Wer Wind sät von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Sergej ----------------- So much to live for, so much to die for If only my heart had a home [Nightwish] „Wie lange brauchst du elender Nichtsnutz eigentlich, um eine verdammte Flasche zu holen?!“ Mit einem leisen Seufzen lehne ich meine Stirn an die kühle Tür des Kühlschrankes. Ich bin es gewohnt, dass er so mit mir spricht. Er macht das bereits seit Jahren und aus einem mir unbekannten Grund, verletzt es mich trotzdem immer wieder. Als ich mich ein wenig gesammelt habe, öffne ich die Schranktür und hole das Gewünschte heraus. „Wo bleibst du?!“, höre ich wieder seine laute Stimme und mache mich daran, zügig in das kleine, angrenzende Wohnzimmer zu gelangen. Ich ignoriere dabei die ganzen leeren Flaschen und dreckigen Teller mit Essensresten völlig und gebe ihm die Flasche. Er nimmt sie ohne ein einziges Wort des Dankes an – es ist ja nicht so, dass er je so etwas in der Art mir gegenüber erwähnt hätte, ich kann mich zumindest nicht daran erinnern – öffnet die Flasche und während er sie ansetzt, starrt er weiterhin auf den Fernseher, in dem mal wieder irgendwelche dämlichen Sendungen laufen, wie sie es jeden Tag tun. Ich habe es früher nie verstanden und verstehe es auch jetzt nicht, weshalb Menschen da freiwillig mitmachen. Sich freiwillig erniedrigen und demütigen lassen. Vielleicht tun sie es ja des Geldes wegen, ich weiß es nicht. Bekanntlich machen Menschen ja für ein bisschen Geld so gut wie alles. Wahrscheinlich bin ich noch zu jung, um das zu verstehen... Ich werfe dem Mann vor dem Fernseher, der gleichzeitig auch noch mein Erzeuger ist (Ich nenne ihn nie meinen Vater… oder gar ‚Papa’, wie viele es in meinem Alter machen. Er hat es mir verboten und ich halte mich daran.), einen kurzen Blick zu und will mich gerade in mein Zimmer zurück ziehen, als ich noch einmal seine Stimme vernehme: „Heute Nachmittag kommen ein paar meiner Kollegen vorbei. Wehe dir, du bist nicht mucksmäuschenstill! Du weißt, was dir dann blüht.“, warnt er mich auf seine eigene ‚liebevolle’ Art. Zumindest glaube ich, dass sie es ist. Immerhin bin ich doch noch sein Kind und seine Kinder muss man lieben. Ich bin mir sicher, dass er es einfach nur nicht zeigen kann. Als er seinen Blick plötzlich von dem Fernseher abwendet und mich zornig ansieht, weiß ich, dass ich mal wieder denselben Fehler wie immer gemacht habe: Ich habe ihm nicht geantwortet. Um das wieder einigermaßen gut zu machen, nicke ich schnell. Das scheint ihn wohl einigermaßen zufrieden zu stellen, zumindest wendet er sich von mir ab, und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück, wenn man es denn als solches bezeichnen kann... Schon seit einigen Jahren leben wir in dieser... Nun, sagen wir: in dieser kleinen, bescheidenen Wohnung. Ungefähr seit meine Mutter vor 6 Jahren meinetwegen gestorben war. Ich war an diesem Tag noch mit ein paar Klassenkammeraden auf dem Spielplatz und hatte die Zeit vergessen. Meine Mutter machte sich also auf den Weg, um mich zu holen und übersah dabei ein Stoppschild, woraufhin ihr ein LKW in die Fahrerseite fuhr. Hört sich so einfach wie auch grausam an… Auf jeden Fall bin ich (so sagt es zumindest immer mein Erzeuger) eben daran schuld, da ich mich ja verspätet hatte und sie das Haus an diesem Tag sonst nicht verlassen hätte. Das war auch ungefähr die Zeit, in der er dann anfing zu trinken und ich zu schweigen. Von morgens bis abends kennt er nichts anderes mehr und ich habe gelernt, dass es besser ist, nichts zu sagen, wenn man nicht dazu aufgefordert wird. Ich verstehe zwar noch nicht so ganz, was dieser Alkohol da genau mit ihm macht. Aber er ist danach noch aggressiver als vorher. Wenn ich Glück habe, trinkt er so viel, dass er nicht einmal mehr richtig sprechen, geschweige denn gehen kann. Dann habe ich zumindest an den Tagen meine Ruhe. Ein weiterer Seufzer verlässt meine Lippen. So schweigen wir dann gemeinsam, wenn auch jeder auf seine Art. ~ Lautes Gelächter und das Klirren von Flaschen dringen aus dem Wohnzimmer in mein Zimmer. Die „Freunde“ meines Erzeugers sind da. Ich mag diese Leute nicht wirklich. Sie sind genauso wie er. Trinken zu viel und manchmal, wenn sie gut drauf sind und sich alle treffen, da nehmen sie auch so ein weißes Pulver zu sich. Danach sind sie noch merkwürdiger drauf als vorher schon. Ich zucke erschrocken zusammen, als ich schlurfende Schritte über den Flur in Richtung meines Zimmers höre. ‚Das Bad liegt doch in der anderen Richtung’, denke ich skeptisch, als es dann auch schon laut an meine Tür donnert. „Komm raus!“, erschallt auch schon seine Stimme durch diese. Ich wage es kaum, mich dem zu widersetzen und tue, was er verlangt. Ich erhebe mich und öffne die Tür. Ich unterdrücke das Verlangen, einen großen Schritt zurückzuweichen, als ich ihn direkt vor mir sehe. Er riecht ekelerregend nach Alkohol und Zigaretten und was sie da sonst noch zu sich genommen haben. Zögernd blicke ich ihm in die Augen, versuche, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Er mag es nicht, wenn ich solche Schwächen zeige. Er sagt immer: „Richtige Männer haben keine Schwächen!“ und ich glaube ihm. Auch wenn ich mich manchmal heimlich frage, ob seine Trinkerei nicht auch schon eine Schwäche ist. Es ist doch nicht normal, so viel zu trinken. Und eine Sucht ist doch auch eine Schwäche. Ehe ich noch genauer darüber nachdenken kann, werde ich von ihm schon grob am Oberarm gefasst und mit gezogen. Ich spüre Schmerzen an der Stelle, an der er mich anfasst, aber ich gebe keinen Laut von mir. Ich bin es gewohnt, dass er so mit mir umgeht, da machen mir auch die blauen Flecken auf meinem Arm auch nichts mehr. Ich werde also ins Wohnzimmer gezogen, wobei ich nicht ganz verstehe, warum er mich immer noch so hart anfasst. Ich geh immerhin freiwillig mit. Aber vielleicht sucht er ja den Körperkontakt zu mir. Meine Klassenkammeraden erzählen öfters, dass ihre Eltern ihnen einen Arm um die Schulter legen oder ähnliches. Vielleicht versucht mein Erzeuger das ja auch. Ich höre schon die Stimmen der anderen Männer (Ich glaube es sind insgesamt drei oder vier) und als wir über die Schwelle ins Wohnzimmer treten, spüre ich ihre Blicke auf mir. Ich empfinde es als unangenehm, aber ich schweige. Schweige, wie ich es immer tue. „Na Kleiner, willst du nicht auch mal probieren?“, bietet mir einer von den Kerlen – er scheint der Größte unter ihnen zu sein, aber auch der mit dem widerlichsten Grinsen - eine Flasche mit durchsichtigem Inhalt an. Ich schüttle den Kopf, als Zeichen, dass ich sein Angebot ablehne, da spüre ich auch schon, wie jemand den Arm um meine Schulter legt. „Ach, warum denn nicht? Komm schon. Nur mal probieren“, versucht es der Nächste von ihnen, aber ich wiederhole nur meine vorherige Geste. Plötzlich spüre ich, wie mein Erzeuger mich wütend zu sich zieht und mir bedrohlich flüsternd sagt: „Habe ich dir nicht beigebracht, höflicher zu sein, du kleiner Bastard? Los, antworte!“ Kein Wort verlässt meinen Mund. Ich merke, wie sie durch ihren Rausch langsam aggressiv werden. Vielleicht wäre es wirklich besser, ich würde etwas sagen, aber ich tue es nicht. Ich lasse zu, wie einer von ihnen mich festhält, während ein anderer zum ersten Schlag ansetzt. Ich schließe die Augen. Ich weiß auch so, was folgen wird. Es ist ja nicht das erste Mal, dass mein Erzeuger und seine ‚Freunde’ ihren angestauten Frust an mir auslassen. Für mich ist es schon so etwas wie Normalität. Kurz darauf spüre ich bereits den ersten Faustschlag in meinem Magen und ich bin gewillt mich zusammen zu krümmen, aber ich werde immer noch festgehalten. Als ich meinen Blick hebe, sehe ich direkt in die Augen meines Erzeugers. Man sieht ihm an, dass er betrunken ist, da er leicht schielt und sich an der Wand abstützen muss, um nicht zu fallen. Er grinst mich hämisch an, während er die anderen zum Weitermachen animiert. Ich spüre weitere Schläge auf mich einprasseln, spüre die Schmerzen in fast jedem Körperteil und gebe doch noch immer keinen Laut von mir. Ich glaube, das macht sie noch wütender, aber ich bin nicht sicher. Bevor ich darüber auch nur ein wenig weiter nachdenken kann, merke ich, wie auch in mir die Wut hochsteigt. Ich darf keine Schwäche zeigen! Ich fange an mich zu wehren, auch wenn es aussichtslos erscheint. Sie sind zu viert, ich alleine. Aber anscheinend sind sie betrunkener, als es vorher den Anschein hatte. Ihr Gleichgewichtssinn ist stark beeinträchtigt und so schaffe ich es, mich loszureißen und so schnell ich kann, die Wohnung zu verlassen. Ich laufe, ignoriere die Schmerzen, und laufe und laufe… Ich merke noch, wie ich jemanden anremple und als ich aufblicke, sehe ich einen blasslilahaarigen Jungen, vielleicht ein bis zwei Jahre jünger als ich, der mir wüste Beschimpfungen an den Kopf wirft. Ich will gerade weiter laufen, da spüre ich, wie mich dieser Junge am Kragen fasst. „Kannst du scheiß Wichser nicht aufpassen?!“, speit er mir voller Wut ins Gesicht. Als ich keine Reaktion zeige, schubst er mich von sich und schon spüre ich seine Faust in meinem Gesicht. ‚Toll’, denke ich ironische. ‚Zweimal an einem Tag verprügelt…’ Ich nutze einen Moment seiner Unaufmerksamkeit, reiße mich los und laufe. Ich höre ihn ein weiteres Mal hinter mir brüllen: „Du verdammter Hurensohn. Bleib stehen!“ Aber diesen Gefallen werde ich ihm garantiert nicht tun. Ich renne weiter, meinen Verfolger immer noch hinter mir, über eine Straße und werde dabei fast von einem Polizeiauto angefahren. Es kann jedoch noch in letzter Sekunde bremsen und schneidet somit nun dem anderen Jungen den Weg ab. Diesen höre ich noch einmal mit Beleidigungen wie ‚Arschloch’, ‚verfickte Schwuchtel’ und ‚Hurensohn’ um sich werfen, ehe ich in eine der kleinen Seitenstraßen abbiege. Ich stütze mich schwer atmend an einer Hauswand ab und wische mir die Schweißperlen von der Stirn. Als sich mein Puls und auch meine Atmung wieder ein wenig beruhigt haben, merke ich erst, wie kalt es eigentlich ist. Wie dumm von mir, ohne eine Jacke zu flüchten. Und wie dumm von mir es gewesen wäre, mit einer zu flüchten. Wahrscheinlich wäre ich dann nicht einmal so weit gekommen. ~ Nachdem ich noch einige Stunden ziellos umhergeirrt bin, mache ich mich nun auf den Weg nach Hause, in der Hoffnung, dass diese widerlichen Typen nicht mehr da sind und mein Erzeuger auch schon schläft. Mittlerweile bin ich schon ordentlich durchgefroren und bin nur noch froh, wieder zurück zu gehen. Ich biege gerade in die Straße in der die Wohnung liegt ein, da sehe ich Blaulicht, das die ganze Straße erhellt. Mich beschleicht ein seltsames Gefühl, dass ich noch nicht genau definieren kann… Als ich näher trete, sehe ich einen Streifen- und einen Krankenwagen am Straßenrand stehen, während sich zwei Polizisten vor der Haustür unterhalten. Ich trete an ihnen vorbei in das Haus hinein, gehe die wenigen Stufen zu unserer Wohnungstür hoch, die mich schon weit geöffnet erwartet. Ich schlucke den Klos, der sich in meinem Hals gebildet hat, hinunter und begebe mich hinein. Schon im Flur höre ich verschiedene Stimmen und als ich in die Richtung dieser gehe, somit das Wohnzimmer betrete, sehe ich auch die dazugehörigen Personen. Vor der Couch kann ich zwei Notärzte an ihren Uniformen erkennen. Neben ihnen steht ein Polizist. Alle drei stehen dort, reden leise miteinander und betrachten irgendetwas, das auf der Couch liegt. Aus meinem Blickwinkel kann ich leider nicht erkennen, was. Scheinbar hat mich nun einer von ihnen bemerkt, denn der Polizist tritt auf mich zu. „Du bist Sergej, oder?“, fragt er mich und betrachtet mich skeptisch, immerhin sieht man mir wohl an, dass ich heute zwei Mal in den Genuss kam, verprügelt zu werden. Zudem zittere ich wegen der Kälte und meine Lippen sind wahrscheinlich schon leicht bläulich. Ich nicke jedoch lediglich. „Hör zu… Es fällt mir nicht leicht dir das zu sagen, aber… Dein Vater, er ist… Also, er ist vor wenigen Stunden verstorben…“, gibt er zögernd von sich und sieht mich voller Mitleid an. Zu meiner Überraschung rührt sich in mir gar nichts. Ich fühle nichts. Ich sehe den Polizisten immer noch an. Er fühlt sich sichtlich unwohl und spricht daher schnell weiter: „Kurz gesagt: Er hatte ziemlich viel Alkohol getrunken und ist irgendwann wohl eingeschlafen. Dabei ist er, weil er auf dem Rücken lag, an seinem eigenen Erbrochenem erstickt…“ Mein Blick schweift kurz zum Sofa, wo die Notärzte vorsichtig eine Plane über das, oder wohl eher über denjenigen, der dort liegt, legen. „Du solltest dir das nicht ansehen, Junge. Komm. Wir nehmen dich jetzt erst einmal mit.“ Der Polizist legt seine Hand auf meine Schulter und schiebt mich leicht zurück zur Wohnungstür. Ich werfe noch einen letzten Blick zurück, ehe wir die Wohnung verlassen. Ich kann es mir nicht erklären. Müsste ich nicht eigentlich irgendetwas fühlen? Mein Erzeuger ist gerade gestorben. Ich erinnere mich nur noch wage, wie ich mich gefühlt habe, als meine Mutter verstarb. Ich glaube, ich habe getrauert. Aber ich bin mir nicht sicher… Als wir das Haus verlassen haben, sagte der Polizist zu mir: „Warte hier bitte kurz. Ich komme sofort wieder“ und verschwand zu den anderen Polizisten. Ich bleibe dort stehen, und lasse meinen Blick schweifen. Ich sehe etwas abseits noch zwei Personen stehen. Sie sehen nicht so aus, als würden sie zu den anderen gehören. Vor allem der Größere von ihnen sieht merkwürdig aus, ja schon fast furchteinflößend. Er hat lilafarbenes Haar und trägt einen langen, grünschwarzen Mantel, der fast bis zum Boden reicht. Darunter kann man schwarze Kleidung erkennen. Das wohl Auffälligste ist aber so eine Art Brille, die er trägt. Sie ist ebenfalls schwarz, jedoch verleiht sie ihm rote Augen. Ich empfinde beinahe so etwas wie Furcht, wenn da nicht noch etwas anderes von ihm ausgehen würde. Ich kann es nicht beschreiben… Er ist der erste der Anwesenden, der mich bemerkt. Er schreitet mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck auf mich zu und bleibt mit gewissem Abstand vor mir stehen. „Guten Abend, Sergej“, spricht er mich an. Verwundert ziehe ich die Augenbrauen nach oben. ‚Woher kennt dieser Mann meinen Namen’, frage ich mich und scheinbar spiegelt sich diese Frage auch in meinen Augen wieder, denn er fährt grinsend fort: „Ich beobachte dich schon länger und ich möchte dir ein Angebot machen, dass dich sicherlich interessieren wird. Wenn du mir bitte folgen würdest?“ Ich zögere. Mir behagt das, was dieser Mann sagt nicht. „Was hast du zu verlieren, mein Junge“, sagt er. Wenn ich genau darüber nachdenke, hat er Recht. Was habe ich zu verlieren? Ich werfe den Polizisten noch einen kurzen Blick zu – sie sind noch vollkommen mit sich selbst beschäftigt – und folge dem Mann. „Mein Name ist übrigens Balkov…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)