Nur ein einziger Tag von SoujirouOkita
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Prolog: Aufbruch
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Der Morgen startete bereits ungemütlich.
Der Himmel war wolkenverhangen und die klirrende Kälte ließ auf baldigen
Schneefall schließen. Nicht zum ersten mal überlegte Toshi ob er die ganze
Sache nicht einfach sein lassen sollte.
Nichtsdestotrotz stand er zu dieser frühen Stunde abreisebereit auf dem
Vorplatz des Tempels, der seit fast einem Jahr ihr Hauptquartier war. Die Pferde
hatte Tetsu bereits gesattelt und bepackt und war nun in die Küche
verschwunden. Außer ihm und Katsu, der sich noch verabschieden wollte, war der
weite Platz leer und auch im Tempel regte sich noch kein Laut. Sie hatten den
frühen Zeitpunkt absichtlich gewählt, damit ihre Abreise weitgehend unbemerkt
bleiben würde. Es würde zwar nur eine einzige Nacht werden, aber eigentlich
konnte er sich das zu diesen Zeiten nicht erlauben.
„Toshi...du musst mir noch was versprechen...Ich weiß, es wird dir schwer
fallen...aber bitte denk nicht an die Arbeit während ihr weg seid. Ihm
zuliebe.“
Toshi stöhnte innerlich auf.
„Ich werde es versuchen.“ antwortete er halbherzig.
Er hatte ewig mit Katsu darüber diskutiert. Aber laut Yamazaki war der
Zeitpunkt günstig. Souji war so fit wie schon lange nicht mehr. Nicht gesund,
aber verglichen mit den letzten paar Monaten waren sie schon froh wenn er
zusammen mit ihnen essen konnte und ab und zu den für ihn nun unendlich langen
Weg in den hinteren Garten auf sich nahm um Saizou und seine zahlreichen
Verwandten zu besuchen.
Trotzdem hatten sie sich alle Optionen offen gehalten und Souji erst gestern
Abend erzählt, dass
er am nächsten Tagen eine zweitägige Reise unternehmen würde. Anstatt mit
Begeisterung hatte er zunächst mit Skepsis reagiert. Katsu musste mehrmals
nachfragen, bis Souji schließlich damit herausrückte, das er Angst hatte die
Reise sei nur ein Vorwand um ihn in ein Krankenhaus oder zurück nach Edo zu
bringen. Toshi hatte sich darüber sehr geärgert, Katsu war bestürzt gewesen.
Schließlich mussten sie beide Souji schwören, dass es wirklich nur eine
schöne Überraschung für ihn sein sollte und er am nächsten Tag wieder
zurück in Kyoto sein würde.
„Kondo-san! Hijikata-san! Ohayou!“
Souji kam lachend auf sie zu. Von der Weite sah man nicht wie krank er wirklich
war.
Genau wie Toshi trug er eine hochgebundene Hakama, einen gefütterten Kimono und
einen langen Haori darüber. Den weißen Schal hatte er sich bereits bis übers
Kinn hochgezogen. In einer Hand hielt er einen Hut und in der anderen seine
Reisesachen.
Mit jedem Schritt den er näher kam, schrie seine Krankheit Toshi stärker ins
Gesicht. Die fahle Haut, die dunklen Schatten um die Augen und das ausgemergelte
Gesicht. Die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Ne, Kondo-san was macht ihr denn hier? Kommt ihr auch mit?“ fragte Souji
als er bei ihnen ankam.
„Aber nein, ich wollte mich nur von euch verabschieden. Freust du dich
schon?“
„Natürlich freue ich mich!“ Souji grinste übers ganze Gesicht. „Aber ich
finde es gemein, das ich nicht weiß wohin es geht!“
„Nun findest du es ja bald heraus. Wir gehen jetzt auch gleich los, bevor hier
noch alle aufwachen. Deinen Hut kannst du gleich aufziehen , es schneit sowieso
bald.“ meinte Toshi und stieg dann auf sein Pferd auf.
„Hai, hai...“ Souji verstaute seine Sachen in der Satteltasche seines
Pferdes und ließ sich dann von Katsu in den Sattel helfen.
„Also dann ihr beiden, gute Reise! Passt auf euch auf.“ Katsu lächelte
aufmunternd.
Aber nachdem Souji ihm noch ein fröhliches „Bis morgen!“ zugerufen hatte
und auf seinem Pferd voraus ritt, verschwand das Lächeln und Sorge machte sich
in seinem Blick breit.
„Es wird schon alles gut gehen. Notfalls machen wir länger Rast oder kehren
wieder um.“ meinte Toshi leise.
Katsu nickte, aber Toshi wusste genau was in seinem besten Freund vorging.
„Keine Angst...ich werde ihn schon wieder zurückbringen.“
Dann folgte er Souji durch das große Tor des Tempels in die frostige
Morgendämmerung.
Kapitel 1: Reise
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Sie waren gerade mal bis zum Stadtrand gekommen als Toshi bemerkte wie
erschöpft Souji war. Sein Atem ging schwer und keuchend und seine Augen
glänzten fiebrig. Als sie los geritten waren hatte Souji noch pausenlos
versucht das mögliche Ziel ihrer Reise zu erraten.
„Ne, Hijikata-san gehen wir vielleicht nach Otsu?“
Die ungefähre Richtung stimmte, aber...
„Leider falsch.“
„Hm... dann führt ihr mich vielleicht nur in die Irre und wir reiten in
einem großen Bogen nach Fushimi?“
In ihrem ersten Jahr in Kyoto hatte sie einmal den Schrein dort besucht. Souji
hatte es gut gefallen und in einem Teehaus „die besten Dango in ganz Japan“
gegessen. Seitdem kam er immer wieder einmal mit der Idee, das sie doch nochmal
diesen Schrein und das Teehaus besuchen könnten. Es war aber nie
dazugekommen.
„Auch falsch“.
„Hm..dann vielleicht...Shimabara?!?“
Toshi schüttelte genervt den Kopf, konnte sich aber ein Grinsen nicht
vergreifen.
„Souji, also bitte!!!“
Souji lachte vergnügt.
„Na gut, dann ist es vielleicht...“
Seit einer Weile schon war Souji verstummt. Er hatte sich mit seinem Pferd
zurückfallen lassen und ritt ein paar Meter hinter Toshi her.
Kurz nach dem sie das Stadttor passiert hatten, hielt Toshi an einem der
letzten Gasthäuser, bevor der Weg sie tiefer in den Wald hineinführen würde.
Außer ihnen waren wenig andere Reisende unterwegs.
Er half Souji von seinem Pferd und band die Tiere vor dem Gasthaus fest.
Wollige Wärme umfing sie, als sie die Tür öffneten und in den halbdunklen
Raum eintraten, der nur durch ein wärmendes Feuer und ein paar wenigen Lampen
erhellt wurden.
Ausser ihnen gab es nur zwei weitere Gäste, ein Kurier und ein Mönch.
Toshi wählte den Tisch der am nächsten zum Feuer stand und bestellte Tee und
Manju.
Souji rieb sich die Hände um die Kälte aus seinen blaugefärbten Fingern zu
bekommen und schloss dann für einen Moment die Augen. Alles war viel
anstrengender als er es sich gestern Abend noch vorgestellt hatte und das
obwohl sie noch nicht wirklich lange unterwegs waren. Dennoch wollte er auf
keinen Fall den Eindruck erwecken, das es ihm zuviel wäre. Denn er wusste nur
die leiseste Andeutung würde dazuführen, das Hijikata-san sofort umdrehen
würde. Es sei denn...das Ziel ihrer Reise wäre doch ein Ziel ohne Wiederkehr
für ihn.
Als der Tee und die Manju kamen stürzte er sich darauf obwohl er überhaupt
keinen Appetit hatte.
„Wir gehen nicht nach Edo, oder?“ fragte Souji als er aufgegessen hatte. Er
konnte Toshi dabei nicht in die Augen schauen und starrte stattdessen auf die
leere Teetasse, die er mit beiden Händen umklammerte.
„Nein, tun wir nicht. Wirklich nicht, Souji.“ Toshi konnte seinen Unmut
über die Frage nur schwer zurückhalten. Das hatten sie doch alles gestern
Abend schon besprochen.
Souji schien nicht ganz überzeugt zu sein. Toshi seufzte und nahm Souji die
leere Teetasse aus der Hand.
„Ich verspreche es.“
Souji erwiderte nichts, dann erhellte sich sein Gesicht und er hob Toshi seinen
ausgestreckten kleinen Finger hin.
Toshi blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragen an. Das konnte einfach
nicht sein Ernst sein. Souji grinste und hielt ihm weiterhin seinen kleinen
Finger hin. Toshi blickte sich kurz um. Die anderen Gäste waren gegangen, der
Wirt in der Küche verschwunden.
„Na schön...du gibst ja doch keine Ruhe.“ brummte er als er seinen kleinen
Finger mit Soujis verhakte und das Versprechen besiegelte.
„Kirei...“ flüsterte Souji fasziniert.
Der Wald sah wie verzaubert aus. Raureif hatte die hohen Bäume von der Erde
bis zu den höchsten Astspitzen erfasst. Jeder Baum, jeder Strauch entlang des
Weges war in Kleid von tausenden und abertausenden weißen Kristallen gehüllt.
Eine andächtige Ruhe lag über dem Wald und entrückte ihn von dem Rest der
Welt.
Nur das gleichmäßige Rauschen des kalten Windes und das Klappern der
Pferdehufe drangen durch die ansonsten tiefe Stille. Kein Vogel, kein Tier war
zu hören. Das letzte Dorf lag bereits weit hinter ihnen. Sie waren vollkommen
allein, unterwegs in einer Landschaft wie sie kein Gemälde schöner abbilden
könnte.
Immer wieder streckte Souji seine Hand aus um einen paar der Kristalle auf den
herabhängenden Ästen zu berühren.
„Honto ni kirei...“
Toshi merkte wie er begann sich gedanklich mehr auf diesen Tag einzulassen. Er
konnte gar nicht anders. Je weiter sie Kyoto hinter sich gelassen hatten und je
tiefer sie in diesem Gemälde aus Eis unterwegs waren, desto kleiner
erschienen ihn alle Sorgen die ihn gestern und heute morgen noch belastet
hatten. Nur ein einziger Tag. Es war schließlich nicht das erste mal das er
länger unterwegs war, auch wenn die Zeiten noch nie so schwierig gewesen waren
wie in den letzten Monaten. All das liess er nun weiter hinter sich um den Rat
seines besten Freundes und seinem Herzen zu folgen. Ein einziger Tag, eine
einzige Nacht mit dem Menschen, der ihm das liebste war.
Der riesige Tengu aus Stein stand wie ein Mahnmal vor dem Eingang des Dorfes
und war wie alles um sie herum mit einer Schicht Raureif überzogen.
„Und...weißt du nun wo wir sind?“ fragte Toshi.
„Hm...“ meinte Souji und tat so als müsste er angestrengt überlegen.
„Ja, ich glaub ich weiß es! Wir sind von Kyoto aus nach Norden geritten und
in die Berge, also nach Kuramayama. Und der Tengu hier kann nur bedeuten das
wir hier in dem Wald sind in dem Sojobo der Tengu-König lebt, der mit
Ushikawamaru trainiert hat!“
„So heisst es jedenfalls...“ meinte Toshi trocken. An Tengu glaubte er
schon lange nicht mehr, aber er musste zugeben das die Geschichte von
Ushiwakamaru, oder besser gesagt Yoshitsune in Heike Monogatari, ihm immer
gefallen hatte.
„Neeeee, Hijikata-san, meint ihr der Tengu-König hätte Lust auf einen Kampf
gegen mich ?“
„Du kannst ihn ja fragen, falls du ihn siehst. Aber ich werde dir nicht
helfen, falls es schief geht.“
Souji kicherte, es war selten das Hijikata so eine Frage nicht ironisch oder
genervt abtat, sondern mit einem leicht amüsierten Unterton wie gerade eben.
„Ich brauche eure Hilfe bestimmt nicht!“
Wenig später hielten sie auf Soujis Wunsch an einem kleinen Schrein außerhalb
des Dorfes, der auf einer Anhöhe lag. Unter ihnen erstreckten sich sanfte,
weiße Hügel und weit in der Ferne konnten sie noch Kyoto erblicken.
Das eiskalte Wasser des Reinigungsbecken brannte auf ihrer Haut.
Souji warf treffsicher eine Münze in die Opferkiste vor dem Schrein,
verbeugte sich zweimal und klatschte zweimal in die Hände. Dann schloß er
andächtig die Augen.
Toshi zögerte einen Moment, hielt Inne um Souji zu betrachten. Der magere
Körper, das fahle Gesicht. Er war kein Gegner mehr für den Tengu-König,
nicht mal gegen den kleinsten Berg-Tengu würde er Souji in diesem Zustand
kämpfen lassen. Er spürte wie sein Herz schwerer wurde. Sie hatten nicht mehr
lange Zeit, dessen war er sich sicher. Vielleicht war dies das letzte mal, das
Souji und er so viel Zeit alleine verbrachten, hier fern von allem was ihn
sonst zurückhielt, ein Gefüge aus Verpflichtungen, Schuldgefühlen und einem
Leben, das ihm immer mehr zu entgleiten drohte. Bald würden sie Souji wirklich
in ein Krankenhaus bringen müssen oder zumindest zurück nach Edo...
Toshi konnte nicht seine Augen nicht von Souji abwenden. Seine Gedanken
wanderten zurück zu jener Nacht, in der er sich eingestehen musste, dass ihre
gemeinsame Zeit vielleicht schneller vorbei war, als ihnen beiden lieb war...
Es war einer der letzten schönen Oktobertage gewesen. Die Tage waren noch sehr
warm, aber abends ließ die Kälte den kommenden Winter erahnen.
Das Husten von der anderen Seite der Shojitür kratze an Toshis Nerven. Seit
Stunden quälte sich Souji damit, und jedes mal wenn es endlich für einige
Zeit still wurde, schien der Husten umso stärker wieder zukommen.
Es war bereits nach Mitternacht und Toshi merkte wie es ihm immer schwerer fiel
sich auf den Brief an seine Schwester zu konzentrieren. Er legte den Pinsel zur
Seite und rieb sich die Schläfe. Wenn es heute so weiter ging, würde er erst
in den frühen Morgenstunden Schlaf finden, - wenn überhaupt. Die Nächte
waren am schlimmsten. Tagsüber hustete Souji zwar auch, aber nicht so intensiv
und lange wie in der Nacht. Nachmittags stieg das Fieber und sobald er sich
abends hinlegte, ging es los. Ein Anfall nach dem anderen der den hageren
Körper heimsuchte. So quälte sich Souji durch die Nacht bis er dann endlich
einschlief, schweißgebadet vor Fieber und Erschöpfung.
So schlimm wie heute war es bisher noch nie gewesen. Schließlich, als die Qual
ein Zimmer weiter gar kein Ende mehr nehmen wollte und er hörte wie Souji
immer verzweifelter nach Luft rang, stand Toshi auf. Souji hatte mehr als
einmal klar gemacht, dass er alleine sein wollte wenn es ihm schlecht ging und
Toshi wusste wie sehr er es hasste, von anderen - auch von ihm und Katsu,
vielleicht sogar besonders von ihnen beiden – so hilflos gesehen zu werden.
Doch genug war genug. Er trat hinaus auf die Engawa und war nicht gerade
überrascht als er im fahlen Mondlicht noch eine andere Person vor Soujis Tür
stehend entdeckte.
Katsu lächelte ihn freudlos an.
„Ich habe es heute einfach nicht mehr ausgehalten...“ erklärte er leise.
Toshi nickte.
„Ich auch nicht...“
Das Souji damit nicht einverstanden sein würde, brauchte keiner von beiden
auszusprechen.
Katsu zögerte noch kurz und öffnete dann ohne Ankündigung die Tür zu Soujis
Zimmer.
Der Protest folgte prompt.
„Kondo-san...gomen nasai...bitte lasst mich allein.“
Soujis kratzige Stimme war kaum hörbar und wurde sofort wieder von einem
Hustenanfall unterdrückt.
Er lag seitlich in seinem Futon, den Kopf auf den Ellbogen aufgestützt damit
er besser Luft bekam. Um ihn herum lagen zahlreiche verschmutze Tücher. Toshi
war erleichtert, als er kein rot verschmiertes darunter entdeckte.
Schweigend blieb Toshi in der Tür stehen während sein bester Freund Soujis
Bitte ignorierte und stattdessen den Raum durchquerte und sich hinter den Futon
setze. Vorsichtig zog er Souji in seine Arme, so dass Souji sich mit seinem
Oberkörper an ihn lehnen konnte, ohne selbst all zu viel Kraft zum sitzen zu
benötigen..
„Kondo-san...das ist wirklich nicht nötig...“ sträubte sich Souji und
versuchte sich zunächst gegen Katsus Griff zu wehren. Doch Katsu liess sich
nicht beirren und schließlich sah Souji ein, dass seine Bemühungen umsonst
waren und ergab sich notgedrungen seinem Schicksal.
Sobald er aufrecht saß, fiel ihm das Atmen um einiges leichter. Er legte den
Kopf auf Katsus Brust und schloss für einen Moment die Augen.
Keiner von ihnen sagte etwas.
Toshi merkte wie ein weiteres Stück seines Herzen zu Staub zerfiel. Der
Anblick der beiden Menschen, die er über alles liebte, schmerzte ihn so sehr.
Katsu, dessen Verzweiflung für Toshi kaum zu ertragen war.
Souji, der so beharrlich gegen sein Schicksal ankämpfte.
„Ich werde Yamazaki bitten, das Zimmer mit mir zu tauschen.“ unterbrach
Souji plötzlich die Stille.
Yamazakis Zimmer lag im hinteren Teil des Gebäudes ganz außen. Der
benachbarte Raum diente als Waffenlager und somit war es eines der
abgeschiedensten Zimmer auf dem Gelände.
„Nein.“ erklärten Toshi und Katsu gleichzeitig, was Souji zu einem
schmalen Lächeln veranlasste.
„Aber ich halte Kondo-san und Hijikata-san die ganze Nacht wach...“
versucht er es nochmal.
„Nein heißt nein.“ erklärte Toshi und griff in den Ärmel seine Kimonos.
„Ich habe eine neue Medizin. Sie wird den Husten lindern“ erklärte er. Er
rührte das Pulver in den letzten Rest Tee, der noch neben Soujis Futon stand.
„Danke...“ Souji nahm die Tasse entgegen und leerte sie in einem Zug.
„Iieeh...so scheußlich hat bisher noch keine geschmeckt.“
Katsu musste unwillkürlich Lachen.
Wenig später war Souji eingeschlafen.
„Was hast du ihm gegeben?“.
Toshi seufzte.
„Ein wenig Opium.“
Sie verfielen in Schweigen,waren dankbar für die Stille, die nur von Soujis
gleichmäßigen, wenn auch schweren Atmen begleitet wurde.
Katsu spach es als erster aus.
„Wenn es schlimmer wird...“
„Ich weiß.“ unterbrach Toshi ihn.
„Wenn es schlimmer wird...
...kann er nicht länger hier bleiben.“
Von dem kleinen Schrein war nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel, aber Toshi hatte
Angst das Souji vor Erschöpfung von seinem Pferd fallen könnte. Er ignorierte
dessen schwachen Prostest und packte alle Taschen auf Soujis Pferd.
„Das ist wirklich nicht nötig...“ versuchte es Souji nochmal, als Toshi
ihm auf sein Pferd half und dann selbst dahinter aufstieg. Mit einem Arm
umfasste er Soujis Hüfte und zog den mageren Körper enger an sich. Wenige
Minuten nachdem sie weiter geritten waren gab Souji auf, er wusste er konnte
seine Erschöpfung nicht länger zurückhalten.
„Gomen ne“ murmelte er bevor ihm die Augen zufielen und seine Wahrnehmung
nur noch aus einem verschwommen Traum von kalten Winterwind, wolliger Wärme
und dem gleichmäßigen Geklapper der Pferdehufe bestand.
„Baka...“
Der Traum endete, als er die Pferdehufe nicht mehr hörte. Auch das
gleichmäßige Schaukeln hatte aufgehört.
„Souji...wir sind da.“
Souji zwang sich die Augen zu öffnen, er hätte so gerne weitergeschlafen,
auch wenn ihm inzwischen alle Glieder schmerzten und seine Hände und Füße
eiskalt waren.
Der Ryokan stand mitten im Wald, kein anderes Haus war weit und breit zu
sehen. Er schien nicht so groß zu sein, strahlte aber aufgrund der vielen
Laternen auf den Treppenstufen und vor dem Eingangsbereich eine behagliche
Wärme aus.
Souji unterdrückte ein Gähnen als Toshi ihm beim Absteigen half und rieb sich
stattdessen die Augen. E r wusste nicht was er erwartet hatte, aber bestimmt
keine Herberge mitten im Nirgendwo, im Reich des Tengu-Königs. Er betrachtete
den Eingang vor ihnen genauer und musste dann grinsen als er das Schild vor
dem Treppenaufgang entdeckte. Nun war ihm klar warum Hijikata-san ihn hierher
geführt hatte. Es war genau das richtige Ziel für die kalte Winterzeit.
Kapitel 2: Wünsche
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Der Weg zu der heißen Quelle führte über eine überdachte Treppe, die etwa
fünfzig Stufen den steilen Hang hinunter führte.
In dem kleinen Vorraum herrschte eine behagliche Wärme, die von einem kleinen
Ofen aus ging. Heißes Wasser und Tücher zum waschen lagen bereit, ebenso wie
eine Tablett mit einer Sake-Flasche und zwei kleinen Schälchen.
Nachdem sie sich gewaschen hatten, war es endlich soweit.
Souji schob voller Vorfreude den Vorhang aus Stoff zur Seite, der den Vorraum
von den Onsen trennte, und blieb gebannt stehen.
Abermals blickte er an diesem Tag auf eine Zauberwelt aus Eis. Der graue Himmel
war hier und da ein wenig aufgeklart und gleißendes Sonnenlicht ergoss sich
durch das silbergraue Wolkenmeer auf die Waldlichtung vor ihnen und liess die
raureifbedeckten Bäume wie Sterne funkeln.
Eine gurgelnde Quelle ergoss heißes Wasser in das große Felsbecken, aus dem
weißer Nebeldampf dem hellen Sonnenlicht entgegen stieg.
Souji hätte sich ewig in diesem Anblick hingeben können, aber -
„Souji, du frierst noch am Boden fest...“ bemerke Toshi trocken.
Plötzlich wurde ihm der gefrorene Steinboden unter seinen nackten Füßen
bewusst.
Mit einem gespielten entsetzen Aufschrei überwand Souji die wenigen Schritte zu
den zwei letzten Stufen, die in das heisse Wasser führten.
„Aahrg, heiiiiiiiiiiiiiiiiisssssssssssssssss!!!“ folgte der nächste
Aufschrei.
Toshi schnappte sich das Tablett mit dem Sake und folgte ihm amüsiert. Zum
Glück waren sie die einzigen Gäste.
Das Spiel aus Sonnenlicht und Eis währte nicht lange. Nach wenigen Minuten
schon schlossen sich die Wolkenlücken wieder und hinterließen nur noch
einheitliches Grau.
Toshi schenkte sich von dem Sake ein, dessen Wirkung prompt folgte. Er wusste
nicht mehr wann er zum letzten mal so entspannt gewesen war. Souji verzichtete
dankend, also leerte er die kleine Flasche ganz alleine.
Schliesslich fielen die ersten Schneeflocken. Erst waren es nur wenige, jedoch
wurden sie mit jeder Minute größer und größer.
„Sugoi, nee? So große Schneeflocken...“ Souji stand fasziniert auf und
streckte seine Arme dem fallenden Schnee entgegen. Er versuchte eine
Schneeflocke auf seiner Hand landen zu lassen, hatte aber keinen Erfolg.
„Setz dich wider hin, es ist viel zu kalt um hier in der Gegend rum zu
stehen...“
Souji rollte mit den Augen und versuchte es noch ein allerletztes mal.
„Souji...“
„Haaaaaaaaaaaaaai, ich habs ja verstanden.“ erklärte er und sank zurück
ins Wasser.
Der Schnee fiel schnell dichter und dichter, immer mehr Flocken gingen in der
heißen Quelle nieder und schmolzen in einem Augenblick davon.
Souji konnte sich nicht daran satt sehen.
Als sie vor lauter Schnee kaum noch die Hand vor Augen sehen konnten, beschloß
Toshi das Bad zu beenden. Zurück in dem kleinen Vorraum merkte Souji wie müde
er war. Das Bad hatte gut getan, aber jetzt hätte er sich auf der Stelle hier
auf den Boden legen können um zu schlafen. Erschöpft trocknete er sich ab und
zog den frischen Yukata an, jedoch ging alles viel langsamer als er wollte. Die
steile Treppe zurück in den Ryokan kam ihm wie ein unüberwindbares Hindernis
vor.
Toshi schien seine Gedanken zu erraten, denn er legte wortlos den Arm um ihn und
schob ihn langsam Richtung Treppe. Souji hatte keine Kraft mehr zu protestieren
und richtete seine ganze Konzentration darauf, keine von den steinernen Stufen
zu verfehlen.
Als sie endlich zurück auf ihrem Zimmer waren, liess er sich auf den Tatami
nieder, griff nach einem der Sitzkissen die neben dem kleinen Tisch lagen und
schlief wenige Sekunden später ein.
Toshi seufzte. Es war sinnlos jetzt noch den Futon zu richten, er würde Souji
nur aufwecken bei dem Versuch in dort hinein zu bringen. Er holte wenigsten die
Decke aus dem Wandschrank und legte sie vorsichtig über Souji. Dann streckte er
sich ebenfalls auf den Tatami aus und lauschte dem gleichmäßigen, ruhigen Atem
neben ihm.
Souji starrte auf die zahlreichen Schälchen und Teller auf dem Tisch. Jede
einzelne Schale sah aus wie ein eigenes Kunstwerk. Das Porzellan war edel und
schön bemalt und die Speisen bis auf das kleinste Detail angerichtet.
Außerdem gab es noch einen kleinen steinernen Topf, der unten mit Kohle
befüllt war und auf dessen Rost zwei Fische und Kartoffeln gegrillt wurden.
Zu schade das sein Appetit in letzter Zeit nicht gerade der beste war.
„So viele tolle Sachen...darf ich das hier haben, Hijikata-san?“ fragte
Souji und deute auf eine kleine Schale mit eingelegten Kürbis.
Toshi musste lachen. „Es ist alles zweimal da, Souji. Hast du das nicht
bemerkt?“
„Hmm, ich bin wohl noch zu müde...aber dann..“ Souji griff sich die
Schale.
„Itadakimasu!“
Er wusste nicht mehr, wann er das letzte mal so viel gegessen hatte. Obwohl er
wenig Hunger gehabt hatte, waren alle Gerichte so lecker gewesen, dass er
einfach immer weiter gegessen und zuletzt noch Hijikata-san sein Dessert
abgeschwatzt hatte – sehr zu dessen Belustigung. Jetzt wollte er eigentlich
nur noch wieder schlafen, obwohl er sich auf ein zweites Bad im Onsen gefreut
hatte. Jedoch war Souji wenig überzeugt davon, dass er den Weg dorthin - und
vor allem auch wieder zurück- heute Abend noch auf sich nehmen konnte.
Er stieß einen enttäuschten Seufzer aus und wollte sich gerade wieder
hinlegen, als die Stimme des Mädchens, welches vorhin das Essen gebracht hatte,
hinter der Shoji-Tür zum Garten erklang.
„Es ist nun alles für Sie vorbereitet. Bitte genießen Sie ihr Bad.“
Dann waren nur noch das Klackern von Geta auf Stein zu hören, welches rasch
leiser wurde und schließlich ganz verstummte.
Souji blickte Toshi fragend an.
„Willst du nicht nachschauen?“
Souji stand zögerlich auf und schob beide Türen gleichzeitig zurück um den
Blick in den Garten freizugeben.
Alles schöne, was er heute gesehen hatte, erblasste neben dem Anblick der sich
ihm nun bot.
Die Wolken hatten sich verzogen und einen sternenklaren Himmel hinterlassen.
Gelbes Mondlicht erhellte den kleinen Garten und liess den Schnee glitzern, der
alles unter sich begraben hatte. Was unter der dicken weißen Schicht lag,
konnte Souji nur erahnen. Ein Gebilde schien ein Brunnen zu sein, die kleine
Eisfläche linkerhand vielleicht Teich. Nur die große Laterne aus Stein war
eindeutig zu erkennen, erleuchtet von einer kleinen Kerze erfüllte sie den
Garten zusätzlich mit einem warmen Licht.
Aber das bemerkenswerteste an dem Garten war nicht seine pure Schönheit aus
weißem, reinen Schnee sondern die Holzwanne mit dampfenden Wasser, die direkt
neben der großen Laterne unter einem kleinen Dach aus Holz stand.
Souji drehte sich mit einem Lächeln zu Toshi um.
„Ihr habt davon gewusst, nicht wahr?“
Toshi grinste und nahm den letzten Schluck Sake.
Souji ließ sich noch einmal einen Augenblick von dem Bild vor ihm verzaubern,
dann beschloss er, dass er Teil dieses Bildes sein wollte.
Er steifte seinen Yukata ab und liess ihn achtlos zu Boden fallen. Der frostige
Nachtwind schlug ihm entgegen und er beeilte sich durch den frischen Schnee zu
der warmen Wanne zu kommen.
Toshi hob den Yukata auf und legte ihn auf den Futon. Dann stopfte er sich seine
Pfeife, nahm seinen Haori und setzte sich trotz der Kälte raus auf die Engawa.
Souji lag mit geschlossenen Augen in der Wanne, weiße Dampfschwaden stiegen um
ihn herum empor.
„Wofür hast du am Schrein gebetet?“ fragte Toshi unvermittelt.
„Für Schnee...und Regen...“ erklärte Souji und öffnete die Augen.
„Regen?“
„Ja, aber kein normaler Regen...“
Souji liess seinen entrückten Blick über den Garten aus Eis schweifen.
„Einen Regen aus Kirschblüten...darum habe ich den Kami gebeten...“
Toshi musste nicht weiter fragen. Auch so war ihm klar, das es Soujis Wunsch an
den Kami war, noch den nächsten Frühling zu erleben.
Sie verfielen in Schweigen. Eingehüllt in melancholischer Stille hing jeder von
ihnen seinen Gedanken nach. Außer dem leichten Nachtwind war kein Laut zu
hören, völlige Stille umgab sie, die nur von dem gelegentlichen
Wasserplätschern unterbrochen wurde wenn Souji sich in der Wanne bewegte.
„Dein erster Wunsch wurde dir ja schon erfüllt...für den zweiten musst du
dem Kami aber noch ein paar Wochen Zeit geben.“ meinte Toshi schließlich in
dem wenig hoffnungsvollen Versuch Souji aufzumuntern.
„Ich weiß...“
Sie verfielen abermals in Schweigen. Toshi wünschte sich, er hätte nicht
nachgefragt. Nachdem es Souji heute so erstaunlich gut gegangen - von der
Erschöpfung der Reise einmal abgesehen - hätte er sich gewünscht, dass sie
zumindest für diesen einen Tag so tun konnten, als wäre alles in Ordnung, als
wäre ihre Zeit nicht begrenzt, sondern unendlich wie der sternenübersäte
Himmel über ihnen.
Er inhalierte den letzten Rest Tabak und blies den Rauch genüsslich dem gelb
leuchtenden Vollmond entgegen.
Als er merkte, dass er beobachtet wurde, wandte er seinen Blick wieder Souji zu,
der seine Arme auf den Rand der Wanne aufgestützt hatte und ihn schelmisch
angrinste.
„Nee...Hijikata-san...wollt ihr nicht auch reinkommen?“
Toshi legte lächelnd seine Pfeife zur Seite. Wie immer wusste Souji genau, was
es brauchte um ihn aufzuheitern.
„Ich dachte schon, du fragst nie...“
Kapitel 3: Abschied
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Er wachte auf mit dem Drang zu Niesen. Irgendetwas kitzelte an seiner Nase und
etwas schweres lag auf seinem Brustkorb. Etwas oder...jemand.
Als Toshi die Augen aufschlug erkannte er in dem dämmrigen Licht zunächst nur
einen Schopf schwarzer Haare und blasse, dünner Finger, die sich in den Stoff
seines Yukatas gruben. Sacht strich er das lange Haar zur Seite, so das er ein
wenig besser atmen konnte. Gleichzeitig hatte er damit einen besseren Blick
auf den unerwarteten Besucher in seinem Futon.
Der Sake und das nächtliche Bad mussten wahrlich entspannend gewesen sein –
er hatte keine Erinnerung daran, wie und wann Souji heute Nacht in sein Bett
gekommen war.
Er musste zugeben, er war etwas traurig gewesen, als der gestrige Abend so
plötzlich zu Ende gegangen war - Souji hatte sich nach dem Bad gerade noch zu
seinem Futon geschleppt und muss in der Sekunde, in der sein Kopf das Kissen
berührte, sofort eingeschlafen sein. Nicht einmal ein „Gute Nacht“ war
über seine Lippen gekommen und die aufgeschlagene Decke hatte Toshi über ihn
ausbreiten müssen.
Der warme Körper an seiner Seite entschädigte ihn jedoch mehr als genug für
dieses plötzliche Ende. Vorsichtig drückte er Souji noch etwas enger an sich
und betrachtete wehmütig das schlafende Gesicht, welches auf seinem Brustkorb
lag. Würde dieser Tag doch nie anbrechen. Bis ihn alle Ewigkeit könnte hier
liegen, eingehüllt zwischen der schwinden Nacht und den ersten goldenen
Strahlen der Morgensonne, die durch die Ritzen zwischen den Shojitüren auf das
Gesicht jenes Menschen fielen, der friedlich neben seinem Herzen ruhte. Ewig
würde er dem gleichmäßigen Atem lauschen, das Klopfen ihrer beider Herzen
spüren und die Wärme genießen, die nicht nur seinen Körper sondern auch
seine Seele erfüllte.
Alles würde er dafür geben. Doch je mehr er versuchte diesen Moment
festzuhalten, desto mehr verschwand der Zauber des Augenblicks. Draußen hörte
er die Schritte und leisen Stimmen der Wirtsleute. In seinen Armen räkelte
sich Souji und blinzelte verschlafen.
„Bitte wach nicht auf...schlaf weiter...nur noch ein wenig...“
Toshis Bitte war vergeblich...Zwei müde Augen blickten ihn sanft an.
„Ohayou...“ flüsterte Souji mit einem Lächeln auf den Lippen.
Der Tag war angebrochen.
Vier Monate später...
Edo
Soujis Wunsch war in Erfüllung gegangen.
Der Kirschbaum in dem kleinen Garten vor seinem Zimmer stand in voller Blüte.
Von Zeit zu Zeit erhob sich ein leichter Frühlingswind und trug die rosa
Pracht in einer sanften Brise von den Ästen, manchmal sogar - wenn die
Shojitür geöffnet war und die Richtung des Windes stimmte - flogen die
kleinen Blüten bis zu seinem Futon. Er erfreute sich jedes mal an dem
Schauspiel und wurde zugleich trauriger mit jeder Blüte, die den Baum
verließ.
Sein dritter und letzter Wunsch an den Kami des kleinen Schreines in den Bergen
von Kyoto war unerhört geblieben.
Er war allein.
Seit Wochen hatte ihn niemand mehr besucht, kein Brief war gekommen. Nicht
einmal Saizou war mehr bei ihm. Nach ihrer überstürzten Flucht aus Fushimi
hatte Tetsu ihn zurück nach Mibu bringen lassen, wo er hoffentlich bei seinen
Geschwistern und anderen Verwandten noch eine glückliche Zeit haben würde.
Ja, er war allein. Selbst seine Schwester und ihre Familie hatten Edo vor ein
paar Wochen verlassen müssen.
Bald würde der Wind alle Kirschblüten mit auf seine Reise genommen haben.
Souji wusste, dann würde auch seine Zeit gekommen sein.
Takaokami-no-kami
Bitte erhöre meine Wünsche
Ein letztes mal will ich den Zauber
von Schnee und Regen
einem Regen aus Blüten
fühlen, spüren
und meine Freude teilen mit jenen
die in meinem Herzen weilen
Owari
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