Last Desire 4.5 von Sky- (Another Desire) ================================================================================ Kapitel 13: Telefonterror ------------------------- Nachdem sie wieder zuhause waren, bereitete Oliver das Mittagessen vor und Andrew ging ihm dabei zur Hand so gut es ging. Die Stimmung zwischen ihnen war deutlich lockerer als noch bei Vention und den Ärger mit Dr. Rickfield hatten sie längst wieder vergessen. Oliver hatte seine Pflicht getan und den Belästigungsvorfall gemeldet, um den Rest würde sich Ridley oder sein Vater Walden kümmern. Sie verloren auch kein Wort mehr darüber und während sie gemeinsam das Essen kochten, lief im Hintergrund Richard Wagners „Tannhäuser Overtüre“. Schließlich aber, als Andrew noch dabei war, das Gemüse zu schälen und zu schneiden, da kam ihm etwas in den Sinn. „Darf ich dir eine Frage stellen, Oliver?“ „Jederzeit. Was möchtest du denn gerne wissen?“ Doch Andrew zögerte noch mit seiner Frage, denn er wusste, dass diese ein wenig komisch und vielleicht auch etwas unangemessen war. Aber sie beschäftigte ihn dennoch. „Ist es für dich denn nicht manchmal komisch, mal mit Männern und dann mit Frauen zu schlafen?“ „Nun ja, ich hab es nie verglichen, weil ich außer dir und Elijah sonst keine männlichen Beziehungen hatte. Der Rest war alles Frauen. Und ich mache da auch keine Vergleiche. Es gibt sowohl bei Männern als auch bei Frauen gewisse Vorzüge, Nachteile, Unterschiede und auch Gemeinsamkeiten. Deshalb habe ich mir auch nie Gedanken darum gemacht, mit wem es sich am besten anfühlt. Ich sag mal so: wenn die Gefühle nicht stimmen, kann der Sex immer absolut beschissen sein. Gefühle machen meiner Einschätzung nach 80% dabei aus.“ „Du redest echt ganz schön offen darüber.“ „Ich hab ja auch nichts zu verbergen und ich wüsste auch keinen Grund, warum ich mich schämen sollte. Natürlich gucken einen die Leute manchmal schräg von der Seite an, aber das würden sie auch tun, wenn man nicht schwul oder bi wäre, sondern weil sie irgendetwas anderes finden würden, um einen doof von der Seite anzusehen und über einen zu lästern. Deswegen sollte man sich gar nicht erst die Mühe machen, es anderen Leuten recht machen zu wollen. Ganz einfach aus dem Grund, weil die Leute selbst dann immer noch einen Grund finden würden, um irgendwie einen Makel zu finden. Aber diese Makel machen ja erst unsere Persönlichkeit aus, deshalb können wir auf sie stolz sein. Oder zumindest auf ein paar von ihnen.“ Andrew konnte einfach nicht anders, als Oliver zu bewundern. Er war immer so selbstbewusst und verschwendete wirklich nie einen Gedanken daran, was andere über ihn dachten. Mit einem Male war die Atmosphäre zwischen ihnen viel vertrauter als in den letzten beiden Tagen und Andrew konnte irgendwie kaum den Blick von Oliver abwenden. Er ist wirklich ein bewundernswerter Mensch. Nicht nur deshalb, weil er so selbstbewusst war und für seine 26 Jahre schon so eine enorme Lebenserfahrung hatte, sondern weil er auch so offen über alles sprach und das sagte, was er dachte. Er war ganz anders als Beyond, wenn man die beiden so nebeneinander stellte. Beyond war deutlich ruhiger und distanzierter, außerdem sehr menschenfeindlich und er öffnete sich nur jenen, denen er vertraute. Oliver sprach offen über alles, war auch sonst ein sehr aufgeschlossener Mensch und suchte auch gerne die Gesellschaft zu anderen Leuten. Die beiden sind wirklich wie Tag und Nacht, dachte Andrew und schmunzelte. Unglaublich, dass man für zwei Menschen Gefühle haben kann, die so völlig verschieden sind. Tja, wo die Liebe eben hinfällt, nicht wahr? „Andy, kannst du eben kurz hier aufpassen?“ Erst jetzt merkte Andrew, dass Oliver mit ihm gesprochen hatte und sagte hastig „Äh ja, okay. Ist irgendetwas?“ „Mein Handy gibt gerade keine Ruhe und vibriert am laufenden Band wie ein Hosentaschenvibrator. Ich schau kurz nach, wer da versucht, anzurufen.“ Und während Andrew kurz alleine am Herd stand, verschwand Oliver aus der Küche und begann auf dem Flur zu telefonieren. Zuerst konnte er nicht viel verstehen, da genügend andere Geräusche seine Stimme übertönten, aber dann hörte Andrew, wie Oliver lauter wurde und nun richtig sauer klang. „Verdammt noch mal, hör auf ich anzurufen! Ich habe es dir bereits oft genug gesagt und ich sag es dir noch mal: lass mich in Ruhe, zwischen uns läuft nichts und wird auch nie laufen. Ich bin mit Andy zusammen und ich werde ihn auch garantiert nicht für irgendjemanden verlassen. Nein, nein vergiss es. Mein Entschluss steht fest und daran kannst du auch nichts ändern. Wenn du mich noch mal so anrufst, dann wird das Konsequenzen haben.“ Kurz darauf kam er in die Küche zurück, atmete laut aus und fuhr sich durchs Haar. „Die gibt aber auch wirklich keine Ruhe.“ „Ist es diese Dr. Rickfield?“ „Ja leider. Cynthia ruft mich die ganze Zeit an und versucht, mich zu bequatschen. Die hat echt den Schuss nicht gehört. Ich sag dir: wenn das so weitergeht, dann schlag ich ganz andere Töne an.“ „Und was hast du vor?“ „Als Hacker habe ich genug Möglichkeiten. Und außerdem habe ich ja noch Ridley und Walden. Eines steht fest: ich lass mir garantiert nicht von ihr die Stimmung verhageln und mich irgendwie bequatschen. Die soll endlich kapieren, dass ich nichts von ihr will und dass ich mit dir zusammen bin. Dann gibt sie auch hoffentlich Ruhe.“ Unfassbar, dass diese Frau so hartnäckig ist. Sie muss Oliver wirklich sehr lieben, wenn sie ihn so bedrängt. Na hoffentlich klärte sich das alles auch bald. Doch wie sich schnell herausstellen sollte, hörte der Telefonterror nicht auf. Sowohl Olivers Handy als auch das Telefon klingelten fast ununterbrochen und für Andrew grenzte das schon fast an Nachstellung. Und auch Oliver hatte genug und setzte sich sogleich daran, etwas dagegen zu unternehmen. Er setzte sich einfach an seinen Laptop und begann sogleich damit, die ersten Maßnahmen zu ergreifen. „Was genau hast du denn jetzt vor?“ fragte Andrew und setzte sich zu ihm hin. „Ich werde eine Rückverfolgung sämtlicher Anrufe machen und alles aufzeichnen, damit ich nachvollziehen kann, wer mich hier anruft. Selbst wenn sie mit unterdrückter Nummer anruft, krieg ich das ganz locker raus. Die lässt sich nicht von Worten abschrecken, also werde ich ganz einfach tätig werden. Problem bei so etwas ist, dass die Polizei meist nicht so einfach tätig wird, wenn nichts Ernsthaftes passiert oder wenn es kaum Beweise gibt. Also werde ich als erstes Beweise sammeln und dann Maßnahmen ergreifen. Die sehen so aus: ich werde einen neuen Telefonanschluss mit neuer Nummer einrichten. Das Gleiche gilt auch für mein Handy. Zusätzlich werde ich auf dem Grundstück vorsichtshalber Überwachungskameras einschalten. Ich weiß nicht, wie weit Cynthia noch gehen wird. Vielleicht belässt sie es bei Telefonterror, aber wenn sie noch weiter geht und versucht, hier irgendwie einzubrechen, dann haben wir sie sofort auf Kamera. Man weiß leider nie, wie weit so ein Stalker geht, aber wenn die nicht locker lassen, schrecken die auch so schnell nicht vor solchen Sachen zurück. Und bevor wir noch überrascht werden, haben wir wenigstens gut vorgesorgt. Für dich habe ich gleich auch noch was.“ „Für mich?“ fragte Andrew überrascht und sah, wie Oliver eine Armbanduhr hervorholte und sie Andrew umlegte. Sie sah sehr modisch aus, wenn auch nicht allzu protzig und teuer. „Auf der Unterseite der Uhr befindet sich ein Sender. Wenn du zwei Mal hintereinander das Glas herunterdrückst, wird der Sender aktiv und schickt ein Signal an mein Handy. Damit kann ich dich sofort orten und weiß dann auch, dass es Probleme gibt. Versteh mich aber nicht falsch, ich mach das jetzt nicht, um dich zu überwachen. Es ist nur für den Notfall gedacht, falls Cynthia auf den Gedanken kommen sollte, dir irgendwie zu nahe zu kommen, oder falls du Probleme mit dem GSK haben solltest und mich nicht mehr anrufen kannst. Wichtig ist nur, dass du daran denkst, die Uhr zu tragen.“ Andrew betrachtete die Uhr, nahm sie noch mal ab und wollte sich die andere Seite der Uhr ansehen. Doch da fiel ihm auf, dass sie eine Widmung hatte. „Liebe wechselt nicht mit Stunde oder Woche. Weit reicht ihre Kraft bis zum letzten Tag.“ Oliver Andrew musste schmunzeln, als er das las. „Shakespeare, Sonett 116, nicht wahr? Du weißt aber schon, dass es ein Sonett über Liebeskummer ist, oder?“ „Klar weiß ich das, aber ich dachte, es passt besser zu der Uhr. Und so hast du immer diesen kleinen Liebesbeweis bei dir.“ Damit gab Oliver ihm einen Kuss und lächelte zufrieden, als er sah, wie Andrew rot im Gesicht wurde. „Das… das ist wirklich süß von dir.“ Sofort legte er die Uhr wieder an und betrachtete sie. Nun gut, die Uhr war eigentlich bloß dazu da, damit er im Notfall Hilfe anfordern konnte, aber trotzdem kam sie ihm auch wie ein persönliches Geschenk von Oliver vor als Zeichen dafür, dass er ihn liebte. Etwas vorsichtig und zögernd nahm er seine Hand und lehnte sich an seine Schulter. „Ich kann mich nur wiederholen: du bist echt ein toller Mensch, Oliver.“ Sie sahen sich in die Augen und beinahe wäre es vielleicht zu mehr gekommen als nur zu einem Kuss, doch da begann das Telefon schon wieder zu klingeln und riss sie beide aus ihren Gedanken. Andrew ging hin und nahm den Hörer ab, dann sagte er zögerlich „Ja, hallo?“ „Verschwinde aus seinem Leben, oder ich mach dich fertig!“ Das war alles, was der Anrufer sagte und wieder auflegte. Andrew stand wie vom Donner gerührt da und konnte erst mal nicht glauben, was er da gehört hatte. Vor allem aber fragte er sich, woher der Anrufer denn wusste, dass er am Apparat war und nicht Oliver? Das musste doch diese Cynthia Rickfield sein, oder etwa nicht? Also steckte sie tatsächlich hinter den Anrufen und sie wollte ihn fertig machen, wenn er mit Oliver zusammen blieb? An der Stimme hatte er sie jedenfalls nicht erkennen können, die war nämlich elektronisch verzerrt. „Hey Andy, alles okay bei dir?“ „Du hattest Recht, es ist diese Dr. Rickfield. Sie will, dass ich aus deinem Leben verschwinde, oder sie wird mich fertig machen.“ Olivers Miene verdüsterte sich ein klein wenig, dann stand er auf und ging in die Küche zum Kühlschrank und holte zwei Bier. „Ich kapier echt nicht, wie man so hartnäckig bleiben und nicht einfach mal ein nein akzeptieren kann. In der Hinsicht sind die Frauen manchmal echt anstrengend. Zuerst rennen sie dir hinterher, dann servieren sie dich urplötzlich ab wie eine heiße Kartoffel und du musst damit leben. Und kaum, dass du sie abservierst, dann rennen sie dir hinterher und hören in jedem „nein“ ein „ja“. Ich werde aus denen echt nicht schlau.“ Schließlich kam er wieder zurück und reichte Andrew auch ein Bier, welches er dankend annahm. „Hattest du schon mal so ein Problem wie mit deiner Kollegin?“ „Zum Glück nicht, aber ich wusste vorher schon, dass Cynthia etwas komisch drauf ist. Aber sie sah gut aus, wir hatten genug getrunken, wir hatten gute Laune auf der Feier und da begeht man eben so eine Dummheit. Hätte ich gewusst, dass ich so einen Ärger mit ihr haben werde, dann hätte ich mich nie dazu hinreißen lassen, aber wie heißt es so schön: Erfahrungen sind diese wunderbaren Dinge, die man erst dann hat, wenn man sie schon viel früher hätte gebrauchen können. Ein guter Tipp von mir, Andy: wenn du alleine unterwegs bist, dann halte die Augen auf. Ich weiß nämlich leider nicht, was Cynthia noch so alles anstellen wird und wie weit sie auch gehen wird. Ich will nicht, dass dir noch etwas passiert, wo du doch überhaupt nichts damit zu tun hast.“ „Eigentlich ja doch, oder? Immerhin bin ich mit dir zusammen.“ „Ja, aber das hat nichts mit Cynthia zu tun. Unser One-Night-Stand war vor zwei Monaten und du bist erst vor knapp zwei Wochen hier eingezogen. Deshalb ist dieses Cynthia-Problem eigentlich mein Problem und ich finde es ein Unding, dass sie auf dich eintorpedieren will, obwohl du doch am allerwenigsten dafür kannst. Vielleicht hätte ich nicht direkt sagen sollen, dass ich mit dir zusammen bin, weil ich dich ja damit unbewusst in die Schusslinie gezogen habe. Aber ich wollte auch vor dir ganz klar zu dir stehen und klar machen, dass du der Einzige bist, mit dem ich zusammen sein will. Ach Mensch, dieser ganze Liebeskram ist echt ganz schön anstrengend. Kein Wunder, dass es bei Romeo und Julia oder Othello und Desdemona so in die Hose gegangen ist.“ „Vergiss nicht Hamlet und Ophelia.“ „Ach ja, die gibt’s ja auch noch. Naja, manchmal läuft es eben nicht immer so glatt. Aber sehen wir es doch mal positiv: wir rücken durch Cynthias bescheuerte Aktionen nur noch näher zusammen. Im Grunde geht ihr ganzer Plan voll nach hinten los.“ Er kicherte amüsiert darüber und legte einen Arm um Andrews Schultern. Diesem war schon recht schnell aufgefallen, dass dies wohl eine Angewohnheit von Oliver war. Aber bis jetzt hatte er sie nicht so oft bei anderen beobachten können wie bei ihm. Vielleicht war das ja deshalb so, weil Oliver gerne die Nähe zu ihm suchte. Offenbar kann er recht anhänglich sein, auch wenn er immer so tut, als wäre er nicht so. „Auf jeden Fall werde ich was gegen Cynthia unternehmen und nicht zulassen, dass sie dir zu nahe kommt und dir noch etwas antut.“ Sie unterhielten sich viel und schauten sich noch gemeinsam einen französischen Film in Originalsprache an, Oliver hatte währenddessen das Telefon ausgestöpselt, ebenso wie auch sein Handy ausgeschaltet und einfach ein Ersatzhandy genommen, welches er für Notfälle parat hatte. Er gab Ridley Bescheid und speicherte auch sogleich seine Nummer in Andrews Handy ein. Schließlich, als es langsam spät wurde und wohl nichts Interessantes mehr passieren würde, erhob sich Andrew und streckte sich. „Wo willst du hin?“ fragte Oliver und schaltete den Fernseher aus. „Ein Mal heiß duschen und dann in mein Zimmer.“ „Ach so…“ Doch anstatt, dass er sich wie üblich verabschiedete und dann das Wohnzimmer verließ, blieb er stehen und wollte wohl etwas sagen, doch er zögerte noch ein wenig. Man sah ihm an, dass er ein wenig verlegen war und schließlich begann er sich hinterm Ohr zu kratzen, während er etwas beschämt zur Seite sah. „Wenn…“, brachte er etwas zögernd hervor und schaffte es kaum, weiterzusprechen. „Wenn du willst, kannst du ja gleich zu mir kommen.“ Oh Gott, jetzt hatte er es gesagt. Andrew spürte, wie sein Herz schneller schlug und er hätte sich am liebsten dafür die Zunge durchgebissen, dass es ihm so ungeschickt herausgerutscht war. Hätte er doch am besten die Klappe gehalten… In seinem Kopf herrschte ein totales Chaos und er blieb immer noch wie angewurzelt stehen und hätte am liebsten so etwas gesagt wie „Vergiss es“ oder irgendetwas wie „Also was ich damit sagen wollte…“. Doch da war Oliver bereits aufgestanden, kam auf ihn zu und dann geschah es wieder so überraschend und plötzlich: er küsste ihn. Dieses Mal war es leidenschaftlicher und länger als sonst und als der 26-jährige Hacker Andrews Gesicht sah, lächelte er und sagte „Okay, ich komm gleich zu dir.“ Mit hochrotem Kopf und hämmernder Brust ging Andrew die Treppe rauf und verschwand sogleich ins Badezimmer. Hilfe, was hab ich denn da gemacht? Ich hab Oliver doch tatsächlich vorgeschlagen, dass wir… Nicht zu fassen, dass ich das tatsächlich gesagt habe. Was hat mich bloß dazu geritten, so etwas zu sagen? Ich muss doch vollkommen verrückt sein. Aber andererseits… ich wollte es doch, muss ich mich deswegen jetzt etwa schämen? Oliver und ich sind doch nicht mehr bloß Mitbewohner wie ganz zu Anfang, oder etwa nicht? Wir sind zusammen, das hat er vor dieser Dr. Rickfield selber ganz klar und deutlich gesagt. Also ist so etwas doch ganz natürlich. Trotzdem komme ich mir irgendwie total bescheuert vor. Vielleicht, weil es für mich immer noch so ungewohnt ist, weil ich streng genommen noch nie eine richtige Beziehung hatte? Nun, das mit Beyond vor zehn Jahren war ja eigentlich keine Beziehung gewesen. Wir waren Freunde, die hin und wieder miteinander geschlafen hatten, aber ein Liebespaar waren wir nie. Und das mit James war noch nicht einmal im Ansatz eine Beziehung. Im Grunde ist Oliver der Erste, mit dem ich wirklich richtig zusammen bin. Womöglich benehme ich mich ja deshalb so unbeholfen und bescheuert. Er verschwand unter die Dusche und heißes Wasser prasselte auf ihn herab und half ihm, seine Gedanken zu sortieren und sich wieder etwas zu beruhigen. Warum regte er sich denn überhaupt so auf und machte sich so viele Gedanken um nichts? Hatte Oliver denn nicht oft genug gesagt gehabt, man solle sich nicht die ganze Zeit davon beeinflussen lassen, was andere dachten? Es war doch völlig in Ordnung, wenn er auch mal seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse äußerte, ohne ständig davon auszugehen, er würde damit anderen zur Last fallen. Das hatte Oliver ihm oft genug erklärt und auch wenn es ihm schon irgendwie peinlich war, dass er das vorhin gesagt hatte, hatte er kein schlechtes Gewissen deswegen oder bereute es. Das war doch auch schon mal ein Fortschritt für ihn, vor allem weil er endlich mal den Mut aufgebracht hatte, überhaupt so etwas zu sagen. Das zeigte doch, dass er langsam wirklich damit begann, mutiger zu werden. Wenn auch nur ein kleines bisschen. Als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, setzte sein Herz vor Schreck fast einen Schlag aus und als er sich umdrehte, sah er, dass es Oliver war, der sich einfach mal kurzerhand zu ihm in die Dusche geschlichen hatte. „Sorry, ich wollte nicht, dass du gleich noch vor Schreck einen Herzinfarkt kriegst. Ich dachte einfach, ich komm mal zu dir rein und du warst so in Gedanken versunken, dass du rein gar nichts gemerkt hast.“ Das war ja mal wieder absolut typisch für Oliver. Seine Aktionen kamen immer so überraschend und unerwartet, dass man gar nicht damit rechnen konnte. Aber das war nun mal er. Er war eben sehr impulsiv und konnte mit seinen Aktionen seine Mitmenschen völlig überrumpeln. Oliver löste sein Haarband, sodass sein schwarzes Haar ihm über die Schultern fiel. „Es stört dich doch nicht, oder?“ „N-nein, überhaupt nicht. Ich bin nur etwas überrascht.“ „Tja, bei mir muss man immer erwarten, dass ich etwas Unerwartetes tue. Das ist meine Spezialität.“ Als Andrew ihn so betrachtete, fiel ihm so vieles auf, was er beim ersten Mal gar nicht gesehen hatte. Nun gut, als sie nach der Party zusammen im Bett gewesen waren, da war es auch stockfinster gewesen und man hatte kaum etwas gesehen. Aber erst jetzt fiel Andrew auf, dass Oliver eine Tätowierung an seiner linken Schulter hatte, welche sich bis zu seiner Brust weiterzog. Es war eines dieser Tribal Tattoos und auch auf seinem rechten Fußrücken hatte er sich ein Seepferdchentattoo stechen lassen. All dies hatte er unter seiner Kleidung verborgen. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, diese Tattoos bei dir gesehen zu haben.“ „War ja auch dunkel gewesen und ich lauf ja bei der Kälte auch nicht oben ohne rum. Ich hab aber noch ein hübsches Andenken.“ Er zeigte damit auf eine große Narbe an seiner linken Seite. Es sah aus, als hätte ihn etwas gebissen. „Als ich eine Woche in Australien zum Tauchen am Great Barrier Reef war, da hat mich ein Hai erwischt, der mich offenbar irrtümlicherweise für Beute gehalten hat. Und hier am rechten Oberschenkel bin ich auch schon von einer Qualle gestochen worden. Weiß jetzt aber nicht mehr, ob es eine Würfelqualle war oder nicht. Aber ich sag es mal so: wer keine Narben hat, der hat noch nie wirklich gelebt. Zugegeben, die Brandnarbe sieht nicht gerade prickelnd aus, aber ich überlege sowieso, ob ich mir noch das Bein tätowieren soll.“ „Tut das nicht weh?“ „Klar, aber erstens sieht so etwas cool aus und Tattoos bedeuten oft mehr als bloß Körperschmuck. Für mich sind sie ein Zeichen dafür, dass ich frei bin und alleine entscheide, wer ich bin, wer ich sein werde und was ich tue.“ Andrew betrachtete Olivers Tattoo auf seiner linken Schulter und fuhr mit seiner Hand langsam über seine Haut. Irgendwie ging eine seltsame Faszination von diesem Körper aus und in diesem Moment wirkte Oliver gar nicht mehr so wie ein Computerexperte, der als Softwareprogrammierer bei Vention arbeitete, sondern wie jemand, der die Welt gesehen und erlebt hatte. Man sah ihm an, dass er sportlich war und auch, dass er schon operiert worden war. Auf seiner Brust war eine verblasste Narbe zu sehen, die von seiner Herztransplantation von vor 10 Jahren stammte. Wieder musste Andrew daran denken, dass Oliver das Herz seines besten Freundes in sich trug und dadurch eine zweite Chance bekommen hatte. Aber gleichzeitig war diese zweite Chance mit der schrecklichen Tragödie verbunden, dass er dafür den Menschen verloren hatte, den er so sehr bewundert und dem er so viel zu verdanken hatte. Er konnte nur deshalb gesund werden, weil sein bester Freund gestorben war. Oliver ergriff seine Hand und sah hielt sie fest. Einen Moment lang sahen sie sich nur an und sagten kein Wort. Und doch wussten sie beide, was gleich geschehen würde, denn sie wollten es beide. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)