Last Desire 6.5 von Sky- (Just another Desire) ================================================================================ Kapitel 8: Die grausame Wahrheit -------------------------------- Am nächsten Morgen wachte Jeremiel mit leichten Kopfschmerzen auf, bemerkte, dass er kaum laufen konnte und schleppte sich mehr oder weniger ins Bad. Er hatte immer noch Schmerzen von gestern Abend und war froh, dass Delta ihm wenigstens ein paar Schmerzmittel da gelassen hatte, damit es ihm ein klein wenig besser ging. Schließlich, als er auf den Flur hinausging, kam Johnny mit einem Vorschlaghammer vorbei und pfiff munter „Twisted Nerve“ aus dem Kill Bill Film. Er schien ziemlich guter Laune zu sein und blieb kurz stehen, als er Jeremiel sah. „Yo Jerry, altes Haus. Alles noch dran bei dir?“ „Es geht. Aber sag, was hast du mit dem Vorschlaghammer vor?“ „Liam bat mich, dass ich mich um ein paar Ratten kümmere. Wenn er etwas mehr hasst als seine Schwester, dann ist es Ungeziefer das meint, es könne ihm an der Nase herumtanzen. Wenn du Delta suchst, der kommt erst heute Nachmittag zurück, da er noch ein paar Angelegenheiten in einigen Nachtklubs regeln muss. Marcel ist auch gerade beschäftigt und Liam müsste sich gerade irgendwo im Haus herumtreiben, genauso wie Eva. Hör mal, ich komm nachher mal bei dir vorbeischauen, wenn ich mich um die Ratten gekümmert habe.“ Damit verabschiedete sich Johnny und Jeremiel sah ihm ein wenig verwirrt hinterher. Wozu brauchte Johnny einen Vorschlaghammer für die Ungezieferbeseitigung? Oder war das etwa vielleicht so etwas wie Mafiajargon? Nun, es war vielleicht besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Jeremiel beschäftigte ohnehin etwas völlig anderes. Er wollte zu Liam und mit ihm über die gestrige Nacht sprechen und vor allem, warum das passiert war. Und vor allem beschäftigten ihn diese Worte, die Liam auf Russisch zu ihm gesagt hatte. Er hatte sich diese Worte durch den Kopf gehen lassen und verstand auch, was sie bedeuteten, aber er konnte sie nicht mit Liams Handlung in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Und da er wusste, dass er mit Gefühlen sowieso überfordert war, musste er mit Liam sprechen. Er wollte ihn verstehen und vor allem auch sich selbst verstehen. Irgendwie hatte er einfach nicht aufhören können an ihn zu denken und das verstand er nicht. Er hätte allen Grund, wütend auf ihn zu sein und ihn dafür zu hassen, was er getan hatte. Aber seltsamerweise tat er das nicht. Stattdessen hatte Liam ihm Leid getan. Er fühlte sich schlecht, ihn so unglücklich zu sehen und er wollte verstehen, wieso er sich Sorgen um ihn machte. Als Jeremiel die Treppe hinunter ins Erdgeschoss ging, da spürte er, wie ihm schlecht wurde. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft und er blieb stehen. „Hey, alles in Ordnung?“ Das Geräusch von Absätzen war zu hören und er sah, dass es Eva war. Sie sah ihn mit ihren strahlenden eisblauen Augen an und ihr hellblondes Haar war fast vollständig weiß geworden. Sie strahlte eine fremdartige Schönheit aus und hatte etwas ähnlich Charismatisches an sich wie Liam. Das war also seine Schwester, auf die er so schlecht zu sprechen war? „Irgendwie ist mir gerade nicht gut.“ „Sicher hast du Hunger. Na komm.“ Er folgte ihr und zusammen betraten sie einen großen Raum, welcher sehr große Fenster besaß und von wo man aus direkt in den Garten gelangte. Sie setzten sich an einen gedeckten Tisch und Eva goss sich einen Kaffee ein. Nach einigem Zögern griff Jeremiel zu und nahm sich wahllos irgendwas und probierte es. Dabei gab er jedes Mal, wenn er etwas Neues entdeckte, einen kurzen und erstaunten Kommentar wie „süß“ oder „salzig“ von sich. Eva bot ihm schließlich einen Tee an, den er dankend annahm, obwohl er offenbar nicht wirklich wusste, was ihn damit erwartete. Und sogleich, als er die Tasse anfassen wollte, zog er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand zurück und bemerkte „Das ist ja heiß!“ „Manche Getränke werden heiß getrunken. Und dazu zählen auch Kaffee und Tee. Du musst aufpassen, sonst verbrennst du dir die Finger.“ „Verstehe…“ Jeremiel ließ nun etwas mehr Vorsicht walten und trank schließlich seinen Tee. Eva betrachtete ihn eine Weile und Jeremiel bemerkte, dass auch sie diesen goldenen Ring in der Iris hatte, allerdings auf der linken Seite. Nach einer Weile fragte sie „Wie geht es dir eigentlich? Findest du dich gut zurecht oder hast du irgendwo Schwierigkeiten?“ „Das alles ist ziemlich neu für mich und ich fühl mich teilweise ziemlich überfordert. Ich erinnere mich an nichts und da ist so vieles, was für mich vollkommen neu ist. Dinge wie Gefühle sind absolut fremd für mich, genauso wie Schmerzempfinden. Selbst Hitze und Kälte oder Geschmack erscheinen mir so neu, als hätte ich das nie wirklich erlebt. Und… dann ist da letzte Nacht so einiges passiert, was ich nicht verstehe.“ Eva wartete, wohl in der Annahme, dass Jeremiel es von selbst erzählen würde. Als er aber nichts sagte, fragte sie „Was ist denn gestern passiert?“ „Liam und ich hatten Geschlechtsverkehr.“ Nun ließ Eva ihre Tasse sinken und sah ihn mit einem Blick an, den er natürlich nicht deuten konnte, aber da sich ihre Augen weiteten, schien sie wohl entweder entsetzt, erstaunt oder erfreut zu sein. Nun… was traf wohl zu? Er wusste es beim besten Willen nicht. „Wie bitte was?“ fragte sie und anhand ihres Tonfalls schloss Jeremiel, dass sie entweder entsetzt oder erstaunt war. Er nickte und erklärte „Ja. Er… er hat mich überwältigt und ich war nicht imstande, mich dagegen zu wehren, als es passierte. Ich dachte, er würde es tun, weil er wütend auf mich ist oder weil er mich hasst. Dann hatte er diesen komischen Blick und ist dann gegangen.“ „Er hat dich gezwungen?“ „In gewisser Weise schon. Es tat auch ziemlich weh und dann hat sich Delta um mich gekümmert. Aber… es ist nicht so, dass ich wütend auf Liam wäre, weil er das getan hat. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man wütend ist, aber wenn ich es wäre, dann hätte ich wahrscheinlich irgendwie heftiger reagiert. Delta meinte, ich würde mir Sorgen um Liam machen. Aber was heißt das? Kannst du mir das erklären?“ „Nun, Sorgen macht man sich, wenn jemand anderes entweder in Gefahr ist, wenn er Probleme hat oder wenn es ihm nicht gut geht und man diesen Menschen mag. Man fragt sich, wie es ihm geht und überlegt sich, wie man ihm helfen kann. Man macht sich nur um Menschen Sorgen, wenn man sich ihnen verbunden fühlt.“ Ich fühle mich also Liam verbunden? Aber warum? Ich kenne ihn eigentlich gar nicht und weiß so gut wie gar nichts über ihn. Nur dass er ein Mafiaboss ist und er und ich alte Bekannte sind. Das ist es aber auch schon. Also wie kann es sein, dass ich mir Sorgen um ihn mache? Irgendwie schien das alles immer komplizierter zu werden und Jeremiel verstand rein gar nichts mehr. Nachdem er sich gestärkt und seinen Tee ausgetrunken hatte, stellte er eine etwas merkwürdige Frage an Eva. „Gibt es hier vielleicht Bücher über Psychologie, menschlicher Verhaltensforschung und Beziehungsratgeber?“ „Natürlich. Aber wozu brauchst du die?“ „Alleine komme ich nicht weiter und bin nicht in der Lage zu erkennen, wie ich mich gerade fühle. Also muss ich mich irgendwie anders behelfen.“ Eva nickte und stand auf. „Okay, dann werde ich dir helfen, ein paar geeignete Bücher für dich zu finden. Wenn du meinst, dass das dir am besten hilft, dann werde ich schon etwas Geeignetes finden.“ Damit ging sie mit Jeremiel in die Bibliothek und begann die Regale zu durchstöbern. Dabei fragte der 25-jährige auch gleich „Warum sind du und Liam so zerstritten?“ Hier senkte die fremdartige Schönheit den Blick und wirkte wieder so unglücklich und traurig. Irgendetwas musste ihr schwer auf der Seele lasten, das sah selbst Jeremiel. Nach einer Weile erklärte sie „Liam und ich waren schon immer vollkommen verschieden gewesen. Er hatte schon immer feste Grundsätze gehabt und wollte nach den Regeln der Menschen spielen. Ich war da schon immer ganz anders gewesen. Ich habe die Menschen schon immer geliebt, aber… Liam meinte dass ich sie zu sehr liebe. Und das ist mein Problem. Denn Liebe kann auch Verzweiflung bedeuten. Wenn man jemanden verliert, den man liebt, gibt es nichts Schlimmeres. Der Schmerz ist unerträglich und es gibt nichts, was dagegen hilft. Deshalb dachte ich mir: wenn alle irgendwann sterben und ich dann ganz alleine bin, warum kann ich nicht einfach dafür sorgen, dass es keinen Tod mehr auf der Welt gibt? Wenn alles Leben auf der Welt ewig währen würde, dann müsste ich keine Angst mehr haben, dass jemand sterben könnte, den ich liebe. Damit war Liam noch nie einverstanden gewesen und wir hatten uns ziemlich heftig gestritten. Schließlich fanden wir beide einen Kompromiss und so konnten wir unsere Fehde beilegen. Aber dann hat er jemanden getroffen, den er sehr geliebt hat. Dieser jemand war sein ein und alles und er hätte wirklich alles für diese Person hergegeben, selbst sein Herz. Doch diese Person ist gestorben, obwohl ich zu dem Zeitpunkt verantwortlich für sie war. Das hat er mir nie verzeihen können.“ „Liam hätte sein „Herz“ für diese Person gegeben?“ fragte Jeremiel und verstand nicht wirklich, was das für einen Sinn haben sollte. Denn mit Herz verband er so einiges, aber nicht wirklich das, was Eva damit meinte. Diese verstand schon, was ihn verwirrte und erklärte „Wenn man von einem Herzen spricht, dann meint man nicht das anatomische Herz damit. Die Menschen glauben, dass im Herzen die Gefühle sitzen, weil ihnen die Brust wehtut, wenn sie traurig sind oder weil es schneller zu schlagen anfängt, wenn sie sich freuen oder aufgeregt sind. Da das Gehirn der denkende Part ist, assoziieren sie mit dem Herzen sämtliche Gefühle. Wenn also jemand davon spricht, dass er zum Beispiel ein großes Herz hat, dann meint man nicht damit, dass das anatomische Herz groß ist. Es bedeutet, dass er sehr viele positive Gefühle in sich trägt, die er mit anderen Menschen teilt.“ Schließlich hatte Eva ein paar Bücher gefunden, zog sie aus den Regalen heraus und reichte sie Jeremiel. Und schließlich drückte sie ihm nicht bloß einen Beziehungsratgeber oder eine Lektüre über Psychologie in die Hand, sondern ein Drama, das den Titel „Romeo und Julia“ trug. „Ich finde es wirklich bewundernswert, dass du dich so bemühst, deine Gefühle zu verstehen und auch keinen Groll gegen meinen Bruder hegst, nach dem, was er dir angetan hat.“ „Ich weiß eben einfach nicht, wann man Hass oder Wut empfindet und wie sich das anfühlt. Vielleicht hasse ich ihn ja und erkenne es ganz einfach nicht.“ „Nein, du hasst ihn ganz sicher nicht. Das kann ich dir schon mal sagen. Wenn du ihn nämlich hassen würdest, dann würdest du dir keine Sorgen um ihn machen und auch nicht versuchen, ihn zu verstehen. Stattdessen würdest du schlecht über ihn sprechen und dir wünschen, dass ihm etwas Schlimmes passiert. Und auch du willst ihm dann am liebsten wehtun.“ Dann hasse ich ihn also schon mal nicht, dachte Jeremiel und ließ sich das alles durch den Kopf gehen. Es war wirklich sehr hilfreich, mit Eva darüber zu sprechen. Sie schien das alles sehr gut erklären zu können und sie antwortete auf seine Fragen auch genau so, dass er es verstehen konnte. So konnte er einiges zumindest besser verstehen, aber da war noch eine Frage, die ihn beschäftigte. Er musste nämlich an seine Begegnung mit Andrew Asylum denken, der ihn „Sam“ genannt und gesagt hatte, er sei ein Mörder. „Eva, wer bin ich eigentlich? Ich meine, ich weiß rein gar nichts über mich und ich bin jemandem begegnet, der mich kennt und sagte, ich sei ein Mörder. Bin ich wirklich einer gewesen und wieso bin ich angeschossen worden? Liam gibt mir darauf ebenso wenig eine Antwort wie Delta und Johnny. Kannst du mir nicht helfen?“ Hier sah Eva ihn mit einem etwas ängstlichen Blick an und zögerte. „Bist du sicher, dass du das hören willst? Glaub mir, es ist keine schöne Geschichte.“ „Ich will es wissen. Dann kann ich wenigstens verstehen, wieso Andrew so heftig reagiert hat, als ich ihn angesprochen habe.“ Sie setzten sich schließlich an einen Tisch, wo Jeremiel auch seine ganzen Bücher abstellte. Eva beantwortete seine Frage nicht sofort, sondern ließ sich noch etwas Zeit, wohl um die richtigen Worte zurechtzulegen. Dann aber begann sie, seine Geschichte zu erzählen. Jeremiel erfuhr, dass er als Embryo aus der Gebärmutter seiner Mutter herausgeschnitten und zu genetischen Experimenten benutzt wurde. Wie seine DNA mit der von Eva gekreuzt wurde und er daraufhin ein verändertes Aussehen sowie einige Hirnschäden entwickelte, die es ihm unmöglich machten, Gefühle oder Schmerz zu empfinden, geschweige denn überhaupt die Welt so wahrzunehmen wie jeder andere Mensch. Wie er, getrieben von seinem Wunsch nach einem Herzen, zu einem namenlosen Killer wurde, der versuchte, die Menschen zu verstehen. Auch erzählte sie ihm, wie sie Kontakt zu ihm aufgenommen und ihm ihre Hilfe angeboten hatte, wenn er ihr dafür half, ihre Familie zusammenzubringen und wie er dabei niedergeschossen worden war. Während der ganzen Zeit, wo Eva sprach, sagte er nichts. Sein Gesicht blieb unbewegt und es ließ sich nur schwer sagen, wie es ihm gerade ging. Doch es war deutlich zu erkennen, dass er immer blasser wurde und sich Fassungslosigkeit in seinen Augen abzeichnete. „Ich bin also wirklich ein Mörder?“ „Nein“, erklärte Eva und nahm seine Hand. „Du und Sam Leens, ihr seid vollkommen verschiedene Persönlichkeiten. Deshalb hast du auch keine persönlichen Erinnerungen: weil du und er nichts gemeinsam habt. Es mag wohl sein, dass du noch ein paar Gewohnheiten von ihm beibehalten hast, aber du bist nicht wie er. Und du hast Beyond, dem Freund deines Bruders geholfen, als er selbst ohne Erinnerungen aufgewacht ist. Du hast sein Leben gerettet und es ihm ermöglicht, mit L wieder glücklich zu werden.“ „Ja. Nachdem ich ihn fast umgebracht und ihm so wehgetan habe. Ich habe Andrew seine Familie und sein Zuhause genommen und… ich habe so viele Menschen getötet.“ „So etwas darfst du nicht denken, Jeremiel. Das warst nicht du und bevor dein wahres Ich erwacht ist, hat da ein völlig anderer Mensch in deinem Körper gewohnt. Du kannst rein gar nichts dafür. Die Schuld liegt einzig und allein bei mir, weil ich das alles zugelassen habe.“ „Wer oder was bin ich überhaupt?“ Eva seufzte und faltete die Hände wie zum Gebet. Sie schien mit jeder Minute immer unglücklicher zu werden und gleich in Tränen auszubrechen. „Du bist ein Wiedergeborener meiner Familie. Weißt du, Liam und ich sind Unvergängliche. Unser Bewusstsein bleibt ewig bestehen und selbst wenn wir sterben, verlieren wir unsere Erinnerungen nicht. Als Unvergängliche sind wir in der Lage, Leben zu erschaffen und es zu nehmen. Und wir können uns in menschliche Körper einnisten und uns diese zu eigen machen wie Parasiten. Dieser Körper hat vorher einer Verstorbenen gehört, genauso wie Liams Körper vorher jemand anderem gehört hat. Delta, Johnny und Marcel sind Schöpfungen von Liam. Sie wurden aus Fragmenten seines Bewusstseins geboren und sind damit unvergänglich. Da wir den Körper unseres Wirts nach unseren Vorstellungen verändern können, sind wir auch in der Lage, uns unsere Jugend zu erhalten und damit auch den Alterungsprozess zu stoppen. Wir sind dazu verdammt, für immer zu existieren und alles in dieser Welt sterben zu sehen. Deshalb erschufen wir uns je eine eigene Familie, damit wir wenigstens nicht so alleine waren. Ich erschuf als erstes eine Tochter, der ich den Namen Sophie gab. Mein Mann hieß Jasha und Sophies Freund und Gefährte war Chasov. Als nächstes wurde Anja geboren, der ich als Eltern Maria und Dimitrij gab. Sie alle verkörperten auch Teile von mir. Nämlich meine Furcht und Unsicherheit, mein Wunsch meine Familie zu beschützen, meine Sehnsucht nach einem freien Leben, meine Liebe, mein Zorn und meine Gutmütigkeit. Und schließlich wurdest du aus der Leere geboren und ich gab dir den Namen Nikolaj. Du warst anders und hattest nirgendwo einen Platz in dieser Welt. Deshalb bist du fortgegangen und hast schließlich Liam kennen gelernt. Du bist zu der wichtigsten Person in seinem Leben geworden und hast ihm geholfen, auch sein gutes Herz zu entdecken. Ihr beide seid sehr glücklich gewesen, aber dann ist etwas sehr Schlimmes passiert. Als du zu uns nach Nowgorod gekommen bist und ich im Wald Holz sammeln war, da fielen die Opritschnina über unsere Stadt her und töteten dich und den Rest meiner Familie. Ich kam zu spät um euch zu retten. Ich konnte nichts mehr für euch tun und bin schließlich aus dieser Welt verschwunden, indem ich mein unvergängliches Bewusstsein von meinem Wirtskörper trennte und ihn zurückließ. Du und die anderen seid ohne Erinnerungen als normale Menschen wiedergeboren worden, damit ihr eine Chance habt, ganz normal bei eurer wahren Familie zu leben. Du bist Nikolajs Wiedergeburt und Liam hat dich gerettet, weil du der wichtigste Mensch in seinem Leben bist. Und er wollte dich vor der Wahrheit beschützen.“ Die Wahrheit… Etwa dass er nichts Weiteres als ein im Labor gezüchteter Hybrid war? Oder dass er vor seinem Gedächtnisverlust ein Killer war und so viele Menschen ins Unglück gestürzt hatte? Irgendwie hatte er das Gefühl, als würde so vieles über ihn hereinbrechen und er fühlte sich einfach nur erschöpft, hilflos und in die Ecke gedrängt. „Was… was bin ich eigentlich?“ „Du bist ein Mensch, Jeremiel. Du bist ein wunderbarer Mensch und kannst nichts dafür. Es waren einfach unglückliche Umstände gewesen.“ „Unglückliche Umstände? Ich bin ein Mörder! Ich habe Menschen getötet und Familien zerstört. Ich bin kein Mensch, sondern ein im Labor gezüchtetes Experiment und nicht mehr. Und im Grunde bin ich doch nur von dir erschaffen worden. Was macht mich zu einem Menschen?“ „Du hast ein schlagendes Herz und denkst und fühlst wie ein Mensch.“ „Ich fühle doch gar nicht wie ein Mensch. Sonst würde ich doch in der Lage sein, Emotionen zu verstehen. Ich bin kein Mensch und bin noch nie einer gewesen. Selbst mein Körper ist doch nicht zu hundert Prozent menschlich. Ich bin nichts, rein gar nichts!“ Jeremiel spürte, wie sich seine Brust wieder schmerzhaft zusammenschnürte und er konnte es einfach nicht fassen. Warum nur hatte er das unbedingt wissen wollen? Jetzt musste er für den Rest seiner Tage damit leben, dass er vor seiner Amnesie ein eiskalter Killer gewesen war und nicht einmal richtig menschlich war. Er war ein Experiment… ein Laborprodukt und nicht mehr. Also was berechtigte ihn dann überhaupt dazu, weiterzuleben, wenn er doch kein Mensch in dem Sinne war, sondern ein Fremder? Er war ein Nichts, das im Körper eines Menschen lebte und deshalb wäre es doch das Beste für alle auf der Welt, wenn er einfach nicht mehr existieren würde. Wenn er verschwinden würde, dann könnte er wenigstens nicht mehr anderen Menschen so wehtun und so grausame Dinge tun. Er stand auf und wollte gehen, doch Eva versuchte ihn festzuhalten. „Jeremiel, warte doch. Hör zu, du bist doch nicht wie Sam. Du bist kein Monster und du bist auch kein wertloses Laborexperiment.“ „Aber was bin ich denn sonst? Ich habe Menschen verletzt, sie getötet und ihr Leben zerstört. Wie soll ich da noch einfach so herumlaufen und so tun, als wäre nichts gewesen? Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Also lass mich los!“ Er riss sich von ihr los und verließ die Bibliothek. Eva blieb noch stehen und überlegte, was sie tun sollte. Aber dann verließ auch sie die Bibliothek und rannte zu den Privatzimmern ihres Bruders, wo er gerade dabei war, mit Marcel ein paar Unterlagen durchzugehen. Als er seine Schwester sah, verfinsterte sich sein Blick und er fragte mit gereizter Stimme „Was willst du hier?“ „Liam, du musst schnell kommen und helfen. Jeremiel ist völlig durcheinander und braucht dich jetzt.“ „Er braucht mich gewiss nicht. Nachdem, was ich ihm angetan habe, will er sicherlich nichts mehr von mir wissen. Ich will ihn beschützen, deshalb ist es das Beste, wenn ich ihm aus dem Weg gehe. Dann kann ich ihn auch wenigstens vor mir selbst beschützen.“ „Aber wenn du nicht kommst und mit ihm redest, könnte ihm vielleicht noch etwas passieren. Er weiß jetzt, wer er wirklich ist.“ Als Liam das hörte, sah er auf und fuhr hoch wobei er lautstark „Wie bitte?“ fragte. „Er weiß alles? Woher denn? Ich dachte, du hättest ihm seine Erinnerungen genommen.“ Schuldbewusst senkte Eva den Blick und erklärte „Ich habe es ihm gesagt, weil er einfach keine Ruhe gegeben hat.“ „DU HAST WAS???“ Er ging zu ihr hin und packte sie am Kragen. Er sah aus, als wolle er sie am liebsten erwürgen und wahrscheinlich hätte er das auch sogar getan. „Du hast ihm gesagt, was er als Sam Leens getan hat? Nach dem, was er allein schon gestern alles durchmachen musste? Ich könnte dich umbringen, Eva. Anstatt, dass du hilfst, machst du alles nur noch schlimmer. Verschwinde bloß von hier und lass dich hier nie wieder blicken, hörst du? Hau ab und wag es nie wieder, mir auch nur ein einziges Mal unter die Augen zu kommen.“ Damit stieß er sie zu Boden und ging zur Tür. „Du bist echt das Allerletzte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)