt. Immer noch lagen Liams Lippen auf den seinen und als sich der Mafiaboss wieder von ihm löste, sah er mit einem Mal so verzweifelt und unglücklich aus. Er wirkte genauso wie Jeremiel gerade, als würde er genau das Gleiche durchmachen. Er schloss ihn fest in seine Arme, doch der 25-jährige erwiderte die Geste nicht. Er wusste einfach nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Es tut mir alles so leid“, sagte Liam und Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Ich habe dir so schlimme Dinge angetan, obwohl ich dich genau davor beschützen wollte. Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren, aber letzten Endes habe ich alles nur noch schlimmer gemacht, weil ich nicht gesehen habe, wie du gelitten hast.“ Damit löste er sich von Jeremiel und wandte sich von ihm ab. „Es war ein Fehler, dich davon abzuhalten, nach deinem Bruder zu suchen. Ich habe die ganze Zeit nur an mich selbst gedacht und war egoistisch. Wenn du gehen willst, dann werde ich dich nicht aufhalten.“ Und damit ging Liam und war schon an der Tür, da rief Jeremiel „Warte!“ Der Unvergängliche blieb stehen und wandte sich zu ihm um, er wirkte unsicher und viel verletzlicher als sonst. Dieser majestätische stolze und gefährliche Panter wirkte irgendwie ängstlich. Seine Krallen und Zähne waren stumpf, diese charismatische Ausstrahlung war endgültig gewichen. „Was willst du noch?“ „Diese Worte, die du mir gestern gesagt hast: „ja ljubljú tibjá, ja fßigdá chatschú byt' ß tabó.“ Du hast auf Russisch gesagt, dass du mich liebst und dass du für immer mit mir zusammen sein willst, oder etwa nicht?“ „Vergiss diese Worte“, sagte Liam mit kraftloser und trauriger Stimme und wandte sich wieder um. „Sie sind jetzt sowieso bedeutungslos geworden.“ Damit verließ er den Raum und ließ Jeremiel allein zurück. Dieser blieb unschlüssig stehen und wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er sollte diese Worte einfach vergessen und sie haben keine Bedeutung mehr? Sollte das jetzt heißen, dass Liam sie nicht so gemeint hatte? Das alles war ihm ein einziges Rätsel. Warum nur mussten Gefühle so kompliziert sein? Wie gerne würde er doch verstehen, was Liam denn jetzt wollte und vor allem, wie er sich verhalten sollte. Aber… diese Worte, die er da in dieser seltsamen Welt zu ihm gesagt hatte, ließen ihn nicht los. Obwohl er Liam nicht gerade als jemanden eingeschätzt hatte, der offen Gefühle zeigte oder solche Reden hielt, schien selbst einen sehr gefestigten Charakter zu haben und vor allem genau zu wissen, was er da sagte. Er… er hatte ihm doch gesagt, dass er ihn liebt und er liebte ihn offenbar als Jeremiel und als niemand anderen sonst. Liam sieht in mir dieses Ich hier und nicht Nikolaj oder Sam Leens. Es ist ihm egal, was ich getan habe… Als Jeremiel daran dachte, wie Liam ihm diese Worte gesagt hatte, dass es nur darauf ankam, wofür man sich entschied, da wurde ihm ganz seltsam zumute. Aber er konnte leider auch nicht sagen, wie er sich fühlte. Seine Brust tat jedenfalls nicht weh, dafür aber schien sein Herz etwas schneller zu schlagen als sonst. Ach Mensch, wenn er doch wenigstens verstehen könnte, was er gerade für Emotionen empfand. Zumindest hatte das Gespräch mit Liam geholfen und auch wenn es ihm immer noch sehr auf der Seele lastete, dass er vor seiner Amnesie ein Mörder gewesen war, so fühlte er sich wenigstens nicht mehr ganz so unglücklich. Nach einer Weile verließ Jeremiel das Zimmer und traf auch schon sogleich auf Eva, die einen Koffer dabei hatte. Verwundert fragte er „Reist du ab?“ „Ja. Ich habe hier nichts mehr verloren und das mit Liam wird sich wohl nicht mehr klären. Tut mir leid, dass ich keine sonderlich große Hilfe war… ich hatte wirklich gehofft, euch beiden irgendwie helfen zu können, aber stattdessen habe ich alles nur kaputt gemacht. Das alles tut mir wirklich leid, aber ich hoffe, dass du das irgendwie schaffen wirst. Pass gut auf dich auf.“ Damit verabschiedete sie sich von ihm und ging. Sie wirkte völlig fertig und schien auch geweint zu haben. Irgendwie tat sie ihm schon leid, auch wenn das, was sie vor allem ihm angetan hatte, unverzeihlich war. Sie hatte ihm immerhin gestanden, dass sie einfach zugelassen hatte, dass er zu einem Mörder wurde und ihm nicht schon viel früher geholfen hatte. Zugegeben, das stieß ihm schon ziemlich sauer auf, aber es war nicht so, dass er Eva dafür jetzt hasste. Er wollte das auch nicht, denn ohne sie wäre er jetzt auch nicht am leben. Schließlich ging er zurück in die Bibliothek, wo noch die Bücher lagen, die Eva ihm rausgesucht hatte. Kurzerhand nahm er sich das erste und begann es durchzulesen. Er hatte es binnen kürzester Zeit durch und schnappte sich sogleich das nächste. Schon merkwürdig, dachte er und war erstaunt, dass er so schnell mit dem Lesen vorankam. Aber für ihn war das auch eine vergleichsweise sehr einfache Lektüre und zum Glück war der Inhalt auch recht gut erklärt. Schließlich aber kam Johnny herein und rief lauthals „Yeah Ladies, sperrt eure Töchter weg, denn Johnny ist hier!“ Wie immer war er bester Laune und ging direkt zu Jeremiel hin, der gerade einen Beziehungsratgeber las. „Hey, what’s up, Jerry-Berry? Was liest du denn da für einen Schinken?“ „Das nennt man ein Buch und außerdem ist es unlogisch, in einem Schinken lesen zu wollen. Ich lese einen Beziehungsratgeber, weil ich anhand der Bücher schneller lernen will, Gefühle zu verstehen.“ „Das war eine Redewendung, Alter. Manche Bücher werden Schinken genannt, weil sie genauso dick und abgehangen sind. Oh Mann, von Metaphern und Redewendungen scheinst du ja auch keinen blassen Schimmer zu haben. Das kann ja noch spaßig mit dir werden.“ „Wieso spaßig?“ „Das war Ironie. Ach Mensch, jetzt weiß ich auch, wieso Delta sich bei dir wie die reinste Glucke aufführt. Mit deiner Unwissenheit ist es doch klar, dass du Beschützerinstinkte bei ihm weckst. Genauso wie bei Liam.“ Johnny setzte sich zu ihm und holte aus den Innentaschen seines Mantels eine Tafel Schokolade hervor. Diese teilte er mit Jeremiel, der sich sofort erkundigte „Wie kommst du mit dem Ungeziefer voran?“ „Das ist ganz schön hartnäckig, aber ich bin umso kreativer mit dem Werkzeug. Den Vorschlaghammer hab ich abgehakt, als nächstes kommt der Schraubendreher zum Einsatz.“ Immer noch verstand Jeremiel nicht so wirklich, was Johnny mit dem ganzen Werkzeug wollte und fragte „Was hast du mit dem Schraubendreher vor?“ „Schon mal Togainu no Chi gespielt?“ „Nee, wieso?“ „Weil da ganz gut gezeigt wird, wozu ein Schraubendreher alles gut sein kann. Und du weißt: you can’t spell screwdriver without SCREW!“ Zwar war Jeremiel immer noch nicht schlauer, aber er dachte sich einfach: das sind schon wieder irgendwelche Metaphern, die ich nicht ganz verstehe. Er brach sich schließlich ein Stück von der Schokolade ab und als er es sich in den Mund schob, bemerkte er „Das schmeckt süß.“ Eine Weile saßen sie zusammen und redeten nicht viel. Jeremiel las weiter seine Lektüren und Johnny entfernte sich mit einem Springmesser den Dreck unter den Fingernägeln. Aber dann irgendwann legte der 25-jährige sein Buch beiseite und betrachtete den Informanten mit einem nachdenklichen Blick. „Darf ich dich was fragen, Johnny?“ „Klaro. Fragen kostet ja nichts, zumindest nicht, wenn du nicht Marcel fragen willst.“ „Wie kommst du eigentlich damit zurecht, dass du kein Mensch bist, sondern quasi von Liam erschaffen worden bist? Eva sagte mir, dass ihr abgespaltene Fragmente von ihm seid, die in die Körper von Menschen eingepflanzt worden sind. Ist das nicht irgendwie hart für euch?“ Johnny lächelte, als er das hörte und lehnte sich zurück, wobei er die Füße auf dem Tisch ablegte und sie dabei überkreuzte. „Ist doch nichts dabei. Na und? Wir sind nicht seine persönlichen Sklaven, sondern seine Familie. Er hat uns einen eigenen Willen gegeben, ein Leben und eine Persönlichkeit mit einer eigenen Seele. Im Prinzip hat er ja fast genau das Gleiche gemacht, was die Menschen tun, wenn sie beschließen, Nachwuchs zur Welt zu bringen. Und außerdem ist es scheißegal, wo wir herkommen. Ich bin ich und ich darf genau das Arschloch sein, das ich sein will. Ich muss mich nur an bestimmte Regeln halten und die wären, dass ich meine Macht für nichts anderes einsetzen darf, als für meinen Job. Liam hat was dagegen, dass wir unsere Kräfte einsetzen und uns damit von den Menschen abheben.“ „Aber hat Liam nicht irgendwie die Macht über euch? Ich meine, ihr wurdet doch zu dem Zweck erschaffen, um bei ihm zu bleiben, oder?“ „In erster Linie schon. Aber was unterscheidet uns denn so großartig von einer stinknormalen Familie? Wir bleiben als Unvergängliche unter uns, das stimmt schon und wir sind aufeinander schon angewiesen. Aber es ist nicht so, dass man uns irgendwie dazu zwingt. Liam respektiert uns als eigenständige Personen mit einem freien Willen. Jeder von uns hat seine Aufgabe und auf die Weise funktioniert unsere Familie, auch wenn wir vom Charakter her sehr schlecht zusammenpassen. Und überhaupt: so etwas wie Freiheit gibt es gar nicht. Sie ist ein von den Menschen frei erschaffenes Fantasiekonstrukt, weil der Mensch bestrebt ist, frei zu sein. Paradoxerweise aber erschafft er sich Gesetze und Regeln und eine Hierarchie, durch die er andere Menschen über sein Leben bestimmen lässt, weil er mit dieser Freiheit nicht umgehen kann und deshalb seine eigene Freiheit immer weiter einschränkt, je mehr er nach dieser strebt. Je näher er also der Freiheit ist und je stärker er nach ihr strebt, desto mehr entfernt er sich von ihr. Der Mensch ist frei, soweit es seine eigene Natur zulässt, denn die Natur sieht vor, dass die Tiere von ihren Instinkten und Trieben beherrscht werden, genauso wie die Menschen. Der freie Wille ist nichts anderes als ein Wunschtraum, weil wir alle von unseren Grundbedürfnissen gelenkt werden. Jeder Gedanke, jeder Wunsch ist nichts Weiteres als eine Abfolge biochemischer Reaktionen in unserem Körper. Die einzige wahre Freiheit die wir haben ist die Freiheit der Entscheidung. Eine andere Freiheit existiert nicht. Außer freilich natürlich die Freiheit zu sagen, dass wir nach der Freiheit streben. Wobei aber auch hier wieder die Frage besteht, ob die Freiheit, nach der Freiheit zu streben, auch wirklich eine Freiheit ist, oder lediglich ein weiterer biochemischer Impuls ist, der durch unser Gehirn verursacht wird.“ „Erklär mir das mit der Entscheidungsfreiheit.“ „Wir haben die Freiheit zu entscheiden, wie wir unser Leben gestalten wollen. Natürlich werden wir dabei von unserem Umfeld beeinflusst, welches uns in eine bestimmte Richtung schieben will. Aber wir können wählen, ob wir weiterleben oder unser Leben beenden wollen. Ebenso entscheidet man sich, ob man Menschen töten will oder nicht. Genauso konnten Marcel, Delta und ich uns entscheiden, ob wir bei Liam bleiben oder unseren eigenen Weg gehen wollen. Wir haben uns entschieden, bei ihm zu bleiben. Und als du damals Nikolaj warst, hast du dich dazu entschieden, Evas Familie zu verlassen und ein Teil unserer Familie zu werden. Genauso hast du jetzt auch die Freiheit zu entscheiden, was du jetzt tun willst. Willst du bei uns bleiben oder deinen Bruder suchen gehen? Das entscheidest allein du. Das ist deine Freiheit.“ Man konnte über Johnny sagen was man wollte. Dass er einen schlechten Charakter hatte oder dass er mit seiner Wortgewandtheit andere in den Wahnsinn treiben konnte. Aber was er sagte, war auf logischer Basis gesehen vollkommen verständlich. Eben weil Jeremiel ein intelligenter Kopf war, dem es leichter fiel, logischer zu denken, konnte er Johnnys paradoxe Logik viel besser nachvollziehen als die anderen. Er nickte bedächtig und ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen. Schließlich aber stand er vor einem entscheidenden Dilemma. „Ich weiß nicht, was ich eigentlich will. Zuerst wollte ich nur schnellstmöglich meinen Bruder finden und herausfinden, wer ich bin. Aber jetzt bin ich irgendwie durcheinander und weiß nicht, was ich tun soll.“ „Dann lass dir einfach mal Zeit. Es zwingt dich ja niemand dazu, dich sofort für irgendetwas zu entscheiden. Es war ja auch ganz schön viel und jeder andere wäre an deiner Stelle ebenfalls komplett überfordert. Lass das alles mal in Ruhe sacken. Du weißt ja: wenn du irgendwelche Fragen oder Probleme hast, auf mich und Delta kannst du zählen.“ Damit zog sich Johnny zurück, wobei er fröhlich „Bad Romance“ von Lady Gaga pfiff. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)