The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Prolog: Jemand, der nicht träumen dürfte ---------------------------------------- „Sieh mal an, du beschäftigst dich sogar während deiner Pause mit Büchern, Mara?“ Die junge Frau namens Mara löste ihren Blick von dem Buch, in das sie sich vertieft hatte, um aufzuschauen. Jemand hatte sich ihr gegenüber an den kleinen Holztisch gesetzt, der in dem schlicht eingerichteten Pausenraum stand, was sie überhaupt nicht bemerkt hatte. Anscheinend saß diese Person sogar schon etwas länger dort, denn die Kaffeetasse, die sie mit beiden Händen festhielt, war bereits halb leergetrunken. Es handelte sich um Bernadette, eine mollige Frau mit Anfang dreißig, die hellbraunes, lockiges Haar hatte und nicht nur mit Mara zusammen in einem Buchladen arbeitete, sondern auch die Besitzerin von diesem Geschäft war. Sie wirkte immerzu verschlafen, doch sie verlor nur selten ihre gute Laune. Mit ihren Mitmenschen ging sie zwar grundsätzlich äußerst mütterlich um, trotzdem lebte der Schelm in ihren blauen Augen und an manchen Tagen konnte es recht anstrengend sein, ihre Späßchen auszuhalten. „Oh, du hast mich also wirklich bis jetzt nicht bemerkt?“ Offenbar musste Mara gerade recht verwirrt aussehen und das brachte Bernadette zum Schmunzeln. „Du scheinst Bücher wirklich zu lieben, hm? So sehr, dass du sogar die Welt um dich herum komplett vergisst.“ Verlegen klappte sie das Buch vorerst zu. „Entschuldigung.“ „Also bitte, du musst dich doch nicht wegen so was bei mir entschuldigen“, versicherte Bernadette und zwinkerte ihr zu. „Ich kann mich glücklich schätzen, so jemanden wie dich in meinem Laden zu haben und ich habe dir ja auch gesagt, dass du dir ruhig Bücher zum Lesen nehmen darfst.“ „Hm.“ Unsicher strich sich Mara einen Teil ihrer schwarzen Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten, hinter das linke Ohr. „Danke.“ „Hach, wie süß du geworden bist!“, platzte es begeistert aus Bernadette heraus, weil Mara sich ihr gegenüber so schüchtern verhielt. „Als ich dich kennengelernt habe, warst du noch so feindselig, ein richtiges Biest.“ Das war dem ehemaligen Biest peinlich, erst recht wenn sie an das erste Treffen mit ihrer jetzigen Chefin zurückdachte, darum gab sie kleinlaut eine weitere Entschuldigung von sich. Bernadette schenkte ihr darauf ein warmes Lächeln, bevor sie die Tasse anhob und einen Schluck daraus nahm. Derweil ließ Mara ihren Blick nach unten zu dem Buch auf ihrem Schoß sinken, in dem sie bis eben noch gelesen hatte. Eindringlich betrachtete sie die Vorderseite des vergoldeten Einbandes und merkte wieder nicht, wie sie mit ihren Gedanken von der Realität abdriftete. Schnell wurde sie aber durch einen erstaunten Ausruf zurückgeholt. „Ah! Dieses Buch!“ Mara presste leicht erschrocken ihren Rücken gegen die Stuhllehne, als sie sah, dass Bernadette halb auf den Tisch geklettert war, damit sie ebenfalls einen Blick auf das Buch werfen konnte. Ihr Kopf samt Körper beugte sich immer tiefer zu der Lektüre runter und das gab Grund zur Befürchtung, dass die gute Frau ihr gleich sogar auf dem Schoß saß. Zu ihrer Erleichterung hielt Bernadette aber dann inne und rutschte schließlich über den Tisch zurück auf ihren eigenen Stuhl, wobei sie beinahe ihre Tasse runter gestoßen hätte, die gefährlich nah am Rand abgestellt worden war. Plötzlich hatte sich ihr zuvor munterer Ausdruck verändert, wodurch Mara sich unbehaglich fühlte. Hatte sie irgendeinen Fehler gemacht? „Diarium Fortunae“, sprach Bernadette den Titel des Buches laut aus, lehnte sich nachdenklich zurück und verschränkte die Arme. „Da hast du dir ja ein außergewöhnliches Buch rausgesucht, das hab ich schon ewig nicht mehr gesehen. Wo hast du das denn ausgegraben?“ „Aus einer alten Kiste“, antwortete Mara gleich wahrheitsgemäß, „im Keller, die ziemlich verstaubt gewesen ist. Sie sah wirklich danach aus, als hätte sie schon ewig keiner mehr aufgemacht und dort drin hab ich, unter anderem, dieses Buch gefunden.“ „Verstehe.“ Etwas bezüglich des Buches brachte Bernadette dazu, dass sie melancholisch seufzte. „Und? Wovon handelt es?“ Diese Frage kam Mara überflüssig vor, schließlich war anhand der Reaktionen von ihrer Chefin zu vermuten, diese kannte das Buch schon längst und verband auch mindestens eine Erinnerung damit. Vielleicht hatte sie es aber selbst, aus irgendeinem Grund, nie gelesen und kannte deswegen den Inhalt an sich tatsächlich gar nicht. Darüber dachte Mara aber dann lieber nicht weiter nach. Sie ging kurz in sich und strich mit der Hand sanft über den Einband, als müsste sie sich erst daran erinnern, was sie bisher gelesen hatte. „Es ist wie ein Tagebuch geschrieben, in dem mit jedem einzelnen Eintrag Erlebnisse und die daraus erhaltenen Informationen von verschiedenen Leuten festgehalten wurden. Weit bin ich leider noch nicht gekommen, aber die Einträge, die ich bis jetzt gelesen habe, handelten von einer Gruppe mit der Bezeichnung Traumbrecher.“ „Mh-hm“, bestätigte Bernadette, dass sie aufmerksam zuhörte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatten Maras blaue Augen angefangen begeistert zu leuchten. „Traumbrecher sind Jäger, die Alpträume verfolgen, um sie zu vernichten und die Menschen dadurch von dieser Last zu befreien. Sie sorgen dafür, dass die Träume nicht aussterben, aus denen die Fortunae, Schicksalsgöttinnen, Glück für die Welt schmieden können. Es gibt viele verschiedene Arten von Alpträumen, denen jeweils unterschiedliche Eigenschaften zugeordnet werden. Manche davon sind harmlos, andere derart gefährlich, dass sie das Gleichgewicht der Welt stören könnten, weil eine Fortuna ohne die Energie, die aus reinen Träume geboren wird, kein neues Glück mehr erschaffen kann. Unter Einsatz ihres Lebens verhindern Traumbrecher dieses Unheil.“ „Interessant. Klingt nach einer harten, aber wundervollen Aufgabe.“ Dem konnte sie sich nur anschließend. „Ja, nicht wahr?“ Inzwischen hatte Bernadette die Augen geschlossen, so fiel es ihr leichter, jedes Detail so intensiv wie möglich in sich aufnehmen. Das war etwas, was Mara an ihr mochte. Nicht viele Menschen in ihrem bisherigen Leben hatten ihr so viel Aufmerksamkeit geschenkt oder hörten ihr gern zu. Motiviert davon erzählte sie weiter, was sie noch wusste. „Traumbrecher erhalten die Kraft zur Vernichtung von Alpträumen aus der Essenz ihrer eigenen Träume. Während eine Fortuna diese Energie zum Schmieden von Glück nutzt, stellen Traumbrecher individuelle Waffen für ihren Kampf her. Diese Kraftquelle ist für sie aber stark begrenzt“, sagte sie und ihr wurde schwer ums Herz, als sie fortfuhr. „Ihnen sind insgesamt sechs Stunden gegeben, die sie nutzen können, um durch ihre Träume Waffen zu formen, mit denen sie gegen Alpträume angehen können. Danach ...“ Am liebsten hätte sie es gar nicht ausgesprochen, doch nach einer kleinen Pause, überwand sie sich. „Danach verlieren sie die Fähigkeit zu träumen endgültig und können nicht mehr weiterkämpfen.“ „Nie wieder träumen?“ Auch Bernadette gefiel dieser Gedanke nicht und ihre Stimme klang mitfühlend. „Ganz schön unfair, ohne Träume weiter existieren zu müssen, obwohl man genau diese zuvor die ganze Zeit über beschützt hat.“ „Ja“, stimmte Mara ihr zu und legte den Kopf in den Nacken, um ziellos an die Decke zu starren. „Das finde ich nicht richtig, es ist grausam. Ohne Träume ist das Leben so leer.“ Darüber klang ihre Gesprächspartnerin nun erstaunt. „Ach? Heißt das, du träumst also auch?“ „Natürlich“, gab sie Antwort, ohne ihren Blick von der Decke abzuwenden. „Jeder träumt doch, auf seine Weise. Ich tue es am liebsten beim Lesen.“ „Na, so eine Überraschung, genau wie ich.“ Auf einmal musste Bernadette amüsiert kichern. „Das erklärt so einiges.“ „Was denn?“ „Nicht so wichtig, du bist einfach nur etwas Besonderes“, wich sie dieser Frage aus und öffnete die Augen wieder. „Kann es sein, dass du dir das, was da drin steht, sehr zu Herzen nimmst?“ „Ist das schlimm?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Es folgte Schweigen, das für einige Minuten anhielt, bis sie mit einem letzten Satz dieses Thema vorerst abschloss. „Erzähl mir mehr von dem Buch, sobald du es weitergelesen hast, okay?“ Anhand eines Schleifgeräusches konnte Mara erahnen, dass sie soeben die Kaffeetasse wieder zur Hand genommen haben musste. Direkt danach war aus dem Nichts ein kalter Luftzug zu spüren, der sie beide gleichzeitig frösteln ließ. Automatisch ließ Mara von der Decke ab und blickte zu dem Fenster mit dem alten Holzrahmen rüber, das jedoch geschlossen war. Ihre zweite Vermutung für die Herkunft dieser Kälte sprach Bernadette dann an ihrer Stelle laut an. „Verdammte Geißel, der letzte Besucher hat wohl die Tür mal wieder nicht anständig geschlossen.“ Sofort stand sie auf und trank mit einem letzten, großen Zug den Kaffee aus. Anschließend schlenderte sie rüber zum Spülbecken, wo sie die Tasse abstellte. „Ich muss mir dafür endlich mal was einfallen lassen, hier ist sowieso alles viel zu baufällig. Gegen rustikalen Charme hab ich ja nichts, aber es muss nicht heruntergekommen sein.“ Aus ihrer Hosentasche holte Bernadette eine versilberte Taschenuhr hervor und prüfte die Uhrzeit, worauf eine geschockte Reaktion folgte. „Unglaublich, wir haben ja schon nach Mitternacht! Wie schnell die Zeit vergeht, ich werde langsam echt zu alt.“ Mara glaubte, dass sie ihr an der Stelle eigentlich hätte widersprechen müssen, aber sie konnte sich nicht überwinden. Außerdem mochte Bernadette es auch nicht, wenn man gegen ihre Worte protestierte. So viel hatte Mara nach kurzer Zeit schon verstanden, dabei war sie noch gar nicht lange hier. In einem musste sie ihr allerdings zustimmen: Die Zeit war wahrlich rasch verflogen. „Ich habe mich schon gewundert, warum keine Kunden mehr kommen. Dann kann ich den Laden auch zumachen“, stellte sie für sich selbst fest und tat etwas, was sie jedes Mal machte, sobald sie ihre Taschenuhr in der Hand hielt: Sie ließ ihren Blick gründlich über ihre gesamte Umgebung schweifen, suchte förmlich die Gegend ab. Mittlerweile hielt Mara das für nichts weiter als eine Angewohnheit, die sie irgendwann mal entwickelt haben musste und nicht mehr ablegen konnte. Komisch kam es ihr dennoch vor, erst recht weil sie sich stets unwohl fühlte, wenn sie das tat. Diesmal konnte es aber auch nur an dem frostigen Luftzug liegen. Als Bernadette ihre Umgebung vollständig überprüft hatte, wandte sie sich an Mara. „Genug Aufräumarbeiten für heute, wird höchste Zeit ins Bett zu gehen. Geh du ruhig schon schlafen, die letzten Kleinigkeiten schaffe ich auch alleine.“ „In Ordnung.“ Dankbar nickte Mara ihr zu und erhielt dafür nochmal ein warmes Lächeln von ihr. Schweigend begab Bernadette sich daraufhin auch gleich in den vorderen Teil des Ladens und hatte es auffallend eilig. Für Mara war das aber kein Grund misstrauisch zu werden, sicher wollte sie nur so schnell wie möglich auch ins Bett kommen und noch etwas Schlaf bekommen. Falls Bernadette immer erst derart spät ins Bett ging, war es nicht verwunderlich, dass sie andauernd so verschlafen aussah. Auch Mara sollte sich schlafen legen, zumal die Arbeit bald schon von vorne losging. Selbst nach knapp einem Monat kam es ihr noch wie ein Traum vor, dass Bernadette so nett war, sie sogar in dem Gästezimmer in der Wohnung über dem Laden leben zu lassen. Solch ein großes Vertrauen legten bestimmt nicht viele Menschen in einen Fremden, den sie irgendwo auf der Straße aufgelesen hatten. Gedankenverloren nahm Mara das Buch von ihrem Schoß und hielt es vor sich. Irgendwie faszinierte sie die Vorstellung von diesen Traumbrechern sehr und sicher steckten noch viel mehr Geheimnisse hinter ihnen, die sie allesamt noch erkunden wollte. Für sie war es ein tröstlicher Gedanke wenigstens hoffen zu können, dass sie vielleicht echt waren. Sehnsüchtig drückte sie das Buch an sich. Warum sollte sie daran zweifeln? Solange es jemanden wie sie gab, konnten auch diese Jäger echt sein. „Ob mich eines Tages auch mal einer vor Alpträumen retten wird?“, fragte sie sich selbst. „Jemanden wie mich. Jemand, der nicht träumen dürfte?“ Ein lautes Poltern aus dem Laden riss sie jäh ins hier und jetzt zurück. Kurz danach war noch mehr Lärm zu hören, den sie nicht richtig einzuordnen wusste. Auf eine Art klang es wie Glas, das zersplitterte und fließendes Wasser, nur mit einem unnatürlichen Nachhall. Irgendetwas stimmte nicht. Ob Bernadette etwas passiert war? Mara war es ihr in jeder Hinsicht schuldig, nach ihr zu sehen. Beunruhigt stand sie auf, das Buch weiterhin fest an sich gedrückt. Mit langsamen Schritten ging sie zu der Tür, die in den vorderen Bereich führte und streckte die Hand nach der Klinke aus, aber bevor Mara sie berühren konnte, glitt diese vorher schon von alleine nach unten. Quietschend schwang die Tür auf, knallte gegen die Wand und Mara erstarrte bei dem Anblick von dem, was sie dahinter bereits erwartete. „Sieh an, sieh an. Was haben wir denn da?“, hörte sie eine verzerrte Flüsterstimme in ihrem Kopf widerhallen. „Ich wusste doch, dass ich etwas Besonderes gerochen habe. Wenn ich dich nehme, wird keiner dieser lästigen Howler es wagen, mich zu töten. Auch er nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)